Arnulf Krause
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Umschlaggestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart unter Verwendung folgender Abbildungen: akg-images: Die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. (Fürst Karl zu Schwarzenberg bringt den Monarchen Alexander I. v. Russland, Kaiser Franz II. v. Österr. u. Friedr. Wilh. III. v. Preussen die Siegesbotschaft). Gemälde, 1853/54, von Peter von Hess (1792–1871); Öl/Leinwand.
© 2013 Konrad Theiss Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christina Knüllig, Hamburg
Kartografie: Peter Palm, Berlin
Satz und Gestaltung: Primustype Hurler, Notzingen
Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach
ISBN 978-3-8062-2498-6
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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
Book (PDF): 978-3-8062-2829-8
eBook (e-pub): 978-3-8062-2830-4
Vorwort
Die Zeitenwende: Von Valmy bis Austerlitz
Weltgeschichte im Morast
„Dieses Land ist frei“
1789: Deutschland vor der Revolution?
Napoleon: Revue einer Blitzkarriere
„Der Weltgeist …“ – in Deutschland verehrt und gefürchtet
Deutschland unter Napoleon: Freiheit, Gleichheit, Besatzung?
Römerreich und „artiges Städtchen“: das alte Deutschland
Links des Rheins: „Französisch-Deutschland“
Das Ende des alten Reiches und das neue Deutschland
„Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ – oder der Tod eines Buchhändlers
Musterstaaten von Napoleons Gnade
„Die guten Bürger fangen bereits an, alles das charmant zu finden.“
Das Ende von Preußens Gloria
Mythos und Wirklichkeit
„Wohlauf, Kameraden …“
Der Tod eines Heldenprinzen
Ein Kaiser in Berlin und ein König auf der Flucht
Suum cuique? Die preußischen Reformer
Deutschland: Eine Nation (er)findet sich I
De l’Allemagne – Frankreich entdeckt seinen barbarischen Nachbarn
Was ist Deutschland … ein Krähwinkel?
Deutscher Geist und Ammenmärchen
Uns ist in alten maeren … – Das Nibelungenlied als „Nationalepos“
Romantik – Das Mittelalter als Utopie
Dom und Rhein – Sammeln für Deutschland
Deutschland: Eine Nation (er)findet sich II
Reden an die deutsche Nation
„Heil dir, König von Germanien!“
Ernst Moritz Arndt und das Rüstzeug für den Krieg
Turnen für Deutschland
Martialische Gesänge
Das Vorspiel: Österreichs Sieg und die deutsche Guerilla
Napoleons Deutschland – Erfurt 1808
Spanien, Tirol und Österreich – das Empire in Gefahr?
Deutschlands romantische Freiheitshelden
Stein, Arndt & Co. – Verschworene und Verschwörer
Deutschland im Krieg – die Befreiungskriege I
Deutsche Soldaten in Moskau – Napoleons Russlandfeldzug
Tauroggen – ein eigenmächtiger Offizier schreibt Geschichte
„An mein Volk“
Lützows verwegene Schar
Der Tod des Freiheitssängers
Deutschland im Krieg – die Befreiungskriege II
Der Krieg in Sachsen
Schlachtfeld Dresden
Leipzig – die größte Schlacht der Geschichte
Napoleons Flucht
Paris, Wien und Waterloo
Mit Blücher über’n Rhein
Wien: Der Kongress tagt und tanzt
Die Rückkehr Napoleons
Und Deutschland?
Reform – Revolution – Restauration?
Das Wartburgfest
Schwarz-Rot-Gold – ein Ausklang
Nachwort
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Register
Bildnachweise
Karten
Das Heilige Römische Reich 1789
Mitteleuropa 1812
Der Deutsche Bund 1815–1866
Freiheit und Einheit sind die Schlüsselbegriffe der jüngsten deutschen Geschichte. Die Freiheit ging 1933 ganz Deutschland verloren und wurde für die gesamte Nation erst wieder 1989/90 erreicht. Genauso die staatliche Einheit, die zuvor nur von 1871 bis 1945 Bestand hatte. Im Ringen um die Freiheit nehmen die 1813 ausbrechenden Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft einen besonderen Platz ein. Denn erstmals in der deutschen Geschichte scheinen sich damals die Deutschen erhoben zu haben, um für Freiheit zu kämpfen … und für ein einiges Vaterland. Ein Ruck soll durch die deutschen Länder gegangen sein oder wie es der im Krieg gefallene Freiheitsdichter Theodor Körner ausdrückte: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.“
Deutschland 1813: Dresden wird beschossen, ganze Landstriche verwüstet, Abertausende von Toten, Plünderungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen … und das 130 Jahre vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Nur dass damals Deutschland seine europäischen Nachbarn nicht mit Krieg und Unterdrückung überzogen hatte, sondern sich seinerseits von Napoleon befreien wollte und schließlich zu den Siegermächten gehörte.
Die Befreiungskriege als Kampf um Freiheit, der die Massen mobilisiert? Ein Geschichtsbild, das von Preußen als der deutschen Führungsmacht des 19. Jahrhunderts initiiert und gepflegt wurde. Ein Ereignis, das von den Nazis missbraucht, von den Ideologen der DDR instrumentalisiert und von den Historikern der Bundesrepublik lange gemieden wurde.
Denn die historische Wirklichkeit, die in einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen zutage tritt, sieht anders aus: 1813 hat eine Vorgeschichte, die mit der Französischen Revolution 1789 beginnt. Dieses Präludium bieten in einem vielstimmigen Chor zahllose Meinungen und Kommentare zu Freiheit und Einheit, zu dem, was die deutsche Nation ist und was sie sein könnte. Schon früher hatten sich die Menschen als Deutsche gefühlt, aber niemals zuvor beschäftigte man sich so intensiv in Gedankenspielen und Gesellschaftsentwürfen mit dem, was Wesen und Sein Deutschlands ausmachen könnte. Und so erhoben sie alle ihre Stimmen: die reaktionären oder fortschrittlichen Monarchen, die deutschen Jakobiner und Freunde der Revolution, die Anhänger und Gegner Napoleons, die romantischen Mittelalterenthusiasten, die Reformer, die Volkstümler genauso wie die frühen Rassisten und Antisemiten. Doch tapfere Buchhändler, die gab es auch und Fürstinnen mit Rückgrat nicht minder …
Und Volkes Sturm? Nicht überall brach er los, am ehesten noch in Preußen. Andernorts kämpften deutsche Soldaten für Napoleon … In den Befreiungskriegen töteten sich Deutsche gegenseitig.
Was bleibt als Erinnerung für ein modernes europäisches Deutschland in Einheit und Freiheit? In der Auseinandersetzung mit der Herrschaft Napoleons ist Deutschland weiter gekommen. Zwar war der Weg kriegsbedingt schmerzlich, doch am Ende stand zumindest mehr Freiheit als zuvor. Die Grundlagen der heutigen deutschen Nation wurden hier gelegt.
Passans – cette terre est libre („Vorübergehende – dieses Land ist frei“): Diesen französischen Satz liest man auf einem Aquarell, das eine friedliche Landschaft mit sanften Bergen, lieblichem Flusstal und einem Dorf mit Kirchturm zeigt. Im Vordergrund erhebt sich ein so genannter Freiheitsbaum mit jener Inschrift, bekrönt von einer Jakobinermütze nebst Kokarde und den Farben Blau-Weiß-Rot. Das Idyll mit revolutionären Accessoires stammt aus der Hand Johann Wolfgang von Goethes. Das echte Vorbild hatte er am 25. August 1792 im Moseltal bei Trier gesehen, wohin er einen Ausritt unternommen hatte. Dabei war er erstmals auf das Symbol der neuen Freiheit gestoßen, das die französischen Revolutionäre und ihre Anhänger allenthalben errichteten. Sein Begleiter, der preußische Leutnant von Fritsch, berichtet über das Erlebnis: „Der Geheime Rat freute sich über dieses erste Zeichen und nahm sich vor, dem Prinz August v. Gotha eine Zeichnung davon zu liefern. Wir giengen nach Haus, er lud mich zum Essen und führte seinen Plan, eine Zeichnung zu liefern sogleich recht schön aus.“ Eine weitere Zeichnung schickte Goethe an seinen Dichterkollegen, den Gelehrten und Theologen Johann Gottfried Herder, der im heimatlichen Weimar der Stadtkirche und dem benachbarten Gymnasium vorstand und als Revolutionsfreund bekannt war.
Goethes erster hautnaher Kontakt mit der Revolution beginnt noch mit einem symbolischen Zeichen am Wegesrand – das folgende Vierteljahrhundert jedoch sollte Deutschland und Europa grundlegend verändern, ja die Moderne einläuten. Doch idyllisch ist es ganz und gar nicht, der Fortschritt wird begleitet vom Treiben auf den Schlachtfeldern, wo das Schreien der Sterbenden und Verletzten zu vernehmen ist. Auch der Dichterfürst aus Thüringen sollte dies bald erfahren. Doch werfen wir zuvor einen Blick zurück: Seit drei Jahren ereigneten sich in der ehrwürdigen französischen Monarchie ungeheuerliche Dinge: Der absolut und von Gottes Gnaden herrschende König war entmachtet, einer geschriebenen Verfassung und einer Volksvertretung unterworfen worden. Klerus und Adel hatten sämtliche Privilegien verloren und waren nicht selten massakriert worden. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und ähnliche Losungen wurden die Slogans der „Nation“, die gewissermaßen mit dem „Dritten Stand“ identisch war. Die europäischen Nachbarn hatten sich recht langmütig gezeigt gegenüber den Umwälzungen im Reich der Bourbonen. Strategisch war ihnen deren Schwächung gar nicht so unlieb. Aber die unberechenbaren Ereignisse in Paris konnten auf andere Länder übergreifen, und die Gattin Ludwigs XVI., Marie Antoinette, war immerhin eine Tochter der Kaiserin Maria Theresia. Insofern sahen die beiden Großmächte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – Österreich und Preußen – ihre Interessen berührt. Und obwohl sie alte Rivalen waren, verbündeten sie sich. Das revolutionäre Frankreich hatte die Königsfamilie mittlerweile gefangengesetzt und machte sich nun daran, Österreich am 20. April 1792 den Krieg zu erklären. Daraufhin marschierten österreichische und preußische Truppen los. Der Oberbefehlshaber der Letzteren, Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, ließ sich zu einem Manifest hinreißen, in dem er – wohl auch unter dem Einfluss französischer Emigranten – der Bevölkerung und der Hauptstadt Paris mit ernsten Konsequenzen drohte, sollte der königlichen Familie etwas zustoßen. In Frankreich war man empört.
Doch zurück zu Goethe: Dessen Fürst, der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, diente in der preußischen Armee als Generalleutnant und nahm am Feldzug teil. Goethe war als ziviler Begleiter und Beobachter geladen. Und so machte er sich Anfang August auf den Weg und verließ sein erst jüngst vom Herzog als Geschenk erhaltenes Haus am Frauenplan in Weimar. Das Hoftheater lässt er als dessen Leiter Hoftheater sein, man befindet sich ohnehin in der Sommerpause. Das Problem der Farbwirkung, das Studium der Schriften Newtons, die mehr oder minder offiziellen Aufgaben als Geheimrat lässt der vor 10 Jahren Geadelte zurück und folgt seinem Herzog in den Krieg. Mitte August verweilt er noch im elterlichen Haus in Frankfurt, dann geht es über Mainz nach Trier, das bereits etwas von einer Frontstadt an sich hat: „In Trier angelangt, fanden wir die Stadt von Truppen überlegt, von allerlei Fuhrwerk überfahren, nirgends ein Unterkommen; die Wagen hielten auf den Plätzen, die Menschen irrten auf den Straßen, das Quartieramt, von allen Seiten bestürmt, wußte kaum Rat zu schaffen.“ Ein Leutnant des 6. Preußischen Kürassierregiments, dessen Kommandeur Carl August war, verschafft ihm eine komfortable Unterkunft im Haus eines Kanonikus.
Die Preußen werden ihrem Ruf als beste Soldaten Europas gerecht: Sie marschieren in Lothringen ein, wo sie Longwy und Verdun besetzen. Goethe zieht mit ihnen und vermerkt die miserablen Verhältnisse. Vom Dauerregen ist der Boden aufgewühlt, im Lager hat sich alles in den Zelten „verkrochen, um vor dem schrecklichen Wetter kümmerlichen Schutz zu finden.“ Aber man macht sich Mut und hat Hoffnung. Die Feldkarten werden studiert, der Weg nach Paris scheint offen; niemand zweifelt, dass man in Châlon und Epernay schon bald den guten Wein der Champagne genießen wird. Und in der Tat überquert man die Pappelallee von Sainte-Menehould nach Châlon, ein Wegweiser zeigt die Richtung in die französische Hauptstadt. Nun befindet man sich bereits jenseits der Argonnen, jenes bewaldeten Hügellandes, das Lothringen von der Champagne trennt und als „Argonner Wald“ während des 1. Weltkriegs Schauplatz furchtbarer Kämpfe sein wird.
Noch 180 km bis Paris! Man nähert sich dem Dorf Valmy. Dort aber stehen die Franzosen. Am 19. September hatten sich die Revolutionstruppen unter dem Oberkommandierenden Dumouriez und Kellermann, zwei altgedienten Generälen, vereint, die sich der Revolution angeschlossen hatten. Kellermann hat sich mit seiner Artillerie bei der höher gelegenen Mühle von Valmy verschanzt, während die preußischen Infanteristen durch eine völlig durchnässte Talsenke vorrücken und sich bis auf wenige hundert Meter dem Feind nähern. Dann Stillstand – die Kanonen donnern, läuten eine neue Zeit des Krieges ein. Goethe steht an diesem 20. September 1792 fast mittendrin: „Von jeder Seite wurden an diesem Tage zehntausend Schüsse verschwendet, wobei auf unserer Seite nur 200 Mann und auch diese ganz unnütz fielen. Von der ungeheuren Erschütterung klärte sich der Himmel auf: denn man schoß mit Kanonen völlig, als wär‘ es Pelotonfeuer, zwar ungleich, bald abnehmend, bald zunehmend. Nachmittags ein Uhr, nach einiger Pause, war es am gewaltsamsten, die Erde bebte im ganz eigentlichsten Sinne, und doch sah man in den Stellungen nicht die mindeste Veränderung. Niemand wußte, was daraus werden sollte.“ Die Kanonenkugeln umfliegen den Beobachter, ihre erschreckenden Geräusche vergleicht er mit dem Brummen eines Kreisels, dem Gurgeln des Wassers und dem Pfeifen des Vogels. Der Erdboden ist derart feucht, dass die eingeschlagenen Kugeln sofort stecken bleiben. Goethe wird Zeuge eines martialischen Artillerieduells, an dem Soldaten zu Fuß und Kavalleristen unbeteiligt bleiben. Ein Glück für die Franzosen unter Kellermann; denn sie können ihre Stärke ausspielen, und das sind ihre moderneren und darum leistungsfähigeren Kanonen. Sie kaschieren die Schwächen ihrer Truppen, die zwar hochmotiviert, aber schlecht ausgebildet und mangelhaft ausgerüstet sind. Zudem fehlen Offiziere. So aber hält das revolutionäre Frankreich stand.
Goethe: „So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemern Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es, um zu fluchen oder zu verwünschen … die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil.“ Damit ist der Vormarsch der Koalitionstruppen ins Herz Frankreichs gestoppt. Der Herzog von Braunschweig verzichtet auf weitere Angriffe und befiehlt den Rückzug. Die psychologische Wirkung, wie sie Goethe eindringlich beschreibt, war enorm. „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus …“ will er seinen Begleitern am Abend jenes in der Tat denkwürdigen Septembertages gesagt haben. Und so war es: Die ganz überwiegend bürgerlichen Truppen hatten den aristokratisch geführten Verbündeten widerstanden. Von nun an blieb Frankreich trotz mancher Rückschläge 20 Jahre lang auf dem Vormarsch.
Das Kanonenduell von Valmy hatte „nur“ 500 Tote gefordert. Erheblich mehr Männer der Verbündeten starben auf dem beschwerlichen Rückzug, geschwächt vom Wetter, der feindseligen Haltung der lothringischen Bevölkerung und von Krankheiten wie der Ruhr, die sich unter den Zehntausenden ausbreitete.
Der aufmerksame Kriegsreisende aus Weimar notierte jedoch nicht nur die militärischen Gegebenheiten, er beobachtete auch die Menschen, ihr Verhalten, ihre Mentalität. Dabei fiel ihm auf, dass unter den Franzosen ein ungewohnter neuer Charakterzug festzustellen war, den er „republikanisch“ nennt (die Republik wurde in Paris am 21. September 1792 ausgerufen). Neben den genannten Symbolen und dem konfiszierten Kirchengut, darunter das alte, schon halb niedergerissene Zisterzienserkloster Chatillon l´Abbaye, ein „erstes Kennzeichen der Revolution“, zählte er die neue Gesinnung zu den auffallendsten Merkmalen des neuen Frankreich. Ein Beispiel: Nach der Übergabe Verduns zog dessen Kommandant Nicolas Joseph Beaurepaire offenbar den Tod vor: „… bedrängt von der bedrängten Bürgerschaft, die bei fortdauerndem Bombardement ihre ganze Stadt verbrannt und zerstört sah, konnte [er] die Übergabe nicht länger verweigern; als er aber auf dem Rathaus in voller Sitzung seine Zustimmung gegeben hatte, zog er ein Pistol hervor und erschoß sich …“ Auch wenn die Todesumstände des Offiziers nicht ganz klar sind, für Goethe war es „ein Beispiel höchster patriotischer Aufopferung“. Sie war weit entfernt von den üblichen Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts, bei denen sich adlige Offiziere mit einem festen Ehrencodex gegenüberstanden. Hier zählte nicht mehr der Stand, sondern die Nation als höchster Wert, der man sich als Patriot hinzugeben hatte.
Im besetzten Verdun hatte Goethe ein weiteres Erlebnis: „Die Preußen zogen ein, und es fiel aus der französischen Volksmasse ein Flintenschuß, der niemand verletzte“ – nach anderen Quellen soll Leutnant Graf Henckel von Donnersmarck getötet worden sein –, „dessen Wagestück aber ein französischer Grenadier nicht verleugnen konnte noch wollte. Auf der Hauptwache, wohin er gebracht wurde, hab ich ihn selbst gesehn: es war ein sehr schöner, wohlgebildeter junger Mann, festen Blicks und ruhigen Betragens. Bis sein Schicksal entschieden wäre, hielt man ihn läßlich. Zunächst an der Wache war eine Brücke, unter der ein Arm der Maas durchzog; er setzte sich aufs Mäuerchen, blieb eine Zeitlang ruhig, dann überschlug er sich rückwärts in die Tiefe und ward nur tot aus dem Wasser herausgebracht.“ Solche Menschen erfüllte eine tief greifende Weltanschauung, der Glaube an eine Sache, für die sie trotz schlechter Ausrüstung und mangelnder Kenntnisse eintraten. Zweifelsohne ein Grad bislang ungewohnter Radikalisierung. Die österreichischen und preußischen Truppen hatten – nicht zuletzt wegen der falschen Einschätzung aristokratischer Emigranten in Deutschland – sich eine andere Gesinnung erhofft und mit dem massenhaften Überlaufen der französischen Truppen gerechnet.
Der Feldzug verlief entgegen der Erwartungen, und Goethe begleitete die Truppen auf ihrem Rückzug. Anfang November 1792 erlebte er eine stürmische Bootsfahrt auf der Mosel nach Koblenz, von wo aus er über Düsseldorf und Kassel nach Weimar zurückkehrte. Dort beschäftigte er sich mit einer antiken Gemmensammlung, las Platon, kritisierte Newton und nahm sein gewohntes Leben wieder auf. Die Notizen und Aufzeichnungen seiner Kriegsfahrt nach Frankreich nahm er Jahrzehnte später wieder hervor und schuf daraus die „Campagne in Frankreich“. Wie sein großes Werk „Dichtung und Wahrheit“ ist es bearbeitete, reflektierte und stilisierte Autobiographie, gleichwohl verbergen sich darin unmittelbar authentische Eindrücke. Allein der berühmte Ausspruch vor Valmy dürfte doch erst später hinzugefügt worden sein. Damals um 1820 stand unumstößlich fest, dass fast 30 Jahre früher etwas Neues seinen Anfang genommen hatte, das Europa und Deutschland für immer verändern sollte.
Goethe hörte vor Valmy den französischen Kommandanten Kellermann seine Soldaten mit „Vive la nation!“ anfeuern. Diese antworteten mit Revolutionsliedern wie Ça ira, dessen rasantes Tempo den Soldaten der Verbündeten entgegenschallte. Das Lied war im Umfeld des Föderationsfestes in Paris entstanden, auf dem man im Juli 1790 dem Sturm auf die Bastille gedachte. Der Text kursierte in etlichen Varianten, gleich blieb immer der Appell, gleichsam der mutmachende Aufschrei der Nation: Ah, ça ira, ça ira, ça ira… „Ah, wir werden es schaffen …“. Ihm folgte ursprünglich die blutige Aufforderung des Pariser Straßenkampfes Les aristocrates à la lanterne… „Aristokraten an die Laterne …“. Und: Die Tyrannei werde ihren Geist aushauchen, die Freiheit triumphieren. Weder Adlige noch Priester werde es mehr geben, überall Gleichheit herrschen. Wir wissen nicht, welchen Text die Soldaten der Moselarmee im September 1792 sangen, aber dies oder Ähnliches schallte vom Mühlenhügel von Valmy den Preußen entgegen. Den gleichen Ton, den gleichen Geist verkörpert letztlich auch die Marseillaise, von Rouget de Lisle in Straßburg komponiert, als Kriegslied der Rheinarmee: „Auf, Kinder des Vaterlands, der Tag des Ruhms ist da … Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, marschieren wir, marschieren wir! Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen …“ Solcher Gesang weckte Begeisterung, mitreißende Gefühle, die jedoch auch in Wut und Hass umschlagen konnten. Bis heute symbolisiert er die große Revolution, die 1789 über Frankreich wie ein Dammbruch hereinbrach und ohne die es die deutschen Befreiungskriege nicht gegeben hätte. Dichtung und Symbole wie Freiheitsbäume, Kokarden und Jakobinermützen bündeln die Botschaften, bringen sie gewissermaßen auf den Punkt. Heute weiß man, dass die epochalen Ereignisse ihr zentrales Geschehen im Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 gefunden haben. Dies ist allerdings nur ein moderner Mythos und wie meistens verlief alles viel komplexer und darum komplizierter. In der französischen Monarchie bestand ungeheurer Modernisierungsbedarf, der von der Führungselite und vor allem König Ludwig XVI. schlichtweg verschlafen wurde. Ludwig herrschte von Gottes Gnaden mit absoluter Macht, die ihm in der Krise wenig nützte, weil das Land uneins war: Teilen des Adels missfiel die Vormacht des Hofes von Versailles, die Bauern – überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – murrten über Frondienste, aber auch darüber, dass reiche städtische Bürger immer mehr Land aufkauften, das den Bauern verloren ging und sie zu Pächtern machte. Aristokraten mit langem Stammbaum wollten sich nicht mit Parvenüs abfinden, die in den Adelsstand erhoben wurden. Die kleinen Handwerker, Ladenbesitzer und Tagelöhner von Paris beschwerten sich über zu hohe „Lebenshaltungskosten“, reiche Unternehmer haderten mit der Wirtschaftsordnung, Intellektuellen wurden Absolutismus und Ständeordnung unerträglich …
Die Kritiker der herkömmlichen Ordnung hatten eine ausgefeilte Theorie einer besseren Gesellschaft. Zum Teil lehnten sie sich an den englischen Parlamentarismus an. In Frankreich gab es ein reges Schrifttum dazu: Der Baron de Montesquieu (1689–1755) entwickelte ein Modell der staatlichen Gewaltenteilung und verurteilte die absolutistische Monarchie als Despotismus. Der Pariser Notarssohn François-Marie Arouet, genannt Voltaire, (1694–1778) übte in seinen philosophischen Schriften, politischen Statements, Dramen und Romanen voller Esprit beißende Kritik an den bestehenden Verhältnissen, an Absolutismus, Feudalismus und katholischer Kirche. Sein Erfolg („das Jahrhundert Voltaires“) machte ihn gefährlich und brachte ihn vorübergehend in die berüchtigte Bastille – aber auch an den Hof des Preußenkönigs Friedrich II. Der vielreisende Genfer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) schließlich konstatierte: Der Mensch ist frei. Diese und andere Aufklärer wie der Königsberger Immanuel Kant erstellten letztendlich eine Liste von Forderungen wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit, religiöse Toleranz und Achtung der Menschenwürde. Gegen das Gottesgnadentum des Monarchen etablierten sie das Naturrecht, das jedem Menschen von Natur aus zusteht.
Auch die leichte Muse nahm sich des Themas an und hinterfragte die gesellschaftlichen Ungleichheiten. Den berühmtesten Fall bot der Pariser Schriftsteller Beaumarchais (1732–1799) mit seiner turbulenten Komödie La Folle Journée ou le Mariage de Figaro „Der tolle Tag oder die Hochzeit des Figaro“, die, 1778 entstanden, nach jahrelanger Zensur erst 1784 öffentlich aufgeführt werden durfte (Mozart hat daraus 1786 seine Oper „Die Hochzeit des Figaro“ gemacht). Unter vielen Liebeswirren und Verwicklungen will der Kammerdiener Figaro die Zofe Susanne heiraten, sein tumber Herr Graf Almaviva fordert jedoch das ihm vermeintlich zustehende Recht der ersten Nacht. Nun, alles findet schließlich ein gutes Ende – allein der Graf steht als der Blamierte da. Für das, was die Zensur als anstößig nahm, mag ein Kommentar Figaros stehen: „Adel, Reichtümer, Ränge und Ämter! Wie Euch das doch so hocherhaben und mächtig macht! Und womit habt Ihr das alles verdient? Damit, dass Ihr gnädig zur Welt zu kommen geruhtet. Und das ist schon alles.“
Standesunterschiede und Privilegien lassen sich auch in Zahlen abbilden: Klerus und Adel dürften im damaligen Frankreich nicht mehr als 2 % der Bevölkerung ausgemacht haben, verfügten aber über 40 % des Bodens. Dazu kamen Steuerfreiheit und Ämterprivilegien wie die Offiziersstellen ausschließlich für Aristokraten. Da brauchte es nur noch wenige ungünstige Umstände, um das Ancien Régime in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Diese ergaben sich gegen Ende der 1780er-Jahre, als das Königreich vor dem Bankrott stand. Teure Kriege, immense Staatsausgaben für die Hofhaltung, mangelnde Steuereinnahmen wegen der Unzahl an Privilegien und eine stagnierende Wirtschaft verschärften die Situation. Dazu kamen die Unbilden der Natur: Missernten führten zu hohen Brotpreisen, im eisigen Winter 1788/89 fror sogar die Seine zu. Armut, Hunger und Elend breiteten sich aus, immer mehr verzweifelte Menschen strömten aus der Provinz nach Paris. Im Zentrum Frankreichs brodelte es, Gerüchte gingen um. Der Buchhändler Nicolas Ruault notierte voll Sorge: „Wenn der Hass noch einige Zeit im Volk gegen die privilegierten Stände lodert, wenn die Staatsmacht ihn nicht besänftigt oder löscht, dann steht zu befürchten, dass der besitzlose Teil des Volkes von Schloss zu Schloss rennt, um alles zu plündern und alles zu zerstören.“
Die ganze Monarchie wird in der Tat von Unruhe gepackt. Fortan bricht das alte System an vielen Orten zusammen. König Ludwig braucht Geld, das ihm die Generalstände bewilligen sollen, also die Vertreter des Klerus, des Adels und des 3. Standes, der die Bürger und damit die überwiegende Mehrheit umfasst. Dessen 578 Abgeordnete ergreifen gemeinsam mit klerikalen und aristokratischen Überläufern im Sommer 1789 die Initiative. Advokaten, Kaufleute, Gelehrte und andere Vertreter des Besitz- und Bildungsbürgertums setzen die Ideen der Aufklärung schlichtweg in die Tat um. Der politisch umtriebige Priester Emmanuel Joseph Sieyès gibt in einem weitverbreiteten Pamphlet die Losung vor: „Was ist der dritte Stand?“ – „Alles.“ – Was ist er bislang in der politischen Ordnung gewesen? – Nichts! – Was verlangt er? – Etwas zu sein.“ In der Frage, ob in den Generalständen nach Ständen (2:1 für das Ancien Régime) oder nach Köpfen (eine Mehrheit für Reformen) abzustimmen sei, schaffen die Abgeordneten des Dritten Standes durch einen sensationellen Beschluss klare Verhältnisse: Sie erklären sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung und erheben damit den Anspruch, die legitime Vertretung der Nation zu sein. Der zögerliche König erkennt nicht das Gebot der Stunde, er verpasst die Initiative zu Reformen, auch die Armee entgleitet seiner Kontrolle. Jean-Sylvain Bailly konstatiert als Präsident der Nationalversammlung: „Die versammelte Nation kann keine Befehle entgegennehmen.“ Am Ende muss sich Louis fügen. Er erkennt die Assemblée nationale an.
Während die Situation auf den Straßen zunehmend eskaliert und abgeschnittene Aristokratenköpfe auf Piken als schaurige Rachezeichen herumgetragen werden, während vielerorts neue Stadträte und Verwaltungen geschaffen und die bürgerliche Miliz der Nationalgarde für Ordnung sorgen soll, fährt die Nationalversammlung mit ihrer historischen Arbeit fort. Anfang August zerstört sie per Dekret „das Feudalregime vollständig“. Mit dieser wegweisenden Entscheidung schafft sie uralte Vorrechte der ersten beiden Stände ab: so von Bauern Fronarbeit zu fordern, die grundherrliche Gerichtsbarkeit, die Jagd- und Fischrechte, die Steuerfreiheit sowie den Kirchenzehnten. Drei Wochen später erfolgt die Erklärung der Menschenrechte als „natürliche, unveräußerliche und geheiligte Rechte der Menschen“. Artikel 1 verkündet: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ Daraus resultieren die Rechte auf Freiheit, auf Eigentum, auf Sicherheit und auf Widerstand gegen Unterdrückung, aber auch auf freie Meinungsäußerung. Die Nationalversammlung hält fest, dass die Souveränität allein von der Nation ausgeht und nicht von einem absolut herrschenden Monarchen. Seiner nicht selten administrativen Willkür steht nun die Bestimmung gegenüber, Staatsbeamte müssten über ihre Amtsführung Rechenschaft ablegen. Nach dem traditionellen Parlamentarismus Großbritanniens und den gerade unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer Verfassung steht nun Frankreich, das die Vorstellungen des demokratischen Rechtsstaats erstmals fundamental umsetzt.
Mit seinen ständigen Umbrüchen stellt sich das Land in den nächsten Jahren wie ein Laboratorium der Moderne dar. Hier gehen die Forderungen der Menschenrechte mit blutigstem Terror Seite an Seite. Verschiedene Regierungssysteme lösen sich ab, im September 1791 wird die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie erlassen, in der die Rolle des Königs schriftlich fixiert und nicht mehr göttlich legitimiert ist. Wiederum ein Jahr später, am 21. September 1792, wird die Republik ausgerufen und eine neue Zeitrechnung eingeführt. Der Bruch mit dem Ancien Régime gestaltet sich immer radikaler: Nach dem Verlust aller Privilegien wird nun der Priesterstand aufgehoben, schließlich soll die Verehrung der Vernunft den christlichen Glauben ersetzen. Die königliche Familie als Symbol der alten Ordnung wird zuerst zum Umzug von Versailles in das Tuillerienschloss mitten in Paris gezwungen. Nach einem Fluchtversuch wird sie im Temple gefangengesetzt. Zu guter Letzt erfolgt die Anklage wegen Hochverrats und die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes im Lauf des Jahres 1793.
Die Radikalisierung drückt sich aus in der Bildung verschiedener Fraktionen und Parteien in der Nationalversammlung: Anfangs versteht man sich hier als Freunde der Verfassung, aber auch als Monarchisten, Wahrer aristokratischer Interessen und Republikaner. Mit der neuen Verfassung wird dann aus der Nationalversammlung die Legislative mit Unabhängigen, mit Konstitutionellen, mit Feuillants und Jakobinern, die sich wiederum in Radikale und gemäßigte Girondisten unterteilen. In der Republik vom September 1792 bilden die Gemäßigten der Mitte im nun Konvent geheißenen Parlament weiter die Mehrheit, während die Girondisten und die Jakobiner noch als kleine, radikale Randgruppe auftreten. Die Innenpolitik wird immer stärker von der äußeren Bedrohung durch die verbündeten Österreicher und Preußen sowie den Aktivitäten der adligen Emigranten geprägt. Hysterie und Verschwörungstheorien machen sich breit, denen letztlich auch der König zum Opfer fällt. Die Lage an der Front wirkt lange katastrophal, denn die fast ausschließlich aristokratischen Offiziere nehmen ihren Abschied oder gehen ins Exil und die freiwilligen Bürgersoldaten sind schlecht ausgebildet. Mangelnde Disziplin, Meuterei und Fahnenflucht sind an der Tagesordnung. Im Juli 1792 wird der nationale Notstand verkündet: „Bürger! Das Vaterland ist in Gefahr!“ Zehntausende werden zu den Waffen gerufen. Eine Volksarmee aus Bürgern, die mit Valmy und Dumouriez´ Sieg über die Österreicher bei Jemappes erste Erfolge verzeichnet. Mit dem Ende der alten Heerordnungen fallen auch die Unterschiede zwischen Berufssoldaten und Freiwilligen weg. Im August 1793 verpflichtet der Konvent mit der Levée en masse (Massenaushebung) alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25, sich für die Armee bereitzuhalten. Das ist der Beginn einer allgemeinen Wehrpflicht! Am Ende verfügt das revolutionäre Frankreich über eine Armee von 750.000 Mann, die zusehends besser ausgebildet und erfahrener ist. In dieser Armee gewinnt ein völlig anderes Offiziersbild an Bedeutung: Die Führungspositionen nehmen nicht mehr Adlige aufgrund ihrer Vorrechte ein, sondern Bürgerliche ganz unterschiedlicher Herkunft, die sich ihre Meriten durch hervorragende Leistungen verdienen müssen. Diese neue Bürgerarmee sollte schon bald ganz Westdeutschland und andere Gebiete besetzen.
Nur kurz sei auf die weitere Entwicklung der Republik eingegangen, die letztlich eine teils äußerst blutige, teils korrupte Entwicklung nahm – und damit für viele spätere Revolutionen einen Präzedenzfall bot: Der zunehmende Einfluss der Radikalen, insbesondere der Jakobiner, führt mit der vorübergehenden Unterstützung der Pariser Sansculotten, also von kleinbürgerlichen Handwerkern, Tagelöhnern, Arbeitern, zur Schaffung eines Revolutionstribunals und des so genannten Wohlfahrtsausschusses (Comité du salut public) als Exekutivorgan. Sie begründen die berüchtigte Schreckensherrschaft, in der der Terror (la terreur) zum Mittel der Regierungspolitik selbst wird. Die Folgen sind Willkür und Gesetzesbrechung, denen Tausende zum Opfer fallen. Mit der Hinrichtung des führenden Robespierre am 28. Juli 1794 endet diese Schreckenszeit. Der Konvent beschließt eine neue gemäßigte Verfassung mit zwei Parlamentskammern und einem fünfköpfigen Direktorium. Die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts werden in Frankreich von äußeren Kriegen, innenpolitischen Unruhen und Staatsstreichen und ganz allgemein von korrupten Politikern geprägt. Dies alles ändert jedoch nichts: Das Ancien Régime gehört der Vergangenheit an. Eine neue, noch nie dagewesene Macht hat sich mitten in Europa etabliert.
In den turbulenten Sommertagen des Jahres 1789 befanden sich etliche Deutsche an der Seine, darunter auch der Pädagoge und Journalist Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Campe war den Idealen der Aufklärung zugetan und befand sich in Begleitung seines ehemaligen Schülers Wilhelm von Humboldt. Er soupierte nicht nur mit dem berühmten Grafen Mirabeau, einem der führenden Revolutionspolitiker, sondern verfolgte auch die bewegenden Sitzungen der Nationalversammlung. Nach Deutschland schickt er eine eindringliche Beschreibung der erstürmten Bastille, „diesen Ort des Schreckens und des Jammers, den so manche heiße Träne benetzte, und aus dessen tiefen und finsteren Gräben, mit lebendigen Leichen angefüllt, so mancher, von Angst und Verzweiflung erpreßter Seufzer durch ungeheure Felsenwände und eiserne Türen zum Vater der Menschen, zum Richter der Könige und um Rache schrie … Genug von dieser gräulichen Burg, an deren Stelle sich nun bald ein herrliches Denkmal der Erlösung von den Schrecknissen der willkürlichen Alleingewalt erheben wird!“ Auch der damals 23-jährige Wilhelm von Humboldt, später Gelehrter, Diplomat, führender preußischer Bildungsreformer und Mitbegründer der Berliner Universität, begrüßt die Zerstörung der Bastille: Für ein schönes Gebäude des Mittelalters sei diese zwar bedauerlich, aber „… unentbehrlich. Es war das eigentliche Bollwerk des Despotismus, nicht bloß als ein grauenvolles Gefängnis, sondern auch als eine Festung, die ganz Paris beherrscht.“
Campe zeigte sich wie jedermann beeindruckt vom quirligen Leben in der Metropole, das im kleinstädtisch geprägten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seinesgleichen sucht. Die revolutionäre Unruhe erfasst alle Schichten und macht auch vor den Ärmsten nicht halt, die ebenso wie der Bürgerliche über die politischen Verhältnisse diskutieren: „Das Erste, was uns außer der hin und her wallenden Volksmenge auffällt, sind die vielen, dicht ineinandergeschobenen Menschengruppen, welche wir teils vor vielen Haustüren, wo entweder Bürgerwachstuben sind oder Bäcker wohnen, teils vor allen denjenigen Häusern erblicken, deren Mauern mit Affichen beklebt sind. Diese Bekanntmachungszettel sieht man in allen Straßen, besonders an den Seitenwänden aller Eckhäuser und an dem ganzen Gemäuer aller öffentlichen Gebäude auf den Quais und sonstigen freien Plätzen … Vor jedem mit dergleichen Zetteln beklebten Hause sieht man ein unendlich buntes und vermischtes Publikum von Lastträgern und feinen Herrn, von Fischweibern und artigen Damen, von Soldaten und Priestern, in dichten, aber immer friedlichen und fast vertraulichen Haufen versammelt …“ Überall werden Broschüren und fliegende Blätter feilgeboten, und zahlreiche „Colporteure“ rufen Titel und Hauptinhalt aus. „Auffallend und befremdend für den Ausländer ist hier der Anblick ganz gemeiner Menschen aus der allerniedrigsten Volksklasse, zum Beispiel der Wasserträger … auffallend … welchen warmen Anteil sogar auch diese Leute, die größtenteils weder lesen noch schreiben können, jetzt an den öffentlichen Angelegenheiten nehmen …“ (so in einem Brief vom August 1789).
Schilderungen aus dem revolutionären Paris sind Legion, die meisten bewerten die Ereignisse mit mehr oder weniger großer Sympathie. Zunehmende Gewaltorgien und die blutige, auch Deutsche bedrohende Schreckensherrschaft sorgten indessen für wachsende Distanzierung. Zu den nur knapp der Guillotine Entgangenen gehörte auch ein norddeutscher Adliger namens Graf Gustav von Schlabrendorf (175–824), dem ein ansehnliches Vermögen ein unabhängiges Leben ermöglichte. Am Vorabend der Revolution kam der Sohn eines preußischen Ministers nach Paris, wo er sich schließlich angesichts geringer werdender finanzieller Mittel in einer bescheidenen Unterkunft unweit des Louvre einmietete. In dieser dürftigen, mit Büchern vollgestopften Behausung empfing der „Diogenes von Paris“ während der Revolutionsjahre und in der napoleonischen Zeit deutsche Besucher, darunter so illustre Namen wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, der spätere Reformer und preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg sowie Freiherr vom Stein oder die Romantiker Achim von Arnim und Friedrich Schlegel. Der exzentrische Sonderling galt als erste Adresse für jeden, der sich im revolutionären Paris umtun wollte. Er verkörpert den unmittelbaren persönlichen Zugang zu den französischen Geschehnissen, stellte gleichsam einen „Pool“ unzähliger Nachrichten dar.
Aber auch ohne ihn war man in den zahlreichen deutschen Staaten mit ihren Haupt-, Residenz- und Universitätsstädten zumeist bestens informiert. Dazu trugen nicht nur Reiseschilderungen, sondern auch Publikationen aller Art und nicht zuletzt die Presse bei – darunter auch französische Blätter. Und in den aufgeklärten Kreisen stießen die Ereignisse im Nachbarland auf große Resonanz, – ohne dass die Massen Schlösser und Residenzen gestürmt und Fürsten oder andere Aristokraten gemeuchelt hätten. Nein, in den deutschen Ländern lief dies anders ab: In Hamburg-Harvestehude beispielsweise versammelten sich am 14. Juli 1790 etwa 80 Personen in einem privaten Garten, um des Sturms auf die Bastille zu gedenken. Alle, auch Gäste aus Amerika, England und Schweden, trugen Trikoloren, es wurde Salut geschossen und bis in den Abend hinein gefeiert. Unter den Gästen weilte der knapp 70-jährige Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), als Schöpfer des Epos „Messias“ damals Deutschlands berühmtester und ehrwürdigster Dichter. Klopstock feierte das Vorbild Frankreichs in antikisierenden Oden: „Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste Tat hub Da sich zu dem Olympus empor … Unsere Brüder, die Franken; und wir? Ach, ich frag umsonst: ihr verstummet, Deutsche!“ so in der Ode „Kennet euch selbst“.
Feier und Zustimmung auch andernorts: In Weimar nennt Christoph Martin Wieland die „ehrlichen und … etwas stupiden Germanier(n)“, noch zu unreif, um die französischen Verhältnisse „unbefangen“ zu beurteilen. Und in Tübingen pflanzen die Theologiestudenten und späteren Geistesgrößen Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Schelling sowie Georg Friedrich Wilhelm Hegel einen Freiheitsbaum auf der Neckarwiese. Umso größer war ihr Erschrecken über die Gewaltexzesse und die blutige Wendung der Revolution. Ein alter Herr wie Klopstock, der in seiner „deutschen Gelehrtenrepublik“ die Utopie eines friedlichen von der Bildungselite geführten Staatswesens entworfen hatte, konnte sich nur mit Schaudern abwenden. Die meisten andern taten es ihm gleich. Der junge Göttinger Student Wilhelm Heinrich Wackenroder, der in seinem kurzen Leben im Kreise der Frühromantik eine Rolle spielte, stellt eine Ausnahme dar: „Die Hinrichtung des Königs von Frankreich hat ganz Berlin von der Sache der Franzosen zurückgeschreckt; aber mich gerade nicht. Über ihre Sache denke ich wie sonst. Ob sie die rechten Mittel dazu anwenden, verstehe ich nicht zu beurteilen, weil ich von dem Historischen sehr wenig weiß“ – so im März 1793 an den befreundeten Ludwig Tieck.
Werfen wir einen Blick auf die beiden Weimarer Klassiker, die den Zeitgenossen noch nicht als vorherrschende Meinungsbildner galten, deren Urteile man aber gleichwohl zur Kenntnis nahm. Friedrich Schiller etwa zeigt sich in Briefen eher verhalten, nimmt die ihm zugetragenen Anekdoten von der Seine eher humorvoll, als dass er in ihnen Ereignisse von weltgeschichtlicher Tragweite sieht. Durchaus erfreut nimmt er den Umstand, dass ihm in Paris durch die Nationalversammlung im August 1792 das Bürgerrecht verliehen wird. Die Versammlung ehrte damit Nichtfranzosen, unter anderem auch Klopstock oder den Schweizer Pädagogen und Sozialreformer Pestalozzi, die „Arm und Wachsamkeit der Sache des Volkes gegen den Despotismus der Könige geweiht hatten“. Der so Geehrte – M. Gille, Publiciste allemand – hatte sich als Verfasser der „Räuber“ und von „Kabale und Liebe“ als Feind des fürstlichen Despotismus gezeigt. Die Hinrichtung des Königs ließ ihn gleichwohl auf skeptische Distanz gehen. Durch den Bezug der Pariser Tageszeitung Moniteur durchaus gut informiert, hatte er dessen Prozess aufmerksam verfolgt und noch im Dezember 1792 gegenüber dem Freund Körner eine ebenso naive wie illusorische Idee: „Kaum kann ich der Versuchung widerstehen, mich in die Streitsache wegen des Königs einzumischen … und ein deutscher Schriftsteller, der sich mit Freiheit und Beredsamkeit über diese Streitfrage erklärt, dürfte wahrscheinlich auf diese richtungslosen Köpfe einigen Eindruck machen.“
Bekanntlich wurde nichts daraus, und Schiller scheint sich, angewidert von den Schrecken der Tagespolitik ins Reich der Ideen zurückgezogen zu haben. Einem Freund rät er: „… lassen Sie vor der Hand die arme, unwürdige und unreife Menschheit für sich selbst sorgen. Bleiben Sie in der heitern und stillen Region der Ideen …“. Der befreundete Arzt Friedrich Wilhelm von Hoven schreibt in seinen Erinnerungen dazu bestätigend: „Von dem französischen Freiheitswesen … war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glücklichere Zukunft fand er nicht. Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit.“
Schillers Einschätzung bezeugen seine „Briefe über die ästhetische Erziehung“, die er Herzog Friedrich Christian von Augustenburg (1765–1814) schrieb, der sich später als Reformer im dänischen Staatsrat hervortat und Schiller mit einer Pension unterstützte. Unter dem Datum des 13. Juli 1793 stellt er Frage, ob es „nicht außer der Zeit“ sei, „sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten?“ Denn „eine geistreiche, mutvolle, lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat angefangen, ihren positiven Gesellschaftszustand gewaltsam zu verlassen und sich in den Naturzustand zurückzuversetzen, für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetzgeberin ist.“ Im Abwägen zwischen praktischer Politik und Idealismus kommt er zu dem Schluss: „… wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, dass die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. Ja, ich bin so weit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, dass mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen.“ Und dann fällt Schiller ein Urteil von großer Tragweite: „… Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht wert war und weder zu würdigen noch zu benutzen wusste.“ Das Menschengeschlecht sei der „vormundschaftlichen Gewalt“ noch nicht entwachsen, das „liberale Regiment der Vernunft“ sei zu früh. Denn die vermeintlich befreiten „niederen Klassen“ zeigten nur ihre „rohen gesetzlosen Triebe“. Was zu dem Fazit führt: „Es waren also nicht freie Menschen, die der Staat unterdrückt hatte, nein, es waren bloß wilde Tiere, die er an heilsame Ketten legte.“ Und auch die „zivilisierten Klassen“ enttäuschten in der historischen Situation, bewiesen sie doch „Erschlaffung“, „Geistesschwäche“ und „Versunkenheit des Charakters“. Die Konsequenz: „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“
Also auf zur „Veredlung der Denkungsart“, am besten ohne jeden staatlichen Einfluss. Weil für die Aufklärung des Verstandes schon so viel getan worden sei, müsse nun „die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens“ vorangetrieben werden. Zur Charakterbildung sei die „ästhetische Kultur“ am besten geeignet, die Kunst müsse Ideale haben, „die ihr unaufhörlich das Bild des höchsten Schönen vorhalten“. Und was sei dafür besser geeignet als die „unsterblichen Muster des griechischen Genius“? Fazit: Erst bessere Menschen sind reif für eine bessere Verfassung. Die politische Praxis war Schiller darum vergällt. Für seine Zeitschrift „Die Horen“ warb er um Beiträge mit der Forderung, man möge auf alles verzichten, „was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht. Man widmet sich der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung, und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen …“