Cathy Marie Hake
Kein Job für eine Lady
Rexall Hume schritt in seinem Büro auf und ab. Da er gewusst hatte, dass diese eingebildeten Briten ihre Geschäfte lieber unter ihresgleichen abwickelten, war ihm klar gewesen, dass er sich in die britische Gesellschaft einkaufen musste. Doch das war ihm zu plump gewesen. Stattdessen hatte er seinen Anwalt beauftragt, diskrete Anfragen an englische Familien zu stellen, die Töchter im heiratsfähigen Alter hatten. Schnell hatte er eine Liste von Namen auf seinem Schreibtisch liegen gehabt – und so hatte er die Gelegenheit nutzen wollen, eine von ihnen zu heiraten. Er hatte eine hässliche, knöchrige alte Jungfer erwartet. Das Geld und der Status, den er durch eine solche Heirat bekommen hätte, hätten es ihn schon mit so einer aushalten lassen. Außerdem brauchte er endlich einen rechtmäßigen Erben.
Er war schließlich so weit gegangen, Lady Hathwell auszusuchen, ihrem Vater zu schreiben und seinen Segen zu ersuchen. Alles war gut gelaufen – zu gut. Als Lord Hathwell überraschend gestorben war, fand Rex sich selbst in einer Verlobung mit einer Frau wieder, die in Trauer war. Der Titel ging an Sydneys Cousin zweiten Grades, da er der nächste Verwandte väterlicherseits war. Doch nichtsdestoweniger: einmal eine Lady, immer eine Lady. Sydney Hathwell war für Humes Zwecke immer noch die Richtige. Also wartete er ein ganzes Jahr auf sie.
Endlich war sie gekommen. Eine nervöse Schönheit, der noch die Belastung der Trauerzeit und anstrengenden Reise hierher anzusehen gewesen war. Er hatte ihr einige Tage gegeben, um sich zu erholen.
Sie war schön, anmutig ... und eigensinnig. Das war ein Rückschlag. Es hielt sie davon ab, ihn sofort zu heiraten. Für fast eine Woche war sie ihm gegenüber reserviert gewesen. Zweimal hatte sie die Unverfrorenheit besessen und ihm mitgeteilt, dass sie nicht zusammenpassen würden. Er hatte immerhin schon eineinhalb Jahre seines Lebens und seines Geschäftes in sie investiert. Er hatte nicht vor, von vorne zu beginnen.
Im Nachhinein war ihm klar geworden, dass er einiges hätte anders machen müssen. Rex verzog das Gesicht. Sie beim falschen Namen zu nennen war wirklich ein Fehler gewesen. Darüber war sie bestimmt erbost. Außerdem hätte er sie mit in die Stadt nehmen sollen. Sie hätte sich dort in ihren teuren Kleidern präsentieren und das Ansehen der ansässigen höheren Schicht genießen können. Adel war es gewohnt, sich zur Schau zu stellen. Er hatte sie auch nicht verwöhnt, was klug gewesen wäre. Er hätte ihr ihre Wünsche erfüllen sollen. Außerdem wäre es gut für sein eigenes Ansehen gewesen, wenn man sie beide öfter zusammen gesehen hätte – und es hätte Sydney stärker an ihn gebunden und sie hätte sich vielleicht eher verpflichtet gefühlt, ihn zu heiraten.
Er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, ihn sofort zu heiraten oder die Hochzeit noch eine Woche zu verschieben, um ein rauschendes Fest vorzubereiten. Was konnte eine Braut noch verlangen? Sowohl der Butler als auch die Hausmädchen hatten bestätigt, dass Sydney ein pompöses Hochzeitskleid im Gepäck gehabt hatte. Ein paar Blumen in einer Kirche zu drapieren und einige Leute einzuladen, wäre nicht die Schwierigkeit gewesen. Mit Geld ließ sich alles erreichen.
Rex hatte für Sydney all seine Pläne beiseitegeschoben, doch jetzt war seine Geduld am Ende. Er war ehrenhaft genug gewesen, die Hochzeit zu verschieben, doch jetzt hatte er genug. Sobald er Lady Hathwell fand, würde sie ihn heiraten.
Er war es gewohnt, das zu bekommen, was er wollte.
Ein zögerliches Klopfen erklang von der Tür her. Sie öffnete sich langsam. „Sir“, sagte sein Butler leise, „ein Mr Tyler wünscht Sie zu sprechen.“
„Ja, ja. Ich erwarte ihn. Führen Sie ihn zu mir.“
Ein Mann mittlerer Größe und mittleren Gewichts, in einen blauen Anzug gekleidet, trat ein. Er war absolut unauffällig. In einer Menschenmenge hätte man ihn nicht beachtet. Er ließ seinen Blick kurz im Raum schweifen, dann sah er Rex durchdringend an. Er sagte kein Wort, da der Butler noch im Raum war. Gut. Er verstand sein Handwerk.
Sobald der Butler den Raum verlassen hatte, sagte Rex: „Tyler, Sie wurden mir empfohlen. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion.“
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Es geht um meine Verlobte.“ Rex zog das einzige Foto, das er von ihr hatte, aus seinem Schreibtisch. „Lady Sydney Hathwell.“ Hume hielt inne.
„Ich nehme an, sie ist Engländerin?“
„Ja, ja.“ Er hat einen scharfen Verstand. Gut. „Sie wird vermisst.“
Tyler hob eine Augenbraue. „Vermuten Sie eine Entführung, ein Verbrechen oder ist sie nur weggelaufen?“ Er nahm das Foto in die Hand.
„Ich habe schon die Zeitungen nach nicht identifizierten jungen Frauen durchforstet und Diener zum Krankenhaus geschickt, um sicherzugehen, dass sie keinen Unfall hatte und mich deshalb nicht kontaktieren kann. Nichts.“
Tyler nickte kurz, brach aber nicht den Augenkontakt ab.
Hume erklärte weiter: „Es weiß kaum jemand, dass sie überhaupt hier in New York ist. Ihre Ankunft war unauffällig.“ Er zwang sich selbst dazu, die Wahrheit auszusprechen. „Höchstwahrscheinlich hat sie nur Angst vor der Hochzeit.“
Tylers Gesicht blieb ungerührt. Er betrachtete das Foto. „Eine wunderschöne Frau. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte?“ Tyler zog einen kleinen Block aus seiner Tasche. „Ich gehe davon aus, dass sie Freunde in der Stadt hat?“
Hume schüttelte den Kopf. „Meines Wissens nach kennt sie hier niemanden.“
Erneut hob Tyler fragend seine Augenbraue. „Wie haben Sie sich dann getroffen?“
Hume räusperte sich. „Ich bin auf sie aufmerksam geworden und habe mit ihrem Vater korrespondiert. Alle Vorbereitungen wurden getroffen. Dann ist Lord Hathwell überraschend gestorben. Ich habe Lady Hathwell gestattet, unsere Hochzeit ein ganzes Jahr zu verschieben, um ihr die Trauerzeit zu gewähren.“
„Solche arrangierten Hochzeiten kommen manchmal vor, auch wenn sie nicht üblich sind.“ Tyler tippte mit dem Stift auf seinen Block. „Ich muss alles wissen, was Sie mir über sie sagen können. Ich gehe davon aus, dass Sie die Briefe aufgehoben haben, die Lady Hathwell Ihnen während des Jahres geschickt hat.“
Ein Seufzer entfuhr Hume. „Ein entfernter Verwandter von ihr hat mich per Telegramm über den Tod ihres Vaters informiert. Ich habe nur zwei kurze Schreiben von ihr persönlich.“ Er zog wieder die Schublade seines Schreibtisches auf.
Der Pergamentumschlag fühlte sich immer noch ganz unbeweglich an. Oft hatte er ihn nicht in Händen gehalten. Makellose Schrift zog sich über die Vorderseite. Die beiden kurzen Nachrichten darin lasen sich, als wären sie von einer schüchternen jungen Frau geschrieben worden. In der ersten Nachricht bedankte sie sich für seine Beileidswünsche, in der zweiten teilte sie ihm knapp mit, wann ihr Schiff eintreffen würde.
Nachdem Tyler die Nachrichten überflogen hatte, sagte er: „Sie ist keine Frau vieler Worte. Das ist sehr selten. Die Kürze der ersten Nachricht könnte natürlich durch ihre Trauer hervorgerufen worden sein, doch die zweite ist genauso knapp gehalten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Frauen, die so schreiben, oft verschlossen oder besonders schüchtern sind. Was trifft auf Ihre Verlobte zu?“
„Keine der beiden Eigenschaften.“ Hume fing wieder an, im Raum auf und ab zu schreiten. Plötzlich hatte er das Gefühl, ein Déjà-vu zu haben. Genauso war es gewesen, als Lady Hathwell vor ihm gestanden und ihn zur Rede gestellt hatte. „Vermutlich ist sie sehr gut erzogen und in der Lage, einen Haushalt zu führen. Eigensinnig. Ich würde sagen, sie ist eigensinnig. Schon in der ersten Woche nach ihrer Ankunft hat sie mir mitgeteilt, dass sie uns für nicht zueinanderpassend hält.“
„Temperamentvoll?“
„Auf jeden Fall. Und dickköpfig. Sie hat versucht, unsere Hochzeit abzusagen. Ich habe es darauf geschoben, dass sie vielleicht nervös war.“
„Wurde sie früher schon einmal vermisst?“
„Nicht dass ich wüsste.“ Hume rang seine Hände. „Lady Hathwell kam hierher, um mich zu heiraten. Sie scheint etwas falsch verstanden zu haben, wenn sie dachte, dass wir uns hier nur kennenlernen wollen und sehen, ob wir zueinanderpassen. Sie war nur eine Woche hier.“ Er sah nach untern und räusperte sich. „Am letzten Abend, als ich sie sah, dachte ich, ich hätte sie zu sehr unter Druck gesetzt. Sie ist jung – zwanzig. Ich habe gemerkt, dass sie ein großes, pompöses Fest haben will, obwohl sie hier niemanden kennt. Ich habe ihr deshalb zusätzliche Zeit gewährt.“
„Wann und wo wurde sie zuletzt gesehen?“
Hume verzog das Gesicht. „Vor sechs Tagen hier in meinem Haus.“ Er kam der nächsten Frage zuvor, indem er weiterredete. „Ich bin an jenem Morgen von einer einwöchigen Geschäftsreise zurückgekommen und hatte gehofft, dass sie mittlerweile ihre Zweifel überwunden hätte.“
Tyler sah fragend von seinem Block auf. „Sie sagten, sie sei eine Woche hier gewesen. Erklären Sie mir das bitte. Hat sie etwa gleich am ersten Tag zweimal abgelehnt, Sie zu heiraten, und seitdem ist eine Woche vergangen? Oder haben Sie eine Woche mit ihr verbracht, sind dann auf Reisen gegangen und sie ist sofort weggelaufen?“
„Weder noch.“ Hume schüttelte seinen Kopf. „Ich war eine Woche zu Hause, während der sie unzugänglich war. Die Woche darauf blieb sie in meinem Haus, während ich auf Reisen war. Ich kam am Donnerstag nach Hause und sie war weg.“ Er erinnerte sich daran, dass er nach Hause gekommen war und seinen Hund Oscar auf der Straße getroffen hatte. Er rannte oft streunenden Katzen hinterher. Doch er kam immer wieder zurück. Lady Hathwell würde genauso zurückkommen.
„Wie würden Sie diesen Tag beschreiben?“
Hume wurde ein wenig rot, als er zugeben musste: „Es war so früh am Morgen, als ich nach Hause kam, dass ich Lady Hathwell nicht stören wollte. Ich war kaum eine Stunde zu Hause, als ich zu einem Notfall gerufen wurde.“
Tyler kritzelte auf seinen Block.
Hume fuhr ärgerlich fort: „Als ich am Abend nach Hause kam, hatten sich meine Angestellten aufgereiht, um die neue Mrs Rexall Hume zu begrüßen. Sie hatten vermutet, dass ich den Notfall inszeniert hatte, um meine Verlobte zu heiraten und dann eine kleine Hochzeitsreise mit ihr zu machen. Sie hatten sie ja den ganzen Tag über nicht gesehen. Erst als ich nach Hause kam, stellten wir fest, dass Lady Hathwell verschwunden war.“
„Die Reise mit dem Schiff nach England dauert etwa fünf bis sechs Tage. Haben Sie mit ihrer Familie Kontakt aufgenommen?“
„Nein! Ich will ihre Familie nicht unnötig beunruhigen.“
„Sie ist nicht die erste Frau, die kalte Füße bekommen hat. Ich tue mein Bestes, um sie so schnell wie möglich zu finden.“
„Ich habe gehört, dass Sie in Ihren Ermittlungen geschickt und gerissen vorgehen. Diskretion und Schnelligkeit sind am wichtigsten. Finden Sie meine Braut, Tyler.“
Kapitel 8
Am Donnerstag nahm Tim Sydney mit zur äußersten Weide des Hofes. Sie versuchte, in ihren zu großen Stiefeln mit ihm Schritt zu halten. Trotz seiner Wutanfälle war Tim ein exzellenter Lehrer und sie hatte sich an seine Art, die Dinge zu erklären, gewöhnt.
Er nahm ein Lasso in die Hand. „Du musst lernen, mit dem Lasso umzugehen. Das ist Grundwissen. In einigen Wochen werden wir die Rinder brandmarken, dann musst du deinen Mann stehen. Bis dahin musst du viel üben, denn es ist keine leichte Angelegenheit. Jetzt sieh zu, wie ich das hier knote.“
Bei Tim sah es sehr einfach aus. Seine großen, schlanken Hände bewegten sich äußerst geschickt. Sydney selbst brauchte vier Versuche, um etwas zustande zu bringen, was in etwa Tims Wunsch entsprach.
Er warf ihr einen düsteren Blick zu. „Setz dich hier hin und übe. Ich kümmere mich währenddessen um die Kuh dort drüben. Mir gefällt nicht, wie sie aussieht.“
Er ging zu dem schwangeren Tier und kam sofort wieder zurück. Während er Sydney am Arm hochzerrte, rief er: „Zieh dein Hemd aus!“
„Nein!“
„Zieh es aus oder ich zerreiße es!“
„Versuch es!“ Sie zog seine Pistole aus seinem Holster. Seine Augen verengten sich.
Eine Sekunde später lag Sydney flach auf ihrem Rücken und Tim stand über ihr. Er steckte die Pistole zurück in sein Holster. Was er getan hatte, konnte Sydney nicht genau sagen. Es war zu schnell gegangen.
„Richte niemals eine Waffe auf jemanden, den du nicht töten willst, Junge.“
Das Ausmaß ihres Handelns wurde Sydney jetzt erst bewusst und sie fing an zu zittern. Zum Glück brüllte die Kuh laut und zog ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich.
Sydney kämpfte sich auf die Beine.
Tim zog ein Taschenmesser hervor und schnitt mit einem lauten Ratschen ihren Ärmel ab.
„Was tust du?“
„Das Kalb hat sich falsch gedreht. Bisher ist nur ein Vorderhuf zu sehen.“ Er zerrte den Ärmel von Sydneys Arm. „Dein Hemd ist dreckig.“
„Was hat mein Hemd mit der Kuh zu tun?“
„Dein Arm ist dünner. Du musst in die Kuh greifen und das andere Bein des Kalbes herausziehen.“
„Du bist verrückt!“
„Junge, wenn wir es nicht schaffen, das Kalb zu drehen, wird es zusammen mit seiner Mutter sterben. Und jetzt mach, was ich dir gesagt habe.“
„Herr, hilf mir!“, murmelte sie, als die Beine der Kuh nachgaben und sie ins Gras fiel.
„Immerhin bittest du den besten Mann im Team um Hilfe.“ Tim starrte sie an. „Jetzt mach schon.“
Sydney atmete tief ein, schloss ihre Augen und fing an. Noch nie hatte sich etwas so widerlich angefühlt. Während sie mit ihrem Ekelgefühl kämpfte, brachte sie hervor: „Das ist schlimmer als damals, als mich Hensley Wentworth III. in einen Pudding gestoßen hat.“
„Fühl an dem Bein entlang, das schon draußen ist. Greif über die Brust und finde das andere“, dirigierte Tim sie.
„Ich tue ... das Beste ... was ich ... kann.“ Sie streckte ihren Arm weiter aus.
„Wenn es zu glitschig ist, um das Kalb herauszuziehen, sag mir Bescheid. Ich gebe dir dann ein Seil und du wickelst es um das zweite Vorderbein.“
„Das wird wehtun.“
„Hörst du niemals auf, dich zu beschweren?“
Sydney runzelte die Stirn. „Ich meinte doch nicht mich. Das wird dem Kälbchen wehtun.“
Er nickte kurz. „Tut mir leid.“
„Passiert ... das ... öfter?“ Sie versuchte, sich von dem abzulenken, was gerade geschah.
„Das ist häufiger der Fall, wenn die Kuh zum ersten Mal kalbt. Hast du den Huf gefunden?“
Ihre Augen weiteten sich. „Ich habe ihn!“
„Halt ihn fest. Zieh daran. Manchmal hilft es, wenn man ihn hin und herbewegt.“
Sydney zog mit all ihrer Kraft. Wenige Augenblicke später plumpste ein nasses, glitschiges Kälbchen ins Gras. Die Kuh drehte sich zu ihm und fing an, es abzulecken. Während sie ihren verschmierten Arm schüttelte, betrachtete Sydney diese Szene. „Hast du jemals etwas so Schönes gesehen? Es ist ein Wunder! Schau! Er ist so süß! Es ist doch ein Er, oder?“
„Ja. Das stimmt. Geh zurück und lass die beiden allein. Am besten wäschst du dich jetzt und ziehst du dir ein frisches Hemd an. Du musst immer noch lernen, mit dem Lasso umzugehen.“
Sydney widerstand dem Drang, das Kälbchen noch einmal zu tätscheln. Stattdessen stand sie auf, wusch sich an der Wasserpumpe und ging in ihr neues Zimmer. Sie hasste diesen dunklen, deprimierenden Raum. Die kleine Kommode war zerkratzt und der Spiegel halb blind. Da ein Baum direkt vor dem Fenster wuchs, gab es kaum Tageslicht. Wenn der Wind wehte, kratzte ein Ast gespenstisch am Fenster.
Sydney beeilte sich und zog ein frisches Hemd an. Zum Glück hatte Velma Zeit gehabt, ihre Wäsche zu waschen. Sie hatte sogar ihre Unterhosen gewaschen und getrocknet, als die Männer so beschäftigt gewesen waren, dass ihnen nichts aufgefallen war. Velma war wirklich ein Gottesgeschenk.
Auf dem Weg nach draußen nahm Sydney zwei Äpfel mit und warf einen Tim zu. Mit vier großen Bissen hatte er seinen verschlungen. Sie selbst knabberte an ihrem Apfel und beobachtete Tim dabei, wie er erneut sein Lasso vorbereitete, um ihr den richtigen Umgang zu erläutern.
Als sie endlich einen halbwegs annehmbaren Knoten zustande gebracht hatte, zeigte Tim ihr, wie sie das Lasso kreisen lassen sollte. Überraschenderweise klappte das ganz gut. Sydney musste einen kleinen Freudentanz unterdrücken. Tims Missbilligung nach der Geburt des Kälbchens hatte ihr gezeigt, dass sie emotional zu weit gegangen war. Ein Mann würde niemals seine Gefühle so stark zeigen. In Gedanken machte sie sich eine Notiz, dass sie ihre Reaktionen besser beobachten und kontrollieren wollte.
„Jetzt versuch, die Richtung des Lassos zu verändern. Lass es nicht mehr parallel zum Boden kreisen, sondern senkrecht.“ Er machte es ihr mit seinem eigenen Lasso vor. „Das machst du eine Weile und dann lässt du etwas Seil nach, sodass die Schlinge vorne immer größer wird. So, siehst du?“
„Das ist wirklich fabelhaft!“
Er warf ihr ein Grinsen zu. „Es macht Spaß. Und es beeindruckt die Frauen. Lern ein paar Tricks und du wirst schnell ein paar Mädchen kennenlernen.“
Ein schiefes Lächeln trat auf Sydneys Gesicht.
„Streng dich an, Syd. Morgen willst du die Frauen doch beeindrucken, oder nicht?“ Er ließ das Lasso knallen.
„Du bist ja wirklich hartnäckig.“
„Wenn du morgen Abend die ersten Mädchen kennenlernst, wirst du das auch sein. Und jetzt versuch es noch einmal.“
Sydney wirbelte das Seil parallel zum Boden, wie sie es vorher getan hatte. Dann versuchte sie, die Schlinge in die Senkrechte zu bringen. Sie schlug auf die Erde und wirbelte Staub auf.
„Versuch es weiter.“ Tim trat einen Schritt zurück.
„Gut.“ Sie versuchte es drei weitere Male. Zweimal war sie zu vorsichtig, sodass die Lassoschlinge schließlich am Boden hängen blieb. Das dritte Mal verfing sich das Lasso irgendwie in ihren Haaren. Sie musste das Seil zur Seite legen und ihren Zopf richten. Dann warf sie Tim ein schwaches Lächeln zu. Nachdem er ihr zugenickt hatte, ergriff sie das Lasso erneut. Sie versuchte, sich wieder genau an Tims Anweisungen zu halten. Plötzlich schlug ihr das Seil mit voller Wucht ins Gesicht.
Durch den Schmerz taumelte Sydney zurück. Sie brauchte jedes bisschen ihrer Selbstbeherrschung, um die Schmerzenstränen zurückzudrängen, die in ihre Augen traten. Sie blinzelte schnell.
„Junge, du arbeitest gegen dich selbst. Immer der Reihe nach. Das muss verschwinden.“ Tim ergriff ihren Pferdeschwanz und schnitt ihn mit einer schnellen Bewegung seines Messers ab.
Sydneys Hände schossen an ihren Kopf, als sie spürte, dass ihre Haare kaum noch bis zum Kinn reichten.
„Jetzt werden sie sich wenigstens nicht mehr im Lasso verfangen.“ Tim warf die Haare achtlos hinter sich.
Sydney ermahnte sich, sich nicht ihren Schock anmerken zu lassen.
„Lass uns weitermachen. Deine Bewegungen sind zu ruckartig.“ Er wartete einen Moment, während sie wieder ihr Lasso aufnahm. „Junge, ich vergesse immer wieder, wie klein du bist. Wie groß waren deine Eltern?“
„Mein Vater war 1,75 Meter.“ Nach einem kurzen Räuspern fuhr sie fort: „Meine Mutter war auch etwa 1,60 Meter.“
„Fuller ist ihr Bruder, richtig?“
„Ja.“
„Er hatte auch eine gute Körpergröße, bevor er das Rheuma bekam. Er war in etwa so groß wie dein Vater. Wenn du erst mal einen Wachstumsschub bekommst, brauchst du dir also keine Sorgen mehr zu machen.“
„Da würde ich mich nicht drauf verlassen. Ich komme bestimmt nach meiner Mutter.“
„Egal, du wirst beim Brandmarken helfen. Also lerne, mit dem Lasso umzugehen. Gib dem Lasso mehr Seil.“ Sydney befolgte seine Anweisung. „Ja gut, genau so. Und jetzt, siehst du wie ich deine Hand hebe und immer noch das Handgelenk in Bewegung halte?“ Er trat nah an sie heran und führte ihren Arm. „Sehr gut. So funktioniert es“, lobte er sie.
Als sie noch einmal gemeinsam die Bewegung nachvollzogen, bekam Sydney allmählich das richtige Gefühl für das Lasso. Es fiel ihr allerdings schwer, sich zu konzentrieren. Tims Nähe war so ... umhüllend. Es fühlte sich seltsam an. Doch anstatt einen Schritt zurückzutreten, trat sie sogar noch ein bisschen näher an ihn heran. Tim schien das nicht zu stören. Wahrscheinlich vermutete er, dass sie dann ihren Arm besser bewegen konnte.
Das seltsame Gefühl in ihrem Magen fühlte sich warm an. Sydney hatte so etwas noch nie zuvor gespürt, obwohl schon Dutzende Männer beim Tanzen ihre Arme um sie gelegt hatten. Doch die hatten trotz allem immer – ganz Gentlemen – den gebührenden körperlichen Abstand gehalten. Wenn sie es nicht getan hatten, hatte Sydney ihnen auf die Füße getreten und ihnen einen warnenden Blick zugeworfen. In ihrer Maskerade als junger Mann konnte sie Tim wohl schlecht auf den Fuß treten.
Ihre Gedanken waren zu ablenkend, zu verwirrend. Sie schüttelte den Kopf, um sie loszuwerden.
„Was ist los, Syd?“
„Mein ... Haar stört mich. Weil es offen ist.“
„Schneid es ganz ab. Dann bekommst du auch keine Läuse.“
Fast hätte sie das Lasso fallen lassen. „So etwas hatte ich noch nie!“
„Das kann noch kommen. Wenn wir auf dem Viehtrieb sind, wirst du Flöhe und Zecken haben. Wenn man auf dem Boden schläft und mit den Tieren lebt – besonders mit den Hunden –, dann bleibt das nicht aus, egal, wie penibel ein Mann ist.“
Sie ächzte.
Mit einem kräftigen Schlag auf ihren Rücken und einem Kopfschütteln erklärte er: „Junge, du hast noch einen weiten Weg vor dir. Vergiss alles, was du über Ankleideräume gelernt hast, und kümmere dich um die wichtigen Dinge des Lebens.“
„Die da wären?“
„Der Wasserstand im Teich und im Brunnen. Wie viel Regen fällt. Der Preis eines Fasses Mehl. Einen vernünftigen Kaffee über einem offenen Feuer zu kochen. Wie man nett mit einem Mädchen redet und sie dezent wieder verlässt, wenn man merkt, dass sie nicht die Richtige ist. Am wichtigsten ist es, sich Zeit für seine Seele zu nehmen. Wenn du nicht mit Gott im Reinen bist, kann nichts gut laufen.“
„Du hast eine interessante Einstellung.“
„Sie funktioniert.“
„Wünschst du dir nicht einen Sohn, an den du dein Wissen weitergeben kannst?“
Mit einem Brummen ließ Tim ihren Arm los. „Das ist ein schwieriger Punkt, Syd.“
An seinem Tonfall und dem Ausdruck in seinen Augen erkannte Sydney, dass sie dieses Thema lieber nicht vertiefen sollte. Sie wollte ihm ihr Mitgefühl zeigen, doch das war eine weibliche Angewohnheit. Doch ganz konnte sie das Thema noch nicht fallen lassen.
„Du hast doch gesagt, dass die Richardsons nette Mädchen sind. Du hast mich aber auch wissen lassen, dass du sie meidest wie die Pest. Die Männer haben mir erzählt, dass du Frauen im Allgemeinen meidest. Warum?“
Tims Kiefer spannte sich an. „Einmal verlassen zu werden reicht mir.“
Sydney war sich sicher, dass Tim alles gesagt hatte, was er zu diesem Thema zu sagen hatte. Männer waren nicht neugierig, deshalb wechselte sie jetzt doch das Thema. „Ich habe meinen Onkel noch nie getroffen. Kannst du mir etwas über ihn erzählen?“
„Junge, Gott hätte keinen besseren Mann an diesen Platz stellen können. Fuller ist entschlossen und zuverlässig. Er hat diese Ranch gebaut und sie zu einem perfekten Beispiel dafür gemacht, wie gut so ein Ort funktionieren kann. Harte Arbeit macht ihm nichts aus. So sorgt er dafür, dass auch alle anderen so hart arbeiten wie er selbst, weil sie ihm nicht nachstehen wollen. Sein Wort zählt mehr als alles, was andere auf Papier festhalten. Die Menschen hier sehen seinen Handschlag als Vertragsabschluss an. Man kann sich auf ihn verlassen. Wenn sich ein Vertrag als unfair erweist, besteht er nicht darauf.“
„Kannst du mir ein Beispiel geben?“
„Ich selbst bin das beste Beispiel. Ich habe das Land im Osten gekauft. Eins der besten Grundstücke hier in der Gegend. Ein kleiner Fluss sorgt dafür, dass immer genügend Wasser da ist. Ich war stolz auf das Land. Ehrlich gesagt, hatte ich keinen Cent mehr, nachdem ich das Land gekauft hatte. Ich hätte Jahre gebraucht, um auf einen grünen Zweig zu kommen.“ Tim schüttelte den Kopf. „Fuller brauchte Wasser. Wir haben einen fairen Preis ausgehandelt, damit er seine Herden bei mir weiden lassen kann. So hatte ich endlich das Geld, meine eigene kleine Herde zu kaufen. Nach einigen guten Jahren hatten wir die fünf trockensten, an die ich mich erinnern kann. Mein Fluss war nur noch ein schlammiges Rinnsal. Wir beide verloren Rinder, weil sie schlichtweg verdursteten, doch Fuller bezahlte mich immer noch für sein Nutzungsrecht. So wie wir es ursprünglich vereinbart hatten.“ Noch jetzt merkte man Tim an, dass ihn Fullers Verhalten beeindruckt hatte. „Ich hatte niemals etwas für ihn getan. Ehrlich gesagt, lebte ich so zurückgezogen, dass ich mit niemandem in der Gegend Kontakt hatte. Ich konnte sein Geld nicht mit gutem Gewissen annehmen, doch Fuller bestand darauf. Endlich konnte ich ihn davon überzeugen, dass wir sein Geld lieber dafür verwenden sollten, an der Grenze unserer Grundstücke nach Wasser zu graben und uns das zu teilen, was vielleicht hervorsprudeln würde. Als wir auf Wasser stießen, war es einen Meter auf seinem Land. Doch dann brach das Bohrloch und das Wasser floss auf meiner Seite. Fuller bestand darauf, dass er kein Recht auf das Wasser hatte. Wir stritten uns darüber wie zwei Krähen um die letzte Beere. Er wollte sein Vieh nur bei mir trinken lassen, wenn ich einen Teil seines Landes übernahm. Ich weigerte mich, aber er ging einfach in die Stadt und überschrieb mir einen Teil seines Landes und seines Viehs, ohne dass ich davon wusste.“
„Aber Trockenperioden hören doch auch irgendwann auf.“
„Ja. Diese endete im darauffolgenden Jahr. Zu dieser Zeit hatten sich unsere Herden so sehr vermischt, dass wir sie nicht dazu bringen konnten, nur das Land von einem von uns zu betreten. Fuller hatte mich überlistet.“
„Aber du tust jetzt mehr, als du müsstest. Velma hat mir erzählt, dass mein Onkel sehr krank ist.“
„Junge, ich schulde dem Mann alles. Bevor er sich so vehement in mein Leben eingemischt hat, hatte ich mich komplett von meiner Umwelt zurückgezogen. Er hat mich dazu gezwungen, ein neues Leben zu beginnen.“ Tims Gesicht sah aus wie aus Granit gemeißelt. „Fuller wusste genau, wie er mich aus meinem Schneckenhaus holen konnte. So ist er eben. Ich würde eher sterben, als mit anzusehen, dass diese Ranch vor die Hunde geht, weil er sich nicht mehr hundertprozentig darum kümmern kann.“
„Du bist ein guter Freund.“
„Das hat mir dein Onkel beigebracht. Er wird das auch bei dir tun. Nicht alles, was man im Leben lernt, hat mit Geld und Reichtum zu tun. Fuller ist einer der wenigen, denen das bewusst ist. Wenn du auch nur ein halb so guter Mensch bist wie er, kannst du stolz sein.“
Tim klopfte an Sydneys Tür. „Zeit aufzustehen, Junge!“
„Ich bin gleich fertig.“
„Trödel nicht rum.“
Sydney betrachtete noch einmal ihre Erscheinung im Spiegel und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Sie drehte sich zur Seite und betrachtete ihr Profil. Sah sie aus wie ein Mann? Das Halstuch, das sie trug, hing ihr bis auf die Brust und versteckte eventuelle Unebenheiten, die durch die Bandage entstanden sein könnten. Ihre Hosen hingen lose an ihr herab. Sydney blickte finster auf ihre kurzen Haare. Eines Tages würde sie sich an Tim dafür rächen, dass er ihre Haare abgeschnitten hatte, und ihm den Kopf scheren.
Nachdem sie auf den Flur getreten war, blieb sie wie erstarrt stehen. Tim kam die Treppe wieder hinauf. Er hatte gebadet und schwarze Hosen und ein weißes Hemd angezogen. Seine Stiefel glänzten frisch poliert und er hatte sich rasiert. Sein Haar war ordentlich gekämmt.
So hatte Sydney ihn noch nie gesehen. Ihr Mund wurde trocken. Tim sah wirklich gut aus. Wie hatte sie bis jetzt verdrängen können, dass er so attraktiv war? Unter seiner rauen Fassade war er ein beeindruckender Mann. Er sah nicht nur gut aus, er wirkte fast elegant. Wenn er die richtige Kleidung tragen würde, könnte er jede Frau der Londoner High Society zum Schwärmen bringen. Nun, solche Sachen besaß er natürlich nicht, aber er hatte sich nach seinen Maßstäben fein gemacht.
„Junge, was willst du mit dem Ding um den Hals? Du siehst aus, als würdest du einen Seidenschal tragen. Wie eine aufgeputzte Memme.“ Tim schüttelte den Kopf. „Vielleicht kommen Männer in England mit diesem Aufzug durch, aber hier ziehen wir uns anders an. Wir überlassen das Aufputzen den Frauen. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dass dich auf dem Fest ein Betrunkener für ein hübsches Mädchen hält und einen Streit vom Zaun bricht. Zieh das Tuch aus und dann können wir gehen.“
Seine Worte machten ihr Angst. Er hielt sie für hübsch! Er konnte sich vorstellen, dass Männer sich von ihr angezogen fühlten. Obwohl sie Männerkleidung trug, hielt er sie immer noch für sehr weiblich.
Tim sah sie finster an. „Was stehst du da herum? Nimm dieses dumme Halstuch ab.“
„Du trägst eine Krawatte“, sagte sie mit rauer Stimme, die sich kaum nach ihr anhörte.
Seine große Hand befingerte die Krawatte um seinen Hals. „Ja. Viele Mädchen stehen auf so etwas.“
„Vielleicht mögen sie auch mein Halstuch!“
Tim seufzte. „Kann sein, aber nur, weil sie es selber gerne tragen möchten.“
Sydney ging schnell in ihr Zimmer zurück und starrte in den Spiegel. Dann nahm sie das Halstuch ab. Da Tim im Hintergrund wartete, musste sie, ohne noch einmal nachzuschauen, hoffen, dass der Knoten ihrer Bandage im Nacken nicht sichtbar war.
„Das ist gut genug“, erklärte Tim. „Wir gehen jetzt.“
„Wunderbar – ich meine, in Ordnung.“ Als sie an ihm vorbei durch die Tür ging, schlug er ihr freundschaftlich auf den Rücken und hätte sie damit beinahe die Treppe hinuntergestoßen.
Tim dachte über das Holster nach, das er für Syd besorgt hatte. Er würde dafür sorgen, dass der Junge beim Laufen endlich seine Hüften stillhielt. Doch er hatte auch Syds Temperament kennengelernt. Bisher hatte Tim sich immer umgedreht und war davongestapft, wenn Syd einen seiner Wutausbrüche hatte. Doch wenn sie in der Stadt waren, würden sie höchstwahrscheinlich auf Männer treffen, die das Ganze nicht so gelassen sahen. Wenn Syd dann noch einen Revolver hatte ... Es könnte einiges schiefgehen.
„Velma ist schon mit der Kutsche vorgefahren. Sie ist sehr stolz auf ihren Kartoffelsalat.“
„Ich werde ihn probieren und sie dann loben.“
„Gut.“ Tim stieg auf sein Pferd und zog eine Grimasse. Der Junge kam nicht in Kippys Sattel.
Syd führte sein Pferd zu den Verandastufen und stieg so in Kippys Sattel. Er tat so, als sei es normal, sein Pferd auf diese Weise zu besteigen. Der Junge schob seinen Hut zurecht und Kippy fing an, vom Hof zu traben. Syd ließ sich nicht anmerken, ob ihm die Situation peinlich gewesen war. Hocherhobenen Hauptes trabte er neben Tim her.
Tim konnte es nicht glauben, aber die steife englische Würde half in diesem Fall tatsächlich. Er nickte zufrieden. Was auch immer Syd heute Seltsames tun würde, Tim würde ihm damit zur Seite stehen, dass er immer wieder betonte, dass die englischen Sitten hierzulande einfach ungewohnt waren.
„Was macht man bei der Feier zum Gründungstag der Stadt eigentlich noch, außer Barbecue zu essen und zu tanzen?“
„Der Pastor wird ein Gebet sprechen. Der Bürgermeister wird eine langatmige Rede halten und die alte Mrs Whitsley wird ihn mit ihrem Krückstock schlagen.“
„Ist das eine Legende?“
„Nein, so passiert es wirklich jedes Jahr. Sie wird auf der Bühne sitzen, weil ihr Großvater die Stadt gegründet hat. Die Frau ist gefährlich. Sie wird mit ihrem Stock auf den Boden vor sich trommeln, weil sie sauer darüber ist, dass alle in der Hitze stehen müssen, anstatt endlich im Schatten etwas zu essen. Dann wird sie es nicht mehr aushalten und den Bürgermeister von der Bühne jagen. Alle werden applaudieren.“
„Das hat sie bestimmt letztes Jahr auch gemacht?“
„Die letzten fünf Jahre.“ Tim gluckste. „Manche Dinge ändern sich nie.“
Als sie die Ausläufer der Stadt erreichten, warf Sydney Tim einen überraschten Blick zu. „All diese Leute leben in dieser Gegend?“
„So ziemlich. Viele der umliegenden Dörfer nehmen an dieser und der Feier zum vierten Juli, unserem Unabhängigkeitstag von euch, teil.“
Als sie zu einem Baum kamen, stiegen sie beide ab, banden ihre Pferde an und gingen die Hauptstraße entlang zur Bühne. Tim wollte nicht, dass der Junge ihm nachlief wie ein kleiner Hund. Er wollte noch einiges in der Stadt erledigen, bevor die Festlichkeiten begannen.
Plötzlich blieb Syd stehen und hockte sich hin.
Tim beugte sich herab. „Was soll –“
„Die Richardsons sind da. Mein Stiefel –“
Tim ächzte.
Sydney erhob sich. „Wie konnte ich wissen, dass Sie heute hier sein würden, meine Damen? Ich wusste es einfach! Und die Stadt ist so wunderschön dekoriert, nicht wahr? Haben Sie geholfen?“
Tim wollte sich verziehen, aber die Richardsonmädchen hatten sich schon an seine Arme geklammert und redeten auf ihn ein.
Sydney hörte ihnen eine Weile zu, dann seufzte er. „Meine Damen, Sie werden uns entschuldigen müssen.“
„Aber warum?“, wollte Katherine wissen und hakte sich bei Sydney unter.
„Stiefel. Meine passen mir nicht richtig. Ich habe Tims schon lange bewundert ...“
Tim erkannte die Gelegenheit. „Ich habe Fuller versprochen, mich um alles zu kümmern. Da wir in der Stadt sind, wollen wir Hathwell gleich vernünftig einkleiden.“
„Wir kommen natürlich mit!“ Marcella lächelte erfreut. Der Gedanke, einen Mann nach ihrem Geschmack einzukleiden, schien sie mehr als glücklich zu machen.
„Ich könnte es nie ertragen, Ihnen die Unhöflichkeit meiner mit nichts mehr als Strümpfen bekleideten Füße zuzumuten. Das ginge zu weit, meine Liebe.“ Sydney scheuchte die Mädchen mit einer Handbewegung davon. „Jetzt geht, meine Verehrtesten.“
„Nicht schlecht, Junge.“ Tim ging auf die Sattlerei zu. „Komm mit.“
„Ist der Kaufladen nicht –“
Tim schüttelte den Kopf. „Diese Mädchen werden einen Grund finden, um dort aufzutauchen, glaub mir. Ich nehme dich mit zu Matteo. Wenn es um Schuhe geht, ist er unser Mann.“
Matteo war froh, Kundschaft zu bekommen. Während er die unglaublich kleinen Füße des Jungen maß, sah sich Tim um. Es gab keinen Grund, etwas zu kaufen, was die Ranch nicht wirklich brauchte. Aber es war auch nicht gut, so lange zu warten, bis etwas kaputtging, bevor man es ersetzte.
Es war schon komisch, dass Hathwell in einem Moment so schrecklich affektiert sein konnte und im nächsten Moment ein tüchtiger Mann. Er hatte versucht, Tim vor der Begegnung mit den Richardsons zu retten, und als das nicht funktioniert hatte, hatte er eine Ausrede für sie gefunden, warum sie die Mädchen stehen lassen mussten.
Tim drehte sich um und sah dem Jungen zu, wie er seinen Fuß in einen Stiefel schob. Nach einigen Gehversuchen nickte er fachmännisch. „Tim hatte recht. Sie machen wirklich ausgezeichnete Stiefel.“
Tim legte einige Artikel auf die Theke. „Setz das auf die Rechnung für die Forsaken-Ranch.“
Der Junge griff in seine Tasche. „Wie viel –“
Tim schüttelte den Kopf. „Forsaken kümmert sich um seine Männer.“
Ein Mann zu sein hatte Vorteile. Sydney konnte sich ohne Anstandsdame frei in der Stadt bewegen. Sie konnte so viel essen, wie sie wollte, ohne wie ein Vielfraß zu wirken. Anstatt höflich mit jedem reden zu müssen, konnte sie einfach nur nicken und still sein.
Ein bunt gemischter Haufen von Leuten hatte sich auf dem Bürgersteig zu einer Art Band zusammengefunden. Sie spielten mit viel Enthusiasmus, aber leider mit wenig Talent.
Einige geschäftstüchtige Kinder hatten einen kleinen Limonadenstand eröffnet. Sydney kaufte ein Glas. Es schmeckte grauenvoll. Trotzdem kaufte sie sich noch ein zweites und lobte die Kinder.
Die meisten Männer, die Sydney auf der Straße traf, kamen freundlich auf sie zu und begrüßten sie mit Handschlag. Es schien sich herumgesprochen zu haben, wer sie war. Die Männer stellten sich ihr immer mit Nachnamen und der Art ihres Berufes oder Geschäftes vor. Vielleicht erhofften sie sich neue Geschäftskontakte. Wenn einer der Männer seine Frau bei sich hatte, stellte er diese nur als „die Ehefrau“ oder „meine kleine Frau“ vor. Ganz anders war es allerdings, wenn Väter ihre Töchter vorstellten. Sie erwähnten immer wieder ihre Vornamen und prahlten mit ihren exzellenten Eigenschaften. Offensichtlich waren sie Sydney gegenüber doch nicht nur auf geschäftliche Kontakte aus.
Sydney amüsierte vor allem die Art der Eigenschaften, die die Väter hervorhoben. Lacey konnte einen Bullen schneller fesseln als jeder Mann. Hedda hatte mit ihren Feigenkonserven den zweiten Platz auf der Landesausstellung gewonnen. Theodora hatte die Gabe ihres Onkels geerbt, unterirdische Wasserquellen ausfindig zu machen. Angelina war der Albtraum aller Flusskrebse.
Doch so seltsam diese „Vorzüge“ auch erschienen, freute sich Sydney doch darüber, sie zu erfahren. Zu Hause in England gaben Väter ihre Töchter von klein auf in die Hände von Gouvernanten. Die meisten kannten ihre Töchter nicht gut genug, um zu wissen, was sie gerne taten oder gut konnten.
Keine der perfekt organisierten Soireen, keins der High-Society-Feste oder der von Orchestern begleiteten Picknicks, bei denen Sydney in England gewesen war, hatte auch nur halb so viel Spaß gemacht wie dieses kleine Stadtfest mit seinem unkonventionellen Barbecue.
Sobald der Tanz losging, stand Sydney am Rand der Tanzfläche und sah zu, wie die Tänzer herumwirbelten und stampften, vor- und zurückliefen und sich ausgelassen anlachten. Sie standen im Quadrat und waren einander zugewandt, die Männer außen, die Frauen innen. Sie befolgten genau die Anweisungen, die ihnen der Ausrufer zurief.
„Versuch es auch mal, Junge.“ Tim klopfte ihm auf den Rücken.
„Nach dir.“ Sydney grinste zurück.
Tim erblickte die alte, mürrische Mrs Whitsley und forderte sie zum Tanz auf. Sofort stellte diese ihren Gehstock zur Seite und begleitete ihn.
Sydney beobachtete, wie Tim die alte Dame hochhob. Mrs Whitsley tätschelte seine Wange und sagte etwas. Tim warf seinen Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Als die Geige das nächste Lied anstimmte, führte er die alte Dame hin und her und drehte sich mit ihr. Dann übergab er sie dem nächsten Tänzer. Das ging so lange weiter, bis jede Frau einmal mit jedem Mann getanzt hatte.
Als das Lied zu Ende war, brachte Tim Mrs Whitsley vorsichtig zurück an ihren Platz und verbeugte sich vor ihr, ganz der vollendete Gentleman.
In diesem Moment fiel das letzte bisschen Abneigung, das Sydney noch für ihn empfunden hatte, von ihr ab. Big Tim, so gut aussehend und stark er war, hatte sich nicht für ein hübsches, junges Mädchen entschieden. Er hatte sich eine Frau ausgesucht, die ein bisschen Freundlichkeit und Güte brauchte, und hatte ihr eine Freude bereitet. Aber für Tim schien das noch nicht genug zu sein. Er schnappte sich Velma und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, als er sich mit ihr in das Quadrat der Tänzer einreihte.
Da Sydney Tanzunterricht erhalten hatte, hatte sie ein gutes Gespür für Rhythmus und Bewegungen. Der Squaredance war allerdings sehr von Improvisation geprägt. Teilweise konnte Sydney nicht ausmachen, ob jemand einen Fehler machte oder sich einfach nur besonders frei bewegte.
Tim wirbelte gerade Velma an Sydney vorbei und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Sydney verstand den Hinweis und trat auf die Tanzfläche. „Miss Velma, es wäre mir eine Ehre, für den nächsten Tanz Ihr Partner zu sein, wenn Sie mir meine Unerfahrenheit verzeihen wollen.“
Velma lachte laut auf und zwinkerte. „Nicht so förmlich, mein Lieber. Wir werden bestimmt Spaß haben!“ Sie schob ihren Arm unter Sydneys und stellte sie allen anderen Tänzern schnell als „Syd
Hathwell“ vor.
Dieser Tanz funktionierte so gar nicht wie die Standardtänze, die Sydney in England gelernt hatte, doch es schien niemanden zu stören, wenn sie sich aus Versehen einmal in die falsche Richtung drehte. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, entweder auf der Tanzfläche zu sein oder vom Rand aus zuzusehen. Während eines Tanzes war Marcella Richardson für kurze Zeit Sydneys Partnerin, bevor sie weitergegeben wurde. Als das Lied zu Ende war, verschwand Marcellas Tanzpartner und sie blieb mit Sydney zurück. Marcella stellte sich sehr nah an Sydney.
Sydney sah die Hoffnung in Marcellas Augen. Frage ich sie, ob sie mit mir tanzen will, damit es ihr besser geht? Oder entschuldige ich mich, damit sie die Möglichkeit hat, mit einem Mann zu tanzen? Es ist schlimm genug, dass ich alle hinters Licht führe. Ich kann diesem Mädchen nicht verwehren, einen echten Verehrer zu finden.
„In England ist alles, was einer Dame und einem Gentleman erlaubt ist, ein einziger Tanz – und sei es auch nur der Bruchteil eines Tanzes, so wie bei uns eben. Ich werde Sie nicht in Ihrer Ehre verletzen, indem ich Sie frage, ob Sie noch einmal mit mir tanzen wollen. Sie sind eine so begabte Tänzerin, dass die anderen Männer sich sicher auch glücklich schätzen würden, mit Ihnen zu tanzen.“
Sydney verbeugte sich und ließ Marcella Richardson allein. Einige Minuten später schlug ihr eine kräftige Hand auf den Rücken. Sydney zuckte zusammen.
„Syd! Ich bezahl immer meine Schulden.“ Bert nickte. „Es is’ höchste Zeit, dass wir ’n Bier trinken geh’n.“
„Bier?“
„Ja. Ich hab doch gesagt, dass ich dir eins ausgeb’, wenn wir in der Stadt sin’. Komm mit.“
Gulp kam herübergeschlurft. „Die alte Witwe O’Toole is’ wieder an Pancake dran. Der wird so schnell nich’ kommen. Am besten geh’n wir schon ma’ vor.“
Bert legte seinen Arm um Sydneys Schulter. „Komm, Junge, jetzt bezahl’ ich meine Schulden.“
Wenige Augenblicke später fand sich Sydney inmitten von Cowboys im Saloon wieder. Einer Dame war es nicht gestattet, ein solches Etablissement aufzusuchen, doch Sydney freute sich über diese Möglichkeit. In dieser Männerbastion gab es nur ein paar wenige Tische. An einigen saßen gelangweilt dreinschauende Männer und spielten Karten. Zigarren- und Zigarettenrauch hing in der Luft und vermischte sich mit den Dämpfen von hochprozentigem Alkohol.
Der Barkeeper ließ seine fleischige Hand auf den Tisch fallen. „Was wollt ihr?“
„Bier.“ Bert hielt drei Finger in die Höhe.
Als der Barkeeper Sydney ein Bier in die Hand drückte, sagte sie: „Ich bin eigentlich gar nicht durstig.“
Der Mann sah sie verständnislos an. „Was hat ’n Durstigsein mit Biertrinken zu tun?“
Durch diesen Kommentar verwirrt, nahm Sydney einen Schluck aus ihrem Glas, ohne daran zu denken, was darin war. Ihre Augen wurden groß und ihr Kopf schoss nach oben. Sie fing an zu husten.
Bert grinste sie breit an. „Die beste Kur gegen den Husten ist ein tiefer Schluck Bier, Junge, glaub mir.“
Sydney war sich sicher, dass ein Mediziner das anders gesehen hätte. Trotzdem versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und trank ihr Bier mit kleinen Schlucken aus.
Gulp stieß Bert mit dem Ellbogen an und grinste. Bert schien zu verstehen, worauf er hinauswollte, und fing ebenfalls an zu grinsen.
Sydney trank den letzten Schluck Bier und strich ihr Hemd glatt. „So, vielen Dank für das Bier, Bert. Du hast deine Schuld mehr als beglichen. Ich muss jetzt –“
„Oh, wir haben gerade erst angefangen, Junge.“ Die Cowboys ergriffen Sydney bei den Armen und führten sie in Richtung Treppe. „Tim hat gesagt, wir sollen einen richtigen Mann aus dir machen. Wir befolgen nur seine Anordnung.“
Kapitel 9
„Lord Hathwell, nehme ich an?“ Eine elegant gekleidete Dame wartete am oberen Ende der Treppe auf sie. Sie wandte sich an Gulp und Bert. „Ihr beiden geht wieder zu eurem Bier. Ich werde dafür sorgen, dass dieser junge Mann bald mit einem Lächeln auf den Lippen zu euch zurückkehrt.“
Einer der Männer zerzauste Sydneys Haare. Sie war so schockiert über das, was gleich kommen würde, dass sie nicht darauf achtete, wer es tat. „Das is’ Helene. Sie wird sich um dich kümmern.“
Wie angewurzelt blieb Sydney stehen. Bert und Gulp waren schon wieder auf dem Weg nach unten.
Helene sah sie lange an und lächelte dann.
Sydney hörte das Blut in ihren Adern pulsieren. Das ist falsch. Sie werden herausfinden –
Helene ging einen Schritt auf sie zu und versuchte, ihren Arm unter Sydneys zu schieben. Als diese sich wehrte, flüsterte Helene leise: „Nella und ich haben dich beobachtet. Dein Geheimnis ist bei uns sicher.“
Eine junge Frau in einem roten Kleid kam um die Ecke. Ihr Kleid musste sich irgendwie verfangen haben, denn es reichte vorne nur bis zu den Knien. Sydney versuchte, nicht darauf zu starren.
Helene gurrte: „Nella, das ist Lord Hathwell.“
Nella ergriff Sydneys Hand. „Es ist mir eine Freude.“ Sie zog Sydney in Richtung ihres Zimmers. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen und fing an zu kichern. „Das ist wirklich wahnsinnig witzig.“
Nervös wie sie war, fragte Sydney: „Du verrätst mich doch nicht?“
Nellas Locken hüpften fröhlich auf und ab, als sie ihren Kopf schüttelte. Dann wurde ihr Lächeln noch breiter. „Die Männer werden mir in Zukunft mehr bezahlen müssen, jetzt, wo mich der englische Adel besucht hat!“
„Ich bin nicht adlig –“
Nella stützte ihre Hände in die Hüften. „Du bist adlig genug. Hier schert sich niemand um die Details. Aber jetzt sollten wir uns lieber um das Wesentliche kümmern.“
„Das Wesentliche?“
„Zerknautsch deine Kleidung. Es muss so aussehen, als hätte sie auf dem Boden gelegen.“ Nella zerzauste ihr eigenes Haar ein wenig. „Und mein Parfüm. Tu dir ein bisschen was auf den Hals, damit die Männer denken, wir wären uns nahe gewesen.“
„Warum tust du das hier?“
Nellas Kiefer verspannte sich. „Ich tue, was ich tun muss. Nicht jeder hat einen reichen Onkel.“
„Nein, nein.“ Sydney ergriff Nellas Hand. „So meinte ich das nicht. Ich frage mich nur, warum du mir hilfst.“
Die junge Frau seufzte tief. „Weiß nicht. Ich habe gehört, dass Big Tim dich schwer arbeiten lässt. Und nun, wo ich weiß, dass du eine Frau bist – das ist doch bestimmt hart, oder?“ Sie zuckte die Schultern. „Das Leben ist hart. Wir Mädchen – wir müssen zusammenhalten.“
„Wie kann ich dir helfen?“ Niemals hätte Lady Sydney Hathwell gedacht, dass sie einmal mit einer Frau von so zweifelhaftem Ruf sprechen würde. Doch jetzt war sie hier ... und merkte, dass Nella ein ganz normales Mädchen war. Nun, ein normales Mädchen, das seinen Lebensunterhalt nicht ganz so normal verdiente.