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Michael Klonovsky - Land der Wunder - Roman - Manuscriptum

Für Elke

»Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe ihrer zu viele gesehen!« Herodias, Gemahlin des Herodes, in Oscar Wildes »Salome«

Inhalt

Prolog

I. Gosse

1. Ein Eierlikör-Frühstück

2. Drei ziemlich merkwürdige Herren

3. Die Großmeisterin hat keine Lust auf Sex (mit ihm)

4. Unser täglich Gift

5. Von Chefs und Müllmännern

6. Frauenauflesen

7. Wie es dahin kam

II. Genossen

1. Ein Naseweis wird eingenordet

2. Kantinengeflüster

3. Brüste und allerlei Hermetisches

4. Zunehmende Erosionserscheinungen

5. Nicht mal ein Rendezvous klappt

6. Noch ein Sonderling

7. Späte Höhepunkte des Sozialismus

8. Europa

9. Erzieherdämmerung

10. Europa (Fortsetzung)

11. Erzieherdämmerung (Schluss)

III. Unter Aufgeklärten

1. Ein Wiedersehen

2. Wende-Wirren

3. Schönbachs ganz privater Mauerfall

4. Unähnliche Landsleute

5. Château Auschwitz

6. Und ein groß Gejammer hub an

7. Noch jemand

8. Schönbach wird als Sexist überführt

9. Makabres

10. Auf dem Journalistenparnass

11. Positano

12. Finis Germaniae?

IV. Posse, zum Zweiten

1. Proktologisches Präludium

2. Rosentreter

3. Warum nur?

4. Der fortgesetzte Untergang des Abendlandes

5. Medienkritisches Intermezzo

6. Goldrausch

7. Wie Professor Gralssucher kurzzeitig zum Nazi wurde

8. Lourdes und Gomorrha

9. Coxsackie-Viren

V. Die Dinge des Lebens

1. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen

2. Die dreizehnte Fee

3. Onkel Jo

4. Neue Versuchungen

5. »Die Kinder, die Kinder!«

6. Der Anteil des Schmerzes (Johanni Verklärung)

Epilog

Prolog

Als Johannes Schönbach längst in München lebte und auf so merkwürdige Weise zu einem Vermögen, jedoch noch nicht auf weit merkwürdigere Weise zu einer Familie gekommen war; viele Jahre nachdem Katja ihm ihre Brüste zwar gezeigt, jedoch verweigert hatte und Janina verschwunden war, aber noch bevor sich Helen als Besitzerin eines Krokodillederherzens entpuppen sollte – und wiederum lange nachdem ihn der Fakultätsdirektor angebrüllt hatte, er sei ein verkommenes, staatsfeindliches Subjekt, dem die antikommunistische Scheiße aus dem Gehirn gespült werden müsse –; das heißt also ungefähr in jener Zeit, als der einstige Beststudent, jahrelange Hilfsarbeiter und zwischenzeitliche Reporter Katja zwar halbnackt wiedergefunden hatte, aber noch nicht die geringste Ahnung besaß, als was sich ein Andreaskopfsyndrom entpuppen sollte: Irgendwo in dieser Zeit war das Gerücht in die Welt gesetzt worden, er, Johannes Schönbach, habe in der DDR einige Jahre in einem Lager verbringen müssen.

Dieses Gerücht führt weit zurück, und deshalb steht es am Anfang. Es entspricht allerdings nur zum Teil den Tatsachen. Weder konnte nämlich von mehreren Jahren noch von Zwang die Rede sein. Schönbach hielt sich dort knappe 15 Monate auf, und zwar freiwillig – sofern man in diesem ersatzvaterländischen Laufställchen, das zu verlassen unter Androhung des Fangschusses verboten war, überhaupt von Freiwilligkeit reden konnte. Wenn sich ein Mensch innerhalb eines Gefängnisses so frei bewegen kann, dass er es nicht dauernd als ein solches empfindet, ist er objektiv betrachtet trotzdem kein freier Mensch. Ist aber nicht die gesamte Welt ein Gefängnis? Schönbach hätte sich damals geweigert, diese Frage zu beantworten, und zwar mit dem Hinweis, dass er sie ja erst nach Betrachtung derselben beantworten könne. So ein sophistischer Schlingel und uneinsichtiger Begriffsverdreher war der DDR-Bürger Johannes Schönbach, und nicht zuletzt deshalb befand er sich in besagtem Lager, von dem an dieser Stelle unbedingt erwähnt werden muss, dass es sich um ein Schnapslager handelte.

Schönbach hatte sich damit abgefunden, dass die Horizont-Imitate seines Heimatlandes mit Stacheldraht markiert waren, wie man sich irgendwann mit einer chronischen Krankheit abfindet: Er litt darunter, aber kämpfte nicht dagegen an. Zum einen hätte er nicht gewusst, wie, zum anderen teilte er seinen Pferch mit fast 17 Millionen Menschen, von denen sich die meisten bemühten, ein normales Leben zu führen. Diese ungeheuerliche Normalität ringsum frappierte und lähmte ihn, bis er schließlich an einem Punkt seiner Krankengeschichte angelangt war (um bei diesem nicht völlig unpassenden Gleichnis zu bleiben), wo sich die allmähliche Selbstaustilgung durch notorisch überdosierte Alkoholzufuhr als probate Therapie anzubieten schien. Hätte er eine weniger halbherzige (und, mit Verlaub, wirklich ernsthafte) Version gewählt, gäbe es nicht viel über ihn zu berichten. Er tat es gottlob nicht, und die Geschichte kann ihren Lauf nehmen. Freilich sollte der Leser in Rechnung stellen, dass er Schönbach zu einem Zeitpunkt kennen lernen wird, an welchem dieser glaubte, sein Leben sei im Grunde beendet, und sich zunächst auf eine gewisse Fallhöhe einstellen (der arme Schönbach musste dort schließlich leibhaftig hindurch) …

I.
Gosse

1.
Ein Eierlikör-Frühstück

Das in Rede stehende Lager war ein weiträumig umzäuntes Areal aus Betonrampen, Betonhallen und betonierten Anfahrten. Es befand sich im Dreiländereck der Stadtbezirke Lichtenberg, Hellersdorf und Marzahn, wo ehemals Felder und Kleingärten gewesen waren und nun die Früchte des DDR-Wohnungsbauprogramms wie von Riesenkinderhand verstreut aus der lehmigen Erde wuchsen. In seiner Mitte erhob sich in raumfüllender Tristheit ein an die dreißig Meter hoher, ebenfalls aus dem sozialistischen Lieblingswerkstoff gegossener, grün gestrichener und fensterloser Quader. Offiziell hieß das von ihm dominierte Herz des Ostberliner Äthanolkreislaufs Waren des täglichen Bedarfs/Zentrallager Spirituosen; die hier draußen zwischen der verlängerten Leninallee und der Allee der Kosmonauten wohnten oder arbeiteten, nannten das Lager aber nur Grünes Ungeheuer. Mit Signaldraht bespannte Zäune und schleusenartige Eingänge, in denen mürrische Angehörige des Betriebsschutzes im Verein mit Volkspolizisten Wache hielten, verwiesen auf die staatstragende Delikatheit seines Inhalts.

Schönbachs Aufgabe an diesem Ort bestand darin, unter der Last schwankender Gebinde ächzende Paletten mit Hilfe eines Gabelstaplers vom Lastkraftwagen oder Waggon zu laden und sie, nachdem ihnen von den Kollegen der Dispositionsabteilung ein Platz zugewiesen worden war, ins Hochregallager zu expedieren (das war jener Teil, der von außen grün aussah). Es handelte sich also um eine Tätigkeit, die von den Ausführenden nicht viel mehr als ein gewisses Geschick im Umgang mit den zuweilen äußerst eigensinnigen Bestien von Staplern erforderte, die keineswegs jedem Befehl gehorchten, den man ihnen erteilte, und gern mit ihren Beißzangen tiefe Wunden in die Palettenladungen schlugen, aus denen sofort der Schnaps schoss. Doch war diese Arbeit wichtiger als die jedes Funktionärs. Schönbach karrte das Lebenselixier des Sozialismus durch die Hallen, den Trank, der Genossen wie Nicht-Genossen halbwegs bei Laune hielt: Schnaps, Schnaps und nochmals Schnaps; natürlich auch Wein und Sekt, aber insbesondere hochprozentige Sofortglücksverheißungen mit Namen wie Goldkrone, Burgkrone, Nordhäuser Doppelkorn, Lunikoff, Timm’s Saurer, Zinnaer Klosterbruder, Boonekamp, Wurzelpeter, Halb und Halb, Campa, Havanna Club, Sambalita, Goldbrand oder Klarer Juwel. Die Bevölkerung, die von hier aus versorgt wurde, war zwar eine anspruchslose, was die Qualität anging, aber eine des narkotischen Trostes permanent bedürftige – vornehmlich aus den erwähnten Gründen der Horizonteinschränkung. »Eens musste wissen«, hatte ein älterer Disponent zu Schönbach gesagt, als er hier noch neu war, »der Laden is kriegswichtig. Der Fusel muss unters Volk. Versorgungsengpässe bei Alkohol darf et nich jeben, det schafft revolutionäre Situationen.«

Staatswichtig hin oder her: Wer hier arbeitete, hatte in der Regel keine Ausbildung. Anders formuliert: Dieser Ort besaß für Leute mit einer Ausbildung nur eine geringe Attraktivität. Manche indes, die Creme sozusagen, führte den Titel Facharbeiter für Lagerwirtschaft und Warenbewegung; das war ein regulärer Ausbildungsberuf, den insbesondere Personen erlernten, bei denen schon in frühen Jahren Probleme im Zusammenhang mit den Grundrechenarten und dem sinnvollen Gebrauch des Alphabets beziehungsweise Abnormitäten des Sozialverhaltens aufgetreten waren, womit sich aufs Glücklichste vertrug, dass die Komplexität der Lagerwirtschaft sich in vermittelbaren Grenzen hielt: Auf der einen Seite kam der Fusel sortenrein an, auf der anderen verließ er das Lager in jenen Portionen, die Geschäfte, Kaufhallen oder Gaststätten geordert hatten. Zwischendurch wurde er von jenem Teil der Belegschaft, der es mit der Täglichkeit des Bedarfs ernst nahm, nach Kräften dezimiert. Zu lernen war lediglich, wie man dabei den Hyänen der Betriebswache, die jederzeit unverhofft zwischen Palettenstapeln hervorschießen und einem das Pusteröhrchen unter die Nase halten konnten, aus dem Wege ging. Gewiss, für manche bedeutete die Gabelstaplerprüfung eine ähnlich hohe Hürde wie für andere die Promotion, namentlich der sogenannte theoretische Teil, obwohl man den Probanden mit den Prüfungsfragen sehr entgegenkam (Mit welchem Öl wird die Hydraulikanlage des Staplers betrieben: a) Rapsöl; b) Leinöl; c) Hydrauliköl?). Letztlich übersprang sie aber jeder. Sozialismus, das hieß: Alle oder keiner.

Schönbach ließ seinen Gabelstapler, einen schmutzig gelben, die Spuren zahlreicher Zusammenstöße tragenden Eintonner, an dem Hupe und Bremsen nur sporadisch funktionierten und dessen Sitz eine klaffende Wunde aus Kunstleder und Schaumgummi war, auf die menschenleere LKW-Rampe rollen. Er saß etwas ungelenk auf dem Gefährt, das für Personen seiner Größe – er maß exakt einen Meter fünfundneunzig – nicht konzipiert worden war; Knie und Ellenbogen kamen sich beim Lenken fortwährend in die Quere. Aber an das generelle Nichteingerichtetsein der Welt auf die vertikalen Ausmaße seines Körpers war er gewöhnt. Beispielsweise was seine Bekleidung anging. Wer wie Schönbach dazu verdammt war, sich mangels Alternativen in die textilen Erzeugnisse Volkseigener Betriebe hüllen zu müssen, wer also keine Westverwandten hatte, die ihm barmherzige Pakete schickten, oder nicht wenigstens Westgeld besaß, um im Intershop einzukaufen, und dazu noch eine ausgefallene Konfektionsgröße benötigte, der lief halt die meiste Zeit seines Lebens herum wie ein Clown. Das entwürdigende Gefühl, schlecht gekleidet zu sein, war für den jungen Johannes Schönbach daseinsprägend gewesen. Es war irritierend genug zu beobachten, wie seine Knochen eigenmächtig einer idiotischen Sehnsucht nach Länge folgten – so weit, dass Fleisch und Muskulatur gewissermaßen zwischen ihnen aufgespannt wurden (seinem frühpubertären Bizeps hätte ein geübter Kontrabassist das tiefe E entlocken können) –, jedoch der wirkliche Fehlwuchs geschah in seiner Psyche, die nicht verwinden konnte, womit er diese Knochen scheußlicherweise täglich aufs Neue drapieren musste, nachdem er sich von der nächtlichen Streckbank erhoben hatte. Als Teenager hatte er keine einzige Hose besessen, die nicht wie ein Sack an ihm hing. Meist musste seine Mutter diese Produkte aus dem VEB Jugendmode Berlin durch Anstückelung eines Stoff- oder Lederstreifens auf die antikollektivistische Ausdehnung seiner verhassten Hachsen verlängern, und selbst noch im Schlaf schämte er sich dafür. So wuchs er mit seinen eigenen Minderwertigkeitskomplexen um die Wette. Dabei gab es neben den souverän-entspannten Levi’s-Trägern genügend Schulkameraden, die ebenfalls einen erschütternden Mangel an West-Kontakten optisch kundtaten, aber die waren wenigstens nicht so prangerhaft lang. Kurzum: Schönbach empfand sich wahlweise als das hässlichste Geschöpf der Schule, Ostberlins oder des Warschauer Pakts.

Die Wonnen verspäteter Menschwerdung setzten ein, als er zum einen etwas an Fülle zulegte und sich zum anderen zu Beginn der neunten Klasse mit nebenbei verdientem und gegen die Proteste seines Vaters schwarz umgetauschtem Geld im Intershop seine erste West-Jeans, eine Levi’s, kaufen konnte (die erste Levi’s und der erste Sex waren nicht nur nahezu ebenbürtige Großereignisse, sondern sie bedingten einander sogar – in der genannten Reihenfolge). Natürlich besaß er keine passenden Schuhe, worauf ihn eine der besser gekleideten Mitschülerinnen prompt aufmerksam machte. Wie sich bald herausstellte, war das baumwollene Wunderwerk, das der Abbildung auf dem Lederaufnäher zufolge ähnlich wie die Halbkugeln des Otto von Guericke sogar der Zugkraft von Pferden trotzen konnte, außerdem eine Nummer zu weit, obwohl sein stolzer Besitzer einem über jeden Zweifel erhabenen Schamanenrezept gehorchend mit der Hose in die Badewanne gestiegen war und die glitschige Zweitepidermis in stundenlanger Prozedur unter Zuhilfenahme eines Heizlüfters auf seiner Gänsehaut getrocknet hatte. Das stürzte ihn in neuerliche Verzweiflung, der seine Mutter mit ihren bescheidenen Nähkünsten halbwegs erfolgreich zu Leibe rückte.

Ein weiterer Nachteil seiner Größe – dass es in Wirklichkeit ein Vorzug war, seine Mitmenschen aus der Warte der Majestäten betrachten zu können, enthüllte sich ihm erst später – bestand in der automatischen Auffälligkeit, die sie mit sich brachte. Für eine im Wortsinne herausragende Person war es schwierig, sich aus der notorisch eingeklagten Kollektivität davonzustehlen. Nanu, hieß es dann sofort, wo ist denn der Lange? Seine Absenz stach jedermann sofort ins Auge. Er fehlte trotzdem oft, und dass man ihm dies vorwarf, war ein Leitmotiv seiner Schulzeit. In jeder seiner Beurteilungen stand zu lesen, Johannes Schönbach versuche sich bedauerlicherweise vom Kollektiv auszuschließen. Freilich stand in allen Beurteilungen auch, dass er hochintelligent sei. Aber das lag eine Weile zurück …

Der junge Mann auf dem Gabelstapler war also weit über das Normalmaß hinausgewachsen, wobei mit dieser Länge eine nur geringe Breite korrespondierte. Soll heißen: Er war ziemlich dürr – aus seitlicher Perspektive noch mehr als von vorn –, wobei diese Dürre einen künstlich beziehungsweise gewaltsam erzeugten Eindruck vermittelte. Er wirkte, als mangle es ihm seit längerem an Schlaf, frischer Luft und ausgewogener Ernährung. Seine Gesichtsfarbe entsprach keineswegs nur dem, was man herkömmlicherweise als Blässe bezeichnet; dieser anorganische Beigeton erinnerte eher an die Beschichtung mancher Küchenmöbel. Man hätte ihn dennoch als gutaussehend bezeichnen können (und bevor er an diesen Ort kam, war er auch gelegentlich so bezeichnet worden), insbesondere seiner ozeanischen Augen wegen, deren normalerweise intensives Türkis unter dem Belagerungsdruck enormer Augenringe momentan etwas ermattet wirkte. Sein Schädel war lang und großstirnig, das Haar schwarzbraun, Nase und Lippen stark ausgeprägt, nur bei der Kinnpartie hatte sich die Natur den Jux geleistet, sie eine Spur zu klein ausfallen zu lassen, sie widersprach gewissermaßen, freilich nur kleinlaut, der Stirn und boykottierte, wenn man sehr genau hinsah, die elliptische Ideallinie der Kopfform.

Es war ein Aprilmorgen des Jahres 1987, worüber sich Schönbach bei intensiver Befragung seines wattigen Hirns allenfalls im Klaren gewesen wäre. Die Frühschicht hatte soeben begonnen, Ostberlin lag im Sechs-Uhr-Morgendämmer. Draußen auf der Rampe stand eine frische Lieferung Bärensiegel-Eierlikör, vierzehn Paletten à 480 Flaschen, 6720 mal 0, 7 Liter gelber Gaumenkleber für Rentnerpartys und Geburtstagsnachmittage, zum Übers-Eis-Kippen und zur Heranführung des Nachwuchses an daseinserleichternde Trinkgewohnheiten. Schönbach stieg von seinem nach Batteriesäure stinkenden Gefährt, wobei er das Siegfried-Motiv aus Wagners Ring pfiff und sich nach allen Seiten umsah. Seine Wohlgeübtheit nicht verhehlend, löste er eine Flasche des von der Morgenkühle wohltemperierten Likörs aus einem der Gebinde, schüttelte sie kräftig und ließ drei beachtliche Kaskaden in seiner Kehle verschwinden. Dann schob er die halbleere Flasche an ihren Platz zurück, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab, tat einen innigen Rülpser und brummelte mit gekünsteltem Bass:

»Trinken wollt ich, nun treff ich auch Fraß –«

»Na, jefrühstückt?«

Schönbach fuhr auf den Absätzen herum. Hinter ihm stand Röhm, ein harmloser Knallkopf, der das Pech besaß, wie ein Ungeheuer auszusehen. Massig, ungestalt, trotz seiner zwanzig Jahre bereits mit schütterem Haar geschlagen, dessen Farbe an verdorrtes Moos erinnerte, und so extrem schielend, dass einem vom Hinschauen schwindlig wurde, lehnte er, den Sicherheitsgurt seines Regalbediengerätes wie ein Gängelband um die gewaltige Wölbung seines Kegelleibes geschnallt, am Rampentor.

»Röhm, erschreck mich nicht so, hörst du? Es reicht, wenn du abends alte Frauen erschreckst. Was willst du überhaupt hier? Scher dich auf dein RBG.«

»Ick hab noch nüscht zu tun. Die Nachtschicht hat nüscht stehen jelassen.«

Jeder Horrorfilmregisseur hätte Röhm mit Begeisterung engagiert, zunächst sowieso und obendrein, weil er sich den Aufwand für die Maske hätte sparen können, aber es wurden ja keine Horrorfilme gedreht in der DDR. Der schielende Koloss Röhm und der kleine fette Schulze, ein teigiger, leichenblasser Typ, der pausenlos und absolut sinnfrei in einer unerträglichen Kastratenstimmlage herumplärrte, waren die beiden ersten seiner neuen Kollegen gewesen, die Schönbach zu Gesicht bekam, als es ihn vor gut einem Jahr in die hiesige Commedia verschlug, und er hatte sich damals gefragt, ob er nicht gerade einen kapitalen Fehler beging und lieber schleunigst das Weite suchen sollte. Inzwischen hatten sich seine Maßstäbe verschoben beziehungsweise zurechtgerückt – welche von beiden Varianten zutraf, wusste er nicht genau, was unter anderem der Wirkung von Äthanol auf das menschliche Gehirn zuzuschreiben war. Bis dato hatte er bloß grundfalsche Vorstellungen darüber besessen, wo der menschliche Durchschnitt anzusetzen sei.

»Wieso säufst du Eierlikör?«, erkundigte sich Röhm verwundert, und aus seinen Worten klang die Bereitschaft, im Bedarfsfall aus den Höhen des Regallagers etwas Solideres herbeizuschaffen.

»Variatio delectat«, bekam er zur Antwort.

»Hä?« Röhms Schielen nahm dräuende Ausmaße an. »War det wieder Lateinisch oder wie?«

»Exakt, denn auf Griechisch hieße es ja metabolä panton glyky. Ist es eigentlich wahr, dass du ein Tennisspiel verfolgen kannst, ohne den Kopf zu bewegen?«

»Leck ma doch. Und wat heißt det nu uff Deutsch?«

Röhm war rührend – er erkundigte sich noch. Er schrie förmlich nach Zuwendung.

»Komm, das kriegst du raus. Hängt man ein N an Variatio, heißt es?«

»Vari …, Varia … – ach so: Variation«, stotterte Röhm.

»Bravo! Und was bedeutet Variation?«

Der krude Koloss schien zu überlegen, ob er nicht einfach abhauen sollte. Aber schließlich sagte er: »Variante?«

»Warum sollte«, fragte Schönbach, »warum sollte Variante Variation bedeuten? Mensch, Röhm, konzentrier dich! Du liegst insofern richtig, als wir den Wortstamm varia beibehalten, die Substantivierung von varius, was verschieden oder vielfältig bedeutet.«

»Wie viel haste denn von det Zeug schon jetrunken?«, erkundigte sich Röhm weise.

»Lenk nicht ab, wir waren bei der Bedeutung von Variatio. Wenn du, woran ich leider zweifeln muss, mal einen Tag erlebst, der vom üblichen Einerlei abweicht, was bietet dir dieser Tag dann?«

»Abwechslung?«

»Na was denn sonst? Ich wette, du hättest die 10. Klasse doch geschafft. Die Formulierung, dass jemand sich an etwas delektiert, hast du die schon mal gehört?«

»Nö.«

»Man kann sich zum Beispiel an einer Frau delektieren …«

Der Menschenkegel errötete im gesamten oberen Fünftel. Gehört hatte er zumindest davon.

»… wobei, und damit wären wir wieder bei unserem Fall, man sich ernsthaft natürlich nur an mehreren Frauen delektieren kann.«

»Du hast also uff Lateinisch jesagt, du trinkst den Eierlikör wejen die Abwechslung?«

»Exakt. Und weil der Mensch morgens ein paar Kalorien braucht. Oder kriegst du um die Zeit schon feste Nahrung runter? Mensch, Röhm! Wie kommen bloß manche darauf zu sagen, du seist bekloppt? Du wirst eines Tages noch Chef vom gesamten Wareneingang. Strenggenommen habe ich gesagt, dass jede Abwechslung erfreut. Das steht schon bei Euripides – den kennst du, nicht? Der war hier Schichtleiter von 450 bis 430 vor Christus. Bei ihm steht, wie gesagt, metabolä panton glyky. Metabolä, das bedeutet nicht bloß Veränderung, sondern auch Umsturz, Revolution, verstehst du? Und glyky kennst du auch, das steckt heute noch in der Glukose, von der wiederum jede Menge in deinem Wanst steckt. Alle Veränderung ist süß, heißt es im Original – aber auch: Jede Revolution ist süß! Es wäre mal Zeit für eine, oder?«

Röhm schien nun vollends die Kontrolle über sein Schielen zu verlieren und begann an seiner Unterlippe zu kauen.

»Na ja, vergiss das mit der Revolution«, beruhigte ihn Schönbach. »Es gilt eben immer: bei Frauen, bei Speisen, bei Getränken, beim Fernsehprogramm, bei der Regierungsform und auch bei Kollegen. Deswegen hat mich die Heimleitung ja zu euch geschickt, damit ihr hier ein bisschen Abwechslung bekommt.«

»Verarsch ma nich«, sagte Röhm und sein Gruselgesicht sah mitgenommen aus. »Ick mach ma vielleicht mehr Jedanken über manche Sachen, als de gloobst. Und eens weeß ick: Dass se eenen wie dich hierherjeschickt ham, is ne Schweinerei. Aba trotzdem brauchste ma nich verarschn.« Mit diesen Worten ging er. Er war einfach ein netter Kerl.

Schönbach stieg wieder auf seinen Stapler und blieb in einem jähen Anfall von Normerfüllungsverweigerung, dem ein identisch jäher Anfall von Ekel um Sekundenbruchteile vorangegangen war, auf der Rampe stehen. Es war zwar kalt hier draußen, zumal mit einem Klumpen kalten und zähflüssigen Likörs im Magen, doch es grauste ihn, hineinzufahren. Obwohl dieses Ekelgefühl sein täglicher Begleiter war, wusste er nicht genau, ob es eher dem Lager und seinen werktätigen Insassen galt oder doch mehr sich selbst. Mit dem Ekel verhielt es sich so, dass er ihn nur mit Schnaps bekämpfen konnte, wovor er sich aber zugleich wieder ekelte, und so weiter. Zurzeit stand nichts Passableres als der Eierlikör in seiner Reichweite, das heißt im toten Winkel der zahlreichen Kameras, die wie gefährliche Großinsekten in Deckenhöhe an Wänden und Pfeilern hingen, und Schönbach bat ungern Kollegen darum, ihm etwas aus dem Hochregallager zu holen, nicht mal den netten Röhm, weil er dieses komplizenhaft-wissende Grinsen bei der Übergabe nicht ertrug. Passabel hieß: etwas, das man aus der Flasche trinken konnte, irgendein nicht allzu süßer Likör. Die ganz harten Hunde tranken schon morgens Korn oder Wodka; das schaffte er mit seinem nervösen Magen nicht. Er brauchte zumindest etwas zum Nachspülen. Am liebsten mixte er sich Wodka oder Whisky mit Cola – den Ost-Whisky kriegte man pur sowieso nicht runter –, aber er konnte ja unmöglich ein Cocktailglas auf dem Stapler spazieren fahren, obwohl rechts neben der Sitzruine Platz für eine komplette Hausbar gewesen wäre. Seine Zechkumpane in der Reklamationsabteilung (um den Begriff Freunde nicht unstatthaft in einen Kontext einzuführen, in welchem aufgrund permanenter Bewusstseinstrübung nur Kumpane existieren), wo man sittsam aus Gläsern trinken konnte, hatten diese Woche Spätschicht und würden erst um vierzehn Uhr ihren Dienst antreten. Frühschicht und normaler Wochentag, das war sowieso eine ungünstige Konstellation zum Trinken, weil sich im Wareneingang viel zu viele Leute aus dem Bürogebäude, dem so genannten Faultierhaus, herumtrieben, die den Proleten wohl die Quellnähe neideten. Die Spontanpartys stiegen an den Wochenenden, wenn die Faultiere auf den heimischen Sofas Bedeutendes taten, die Belegschaft in Minimalbesetzung agierte und auch die Wachmannschaft halbiert war.

Schönbach gab sich einen Ruck, gabelte die erste Eierlikör-Palette auf und fuhr in die Wareneingangshalle, auf deren schwarzgrauem Betonfußboden Pfützen aus Schnaps und Regenwasser standen – die Hallendächer hatten alle Löcher, aber der gelernte Dachdecker Erich Honecker hielt ja lieber Reden. Ein rotes Schriftband mit der Losung »Die Versorgung der Werktätigen mit Spirituosen – unser Klassenauftrag!« hing an der gegenüberliegenden Stirnseite traurig in der Mitte durch.

»Halt, bleib mal stehen, da vorn ist eine Flasche kaputt«, rief die Kontrolleurin, die für diese Lieferung zuständig war, ein stumpfsinnig blickendes Ding Anfang zwanzig, schafsgesichtig, rotblond, sommersprossig und hochschwanger. Aber sie hatte einen reizenden, festen Apfelarsch – zumindest gehabt – und trug nie einen BH, selbst jetzt nicht, wo ihre Brüste zu explodieren schienen und ihre Nippel den Arbeitskittel zu durchbohren drohten. Schönbach kannte ihre Anatomie etwas näher, denn er war während einer jener Wochenend-Nachtschichten, wo sich ein mäßiger Arbeitsanfall mit einem ausgiebigen Alkoholkonsum verschränkte, wo, kurz gesagt, mal wieder auf Staats- und Betriebskosten gefeiert wurde, mit ihr für ein halbes Stündchen zwischen den Paletten des Hochregallagers verschwunden und hatte alles genau erkundet, während sie sich in die Hand biss, um eventuell herumstreunenden Kollegen kein Hörspiel zu bieten. Wenig später war sie, gottlob von einem anderen Kollegen, schwanger geworden; wo, entzog sich Schönbachs Kenntnis, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein unterstarkem Alkoholeinfluss gezeugtes halbdebiles Hochregallagerkind demnächst eine begrenzt schöne Welt erblicken würde, war keine geringe.

»Gestern hab ich die Fuhre abgenommen, und alles war in Ordnung«, maulte sie und schob ihre Mordsplauze um die Palette. »Ich dachte, ich krieg’ endlich mal ’ne Lieferung, wo ich kein Fehlmengenprotokoll schreiben muss.«

»Dann übersieh es einfach«, schlug Schönbach vor. Er wollte sie bei ihrem Namen nennen, aber er hatte ihn vergessen. In letzter Zeit vergaß er dauernd etwas.

»Die ist nicht kaputt, die hat jemand aufgemacht«, erklärte sie fachmännisch, nachdem sie die Flasche aus dem Gebinde gezerrt hatte.

»Wer soll die denn aufgemacht haben? Kein Schwein trinkt Eierlikör.«

»Das frag ich mich auch. Noch dazu aus der Flasche. Das klebt doch wie Zuckersirup.«

»Eher wie Sperma.«

»Iiii, wie du redest«, rief sie, machte aber ein Gesicht, das gar nicht nach »Iiii«, sondern eher wie gekitzelt aussah, »Sperma, wie eklig!«

»Was, du ekelst dich vor Sperma?«, erkundigte sich der Lagerist Stahlberg, der eben vorbeigeschlurft kam, ein hagerer, unrasierter Kerl mit blonden zottigen Haaren und dem stumpfen Blick des Spiegeltrinkers.

»Ach du, misch dich nicht ein –«

»Das hast du nun davon«, mischte sich Stahlberg weiter ein.

»Was hab ich wovon?«

»Würdest du dich nicht ekeln, hättest du’s geschluckt. Hättest du’s geschluckt, hättest du jetzt keinen dicken Bauch.«

Und er schlappte grinsend weiter, als habe er einen guten Witz gemacht.

»Blödmann!«, rief sie ihm hinterher.

»Stahlberg sollte dieses Jahr Bestarbeiter werden«, sagte Schönbach. »Allein schon für seinen entschlossenen Gesichtsausdruck. Findest du nicht?«

»Stell die Palette ab, ich muss ein Fehlmengenprotokoll schreiben.«

»Quatsch! Steck die Flasche wieder rein, das merkt doch niemand.«

»Meinst du wirklich?« Sie blickte sich um. Wie hieß das Mädel bloß?

»Nun mach schon!«

»Nein, das darf ich nicht. Stell die Palette ab.«

In diesem Moment bog kein Geringerer als Doktor Hubert Halluschinsky, der Betriebsdirektor, um die Ecke. Niemand außer vielleicht seiner Gattin wusste, was der Mann um diese Zeit hier schon zu suchen hatte. Halluschinsky, den alle Schlawinski nannten, war ein ungefähr fünfzigjähriger kleinwüchsiger Halbglatzkopf mit Brille, einem immer leicht verblüfft wirkenden Gesichtsausdruck und feuchter Aussprache, der meistens karierte Hemden trug und zu dessen Lieblingsscherzen die Behauptung gehörte, in keinem der Betriebe, in denen er zuvor gearbeitet hatte, sei so wenig gesoffen worden wie hier. Diese Aussage besaß einen selbstreferentiellen Wahrheitskern: Halluschinsky war ein trockener Alkoholiker, den die Trunksucht vor vielen Jahren aus dem universitären Lehramt in die Produktion und zuletzt ironischerweise hierher verschlagen hatte. Von ihm hieß es, er habe den einzelhandelsüblichen Kartoffelsack erfunden, jenes dubiose Netz, an dem sich der Knabe Johannes Schönbach, wenn seine Mama ihn einkaufen schickte, jahrelang die Fingerchen abgeschnürt hatte, bis er endlich auf den Dreh gekommen war, eine der Kartoffeln beim Tragen in die Hand zu nehmen. Vielleicht besaßen Halluschinskys vorgesetzte Genossen einen speziellen Humor, dass sie ihn direkt an die Quelle setzten, wo er sich vorkommen mochte wie ein Triebtäter im Harem, vielleicht waren sie Zyniker, Sadisten oder vollkommen gedankenlos – wie auch immer: Halluschinsky hatte die Situation gemeistert und allen Versuchungen widerstanden. Er war überdies kein Renegat geworden, sondern zeigte ungewöhnlich viel Verständnis für Kollegen mit Alkoholproblemen. Derer gab es einige, und zu ihnen gehörte Schönbach.

Immer wenn er den Direktor sah, musste er automatisch an sein Einstellungsgespräch vor einem Jahr denken, als die Kaderleiterin, die offensichtlich seine Akte nicht gelesen hatte – bestimmt weil sie das Elend nicht mehr ertrug, sich die Akten der Existenzen, die sich bei ihr bewarben, anzusehen –, ihn nach seinem Schulabschluss gefragt und ohne die Antwort abzuwarten unter der entsprechenden Rubrik im Bewerbungsvordruck mechanisch »8. Klasse« eingetragen hatte (sie war so nett beziehungsweise klug, den Vordruck gleich selber auszufüllen; auch das ließ deprimierende Rückschlüsse auf den Personenkreis zu, der üblicherweise bei ihr vorsprach).

Als er aber »Abitur« geantwortet hatte, war die Kaderleiterin zusammengefahren, als habe er etwas Unanständiges zu ihr gesagt, hatte ihn sodann mit einem Blick gemustert, in dem Erstaunen und Verständnislosigkeit Pingpong spielten, um schließlich, nachdem die Verständnislosigkeit obsiegt hatte, zu fragen: »Was um alles in der Welt wollen Sie dann hier? – Ich meine: Warum wollen Sie dann als Lagerist arbeiten?«

Törichte Kadertante! Als ob diese grundsätzliche Frage mal eben so zu beantworten gewesen wäre! Sollte er ihr die Wahrheit anvertrauen? Ihr erklären, dass es zu einem grundlegenden Zerwürfnis zwischen diesem Staat und ihm gekommen war, dessen Folgen unfairerweise er ganz allein zu tragen hatte? Dass er bei Gelegenheit einer fröhlichen Zecherei drei merkwürdige Herren kennen gelernt hatte, die hier arbeiteten und ihm erzählt hatten, man könne im WtB-Zentrallager Spirituosen erstens ganz gut verdienen und zweitens jede Menge gratis saufen? Dass er nach dem ultimativen und unwiderruflichen Scheitern all seiner Zukunftspläne fortan mehr trinken wollte, als je ein Unsterblicher vor ihm?

Was hatte er der Kaderleiterin damals bloß geantwortet?

Aber schon an seinem zweiten Arbeitstag stand Halluschinsky vor ihm und erklärte, es komme bestenfalls alle zehn Jahre vor – und diese Zeitspanne wähle er nur, weil er selbst erst neun Jahre hier sei –, dass ein Mensch mit Abitur in diesem Betrieb auftauche; es könne nicht angehen, dass dieser Mensch Schnapsgebinde auf Paletten staple. Er, Schönbach, möge gefälligst in die Schicht C wechseln und nach ein paar Monaten Hospitation vielleicht die Leitung des Warenausgangs übernehmen, diese Stelle sei gerade vakant, denn der, der sie bislang bekleidet hatte, sei – na, egal, ein Spirituosenlagerschicksal eben. So sah es also aus, wenn sich unverhofft ein Karrierefenster auftat. Aber Schönbach wollte kein sozialistischer Leiter werden; seine Lebensplanung war mittlerweile entschieden destruktiv.

»Sie wissen, dass ich von der Uni geflogen bin?«, fragte er.

»Ja und? Das ist vielleicht ein Glücksfall für uns. Ich bin übrigens auch mal von der Uni geflogen«, hatte Halluschinsky geantwortet. Der Mann war offenbar schwer in Ordnung, und es tat Schönbach aufrichtig leid, ihn enttäuschen zu müssen.

Aus welchem Grund Halluschinsky dem akademischen Betrieb hatte Valet sagen müssen, war übrigens ein offenes Geheimnis. Der relative Respekt, den der Direktor genoss, weil er trotzdem im Garten des Versuchers sein Tagwerk verrichtete, glich jenem, den eine katholische Gemeinde ihrem zölibatären Hirten entgegenbringt. Man konnte relativ sicher sein, dass Mitarbeiter, die schlecht über ihn redeten, ihr Trinkverhalten unter Kontrolle hatten. Freilich war Schönbach damals noch nicht in diese Bewandtnisse eingeweiht, so dass er in spontaner Solidarität fragte: »Tatsächlich? Warum hat man denn Sie geschmissen?«

Halluschinsky verzog keine Miene, während er mit dem rechten Arm eine Kreisbewegung beschrieb, die wohl zugleich allumfassend und wegwerfend sein sollte, und antwortete: »Ich hatte zu diesem Zeug hier ein innigeres Verhältnis, als es einem Ökonomie-Dozenten ansteht.«

Da kann es ja mit dem Sozialismus nichts werden, dachte Schönbach spöttisch, wenn ein Alkoholiker einem Staatsfeind eine Führungsposition anbietet.

Der Teufel mochte wissen, warum der Glatzkopf so ungewöhnlich offen mit seinem Malheur umging. Vielleicht war er stolz darauf, den überwältigenden Anblick der Schnaps-Pyramiden inzwischen mit einem stoischen Achselzucken parieren zu können. Vielleicht waren auch seinerzeit die Gerüchte schneller hier angekommen als er selbst, und er hatte sich für einen offensiven Umgang mit seinem ohnehin ramponierten Ruf entschieden.

»Das fällt unter menschliche Verfehlung. Bei mir liegen die Dinge aber anders«, hatte Schönbach eingewandt.

»Sie sind, wie es so schön heißt, vom Klassenstandpunkt abgewichen, ich weiß«, erwiderte Halluschinsky, nahm die Brille ab und rieb sie an seinem Hemd. »Aber ich weiß auch«, fuhr er fort, während er die Gläser prüfend gegen das Deckenlicht richtete, »dass der Warenausgang in der C-Schicht einen Chef braucht. Es ist nicht so, dass mir die Kandidaten die Tür einrennen. Machen wir uns doch nichts vor: An den Unis regieren Theoretiker und Spinner. Der Klassenstandpunkt ist mir nicht ganz so wichtig wie der Liefertermin.«

Schönbach hatte sich damals Bedenkzeit erbeten, und als sie verstrichen war, lief bereits das erste Disziplinarverfahren wegen Trunkenheit am Arbeitsplatz und Lagerdiebstahl gegen ihn (Anklagepunkt eins zog hier automatisch Anklagepunkt zwei nach sich; das Argument, man habe sich Schnaps von daheim mitgebracht, ließ man nicht gelten). Es war sehr dämlich von ihm und sprach nicht für den Wert von vier Extra-Schuljahren, sich erstens überhaupt und zweitens so früh erwischen zu lassen, aber die schlaraffige Angebotsmenge hatte ihn überwältigt. Abertausende Flaschen, vom billigsten Fusel bis zum feinsten Tränklein, das ostdeutsche Brennereien hergaben (was, zugegeben, nicht viel hieß), standen plötzlich in meterhohen Stapeln vor ihm: Er brauchte nur die Hand auszustrecken. Wie absurd, dafür jemals Geld ausgegeben zu haben! Es war ihm richtiggehend peinlich, danach Halluschinsky wieder unter die Augen zu treten, doch der bemerkte nur tiefsinnig: »Es gibt eben Gesetze der menschlichen Psyche, die man akzeptieren muss.« Fortan ließ er den Exmatrikulierten in Ruhe. Statt Warenausgangschef zu werden, blieb Johannes Schönbach, der ursprünglich hatte Philologe werden, wollen, Gabelstaplerfahrer.

Eben jener Halluschinsky stand nun also neben ihm und der hochschwangeren Kontrolleurin, die nach wie vor die halbvolle Flasche in der Hand hielt, und fragte: »Eierlikör um die Zeit?«

»Wir haben beschlossen, endlich die Wehen einzuleiten«, ulkte Schönbach. Bei diesen Worten musste er aufstoßen, und ein halbverdauter Bruchteil dessen, was in der Flasche fehlte, verbreitete einen scharfsäuerlichen Geschmack in seinem Mund. Er vernichtete das Beweismaterial und schluckte den Gallert widerwillig hinunter.

Die Kontrolleurin glaubte aus nicht ersichtlichen Gründen, sich verteidigen zu müssen. »Sie denken doch nicht etwa«, rief sie empört, »dass ich – in meinem Zustand – und überhaupt …«

Halluschinsky hob abwehrend die Hände. »Um Himmels willen, nein! Das war ein Scherz.«

Wie es aussah, hatte der Direktor mit seinem Scherz nun tatsächlich die Wehen eingeleitet, denn die Kontrolleurin griff sich plötzlich mit der freien Hand an die Unterseite ihres gewaltigen Bauches und stieß einen spitzen Schrei aus. »Ich glaube, es geht los!«, stöhnte sie. Die Flasche entglitt der Schwangeren, und gleichzeitig entglitt diese selbst gewissermaßen ihren eigenen Füßen; Halluschinsky, unschlüssig, welches der beiden fallenden Objekte er auffangen sollte, griff instinktiv nach der Flasche; Schönbach wollte helfend vom Stapler springen, bedachte aber seine Größe nicht und krachte mit dem Schädel so heftig gegen das Schutzgitter über ihm, dass es vor seinen Augen flimmerte – entgegen allen Arbeitsschutzvorschriften trug er mal wieder keinen Helm. Die Kontrolleurin kippte gegen die Palette, rutschte an ihr hinab und plumpste mit dem bereits mütterlich gepolsterten Gesäß auf den Betonboden.

»Halten Sie die Flasche!«, kommandierte Halluschinsky. Schweißperlchen auf der Stirn kündeten vom Grad seiner Erregung.

Schönbach konnte aber nicht, denn er benötigte gerade beide Hände, um die sich an seinem Kopf bildende Beule zurückzudrängen; nach Sekundenbruchteilen siegte die Autorität des Vorgesetzten über den Schmerz, und er opferte eine Hand zum Halten der Bouteille, die er vor ein paar Minuten zur Hälfte geleert hatte, wofür er sich verwünschte, denn ohne diese verdammte Flasche hätte er jetzt wohl keine Kopfschmerzen und diese Kontrolleurin vermutlich keine Wehen.

Der Direktor wusste allerdings auch mit freien Händen nicht, wie er der womöglich bereits Kreißenden helfen sollte, deren Atemfrequenz zur Eile spornte, und blickte hilfesuchend um sich. Glücklicherweise nahte Rettung in Gestalt einer gewichtigen Disponentin, die schon mehrfaches Mutterglück genossen hatte und wusste, was zu tun war. Sie öffnete der Kontrolleurin die Bluse, fächelte ihr Luft zu und brachte sie mit Hilfe des Direktors wieder auf die Beine. Dann nahmen sie die Seufzende in die Mitte und schwankten mit ihr davon.

Er wird sie doch nicht in die Klinik begleiten, dachte Schönbach, während er dem Trio nachblickte und das Corpus Delicti ins Gebinde zurückschob. Danach karrte er die Palette zur Hochregalschlucht Nummer 39, in welcher der Disponent ihr einen Platz angewiesen hatte. Zischend und fauchend, einen kleinen Lichtkegel vor sich herschiebend, nahte das riesige Bediengerät, eine Ein-Schienen-Lok von Kraneshöhe. »Da vorn ist ’ne Pulle kaputt!«, schnarrte Röhm, der gerade im Führerhaus von Nummer 39 stand. »Na, wurscht.«

Und die Palette wurde gepackt und emporgehoben in eine der unzähligen Waben, wo sie im Dunkel schlafen würde bis zu dem Tag, an dem der Warenausgang sie anfordern und aus ihrer Dornröschenruhe schrecken würde. Da es sich um schnöden Eierlikör handelte, würde sie diese Zeit sogar ungestört verbringen. Es gab andere Sorten, zum Beispiel einen Erdbeerschaumwein namens Schwärmer Rubin, von dem nicht eine einzige Flasche jemals das Lager verließ, egal in welch schwindelnder Höhe die Disponenten ihn einlagern ließen – die Belegschaft trank ihn komplett aus.

2.
Drei ziemlich merkwürdige Herren

Normalerweise spielte das Schicksal einer einzelnen Flasche im Magen des Grünen Ungeheuers keine Rolle. Schließlich gingen jeden Tag hunderte zu Bruch, weit mehr, als die Warenbeweger heimlich austrinken konnten. Bruch und Schwund zusammen bildeten jene Fehlmenge, die unter der Chiffre Risiken des Warenumschlages bilanziert wurde und in Funktionärsbüros außerhalb des Lagers wütende Telefonate auslöste. Sie lag entschieden zu hoch, oberhalb jenes Risikos, mit dem Berechnungen findiger Statistiker zufolge eine gesunde Durchschnittsflasche zu leben hatte – so hoch, dass sich sogar die Bezirksleitung der SED immer wieder mit diesem Problem befassen musste und die Wachmannschaften mit der Belegschaft in permanentem Kriegszustand lebten.

Die Vormittage mochten hier so öde sein wie die Nächte, aber in Schönbachs subjektivem Empfinden verstrichen sie schneller. Kurz nach zwölf, seine Kollegen waren mit dem Eifer einer Schulklasse in Richtung Kantine gestürmt und hatten den Wareneingang verwaist zurückgelassen, erhöhte er die Schwundmenge an diesem Tag zum zweiten Mal, indem er von einer soeben eingetroffenen Lieferung Apfelkorn ein Fläschchen zwangsadoptierte und sich mit ihm zur Toilette stahl. Es steht völlig außer Zweifel (und war auch Schönbach rudimentär bewusst), dass Personen, die sich mittags auf eine mehr oder weniger öffentliche Toilette zurückziehen, um ihre innere Leere mit dem Inhalt einer obendrein noch gestohlenen Flasche Schnaps zu füllen, im Grunde kein Mitleid verdienen. Da stand er denn vor einem reichlich gesättigten Klosettschlund und ließ den nach grünen Äpfeln schmeckenden, die Oberfläche seiner Mundschleimhaut auf der Stelle ungefähr halbierenden Fusel mit der defekten Spülung im benachbarten Separée um die Wette plätschern. Nach wenigen Schlucken mischte sich der faulig-saure Geruch, der wie schweres Parfüm die Luft schwängerte, in das punktuell ähnliche Aroma des Apfelkorns, doch 32 muntere Volumenprozent Alkohol spülten diesen perversen Anhauch triumphierend fort.

Periodisch strebte Schönbach nun zur Toilette, und zusehends ging es ihm besser. Einmal wurde er durch den Lageristen Stahlberg aufgeschreckt, der nach Verrichtung seines Geschäfts mit den Worten »Da kannste schütteln, da kannste kloppen, in de Hose jeht sowieso der letzte Troppen« ein Grundproblem männlichen Daseins in hiermit unsterbliche Verse brachte und sogleich einen Schluck abhaben wollte. Gegen vierzehn Uhr, exakt zum Schichtende, war Schönbach mit der Flasche fertig. Als er zum letzten Mal für diesen Tag den plätschernden Friedhof so vieler karzinologischer Interessantheiten verließ, fiel sein Blick in den halbblinden Spiegel, der dort als einziger verblieben war und inmitten zerschlagener Fliesen beharrlich das Elend verdoppelte. Schönbach sah in ein aufgedunsenes, mit blauvioletten Flecken übersätes, unrasiertes Gesicht, aus dem ihn die trüben Augen eines Menschen anstarrten, der binnen Rekordfrist sein halbes Lebenssoll an Alkohol abgetrunken hatte und nun einen gewissen Erlösungsbedarf signalisierte.

Er war seit Monaten nicht mehr richtig nüchtern geworden.

»Es kann so nicht mehr weitergehen«, sagte er zu sich.

»Es kann so nicht mehr weitergehen«, erklärte er etwas später seinem Zechbruder Pinie, der in der Reklamationsabteilung verblüffend pünktlich die Spätschicht antrat, indem er sich eine Cola mit Cuba Rum mischte.

»Komm, trink erst mal einen«, erwiderte Pinie mit seiner sanften Altstimme, die sich nur, wenn er laut wurde, ins Baritonale senkte.

Pinie hieß mit richtigem Namen Peter Birkholz und war von jeher Birke gerufen worden, bis Schönbach ihn auf dem Höhepunkt einer Obstbrand-Spontanverkostung in Pinie umtaufte. Er war ein stämmiger Endzwanziger mit fuchsrotem Haar, sehr heller, sommersprossiger und ständig gereizter Haut, dessen rundes Gesicht eine Art Seemannsbart zierte, und trug einen schlabberigen blaugrauen Kittel mit ausgeleierten Taschen, in denen er seine Hände vergrub, als wollte er demonstrieren, dass die Arbeit und er auch heute nicht zusammenfinden würden. Nur zum Trinken nahm er die Rechte heraus. Während Schönbach es bis zur Universität gebracht hatte, war Pinie bereits von der Erweiterten Oberschule geflogen, und zwar aus Gründen politischer Renitenz. Er besaß einfach eine penetrante Art, dauernd nachzufragen, die sich zum Beispiel ein für die Vermittlung marxistisch-leninistischer Philosophie qualifizierter höherer Kindergärtner nicht ewig bieten lassen musste. Danach hatte er Buchbinder gelernt und zu trinken begonnen, aber nur an Letzterem wirklich Gefallen gefunden und sich schließlich eine Arbeit gesucht, die mit seiner Neigung vereinbar war. Er trank aus Überzeugung und mit dem Ingrimm eines Flagellanten, gewissermaßen als Widerstandshandlung gegen diesen Staat, der ihm alle möglichen Dinge verwehrte, insbesondere eine Reise in sein ferngeliebtes Amerika, auf der Route 66 von Chicago nach L. A., der untergehenden Sonne nach.

»Was kann so nicht weitergehen?«, erkundigte er sich und schob mit fürsorglicher Miene ein volles Glas über die zerkratzte, mit Brandlöchern übersäte Platte des Tisches, der sich achtbar auf seinen verbogenen Aluminiumbeinchen hielt und zusammen mit ein paar ähnlich rachitischen Stühlen, einem Kühlschrank aus den Zeiten der großen geografischen Entdeckungen, einem Waschbecken, dem plärrenden Radio sowie mehreren Spinden die Ausstattung des Aufenthaltsraumes der Reklamationsabteilung bildete.

»Genau das«, seufzte Schönbach und starrte mit bitterer Gier auf den Drink, worin es verheißend perlte, während in seinen Eingeweiden und auch direkt unter seiner Schädeldecke machtvoll für dessen sofortige Einverleibung plädiert wurde. »Es ist 14 Uhr, und schon ist der Tag im Eimer.«

»Jeder Tag ist im Eimer«, beteuerte Pinie.

Unter seinem roten Bart sah man die blauviolett gefärbten Pickel, die ihn daran hinderten, sich zu rasieren, weil jede Rasur auf Selbstzerfleischung hinauslief. Sogar bei der Nationalen Volksarmee, die weder national noch eine Armee des Volkes und bei Lichte besehen nicht mal eine Armee war, sogar dort also hatte Pinie aufgrund der dramatischen Neigung seiner Epidermis, sich vulkanartig auszustülpen, das Privileg der Rasurbefreiung genossen, zumindest bis sein Bart so weit gewachsen war, dass der Langhaarschneider zum Einsatz kommen konnte. Nach einer Reihe von Blutbädern hatten seine Vorgesetzten akzeptiert, dass ein rasierter Pinie (der damals noch Birke beziehungsweise Soldat Birkholz hieß) den Anblick der Truppe mehr beeinträchtigte als ein unrasierter, denn der rasierte Soldat Birkholz sah aus, als sei er mit dem Gesicht voran in einen Stacheldrahtverhau gesprungen. Nie, so Pinie später, habe sich seine Außenhülle in einem angegriffeneren und desolateren Zustand befunden als bei der Armee, nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper. »Meine Haut«, hatte Pinie erklärt, »ist die Grenzlinie zwischen mir und diesem Staat. Diese Grenze wird fortwährend angegriffen, dementsprechend ramponiert sieht sie aus.«

Pinie hatte sein Schichtantritts-Glas mit hektischem Schichtantritts-Durst geleert und erhob sich als ein unverkennbar ruhigerer Mensch, um nachzuschenken. Durch das Fenster des Aufenthaltsraums ließ sich vortrefflich die große Stahltür beobachten, die die Reklamationsabteilung vom Rest des Lagers schied und zu jenem idyllischen Ort machte, an dem man unbeobachtet trinken konnte. Die Abteilung war zwar groß genug, dass beispielsweise ein Bus darin mühelos Platz gefunden hätte, aber das war winzig im Lagermaßstab, und deshalb spionierte hier kein elektronisches Auge. Womit der Wache manches entging.

»Jeder Tag, über den man nicht autonom verfügen kann, ist im Eimer«, präzisierte Pinie mürrisch, während er zum Kühlschrank stapfte, um sich eine Cola zu nehmen.

»Wann konntest du zuletzt über einen Tag verfügen?«, erkundigte sich Schönbach mechanisch, obwohl er die Antwort kannte, aber er wollte kein Spielverderber sein – viele Ehepaare wissen nicht mehr, was sie miteinander reden sollen, und symbiotischen Trinkerpaaren geht es kaum anders.

»Noch nie. Deswegen trinke ich ja. Alkohol ist die einzige Verheißung, die einlöst, was sie verspricht. Man kann sich auf den Rausch verlassen; er kommt pünktlich und befriedigt mit Sicherheit. Außerdem verhindert er, dass ich unentwegt daran denken muss, nicht über meine Tage verfügen zu können. Ich trinke, weil ich keine Alternative zum Trinken habe.«

Er stierte mit zerfaserndem Blick auf sein Glas.

»Keine Alternative«, wiederholte er und führte es gesammelten Auges zum Mund.

»Scheiße, Mensch«, rief Schönbach, »wir sind seit Monaten jeden Tag mindestens einmal blau!«

»Ist das nicht wundervoll?«

»Nein!«

Unwirsch und mit beträchtlicher Willensaufwendung schob der Reklamationsabteilungsstammgast das unberührte Getränk von sich, obwohl diese einsame Entscheidung seines Oberhauses im plebejischen Schönbachgekröse Unmutsbekundungen hervorrief (oder umgekehrt). »Es ist furchtbar. Asozial. Geisttötend. Ich will, dass es aufhört.«

»Alles, was geisttötend ist, ist gut«, beharrte Pinie. Er saß neben dem Waschbecken, von wo er am besten die Tür im Auge behalten konnte, und auf sein Kugelantlitz malte sich die selige Röte der ersten Alkoholanbrandung. »Wie sollte man sonst ertragen, keine Alternative zu haben?«

»Ach du mit deinen mangelnden Alternativen«, sagte Schönbach, dem Pinies alternativloser Gebrauch des Alternativlosigkeitsarguments auf den Keks ging. Aber die Formulierung weckte Durstgefühle in ihm, denen sie gewissermaßen einen Freibrief erteilte, und er warf einen schmachtenden Blick auf das randvolle Glas. »Man könnte beispielsweise lesen, statt zu saufen. Noch mal den gesamten Shakespeare, Tolstoi, Flaubert, die Philosophen …«

»Die Philosophen!«, äffte Pinie. »Wo willst du sie denn herbekommen? Es sind doch fast alle verboten!«

»Die Alten nicht, und das sind schließlich die Fundamente«, entgegnete Schönbach und dachte wehmütig an seine schöne Kant-Ausgabe von 1912, die seit Jahren unberührt im Regal stand, weil der Königsberger Erzgescheite oft schon nüchtern kaum zu verstehen war.