ALTERAS
Für Christa,
die ihren Willi hoffentlich
eines Tages wiederfindet
ALTERAS
Die Federschlange
© 2022 Agnes Maxsein
Cover und Illustrationen: Agnes Maxsein
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Bisher erschienen in dieser Reihe:
ALTERAS - Die Spur des Torwächters
ALTERAS - Die Federschlange
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-56672-9
ISBN Hardcover: 978-3-347-56673-6
ISBN E-Book: 978-3-347-56675-0
ISBN Großschrift:
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
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PROLOG
Der Tempel überragte sogar die Bergspitzen. Ein Strahl Morgensonne fiel genau auf die Ostseite der Pyramide und ließ die hellen Sandsteine golden leuchten. Zu Füßen des Baus breitete sich ein immergrüner Dschungel aus. Hier und da erhoben sich kleinere Tempel und Türme aus dem Urzeitwald. Von ferne wirkten selbst die größten Baumkronen wie die ordentlichen Beete eines Schlossgartens. Vögel kreisten in bunten Schwärmen darüber, ihr Keckern, Pfeifen und Kreischen erfüllte die Luft. Unzählige kleine und große Flüsse sprudelten über hunderte und tausende Steinstufen, glänzten im frühen Licht, gurgelten und plätscherten in unsichtbaren Kanälen und stürzten tosend die Steilhänge ins anliegende Tal hinab. Ein feiner Sprühnebel stieg vom Wasser auf, Sonnenlicht brach sich darin und Regenbögen perlten über die Abbruchkanten.
Arne wischte sich die Stirn mit seinem hochgekrempelten Ärmel. Neben ihm tat Horkus mit einem fleckigen Tuch das gleiche. Die Feuchtigkeit stieg bis zu den grünen Gipfeln hinauf. Trotz der frühen Uhrzeit war es warm, beinahe schwül. Sie durften sich nicht zu lange aufhalten. Grandiose Aussicht hin oder her, vor der Mittagshitze sollten sie sich in den Wald zurückziehen. Der Weg in die Dschungeltiefen würde beschwerlich und gefährlich sein und sie hatten nicht endlos Zeit.
Eine Weile beobachteten sie, wie die Sonne höher stieg und die Schatten auf den Baumwipfeln zurückgedrängt wurden. Aus den Tiefen des Waldes dröhnte ein dumpfer Schrei und dann krachte es laut, wie Holz, das auf Felsen zersplitterte. Arne und Horkus tauschten Blicke.
„Wir sollten los“, sagte Arne. „Es wird nicht leichter, wenn wir warten.“
Horkus nickte. Das schüttere weiße Haar pappte jetzt schon an seinem erhitzten Schädel. Die letzten Tage hatten ihn zweifellos angestrengt. Aber er umfasste entschlossen seinen Wanderstock und spähte über das wilde Land.
„Wir sollten versuchen am Wasser entlang zu gehen“, sagte der alte Wissenschaftler. „Da finden wir am ehesten einen gangbaren Weg zum Tempel.“
Arne nickte zustimmend. Er prüfte noch einmal ihre Instrumente. Der Transzendor schnurrte zufrieden und zeigte einen frischen Datensatz. Ihre Koordinaten waren alle so, wie sie sein sollten. Wie jedes Mal überkam ihn eine Welle der Erleichterung. Im Grunde war es Irrsinn, sich völlig ein paar kleinen Maschinen auszuliefern. Auch, wenn er sie zum Teil selbst gebaut hatte und sicher war, dass sie korrekt funktionierten. Trotzdem – die geringste Störung, der winzigste Fehler, und sie saßen hier für immer fest. Die Vorstellung war so gruselig, dass Arne lieber nicht zu oft darüber nachdachte. Der traumhafte Ausblick täuschte ihn dabei nicht. Die Welt zu ihren Füßen mochte aussehen wie das Paradies, doch das war ein trügerischer Schein. Wie zur Bekräftigung seiner Gedanken drangen aus dem Dschungel erneut bedrohliche Geräusche. Nein, es sah vielleicht wunderschön aus, aber Gefahr lauerte an jeder Ecke.
Er verstaute den Transzendor wieder sicher in seinem Rucksack, steckte sich dafür ein Messer in den Gürtel und schichtete ihren Proviant so, dass er nicht zerquetscht wurde.
„Für wie lange reichen unsere Vorräte noch?“, fragte Horkus.
„Einen Tag“, sagte Arne. „Danach müssen wir wohl jagen gehen.“
„Das wird nicht nötig sein“, sagte Horkus, die Augen auf den Horizont gerichtet. „Ich möchte mir noch einmal den Tempel ansehen und heute Abend noch nach Hause. Ehrlich gesagt freue ich mich auf einen Cognac und eine Nacht in meinem eigenen Bett. Meine Knochen sind für diesen Camping-Trip wirklich nicht mehr jung genug.“
Arne grinste. Horkus erklärte immer, wie wenig belastbar jemand in seinem Alter war. Aber wenn es dann sein musste, schwang er sich an einer Liane über einen Fluss oder surfte einen sandigen Abhang hinunter. Doch Arne hatte nichts dagegen, den Heimweg anzutreten. Sie hatten ihr Schicksal bereits reichlich herausgefordert. Zahlreiche Kratzer und Schrammen am ganzen Körper waren ein vergleichsweise harmloser Preis, wenn Arne an die Erlebnisse der vergangenen Tage dachte. Und doch… er sog das gewaltige Panorama in sich auf. Wenige bekamen so etwas zu sehen. Sie mussten ihren Aufenthalt bis ins Letzte ausnutzen!
„Bist du sicher, dass du schon gehen willst? Wir wissen noch so wenig. “
Horkus nickte. „Es wird Zeit. Wir können bald wiederkommen, vielleicht mit dem gesamten Team. Für den Moment aber sollten wir uns auf den Heimweg konzentrieren.“
Arne zögerte, dann sprach er aus, was ihn wirklich umtrieb. „Denkst du nicht, wir sollten versuchen zu helfen? Was hier passiert, ist Unrecht. So viel Tod und Zerstörung, das können wir nicht auf sich beruhen lassen!“
Horkus seufzte, der Blick suchte noch immer die Ferne. Sah er auf die leuchtenden Bergspitzen oder schweiften auch seine Gedanken zu den Bildern, die Arne seit gestern heimsuchten? Bilder aus Feuer und Asche. „Du wolltest schon immer lieber Held als Forscher sein, Arne Schmock. Denk daran, wir sind nur Beobachter. Dies ist nicht unsere Welt und wir können niemals versuchen, Gott zu spielen.“
„Tun wir das nicht schon?“, sagte Arne. „Jedes Mal, wenn wir ein Tor öffnen?“
„Gott würfelt nicht, so heißt es“, ächzte Horkus und stützte sich schwer auf seinen Stock, „noch trägt er eine Augenbinde. Und so komme ich mir vor, wenn ich durch ein Tor schreite. Wir sind nichts weiter als zwei blinde Würfelspieler.“
„Gerade deshalb“, beharrte Arne. „Wir können sie doch nicht sich selbst überlassen.“
„Ah, die alte Frage, raushalten oder Verantwortung übernehmen. Mit Michael habe ich stundenlang darüber gestritten. Ich habe mich oft gefragt, ob ich mich in Alteras nicht zu viel eingemischt habe, und was daraus entstehen wird. Wir haben nun mal keinen göttlichen Plan.“
„Eben. Wir haben nur unser Gewissen. Aber lassen wir das“, lenkte Arne ein. „Wir können darüber sprechen, wenn wir zuhause sind.“
Horkus nickte zustimmend. „Also dann, letzte Etappe, sehen wir zu, dass wir heil ankommen.“
Sie schulterten ihr Gepäck und begannen behutsam den Abstieg. Er war nicht sonderlich steil, aber weglos, und die Last ihrer Rucksäcke drückte sie und machte es schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Je tiefer sie kamen, umso größer wurden die Pflanzen. Sie kämpften sich durch mannshohe Farnwedel und stolperten über Luftwurzeln, die wie verworrene Knoten den Boden überzogen. Das Gekreisch der Vögel wurde lauter, Arne sah einige prachtvoll gefiederte Exemplare in den Ästen sitzen. Riesige Libellen tauchten aus dem Dickicht auf und umschwirrten die beiden Wanderer. Die langen Hinterleiber der Insekten schlängelten sich wie in Zeitlupe durch die Luft und schimmerten dabei in allen Farben. Als zum ersten Mal eins der Tiere auf ihn zu schwebte, duckte Arne sich erschrocken und warf die Arme über den Kopf. Zum Glück zogen die Libellen an ihnen vorbei, ohne sich um die beiden Menschen zu kümmern. Arne war nicht erpicht darauf herauszufinden, ob sie stechen oder beißen konnten.
„Wann sind die nochmal zuerst aufgetreten?“, fragte er seinen Begleiter. „Vor fünfundzwanzigtausend Jahren ungefähr?“
Horkus schüttelte den Kopf und stützte sich keuchend auf eine Baumwurzel. „Weiß nicht mehr“, sagte er schlapp. „Ich brauch eine Pause.“
Sie setzten ihre Rucksäcke ab und ließen sich auf den Wurzeln nieder. Sie gehörten zu einem gewaltigen alten Baum, dessen Stamm den Umfang eines kleinen Hauses hatte. Arne war nicht wohl dabei, eine längere Rast einzulegen. Sie waren jetzt in etwa dort, von wo sie am Morgen die lauten Geräusche gehört hatten. Wer oder was auch immer sie verursacht hatte, Arne wollte ihm nicht begegnen. Aber Horkus brauchte offenbar dringend eine Verschnaufpause. Seine Brust hob und senkte sich bedenklich, sein verschwitztes Hemd klebte ihm am Körper. Er bemerkte Arnes besorgten Blick und lächelte.
„Mach dir keine Gedanken, ich bin gleich soweit. Oder hältst du mich mittlerweile auch für größenwahnsinnig?“
Arne grinste seinerseits. „Klar, das denke ich auf jeden Fall. Deshalb wollte ich ja mit.“
„Ha!“, rief Horkus. „Dann hilf mir mal auf. Es kann nicht mehr weit bis zum Tempel sein.“
Mit einem skeptischen Blick reichte Arne ihm die Hand. Horkus zwinkerte und ging wieder voraus.
Sie schlugen sich durch den dichter werdenden Dschungel, bis sie Wasser plätschern hörten. Sie hatten endlich einen der Flüsse erreicht. Wie erhofft, wurde der Weg hier leichter. Sie hielten sich am Ufer, das von glattgespülten Steinen gesäumt wurde, über die sie recht bequem gehen konnten. Nun kamen sie flott voran, Horkus schien fast ein bisschen übermütig zu werden. Arne beobachtete ihn wachsam; nicht, dass der alte Mann noch auf dem glitschigen Moos ausrutschte und mitsamt ihrer Ausrüstung in den Fluss fiel.
„Da ist wieder eins!“, rief er warnend, als Horkus durchs seichte Ufer stapfte. Nur wenige Meter entfernt schwamm ein Flussreptil. Es ähnelte einem Krokodil, fiel aber vor allem durch seine rötliche Färbung und den meterlangen Schwanz auf.
„Schon gesehen“, rief Horkus eifrig. „Sieht es nicht fantastisch aus?“
„Ja, und beißt bestimmt fantastisch!“
„Bestimmt“, sagte Horkus vergnügt und musterte das Reptil weiter interessiert.
Arne lachte in sich hinein. Nichts konnte Horkus von Holstein erschüttern, wenn er eine wissenschaftlich faszinierende Erscheinung vor sich hatte. Nichts. Außer vielleicht…
Es krachte wieder laut, doch diesmal kam der Lärm aus dem Dickicht gleich hinter ihnen. Horkus sah erschrocken auf, schwankte und hielt mithilfe seines Wanderstocks so eben das Gleichgewicht.
„Weg hier!“, schrie Arne, sprang über die nassen Steine und zog Horkus mit sich. Ein röhrendes Brüllen begleitete sie, Bäume und Sträucher knackten um wie Streichhölzer und dann galoppierte etwas Gigantisches aus dem Dschungel heraus in den Fluss hinein.
„TRICERATOPS!“, brüllte Arne und flüchtete hinter einen größeren Gesteinsbrocken, als ein nashornartiger Dinosaurier das Ufer entlang stürmte.
„Ist ein Pflanzenfresser“, japste Horkus.
„Ja und? Der macht uns trotzdem platt!“, schnappte Arne. Die Panzerechse stampfte wütend im Wasser und prustete aus geweiteten Nasenlöchern. Dann mischte sich noch ein anderes Geräusch darunter: Stimmen und wieder ein Krachen, viel näher diesmal und besser zu erkennen. Es klang nicht natürlich, eher wie Maschinen und Sprengfeuer.
Arne und Horkus sahen sich an. „Scheint, dass jemand den Saurier jagt.“
„Wie weit noch zum Tempel?“
Arne sah durch sein Fernglas. Er konnte die Tempelspitze zwischen den Baumwipfeln gerade eben erkennen. „Nicht mehr lange, höchstens eine Stunde – wenn uns nichts aufhält.“ Der Triceratops gab wieder einen durchdringenden Laut von sich und schüttelte unwillig seinen Schädel mit den drei Hörnern.
Sie zogen sich geduckt zurück und eilten jetzt näher am Waldrand entlang. Eine Weile kamen sie unbehelligt voran, der Saurier verfolgte sie nicht und der Lärm verebbte hinter ihnen. Schon entdeckten sie die ersten Mauern, die den Tempel umgaben. Der Wald wurde lichter, Statuen und Wälle tauchten auf. Und urplötzlich brach das Chaos über sie herein. Eine ganze Horde von Urzeitechsen bretterte durch die Bäume, alles, was laufen oder fliegen konnte, sauste umher, Schreie und Gebrüll dröhnten durch die Luft, unterbrochen vom Krachen von Explosionen. Von einem Augenblick auf den anderen waren sie umringt, waren in die Jagd und die kopflose Flucht der Tiere hineingeraten. Der Lärm war ohrenbetäubend, alles war in Bewegung, einen Moment verlor Arne völlig die Orientierung. Bäume splitterten und fielen um, die Erde bebte.
„Wir müssen raus!“, rief Arne. Sie duckten sich unter eine der Knotenwurzeln. Selbst der Boden schien in Aufruhr. Würmer und Käfer aller Form und Größe krochen übereinander, bei jedem Schritt traten sie auf irgendetwas Lebendiges.
„Noch nicht“, rief Horkus. „Wir sind so nah, wir können es schaffen!“
Der gesamte Baum wackelte, als eine Herde von was-auchimmer daran vorbei stürmte.
„Das ist doch Irrsinn!“, rief Arne. „Der ganze Dschungel ist voll mit panischen Viechern, wir kommen keine zehn Meter weit!“
Wieder eine Explosion, diesmal ganz in ihrer Nähe: Sie sahen einen gigantischen Baum umstürzen – die äußeren Äste seiner Krone landeten genau auf ihrem Versteck. Arne duckte sich noch tiefer und hielt die Arme schützend über seinen Kopf. Trotzdem peitschten die Zweige rote Striemen und Kratzer in jede freie Stelle seines Körpers. Horkus erging es nicht besser. Arne wartete nicht länger auf dessen Einverständnis. Er zerrte den Transzendor und drei MoKos aus seinem Rucksack und stellte fieberhaft die Skalen ein.
„Warte“, keuchte Horkus.
„Wir verschwinden jetzt hier!“, knurrte Arne.
„Nein, ich meine…“, Horkus deutete auf den Baum über ihnen. „Wir sind in einem Erdloch. Keine gute Stelle!“
Arne gab ihm widerwillig recht. „OK. Aber schnell. Eins, zwei…drei!“
Sie kletterten unter den Wurzeln und dem umgestürzten Baum hervor. Ein Triceratops, vielleicht der vom Fluss, erblickte sie und nahm Anlauf.
„Jetzt!“, rief Horkus. Arne warf die drei würfelähnlichen MoKos auf den Boden um sie herum und hämmerte auf den Transzendor ein. Das Gerät summte, der Saurier schnaufte. Mach schon, drängte Arne ihre Erfindung, mach schon, mach schon!
Ein helles Licht, wie gelbe Blitze, entlud sich zwischen den MoKos und hüllte sie ein. Das letzte, was er sah, war der heranstürmende Dinosaurier, er hörte ihn noch einmal brüllen, dann wurde das Licht blendend hell und alles war still.
KAPITEL 1
Neustart
Beim ersten Blitz saß Milena senkrecht im Bett. Alles war finster, drinnen und draußen. Von einem Moment auf den anderen hellwach, schlug sie das zerknüllte Laken, unter dem sie geschlafen hatte, zurück und stand auf. Ein weiterer Blitz flackerte und tauchte die Dächer von Schöneburg in blaues Licht. Der Donner rollte nur Sekunden später heran. Milena wusste, dass man bei Gewitter Fenster und Türen geschlossen halten sollte, aber es war einfach zu stickig. Ihr Fenster ging nach außen auf und wurde augenblicklich von einer Windböe gepackt. Es knallte vor den Laden und schlug sofort wieder zu. Milena warf sich mit der Schulter gegen das widerspenstige Fenster und angelte nach dem Haken, der außen auf den Klinker trommelte.
Der aufpeitschende Wind zerrupfte die schwüle Luft, es roch nach Regen. Wieder zuckten Blitze, fein verästelt quer über den ganzen Himmel, Donner folgte schon dichter. Das Gewitter kam näher.
Früher hatte Milena jedes Gewitter verschlafen. Nie wäre sie von ein paar Blitzen aufgewacht. Doch im letzten Jahr hatte sich das geändert. Kein Wunder, dachte sie, schließlich waren sie und ihre Freunde durch die Blitze eines Dimensions-Portals in eine andere Welt gesprungen, da würde jeder ein bisschen empfindlich werden. Nicht, dass ihr Blitze Angst machten. Aber sie erinnerten sie an ihre Abenteuer. Und diese Abenteuer waren zwar großartig und aufregend gewesen, aber auch beängstigend und gefährlich. Mit jedem Blitz leuchteten sie wieder auf, das Tor in die andere Version ihrer Stadt, vertraut und doch fremdartig mit ihren Luftschiffen und engen Gassen. Und natürlich ihr Kampf gegen Vikram de Vries…
Morgen begann wieder die Schule, nach sechs Wochen Sommerferien. Das hieß, morgen würde sie ihre Klasse wiedersehen. Eine Mischung aus Vorfreude und Beklommenheit machte sich in ihr breit. Und das, obwohl sie letztes Jahr zur Klassensprecherin gewählt worden war. Sicher, sie hatte gute Freunde in der 6d, vor allem Annika und Michelle, und mit einigen der Jungs verstand sie sich auch prima. Aber ihre Klasse war an der gesamten Schule verschrien als der schlimmste Haufen von unverschämten Chaoten, der je einen Fuß dorthin gesetzt hatte.
Draußen begann es zu regnen. Schwere Tropfen klatschten auf die staubige Straße und gegen die Scheiben. Der Wind nahm noch zu und trieb den Regen ins Zimmer hinein. Milena schloss das Fenster und legte sich wieder aufs Bett. Morgen würden sie außerdem ihre neue Klassenleitung bekommen. Das war auch so eine Sache. Wenn sie es recht bedachte, konnte es eigentlich nur besser werden, aber sie wollte sich lieber nicht zu früh Hoffnungen machen. Michelle hatte schon das Schlimmste befürchtet und eine schreckliche Diktatur vorausgesagt.
Wochenlang war es in der Schule nur um das eine Thema gegangen: Was war aus Frau Strick, der Klassenlehrerin der 5d geworden? Warum war sie mitten in der Nacht verschwunden und wohin? Lehrer, Eltern und Polizei hatten die Schüler befragt, wieder und wieder mit denselben Fragen gelöchert. Aber keiner hatte das Geheimnis verraten, das Geheimnis von Alteras…
Doch, Milena freute sich, zurückzukehren. In die Schule, in ihre Klasse, aber vor allem nach Alteras. Kaum zu glauben, dass es schon drei Monate her war, dass sie Willi gesehen hatten. Willi, Arne und Matteo… Wie viele Male hatte sie sich gefragt, was aus dem unglücklichen Jungen geworden war. Nicht zuletzt wegen ihm wollte sie zurück in die Parallelwelt und sehen, ob es ihm gut ging.
Das Gewitter zog weiter, der Wind ließ nach, nur der Regen klopfte behaglich gegen das Fenster.
Am nächsten Morgen war die Luft klar und kühl. Alles wirkte frisch und wach, so als warteten Bäume, Häuser und Laternen auch gespannt darauf, was der erste Schultag bringen mochte. Als Milena mit Michelle und Annika auf den Parkplatz kam, erwartete sie das übliche Durcheinander von ankommenden und abfahrenden Autos, die sich gegenseitig den Weg versperrten. Es wurde gehupt und gebrüllt und wild gestikuliert. Dazwischen wuselten Schüler, die sich wenig um das Parkdrama ihrer Eltern kümmerten, sondern Freunde suchten und Klassenkameraden begrüßten, die sie lange nicht gesehen hatten.
Kreuz und quer zwischen den Autos und der größer werdenden Schülermenge sauste etwas auf einem Fahrrad heran. Menschen stoben links und rechts zur Seite, um der Kanonenkugel auf zwei Rädern auszuweichen. Milena hörte ein lang gezogenes „Huuuuiiiii“, bevor das Fahrrad um die Ecke verschwand. Sie tauschte wissende Blicke mit den anderen beiden.
„Mats“, sagten sie wie aus einem Mund und lachten.
Sie schlugen dieselbe Richtung ein und folgten Mats auf den mittleren Schulhof. Dort, hinter einer von Unkraut bewachsenen Brachfläche, lag der rote Trakt. Das ungenutzte Schulgebäude präsentierte sich unverändert: Ein grauer Betonklotz mit Schmierereien und toten, dunklen Fenstern. Nichts ließ von außen das geheime Tor nach Alteras erahnen. Nur eines war neu.
„Was soll das denn?“, fragte Annika empört.
„War ja klar“, sagte Michelle finster.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Milena.
Sie prüften missmutig den brandneuen, drei Meter hohen Metallzaun, der den roten Trakt an drei Seiten umgab. An der vierten Seite trennte eine Mauer das Gebäude vom Hof ab. Der Zaun war aus einem dicken Metallgitter und auf der oberen Kante mit spitzen Zacken bestückt.
„Man könnte immer noch drüber klettern“, sagte Michelle zögerlich. „Mit einer Leiter…“
„Klar, ich schlepp dann ne Leiter von zu Hause ran.“ Annika tippte sich an die Stirn.
Milena war ein Stück um den Zaun herum gegangen, bis sie den schmalen Streifen zwischen Mauer und gesperrtem Trakt einsehen konnte. „Guckt mal, unser Fenster ist auch zu.“ Über dem Fenster, das Mats eingeworfen hatte und durch das sie immer hineingeklettert waren, hatte man eine dicke Platte angebracht.
„Schöner Mist“, schimpfte Annika und kehrte dem Zaun strafend den Rücken.
„Wir fragen Hanna, wenn wir sie das nächste Mal sehen“, sagte Michelle.
„Ja – wenn!“, erwiderte Milena. „Ist ja nicht so, als hätte die sich mal gemeldet!“ Sie verschränkte mürrisch die Arme und machte sich mit den anderen auf den Weg zum Klassenraum. Wie konnte ihre Vorfreude innerhalb weniger Augenblicke nur so in sich zusammenfallen? Der ganze Tag schien ihr plötzlich verdüstert. Zu allem Überfluss dröhnte plötzlich die Stimme des Schulleiters aus den Durchsagelautsprechern:
„Achtung! Milena Mosters aus der 6d bitte ins Sekretariat. Milena Mosters meldet sich bitte im Sekretariat. Ende der Durchsage.“
Michelle und Annika sahen sie perplex an. „Was hast du gemacht?“
„Nichts, wir waren doch die ganze Zeit zusammen!“ Milena hatte keine Ahnung, warum der Schulleiter sie schon vor der allerersten Schulstunde ausrufen ließ. Es konnte kaum etwas Gutes bedeuten. „Kommt ihr bitte mit?“, sagte sie kläglich. Bislang fing dieser erste Schultag genauso miserabel an wie der im letzten Jahr, als sie ihren Bus nach Hause nicht gefunden und dann ihre erste Begegnung mit Vikram de Vries gehabt hatte…
Die beiden begleiteten sie, jedoch viel zu beschwingt, fand Milena. Sie schlurfte den Flur entlang und fragte sich, was man ihr vorwerfen könnte. Ob es mit Alteras zu tun hatte? Aber dann würde ja nicht nur sie gerufen werden. Oder weil sie Klassensprecherin gewesen war? Nein, dann müsste Arif ja auch dabei sein.
Sie klopfte und betrat das Sekretariat. Frau Lommen, die Sekretärin, war meistens kurz angebunden und harsch. Heute war keine Ausnahme.
„Ah, Mosters, endlich“, sagte sie, als hätte Milena sie ungebührlich lange warten lassen. „Das hier ist Hadia.“ Sie zeigte auf ein Mädchen mit kräftigen schwarzen Haaren und runden, dunklen Augen, das ihnen strahlend zuwinkte. „Hadia ist neu in eurer Klasse. Nehmt sie mit und zeigt ihr alles, sie kennt sich ja nicht aus. Ich hätte sie eurer neuen Klassenleitung anvertraut, aber ich habe keine Ahnung, wo die steckt.“ Sie schürzte die Lippen und vertiefte sich in eine Akte.
Milena wagte einen tollkühnen Vorstoß und fragte: „Ähm, wer ist denn unsere neue Klassenleitung?“
Frau Lommen sah irritiert auf. „Ich schlage vor, ihr geht in euren Unterricht, dann erfährst du es.“ Und damit waren sie unmissverständlich entlassen.
Auf dem Flur drängten sich die Schüler und verschiedene Lehrer versuchten, eine Schneise durch die Menge zu bahnen. Milena hängte sich an den dicken Herrn Schoofs, in dessen Fahrwasser sie gut vorankamen. Hadia plapperte fröhlich drauf los. Sie lispelte ein wenig und merkte offensichtlich die betretenen Blicke nicht, die Milena mit Michelle und Annika wechselte.
„…Weil ich war ja erst auf dem Gymnasium gewesen, aber das war irgendwie komisch da und meine Mutter hat auch gesagt, dass ich ja besser hierhin gehen kann, weil das ist auch näher, also jetzt wo wir umgezogen sind, wir haben halt vorher woanders gewohnt, aber egal, voll nett von euch, in meiner alten Klasse waren alle so bitchig und haben sich immer nur fertig gemacht, ich freu mich voll auf eure Klasse, also meine neue Klasse, weil mir das eigentlich voll wichtig ist, weil wir bleiben ja ganz lange zusammen und dann hat man so eine Gemeinde, nee Gemeinschaft…“
Milena hatte das Gefühl, dass ihr die Luft wegblieb, nur vom Zuhören. Hadias Redeschwall nahm kein Ende. Aber sie wollte sie nicht abwürgen und verunsichern, nicht an ihrem ersten Tag. Außerdem strahlte Hadia sie nach wie vor mit dem breitesten Lächeln an, als wäre sie auf ihrer Geburtstagsfeier und nicht in Schöneburgs baufälliger Gesamtschule. Sie passierten wieder den gesperrten roten Trakt, der Anblick des Zauns allein genügte, damit Milenas Laune sich weiter verschlechterte.
Jemand hatte den Klassenraum bereits aufgeschlossen und drinnen bot sich das altbekannte Bild: Mats sprang von Tisch zu Tisch und fegte dabei Brotdosen und Trinkflaschen in alle Himmelsrichtungen. Jule, Jeanette und Tanja hatten ihre Schminksachen auf der Fensterbank ausgebreitet und tauschten Pöttchen mit Lidschatten. Nun, da Matteo nicht mehr da war, brauchte Rocko offenbar jemand Neues, den er drangsalieren konnte. Seine Wahl war auf den kleinen Benni gefallen, eine leichte Beute. Zwischen ihren gegenseitigen Beschimpfungen plärrten Musik und Geräusche von Handyspielen.
Milena steuerte ihren angestammten Platz an. Michelle verscheuchte Mats fauchend von ihrem Tisch und pustete ihm seinen staubigen Fußabdruck hinterher. Hadia erblickte die Schminkorgie und marschierte begeistert zu den Mädchen hinüber. Ihre schwarzen, welligen Haare bildeten einen harten Kontrast zu den drei Blondinen.
„Sie ist nett“, sagte Annika.
„Ja, definitiv nett“, sagte Michelle.
„Netter als die meisten“, sagte Milena und beobachtete Rocko, der mit einem Schlenkern der Schulter Benni vor das Lehrerpult schubste. Benni grabschte den Locher, der auf dem Pult lag und pfefferte ihn auf Rocko. Er prallte an Rocko ab wie an einem Sofakissen. Trotzdem fluchte Rocko laut und schwang seine rechte Faust gegen Benni. Der Schlag verfehlte sein Ziel nur, weil Benni klein und flink war und sich instinktiv wegduckte.
„Ich zeig dich an!“, quietschte er und rannte aus der Klasse.
Hadia schüttelte entrüstet den Kopf und baute sich vor Rocko auf. Es war ein beachtliches Bild, weil die beiden kaum unterschiedlicher hätten aussehen können. Hadia, schmal und zornig, im quietschbunten Jumpsuit, Rocko, breit und ein wenig verunsichert, im ausgeleierten, grauen T-Shirt.
„Warum hast du das gemacht, das war voll gemein, er ist doch viel kleiner als du!“
„Der ist ein Hundesohn“, rief Rocko und wandte Hadia den Rücken zu.
„Ey, das sagt man nicht, wie würdest du dich denn fühlen, wenn dich jemand so nennen würde? Also du könntest dich entschuldigen und ihr könntet darüber reden, warum ihr das gesagt habt, also in meiner alten Klasse haben wir das immer so gemacht…“
„Schnauze! Wer bist du überhaupt?!“
Milena war nicht sicher, ob Rocko auch ein Mädchen schlagen würde. Hadia sollte es aber vielleicht besser nicht darauf anlegen.
„Lass es, er ist halt so“, sagte Michelle.
Hadia schien ein wenig verunsichert. Möglicherweise auch, weil all ihre brandneuen Mitschüler sie plötzlich beobachteten. Milena warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war schon fünf nach acht. Wo blieb ihre neue Klassenleitung? Ein Schüler war bereits davongelaufen, der nächste Konflikt schwelte zwischen Hadia und Rocko, die sich wütend und abschätzig musterten. Von Mats, der einen Zusammenstoß mit Jules Schminksachen hatte, die wie Konfetti auf den Boden regneten, gar nicht erst zu sprechen. Es war also jetzt schon ein schlechter Start für egal welchen Lehrer. Und mit jeder Minute, die der neue Lehrer sich verspätete, sah Milena die Situation mehr entgleiten.
„Also ich würde sagen wir machen einen Neustart“, sagte Hadia. Sie merkte nicht, dass die meisten das Interesse an ihr verloren hatten und ihr nicht zuhörten. Milena musterte ihre Klasse. Der kleine Didi war mal wieder bis zu den blonden Locken hinter einer Zeitung verschwunden. Daniel, Milan und Arif diskutierten mit zusammengesteckten Köpfen und Mats saß mittlerweile auf dem Schrank.
Milena gab sich einen Ruck und rief Hadia zu sich. Rocko machte noch eine wüste Handgeste, was Hadia aber nicht sah. Sie setzte sich neben Annika und zog einen Flunsch. Der Zeiger an der Uhr kroch weiter, zehn nach acht, dann Viertel nach acht… Immer mehr Leute begannen sich zu fragen, warum noch kein Lehrer da war. Um zwanzig nach acht schlüpfte Benni wieder herein und setzte sich außerhalb von Rockos Reichweite.
„Vielleicht sollte jemand im Sekretariat fragen“, meinte Arif.
„Aber nicht ich“, sagte Milena so leise, dass nur ihre Freundinnen es hören konnten.
„Spinnst du?“, rief Jule. „Kein Unterricht, voll geil!“ Arif zuckte die Schultern.
„Vielleicht…“, begann Milena, doch sie unterbrach sich. Ihr Handy hatte vibriert, aber nicht als Einziges. Überall pingte und summte es plötzlich, 26 Schüler zückten ihre Handys – alle außer Hadia.
Milena öffnete die Nachricht. „Von Hanna“, sagte sie.
„Meine auch“, nickte Michelle.
„Und meine.“
„Alle haben die Nachricht bekommen“, rief Milan.
Liebe 6d. Ich wünsche euch einen schönen Schulstart. Es hat etwas gedauert, aber jetzt habe ich eine gute Möglichkeit gefunden, wie ihr zurück nach Alteras könnt. Ich melde mich bald wieder bei euch. Viele Grüße, Hanna.
„Na endlich“, sagte Didi laut. „Das wurde aber auch langsam…“
Er kam nicht bis zum Ende. Krachend flog die Klassentür auf.
KAPITEL 2
Ellanis Bartôt
Die Tür wurde so heftig aufgerissen, dass die Klinke gegen die Wand knallte, die Angeln knirschten und die Tür von ihrem eigenen Schwung zurückgerissen wurde. Sie rumste wieder zu.
„Kacke!“, rief jemand draußen.
Daniel tauschte Blicke mit Milan. Milan sprach aus, was Daniel dachte: „Was’n da für’n Genie am Werk?“
Die Tür ging wieder auf, weniger martialisch diesmal, und eine junge Frau kam herein. Sie war recht klein und zierlich. Der Eindruck wurde noch verstärkt, weil ihr Kopf im Vergleich zum Körper zu groß wirkte. Das lag vor allem an der braunen Lockenmähne, die wüst in alle Richtungen abstand. Sie trug ausgefranste Schlaghosen und eine abgewetzte graue Lederjacke. Außerdem war sie mit etlichen ausgebeulten Taschen bepackt, die sie aufs Pult wuchtete, bevor sie sich der Klasse zuwandte.
„Was sind denn das für bestusste Eltern, die ihre Sprösslinge bis in die Klasse kutschieren müssen, ich hab ewig keinen Parkplatz gefunden!“, schimpfte sie.
„Haben Sie grad meine Mutter beleidigt?!“, rief Rocko und hieb mit den Fäusten auf den Tisch.
„Rocko, du kommst mit dem Fahrrad“, erinnerte ihn Milan.
„Schnauze, das weiß die doch nicht“, entgegnete Rocko, was Daniel für seine Verhältnisse recht pfiffig fand.
Arif meldete sich, was die Frau jedoch nicht bemerkte. Sie fixierte Mats mit einigem Interesse. Mats saß noch immer auf dem Schrank und ließ die Beine baumeln.
„Musst du da oben sitzen?“, fragte sie nicht unfreundlich.
Mats nickte. „Beste Aussicht.“
„Ah. Ich kenne bessere. Aber wenn du meinst…“ Die Frau nahm ihre Jacke ab und warf sie über die Taschen. Sie zielte allerdings schlecht und die Jacke rutschte zu Boden. Aus dem Gleichgewicht gebracht, rumste die Tasche gleich hinterher. Einige lachten. Die Frau schien einen Moment zu überlegen, ob sie die Sachen aufheben sollte. Dann zuckte sie jedoch nur mit den Schultern und sagte:
„So, ich bin eure neue Klassenlehrerin…“
„Boah nee“, rief Rocko.
„Danke, ich freu mich auch“, sagte sie lächelnd. „Mein Name ist Bartôt, Ellanis Bartôt.“ Sie kritzelte den Namen an die Tafel.
„Warum ist da so n Zacken auf dem o?“, rief Jule. Didi stöhnte und schlug sich die Hände vors Gesicht. Daniel drehte sich zu Jule um.
„Weil das betont wird“, erklärte er und bemühte sich dabei, geduldig zu klingen. Jule schnitt ihm trotzdem eine genervte Grimasse.
„Hauen Sie lieber ab“, sagte Rocko. Für Daniel klang es nicht nach einer Drohung, sondern eher nach einem gut gemeinten Rat. Dennoch war es ziemlich frech, selbst für Rocko.
Frau Bartôt kratzte sich am Kopf. „Nää“, sagte sie. „Die bezahlen gut.“ Sie zog einen zerknickten Zettel aus der Hosentasche. „Also ich unterrichte Kunst, Geschichte und Deutsch…“
„Keine Frau Schrott mehr!“, rief Milan und Arif reckte stumm die Arme in die Höhe. Daniel pflichtete ihnen bei, schlimmer als im letzten Jahr konnte es mit der neuen auf keinen Fall werden. Andererseits neigte er zur Vorsicht und wollte sich nicht zu früh freuen, man konnte nie wissen…
„Äh, ja… also ich hab hier ne Liste, was wir machen müssen…“ Sie studierte ihren Zettel und schien ein wenig abgelenkt. „Mist“, sagte sie dann und steckte ihn wieder ein. „Ist meine Einkaufsliste. Also was müssen wir machen?“
Didi zog die Augenbrauen hoch und Arif hüstelte verlegen. Wieder sprach jemand anders aus, was Daniel dachte:
„Sind Sie überhaupt ne richtige Lehrerin?“, rief Jeanette.
Frau Bartôt legte den Kopf schief. „Nein“, sagte sie. „In Wahrheit komme ich vom Planeten Raxacoricofallapatorius. Wir übernehmen die Erde, indem wir Schulklassen unterrichten…“
„Ha ha…“
Die meisten rollten mit den Augen oder lachten matt. Bloß Didi schien verunsichert. „Glaubt ihr, sie könnte ein Alien sein? Also aus einer anderen Welt?“
„Quatsch“, sagte Milan. „Sie hat aus ner Fernsehserie zitiert.“
„Im Ernst jetzt“, rief Frau Bartôt. „Ihr habt diesen Klassenkram doch schon mal gemacht. Ihr braucht… wartet, als erstes braucht ihr euren Stundenplan!“ Sie hüpfte zu ihrer Tasche, hievte sie wieder auf das Pult und begann darin herum zu wühlen.
„Das gibt nix“, sagte Rocko und ausnahmsweise musste Daniel ihm beipflichten. Frau Bartôt förderte eine Unmenge an Zetteln zutage, die sich bald alle auf dem Pult türmten. Sowohl in Menge als auch Zustand, nämlich zerfleddert, bekritzelt und heillos durcheinander, waren sie durchaus mit dem Chaos vergleichbar, das man aus Mats‘ Tasche kannte. Selbst wenn sich ihr Stundenplan irgendwo darin befand, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihn heute noch fand.
„Ich wette, die heult gleich“, sagte Rocko.
„Du heulst gleich“, rief Jeanette und rülpste. „Ups.“
„Bah, die will aufs Maul!“
„Ha!“, quäkte Frau Bartôt und hielt einen Zettel in die Höhe, als wäre er eine Trophäe. Sie schob die Tafel ein Stück weit nach oben und begann den Stundenplan anzuschreiben. Es folgten einiges Gekrame in der Klasse nach Stiften und Papier und ein wachsender Tumult bei den Aussichten auf ihre Wochenplanung.
„Nee, nicht Englisch bei Frau Stiffman!“
„Mathe am Nachmittag?! Ich bring mich um!“
„Wir haben ja ganz schön viel zusammen“, bemerkte Frau Bartôt, als sie fertig war. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich ihre Hose mit Kreide zu beschmieren. Sie klopfte nachlässig auf die Flecken und verteilte sie ein bisschen. „Jeden Tag mindestens einmal, oh je.“
Daniel musste nicht fragen, was sie mit „oh je“ meinte. Mats hatte einen Edding genommen und schrieb den Stundenplan an die Wand über seinem Schrank. Frau Bartôt sah ihm eine Weile dabei zu und Daniel wartete darauf, dass sie explodierte. Es passierte jedoch nichts. Vielleicht war sie zu schockiert, um zu sprechen. Oder sie konnte sich nicht entscheiden, wie sie Mats am besten herunterputzen sollte. Womöglich hatte Rocko ja auch recht mit seiner Prognose…
„Dein Donnerstag ist schief“, sagte sie irgendwann. „Und du hast Deutsch mit Biologie vertauscht. Nein, du kannst aus dem D ein B machen. So ist besser. Naja. Schön ist anders.“
„Das voll schön!“, rief Mats empört und fügte dem Stundenplan ein gez. Mats hinzu.
„Ok…hoffentlich ändert sich der Plan nicht nächste Woche…“ Frau Bartôt wühlte wieder in ihren Zetteln. „Was noch? Termine, glaube ich. Bald ist Wandertag, ich meine in zwei Wochen. Dienstag. Oder Mittwoch, muss ich nachgucken. Egal. Ähm, ja bitte?“
Arif meldete sich erneut. „Wir müssen die Klassensprecher wählen. Den Wandertag müssen wir erst noch planen. Außerdem brauchen wir unsere Bücher und vielleicht sollten Sie auch einen Sitzplan mit unseren Namen machen und generell ein paar Regeln festlegen.“ Wie immer, wenn Arif sprach, war die völlige Abwesenheit von Emotionen auffällig. Höchstens Resignation könnte man seinem eintönigen Klang zuordnen. Aber Daniel war froh, dass Arif die Dinge in die Hand nahm. Er selbst wusste noch nicht, was er von der neuen Lehrerin halten sollte. Ihr unübersehbares Chaos und ihre laxe Haltung etwa zu Mats mochten gut in diese Klasse passen. Daniel vermutete jedoch, dass auf diese Weise die 6d in der Schule bald keinen Stein mehr auf dem anderen lassen würde.
„Sitzplan finde ich gut“, sagte Bartôt. „Bist du so lieb, einen zu schreiben? Bücher machen wir später und was war das noch? Klassensprecher! Wer organisiert das?“
Sofort stürmten Jule und Jeanette nach vorne. Daniel wunderte sich, was die beiden daran so toll fanden. Sie machten doch sonst nie etwas freiwillig. Vielleicht mochten sie das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen, solange es nichts mit Unterricht zu tun hatte.
„Ich mach die Striche!“, rief Mats.
„Aber nicht an der Wand“, erwiderte Bartôt. „Sonst siehts hier gleich endgültig aus wie im Knast.“
Daniel grinste in sich hinein. Es erinnerte ihn an seinen ersten Schultag vor einem Jahr. Da war das auch sein erster Gedanke gewesen. Seltsam … der Stacheldraht und die Absperrungen waren noch da und der schimmelige Beton war nicht schöner geworden. Trotzdem störte es ihn nicht mehr so wie am Anfang. Anscheinend hatte er sich daran gewöhnt.
Es brach das übliche Geschrei aus. Namen wurden vorgeschlagen und niedergemacht, Zettel beschriftet, gesammelt und ausgezählt. Nach etwa zehn aufreibenden Minuten standen zu Daniels Erleichterung die neuen alten Klassensprecher fest.
„Milena und Arif?“, sagte Frau Bartôt. „Glückwunsch. Aber ich hörte schon, dass ihr das letztes Jahr gut gemacht habt.“
Arif runzelte ein wenig die Stirn. Auch Daniel war überrascht. „Von wem?“, fragte Arif.
„Ein Kollege, ich glaube, er heißt Schoofs…“
Daniel und Arif tauschten erstaunte Blicke. Zweifellos hatten Arif und Milena ihre Sache gut gemacht, bloß hätte Daniel nicht geglaubt, dass egal welcher Lehrer irgendetwas Positives über die Klasse zu berichten hatte.
„Gut, weiter im Text. Dann also der Wandertag…“
„Können wir ins Phantasialand?“, rief Jule sofort. „Die Zehner waren auch im Phantasialand.“
„Nein, das ist scheiße. Besser Moviepark!“
„Moviepark ist Rotz!“
„Du bist Rotz!“
„Wie wärs mit dem Kletterpark?“
„Was bist du denn für ein Opfer?!“
Frau Bartôt sah mit mildem Erstaunen zu, wie ein einzelnes Wort die ganze Klasse in den Ausnahmezustand versetzt hatte. Daniel fragte sich, wie das auf sie wohl wirken musste. Sie war immerhin neu an der Schule und kannte den Ruf der 6d womöglich nicht. Außerdem schien sie noch sehr jung, ob sie vorher schon viel unterrichtet hatte? Vielleicht bekam sie hier so eine Art Kulturschock. Wie Leute, die aus der Wildnis plötzlich in eine Millionenstadt reisten…
Seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als ihn etwas am Kopf traf. Es war ein zusammengeknülltes Papier. Die Verbalschlacht um das Wandertagsziel war innerhalb von Sekunden zu einem Papierkrieg mutiert. Daniel sah sich ärgerlich um, wer ihn beworfen hatte. Milan grinste so verdächtig, dass Daniel sofort zum Gegenangriff überging.
„Ey du Trottel, das war Rocko!“
„Lüge!“, rief Rocko und feuerte Papierbälle in alle Richtungen. Wenige Augenblicke später war die Luft erfüllt von fliegenden Papierkugeln. Eine traf Frau Bartôt. Sie fing sie auf und pfefferte sie zurück, verfehlte ihr Ziel aber knapp.
„Sie werfen wie ein Mädchen“, feixte Rocko.
„Ich bin ein Mädchen, du Honk!“, rief Bartôt, nahm ihren Stundenplan, knüllte ihn zusammen und stürzte sich ins Getümmel.
„Was haben Sie gesagt?!“, grollte Rocko.
„Honk! Helfer ohne nennenswerte Kenntnisse. Achtung hinter dir!“
Rocko reagierte zu spät und Leonas Papiersalve traf ihn im Nacken. Mats feuerte indes von seinem Schrank aus. Bald wurde ihm jedoch die Munition knapp. Wie ein Flughörnchen ging er in den Sturzflug und krachte im Mittelgang mit Frau Bartôt zusammen. Daniel hörte ihre Köpfe aneinander rumsen und beide fielen hin.
„Mann am Boden!“, heulte Didi. Daniel nutzte die Gelegenheit, ihm seine restlichen Papierkugeln in die Kapuze zu stopfen. Mats und Bartôt kamen wieder auf die Beine. Beide hielten sich den Kopf. Erst dachte Daniel, dass mit Frau Bartôt etwas nicht stimmte, sie bewegte sich so komisch. Dann merkte er, dass sie sich vor Lachen krümmte. Sie lief zurück nach vorne und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht.
„Ok, ok“, japste sie. „Vielleicht brauchen wir doch so was wie Regeln.“ Ein weiterer Papierklumpen flog an ihr vorbei. „Zurück zum Wandertag…“
„Ja Freizeitpark!“, rief Jeanette im Kommandoton.
„Schon klar“, sagte Frau Bartôt. „Ich hab euch beim ersten Mal gehört. Ich hatte nur gedacht, ihr wollt vielleicht nach Alteras?“