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John C. G. Röhl

WILHELM II.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Der Erste Weltkrieg gilt als die Urkatastrophe der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Bis heute ist sich die Wissenschaft uneins über den Grad der Verantwortung, die dem letzten deutschen Kaiser, Wilhelm II., dafür anzulasten ist. Hatte der Monarch – bei aller Selbstherrlichkeit, bei allem Säbelrasseln, bei allem Versagen auf diplomatischem Parkett – tatsächlich solchen Einfluß auf die deutsche Politik, daß maßgeblich er den Weg in den Untergang bahnte? John C. G. Röhl, einer der besten Kenner der Geschichte des Kaiserreichs im allgemeinen und seines Protagonisten im besonderen, hat in seinem dreibändigen opus magnum auf mehr als 4000 Seiten die Entwicklung des Herrschers von seiner Geburt bis zum Tod im Exil in den Niederlanden nachgezeichnet und dabei dessen innen- und außenpolitisches Wirken minutiös dokumentiert. Für diese biographische Meisterleistung wurde er 2013 mit dem Einhard-Preis ausgezeichnet. Nun legt er eine biographische Miniatur zu Wilhelm II. vor, die sich – wie schon das Hauptwerk – durch die einzigartige Verbindung von präziser Information, klarer Argumentation und höchster Darstellungskunst auszeichnet.

Über den Autor

John C. G. Röhl lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Neuere europäische Geschichte an der Universität Sussex. Im Verlag C.H.Beck sind von demselben Autor lieferbar: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik (2. Aufl. in der bsr, 2007); Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers. 1859–1888 (32009); Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie. 1888–1900 (22012); Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900–1941 (22009)

Angela und Nora
in memoriam

Inhalt

Vorwort

Überblick: Wilhelm der Letzte, ein deutsches Trauma

   I. Der gepeinigte Preußenprinz (1859–1888)

Seelenmord an einem Thronerben

Ambivalente Mutterschaft

Ein gewagtes Erziehungsexperiment

Der Konflikt mit den Eltern

Das Dreikaiserjahr 1888 und die Thronbesteigung

  II. Der anachronistische Autokrat (1888–1900)

Gottesgnadentum und kein Ende

Bismarcks Sturz (1889–1890)

Der Aufbau der Persönlichen Monarchie (1890–1897)

Der Kanzler als Höfling: Das faule System Bülow (1897–1909)

 III. Der uferlose Weltpolitiker (1896–1908)

Die Herausforderung Europas: Weltmacht- und Flottenpolitik

Der Russisch-Japanische Krieg und das Kaisertreffen auf Björkö (1904–1905)

Krieg im Westen? Die Tanger-Landung und das Fiasko von Algeciras (1905–1906)

Die Zuspitzung des deutsch-englischen Gegensatzes

 IV. Der skandalumwitterte Souverän (1906–1909)

Die Eulenburg-Affäre (1906–1909)

Bülows Verrat am Kaiser: Die Daily-Telegraph-Krise (1908–1909)

Kanzlerkarussell 1909: Von Bülow zu Bethmann Hollweg

  V. Der streitsüchtige Kriegsherr (1908–1914)

Die Bosnische Annexionskrise (1908–1909)

Der «Panthersprung» nach Agadir (1911)

Schlachtflottenbau trotz erhöhter Kriegsgefahr (1911–1912)

Die mißlungene Haldane-Mission (1912)

Die Balkanwirren und ein erster Entschluß zum Krieg (November 1912)

Der Krieg wird vertagt: der «Kriegsrat» vom 8. Dezember 1912

Der aufgeschobene Krieg rückt näher (1913–1914)

Der Kaiser in der Julikrise 1914

 VI. Der größenwahnsinnige Gottesstreiter (1914–1918)

Die Kriegsziele des Kaisers

Die Hilflosigkeit des Obersten Kriegsherrn im Kriege

Zusammenbruch und Flucht: Der Untergang der Hohenzollernmonarchie

VII. Der rachsüchtige Exilant (1918–1941)

Ein neues Leben in Amerongen und Doorn

Der rabiate Antisemit im Exil

Der Kaiser und Hitler

Literaturhinweise

Personenregister

Vorwort

Es ist nicht allzulange her, da galt Wilhelm II. noch als Unperson. Der Monarch, der dreißig Jahre lang (von 1888 bis 1918) als Deutscher Kaiser, König von Preußen und Oberster Kriegsherr das mächtige preußisch-deutsche Kaiserreich im Herzen Europas regierte, wurde von den deutschen Fachhistorikern übergangen. Keiner von ihnen hatte sich mit diesem schillernden, machtbewußten und überall Anstoß erregenden Herrscher ernsthaft befaßt, der 1890 den Reichsgründer Fürst Bismarck entließ, eine Riesenflotte gegen England aufbaute und 1914 sein blühendes Reich in den Ersten Weltkrieg führte. Man muß kein Sherlock Holmes sein, um diesem eklatanten Versäumnis auf den Grund zu kommen: Wie das verräterische Schweigen in dem Detektivroman Der Hund von Baskerville war die Tabuisierung Wilhelms II. in der Weimarer Republik und der Nazizeit Ausdruck jener Kampagne der vaterländischen Geschichtsschreibung zur Zurückweisung der «Kriegsschuldlüge» von Versailles. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich unser Verständnis dafür, wie Kaiser Wilhelm in der deutschen Geschichte einzuordnen sei, jedoch gründlich verändert. Seine Persönlichkeit, seine Weltanschauung, seine autokratische Herrschaftsmethode und seine Schlachtflotten- und Weltmachtpolitik stehen heute im Mittelpunkt einer lebhaften Auseinandersetzung über Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte des ersten deutschen Nationalstaates von 1871 bis 1945. Quellengesättigte Biographien, tausendseitige Dokumentenbände, wissenschaftliche Ausgaben seiner Reden, Monographien über sein Verhältnis zu Militär, Religion, Kunst, Wissenschaft, Film, zur technisch-industriellen Welt sowie psychologische und kulturanthropologische Untersuchungen zu seinem Freundeskreis beziehungsweise zum skandalumwitterten Hohenzollernhof – all das ist inzwischen genau erarbeitet worden. Gewiß bleibt noch einiges zu tun – die russischen und französischen Archive zum Beispiel sind kaum ausgewertet worden – und gewiß bleibt das Gesamturteil weiterhin umstritten. Wer allerdings ehrlich nach der Wahrheit sucht, statt althergebrachten Wunschbildern nachzutrauern, der wird den Deutungsspielraum durch die erwiesenen Tatsachen stark eingeengt vorfinden. In diesem Band soll der Versuch gemacht werden, unser Wissen über den letzten deutschen Kaiser auf der Grundlage moderner Forschungsergebnisse zusammenzufassen. Das Bild, das sich daraus ergibt, hat sich um mehrere Schattierungen verdunkelt.

Überblick: Wilhelm der Letzte, ein deutsches Trauma

Kaiser Wilhelm II. wurde am 27. Januar 1859 in Berlin geboren und starb am 4. Juni 1941 im Alter von 82 Jahren im holländischen Exil. Chronologisch deckt sich sein Leben also fast genau mit dem Aufstieg und Zusammenbruch des ersten deutschen Nationalstaates, den Bismarck durch die drei Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 gründete und der in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges sein jähes Ende fand. Wilhelm II. war alles andere als ein stiller Zuschauer der gewaltigen Ereignisse seiner Zeit. Von seiner Thronbesteigung im sogenannten Dreikaiserjahr 1888 bis zu seiner Abdankung und Flucht nach Holland am 9. November 1918 regierte er nicht nur als Repräsentationsfigur, sondern auf sehr direkte und persönliche Weise das Deutsche Reich und dessen Hegemonialstaat, die mächtige Militärmonarchie Preußen.

Freilich, Wilhelm war kein Diktator. Er mußte sich mit dem jeweiligen Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten, mit den preußischen Staatsministern und den Staatssekretären der Reichsämter, mit dem Reichstag und dem preußischen Landtag sowie mit den verbündeten Regierungen der übrigen deutschen Königreiche, Großherzogtümer, Herzogtümer und Freien Städte arrangieren. Zunehmend schränkte auch die Öffentlichkeit in Gestalt von politischen Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Interessenverbänden, Pamphleten, Pressekritik und Volksdemonstrationen bis zu einem gewissen Grad seinen persönlichen Einfluß ein. Aber im Zentrum der Macht, und erst recht in der Personal-, Militär-, Außen- und Rüstungspolitik, bestimmte Kaiser Wilhelm bis zum Kriegsentschluß 1914 – eine Entscheidung, an der er maßgeblich beteiligt war – ganz wesentlich den Lauf der Dinge. Zwar geriet er während des Ersten Weltkriegs zunehmend in den Schatten der Generäle, doch selbst dann behielt er in allen wichtigen Fragen das letzte Wort.

Die Grundlage seiner starken Machtstellung erbte der gerade erst 29jährige Wilhelm II. im Juni 1888 von seinem Großvater und von seinem Vater, war es Bismarck doch gelungen, die «Persönliche Monarchie» der Hohenzollern vor den «konstitutionellen Daumenschrauben» der parlamentarischen Kontrolle zu bewahren. Wilhelm ging jedoch noch viel weiter. Nicht nur feuerte er 1890 den «Lotsen» Bismarck, um das Steuer an sich zu reißen. Im Lauf der 1890er Jahre baute er Schritt für Schritt, im stillen beraten von seinem ihm schwärmerisch ergebenen Günstling Philipp Graf zu Eulenburg, seine persönliche Macht in atemberaubender Weise aus. Dabei fehlten dem zwar vielseitig interessierten und zweifellos auch begabten, aber doch hochgradig emotionalen und ruhelosen Monarchen schlicht das Augenmaß, Besonnenheit und Klugheit, um das dynamischste und mächtigste Reich in Europa sicher zu leiten. Die Hervorkehrung seines Gottesgnadentums, sein aggressiv zur Schau getragenes Autokratentum, sein säbelrasselnder Militarismus, seine offenkundige Selbstverliebtheit und der byzantinische Servilismus, den diese Erwartungshaltung am Hof und selbst bei den obersten Staatsdienern erzeugte, wirkten wie ein Rückfall ins 18. Jahrhundert und wurden als Affront gegen das eigene Volk empfunden. Die Skandale und Krisen, die viele gleich zu Beginn seiner Herrschaft vorausgesagt hatten, ließen nicht lange auf sich warten. Ebenfalls zum Scheitern verurteilt waren Wilhelms bauernschlaue Versuche, mittels seiner Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus einerseits und der russischen Zarenfamilie andererseits seine hegemonialen Ambitionen in Europa zu verschleiern. Über den Schlachtflottenbau seit 1897, den Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, die Erste Marokkokrise 1905/06, die Bosnische Annexion 1908/09, die Agadirkrise 1911 und die beiden Balkankriege 1912/13 führte der Weg mäandrierend in den Abgrund des Ersten Weltkriegs.

Mit seiner schmachvollen Flucht ins Exil nach Holland im November 1918 verlor Kaiser Wilhelm jedweden Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Politik. Er kämpfte erfolgreich gegen seine Auslieferung als Kriegsverbrecher an ein Tribunal der Siegermächte, das ihn, wenn nicht zum Tode, so doch zur Verbannung auf die Teufelsinsel oder die Falklands verurteilt hätte. In den 23 Jahren des Exils entwickelte der verbitterte Ex-Kaiser einen paranoiden Rassenwahn und Judenhaß, der sich durchaus mit der rabiaten Agitation der Nationalsozialisten messen kann. Er hätte sich Hitler mit fliegenden Fahnen angeschlossen, wäre dieser nur bereit gewesen, ihn wieder auf den Thron zu setzen. So bildet auch das Kapitel über die machtlosen Jahre des Kaisers im Exil ein Lehrstück zur Kontinuität in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beginnen wir aber am Anfang – mit der schicksalsschweren Geburt des künftigen Thronfolgers am 27. Januar 1859.

I. Der gepeinigte Preußenprinz (1859–1888)

Seelenmord an einem Thronerben

Die Hochzeit seiner Eltern in London 1858 galt als Talisman einer engen Beziehung zwischen Großbritannien mit seinem ozeanischen Riesenreich und dem aufstrebenden Königreich Preußen auf dem Kontinent: Die siebzehnjährige Prinzessin Victoria, Vicky genannt, war das älteste Kind Queen Victorias und des Prinzgemahls Albert aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, der Bräutigam Prinz Friedrich Wilhelm (Fritz) der einzige Sohn des 61jährigen Prinzen Wilhelm von Preußen, der seit kurzem für seinen geisteskranken und kinderlosen Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft führte. Mit der Geburt eines Sohnes am 27. Januar 1859 schienen die Hohenzollerndynastie und der Friede in Europa auf Jahrzehnte gesichert. Sinnträchtig erhielt der neugeborene Prinz von Preußen die Namen auch seiner englischen Großeltern: Friedrich Wilhelm Viktor Albert.

Die Entbindung fand im obersten Stock des Kronprinzenpalais zu Berlin Unter den Linden statt. Die Umstände bei der Geburt galten lange Zeit als ungeklärt, liegen jetzt aber dank der Dokumente im Familienarchiv offen zutage: Die Wehen der Mutter begannen am Nachmittag des 26. Januar. Der Vater, der während der Niederkunft seiner Frau nicht von ihrer Seite wich, schickte am frühen Abend mit der gewöhnlichen Post (!) einen Brief an den Frauenarzt Professor Dr. Eduard Arnold Martin, ohne ahnen zu können, daß sich das Kind in Steißlage befand – den Kopf nach oben, die Beine und Arme hochgestreckt. Erst als diese Stellung, die Lebensgefahr für Mutter und Kind bedeutete, am folgenden Morgen erkannt wurde, schickte der Prinz einen Boten zu Martin, der den Brief des Vortags noch nicht erhalten hatte. Der Frauenarzt fand also eine Notlage vor, als er in den Kreißsaal eilte. Er ließ die leidende Mutter durch den schottischen Arzt, den Queen Victoria nach Berlin geschickt hatte, mit Chloroform betäuben, ordnete – da die Wehen nicht genügend Stoßkraft besaßen – die Verabreichung von Mutterkorn (eigentlich ein Abtreibungsmittel) an und suchte nun das Kind, das vom Ersticken bedroht war (da es die Nabelschnur mit dem Kopf abdrückte), aus dem Geburtskanal zu lösen. Bei dem Versuch, den über den Kopf emporgestreckten linken Arm des Babys herunterzuziehen und «mittels desselben» dessen Körper zu rotieren, wurde dessen Nervengeflecht am Hals zerrissen: Der künftige König der Militärmonarchie Preußen und nachmaliger Kaiser des mächtigen Deutschen Reiches kam nicht nur «in hohem Grade scheintodt», sondern auch mit einer sogenannten Armplexuslähmung zur Welt.

Die nächsten Tage und Wochen brachten die Gewißheit, daß der kleine Prinz eine schwere Geburtsverletzung erlitten hatte. Zwischen dem linken Oberarm und der Schulterpartie entwickelte sich eine deutliche Falte. Das linke Schultergerüst und der Arm hingen schlaff herunter, das Ellbogengelenk war dagegen steif. Im Vergleich zum rechten Arm war der linke kalt und zu kurz; mit der Zeit wurde der Unterschied sichtlich größer. Auch die linke Hand blieb kleiner als die rechte, ihre auffallend spitzen Finger waren klauenartig eingeschlagen. Die Ursache für die besorgniserregende Mißbildung war jedoch rätselhaft. Man ging von einer Quetschung der Muskeln aus, die mit der Zeit heilen würde, empfahl kalte Waschungen, Einreibungen mit Alkohol, passive Bewegungen des lahmen Gliedes. Allein schon die Anordnung des Leibarztes, den rechten Arm festzubinden, um das Kleinkind zum Gebrauch des linken Armes anzuregen, beweist, wie unvollkommen das Wissen der damaligen Medizin über das Nervensystem war. Erst allmählich setzte sich die Überzeugung durch, daß die Lähmung nicht auf eine Muskelverletzung, sondern auf einen Hirn- oder Nervenschaden zurückzuführen und deshalb unheilbar war.

Aufgrund der falschen Diagnose wurden geradezu groteske therapeutische Maßnahmen ergriffen. Als der Prinz sechs Monate alt war, verordnete Professor Bernhard von Langenbeck von der Charité «animalische Bäder». Zweimal wöchentlich wurde Wilhelms linker Arm eine halbe Stunde lang in den Kadaver eines «frischgeschossenen Hasen» gesteckt in der Erwartung, Wärme und Kraft des wilden Tieres würden sich auf den Arm übertragen. Bereits an dieser Stelle fragt man sich, welche psychischen Folgen diese jahrelang praktizierte blutige Grausamkeit auf den künftigen Monarchen gehabt haben mag; irgendwelchen Nutzen brachte sie jedenfalls nicht. Da er infolge der Lähmung Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu finden, gestalteten sich Wilhelms Gehversuche schmerzhaft, zumal man fortfuhr, seinen rechten Arm festzubinden. Frustration und Wut machten sich bemerkbar. Bald nach dem ersten Geburtstag verschrieb Langenbeck zusätzlich zu den «Thierbädern» Malzbäder und Magnetisierung – die erste Elektromagnetisierung des Armes wurde im April 1860 vorgenommen, doch das Glied blieb kalt, gefühllos und dunkelrot. Später ist für die Elektrotherapie des Halses der konstante galvanische Strom verwendet worden, da Wilhelm an dieser empfindlichen Stelle den magnetischen Wechselstrom nicht ertrug. Für den Arm wurden weiterhin beide Stromarten täglich «auf längere Zeit» und «in bedeutender Stärke» angewendet.

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Die Kopfstreckmaschine, Zeichnung von Kronprinzessin Victoria

Als Wilhelm vier Jahre alt war, stellte sich als zusätzliches Krankheitsbild ein Schief- oder Drehhals ein: Die unverletzte rechte Halsmuskulatur zog den Kopf zur rechten Seite herunter und drehte gleichzeitig das Kinn zur paralysierten linken Seite hin. Im April 1863 wurde, wie sein Vater notierte, eine «Maschine für Wilhelm’s Hals probirt». Die «Kopfstreckmaschine», die der Prinz täglich eine Stunde tragen mußte, bestand – so beschreibt es die entsetzte Mutter – «aus einem Gürtel um die Taille, an dem hinten eine Eisenstange festgemacht ist. Diese Stange führt über den Rücken zu einem Ding, das genauso aussieht wie die Zügel bei einem Pferd. Darin wird der Kopf festgemacht und mit einer Schraube […] in die gewünschte Stellung gebracht.» Die Kronprinzessin fertigte eine Zeichnung (siehe oben) von dem Gerät an und jammerte, wie furchtbar es sei, «das eigene Kind als ein mißgebildetes behandelt zu sehen». Auch diese Maßnahme, deren psychische Folgen man erahnen mag, erwies sich als nutzlos; eine Operation wurde erforderlich. Am 23. März 1865 schnitt Langenbeck den sogenannten «Kopfnicker» – die Sehne zwischen dem Halsmuskel und dem Schlüsselbein – durch. Wenige Tage darauf wurde ein zweiter Muskel durchtrennt, der das Kinn zur Seite zog und so das Gesicht entstellte: Das rechte Auge und die rechte Wange waren im Verhältnis zu groß geraten, der Mund schief und das linke Auge halb zugekniffen.

Da Wilhelm den steif nach vorn gebeugten linken Vorderarm überhaupt nicht bewegen konnte, schien 1868 eine Durchtrennung auch der Bizeps-Sehne angebracht, doch schließlich sah man von dieser Operation ab, weil die Versteifung offenbar von einer Knochenmißbildung im Ellbogengelenk herrührte. Statt einer Operation wurde die «Armstreckungsmaschine», die der Prinz seit der frühesten Kindheit ertragen mußte, noch intensiver angelegt, und zwar zweimal täglich, auch während des Unterrichts. Von einer Verwendung der Maschine nachts wurde nur deshalb abgesehen, weil man epileptische Anfälle befürchtete. Unter Anwendung der «Armstreckungsmaschine» und eines «Fixierungsgestells» konnte seit 1866 unter Anleitung des Hauptmanns Gustav von Dresky dreimal täglich Heilgymnastik angewendet werden, die sich für die Entwicklung des gelähmten Arms als nützlich erwies.

Als wäre diese (natürlich gutgemeinte) Peinigung für den zarten Prinzen nicht schon genug, so stellten sich im Lauf der Jahre weitere körperliche Mißlichkeiten heraus, die die Ärzte ebenfalls auf die schwierige Geburt beziehungsweise auf die Behandlung der Geburtsverletzungen zurückführten: Eine Gleichgewichtsstörung zeitigte in den Jugendjahren mehrmals Knieverrenkungen, durch die Wilhelm bisweilen genötigt war, wochenlang das Zimmer zu hüten. Seit dem Herbst 1878 litt er jahrelang an einer lebensgefährlichen Erkrankung des rechten inneren Ohres mit polypösen Wucherungen und übelriechenden Eiterungen. Als die Ohrerkrankung 1886 in alarmierendem Grade mit Schwindel und Innenohrgeräuschen wiederkehrte, verschrieben die Ärzte einen zehnwöchigen Kuraufenthalt in Bad Reichenhall. Im Oktober jenes Jahres entzündete sich auch noch das bisher gesunde linke Ohr – das Trommelfell mußte perforiert werden. Befürchtungen, wonach es sich bei den Wucherungen um Krebs handelte, erwiesen sich zwar als unbegründet, doch in den folgenden Jahren verstummten die Gerüchte nicht, daß das auffallende Verhalten Wilhelms auf sein Ohrenleiden zurückzuführen sei. Im August 1896 wurde eine Radikaloperation zur Entfernung des Trommelfells des rechten Ohres unumgänglich, weil eine Gehirnentzündung zu befürchten war. Doch auch nach der Operation litt der Kaiser zeitlebens an chronischem Mittelohrkatarrh, dem er täglich mittels eines selbstgebastelten Wattestäbchens zu Leibe rückte.

All diese Leiden und deren Behandlung sind durch Quellen genauestens belegt. Spekulativ bleiben dagegen andere Erklärungen, die von den Zeitgenossen oder Biographen zur Erläuterung der Auffälligkeiten im Verhalten Wilhelms II. angeführt worden sind: Ob er bei der Geburt einen – geringgradigen – Hirnschaden erlitten hat, wofür das entstellte Gesicht sprechen könnte, muß offenbleiben. Über seine sexuelle Veranlagung und eine eventuelle Unterdrückung homosexueller Neigungen werden wir noch im Zusammenhang mit seiner Ehe und seinen Freundschaften hören. Bedenkenswert, wenn auch bislang nicht schlüssig belegt, sind Indizien, die auf eine Erbkrankheit hindeuten, die seit den Tagen der Stuarts in den Königshäusern von Hannover und Großbritannien grassierte und die bei König George III., Wilhelms Ururgroßvater, zu gelegentlichen Wutausbrüchen und zeitweiliger Umnachtung geführt hatte, nämlich die Porphyrie. Daß diese dominant vererbbare «königliche Krankheit» mit der Heirat des Kronprinzenpaares von Windsor aus in das Haus Hohenzollern übergesprungen war, ist neuerdings einwandfrei durch DNA-Analysen bewiesen worden, die das Vorhandensein der Mutation bei Wilhelms ältester Schwester Charlotte und deren Tochter bestätigten. Ob Wilhelm selbst betroffen war, muß noch offenbleiben. Erwiesen ist, daß führende Ärzte und Staatsmänner in London schon früh zu der Überzeugung gelangten, der Prinz trage «den Makel Georges III. in seinem Blut» und werde stets zu plötzlichen Wutanfällen neigen, die mit dem Alter an Häufigkeit und Heftigkeit zunehmen würden. Näherliegend als solche Vermutungen sind indes die Auswirkungen der Geburtsschäden und der verschiedenen Behandlungsmaßnahmen, die seine Kindheit überschatteten, auf die Charakterentwicklung des Thronerben.

Ambivalente Mutterschaft

Diese Auswirkungen werden uns nur verständlich, wenn wir die Betroffenheit der Mutter über die Geburt eines in ihren Augen «mißgebildeten» Sohnes mit einbeziehen. Die gerade erst achtzehnjährige «Engländerin» Vicky, Tochter der Queen Victoria, intelligent, belesen, fortschrittlich-liberal, leidenschaftlich anglophil, machte aus ihrer vermeintlichen Überlegenheit am rückständigen, reaktionären Preußenhof kein Hehl und war dort entsprechend unbeliebt und isoliert. Trotzig rechnete sie mit der baldigen Thronbesteigung ihres heißgeliebten soldatischen Ehemanns Fritz und dann mit einer zeitgemäßeren – parlamentarischen – Verfassung und einem Bündnis Preußens mit ihrem mächtigen Mutterland. Mit der erwarteten Geburt ihres Sohnes schienen diese schönen Hoffnungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gesichert. Doch der kleine Prinz war «verkrüppelt» zur Welt gekommen; seine Unvollkommenheit empfand die Kronprinzessin als eine ständige, kaum zu ertragende Schmach. «Dieses Thema schmerzt mich so sehr, daß ich am liebsten unter der Erde oder in meinen Schuhen oder sonstwo wäre, wenn andere Leute darüber Bemerkungen machen», klagte sie. Der Makel mußte behoben werden – und wenn die Ärzte mit ihren Mitteln versagten, dann mußte die körperliche Behinderung eben durch Bildung kompensiert werden. Mit der Gesetzmäßigkeit einer griechischen Tragödie entwickelte sich aus diesen unerfüllbaren Erwartungen ein Teufelskreis wechselseitiger Enttäuschungen, die bei Wilhelm schon nach wenigen Jahren in Haß und Ablehnung der freiheitlichen Ideale der Mutter ausarten sollten.

Von Anfang an fand Vicky wenig Gefallen an ihrem Erstgeborenen. Es ist beklemmend zu sehen, wie ihr der Kummer über seine Gebrechen das junge Mutterglück verleidete. Noch Jahre später erinnerte sie sich, wie sie sich während seiner Taufe geschämt hat, weil ihr Sohn «halb zugedeckt werden mußte, um seinen Arm, der nutzlos und kraftlos an seiner Seite herunterhing, zu verstecken». Besonders schmerzhaft war es für sie, Wilhelm zusammen mit gesunden Knaben zu beobachten. «Wenn ich sehe, wie andere Kinder in ihre Hände klatschen, und dann sehe, wie sein armer kleiner Arm lahm und völlig nutzlos an seiner Seite herunterhängt, dann ist mein Kummer sehr groß.» «Der Gedanke, daß er ein Krüppel bleibt, verfolgt mich», schrieb sie kurz vor Wilhelms zehntem Geburtstag.

Die Frustration, die der kleine Wilhelm wegen der Behinderung und der qualvollen Therapien empfand, äußerte sich bald in «gewalttätigen und leidenschaftlichen Wutanfällen», die wiederum abstoßend auf die Mutter wirkten. «Der arme Willie wird von all diesen Maschinen und Geräten derart gequält, daß er ärgerlich und schwer zu bändigen wird, das arme Kind wird wirklich sehr schwer geprüft», stellte sie 1863 fest. Nicht weniger bedenklich in ihren Augen war der Hochmut, den ihr Sohn – auch dies wohl kompensatorisch – zunehmend an den Tag legte und den sie vergebens zu «korrigieren» suchte. «Der Junge ist wirklich so impertinent u. trotzig, daß ich mitunter nicht weiß was ich mit ihm anfangen soll – u. es wird mir so schwer mich selbst zu beherrschen wenn er mich so ärgert. […] Ich drohe immer mit der Ruthe, ich werde sie auch wirklich einmal anwenden …» Auch geistig blieb der kleine Prinz weit hinter den Erwartungen seiner Mutter zurück. «Er hat ein fabelhaftes Gedächtnis, ich finde ihn aber sonst nicht sehr geistig entwickelt, […] er schwätzt darauf los, um sich zu hören, vollständig ohne irgend etwas zu denken», bemängelte sie, als Wilhelm fünf Jahre alt war.

Die Enttäuschung seiner Mutter konnte dem Prinzen nicht verborgen geblieben sein. Nachhaltiger als die Androhung der Rute waren die verbalen Schläge, die ihm die Kronprinzessin versetzte. Wie sie selbst später eingestand, habe sie Wilhelm, «als er noch Kind war u. oft so selbstgefällig sprach u. that u. renommirte», «immer» zu ihm gesagt, «um ihn zu necken, Dich nimmt Keine mit dem schwarzen Finger etc… – worauf er gewöhnlich mit Hohn antwortete». Wie tief der Stachel saß, zeigte Wilhelm 1880 anläßlich seiner Verlobung, als er seinem Erzieher Hinzpeter erzählte, er habe nie mit der Möglichkeit gerechnet, daß «eine Dame wirklich sich für ihn interessiren könne!» – und zwar «seines unglücklichen Armes wegen».

Der Kummer der Kronprinzessin über die Behinderung und Entwicklung ihres ältesten Sohnes steigerte sich ins Unermeßliche durch zwei weitere Schicksalsschläge: den Tod ihrer Söhne Sigismund 1866 und Waldemar 1879. Fortan herrschte in ihrer Familie, wie in der ihrer verwitweten Mutter in England, eine alles überschattende Trauer. An die idealisierte Erinnerung an die beiden verstorbenen Prinzen Sigi und Waldi konnten die überlebenden Kinder Wilhelm, Heinrich und Charlotte nie heranreichen; die jüngeren Mädchen, Viktoria, Sophie und Margarethe, schloß die Kronprinzessin dafür um so fester in ihr Herz.

Ein gewagtes Erziehungsexperiment

Was die Ärzte mit ihren «animalischen Bädern» und Kopf- und Armstreckungsmaschinen nicht erreichen konnten, das also sollte die Erziehung vollbringen. Gerade wegen seiner Gebrechlichkeit blieb es das Ziel der Kronprinzessin, ihren erstgeborenen Sohn zu einem herausragenden liberalen Reformmonarchen heranzubilden. 1864 schrieb sie der Queen, es sei ihr sehnlichster Wunsch, daß Wilhelm so werde «wie der liebe Papa [Prinzgemahl Albert] – ein großer Mann, ein zweiter Friedrich der Große, aber anderer Art». Im Herbst 1866 wurde diese Aufgabe dem bisherigen Hauslehrer des Grafen Emil Görtz im hessischen Städtchen Schlitz, Dr. Georg Ernst Hinzpeter, übertragen. Die Bedingungen, die Hinzpeter stellte – er müsse seinen Zögling ganz «in seiner Gewalt» haben und sei nicht bereit, die Rolle eines «Spielgefährten für einen kleinen Jungen» zu übernehmen –, ließen erkennen, mit welcher Konsequenz er vorzugehen beabsichtigte. Seine spartanischen Erziehungsprinzipien in Kombination mit den hohen Erwartungen seiner Mutter bescherten dem Preußenprinzen zusätzliches Leid und eine freudlose Kindheit. Allerdings darf man die Strenge Hinzpeters auch nicht überbewerten. So trifft es etwa nicht zu, wie Wilhelm II. in seinen im Exil diktierten Jugenderinnerungen behauptete, daß Hinzpeter ihm unter schmerzlichsten Bedingungen das Reiten beigebracht habe; das hatte der Feldwebel Lucke unter Aufsicht des Militär-Gouverneurs Hauptmann von Schrötter bereits erreicht, noch ehe Hinzpeter im Oktober 1866 seine Stelle als Zivil-Erzieher antrat.

Zehn Jahre lang, zunächst im engsten Familienkreis und dann von 1874 bis 1876 am Kasseler Gymnasium, übte Hinzpeter einen ununterbrochenen Einfluß auf die Entwicklung des künftigen Monarchen aus. In dem Bestreben, den Thronerben im liberal-bürgerlichen, «englisch-koburg’schen» Sinne zu erziehen, billigte das Kronprinzenpaar dem pietistischen «Doktor» ein Bildungsmonopol über ihren Sohn zu und wehrte die Eingriffe des regierenden Kaisers und der Hofgeneräle, die den Prinzen als altpreußischen Soldatenkönig erziehen wollten, zunächst mit Erfolg ab. Schon wenige Monate nach Hinzpeters Ernennung trat der Militär-Gouverneur gekränkt zurück; er wurde nicht durch einen selbstbewußten Militär wie etwa den nachmaligen Generalstabschef Graf Waldersee oder den späteren Reichskanzler von Caprivi ersetzt, sondern durch einen unbedeutenden, mittellosen und (wie sich später zeigen sollte) homosexuellen Leutnant namens O’Danne, der Hinzpeters Autorität in keiner Weise in Frage stellte.

Anfangs lief alles gut. Der «Doktor» unternahm mit seinen Zöglingen Wilhelm und Heinrich des öfteren Ausflüge und Besichtigungen. Den ganzen Winter 1869/70 brachten beide Prinzen unter der Obhut Hinzpeters, O’Dannes und Dreskys in Cannes zu; im Sommer 1872 lebten sie wieder ohne Eltern in Wyk auf Föhr. Wenn auch der Lehrer mit seinen Erfolgen zunehmend unzufrieden war, so kritisierte den heranwachsenden Thronerben doch am schärfsten die eigene Mutter, die ihn weiterhin an dem Idealbild ihres englisch-coburgischen Vaters Albert und den beiden früh verstorbenen Söhnen maß. Wilhelms Briefe schickte sie ihm mit Verbesserungen zurück und klagte: «Sowohl die Hand als auch die Rechtschreibung sind schlecht – es gibt kaum ein Wort ohne Fehler oder einen fehlenden Buchstaben.» Allmählich kamen in Hinzpeter Zweifel auf, ob er seinen Zögling nicht doch weit überfordere. Doch anstatt die Warnzeichen zu beachten, zog die Kronprinzessin die Bildungsschraube noch weiter an.