Verlag C.H.Beck
Keine andere Lehre hat das chinesische Denken und die chinesische Geschichte stärker geprägt als der Konfuzianismus. Pietät ist ihm zufolge die Grundlage des Familienlebens wie des Staates; dieser beruht wiederum auf dem Leben der Familie. Die «Fünf Beziehungen» zwischen Fürst und Staatsdiener, Vater und Sohn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Freund und Freund werden bestimmt durch die Tugenden der Menschenliebe, der Gerechtigkeit und Ehrerbietung. Diese äußert sich in der Achtung des Ererbten, der Riten, der Musik und geht in der Verehrung der Ahnen über den Tod hinaus. – Hans van Ess beschreibt in diesem Buch anschaulich das Leben des Konfuzius, der vor rund 2500 Jahren geboren wurde, und erläutert seine Grundgedanken. Von hier aus verfolgt er die Geschichte dieser Geistestradition bis in die Gegenwart und erklärt ihre religiösen, philosophischen und politischen Aspekte.
Hans van Ess ist Professor für Sinologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der chinesischen Geistesgeschichte, insbesondere der konfuzianischen Tradition. Bei C.H.Beck erschien von ihm außerdem „Der Daoismus. von Laozi bis heute“ (2011) sowie „Die 101 wichtigsten Fragen. China“ (2. Auflage 2012).
Vorwort
I. Konfuzius und seine Nachfolger
1. Quellen zu Konfuzius
2. Das Leben des Konfuzius
3. Lehren des Konfuzius
4. Die Gebildeten
5. Die Schüler
6. Die kanonischen Schriften
7. Der Philosoph Meng-tzu
8. Der Philosoph Hsün-tzu
II. Konfuzianismus und der chinesische Staat
1. Die Verfolgung konfuzianischer Lehren und ihr Triumph
2. Der Konfuzianismus der Han
3. Alte und neue Texte
4. Konfuzianische Auseinandersetzungen mit Buddhisten und Taoisten
5. Die geistige Atmosphäre unter den T’ang (618–907)
6. Der Kult des Konfuzius
7. Vorboten einer geistigen Neuorientierung
III. Der Konfuzianismus des späten Kaiserreiches
1. Die konfuzianische Wende des 11. Jahrhunderts
2. Die neokonfuzianischen Meister
3. Der Umbruch nach dem Verlust Nordchinas im 12. Jahrhundert
4. Die Synthese im Denken des Chu Hsi
5. Der Terminus «li»
6. Die Entstehung einer konfuzianischen Orthodoxie
7. Die Rationalisierung des Konfuzianismus unter den Ming (1368–1644)
8. Volkstümliche Tendenzen
9. Konfuzianismus unter der mandschurischen Herrschaft
10. Alttext- versus Neutextgelehrsamkeit
IV. Konfuzius im 20. Jahrhundert
1. Die Bilderstürmer und ihre Grenzen
2. Konfuzius in der Volksrepublik China
3. Ist das heutige China konfuzianisch?
Hinweise zur Transkription
Literaturhinweise
Zeittafel
Register mit Glossar chinesischer Begriffe und Texte
Abkürzungen
LY Lun-yü
MT Meng-tzu
Der Wirtschaftsboom in einigen ostasiatischen Staaten in den achtziger Jahren hat viele Beobachter überrascht. Um ihn zu erklären, wurde eine chinesische Kulturform aus der Versenkung geholt, die von manchen nach den Stürmen des 20. Jahrhunderts bereits für tot erklärt worden war: der Konfuzianismus. Doch was die Inhalte dieses Konfuzianismus sein sollten, blieb zumeist unklar. Kein Wunder: Denn obwohl China immer wieder eine konfuzianische Seele zugeschrieben wurde, ist umstritten, was der Konfuzianismus eigentlich ist. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da Konfuzianer verschiedener Epochen sich nicht durch einen gemeinsamen Lebensentwurf auszeichnen.
lm deutschsprachigen Raum ist die klassische, immer noch lesenswerte Darstellung zum Konfuzianismus nach wie vor diejenige von Richard Wilhelm, dem Sinologen und bedeutendsten Übersetzer klassischer Texte der frühen chinesischen Philosophie. Sie besteht allerdings nur aus einer Übersetzung der frühesten Vita des Konfuzius, den wichtigsten Texten über Leben und Denken des Meisters sowie einigen Textproben. Zahllose Konfuziusbiographen, darunter nicht nur berufene, sind Wilhelm in dieser Herangehensweise gefolgt. Der vorliegende Band versucht demgegenüber, die konfuzianische Tradition von den Anfängen bis zur Gegenwart als Ganzes zu erfassen. Dabei lassen sich drei oder vier Entwicklungsphasen feststellen: Die erste kann man mit der Entstehung bei Konfuzius und seinen Nachfolgern vor der Gründung des Kaiserreichs zu Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. ansetzen. Es folgt zweitens eine lange Phase bis etwa zum 10. Jahrhundert. In dieser Zeit scheint die Kenntnis der kanonischen Schriften, welche in der Schule des Konfuzius gepflegt worden war, für die Moralvorstellungen einer verhältnismäßig kleinen Beamtenelite und vor allem für den Zugang zur Bürokratie bedeutsam gewesen zu sein. Ab dem 11. Jahrhundert beginnt die dritte Phase, diejenige der allmählichen Durchdringung Chinas mit Ideen, die zwar nicht ausschließlich auf Konfuzius zurückgehen, sondern vielfach wesentlich späteren Ursprungs sind, die sich aber dennoch maßgeblich auf Konfuzius berufen. Als eine vierte Phase schließlich lassen sich die Entwicklungen nach dem Sturz des Kaiserreichs im Jahre 1911 beschreiben.
Das Wort «Konfuzianismus» stammt aus dem Jesuitenlatein. Seine chinesische Wurzel setzt sich zusammen aus dem Nachnamen «K’ung» (oder: Kong) und dem Wort «fu-tzu», das als ehrende Anrede und auch in der respektvollen Sprache über einen Wissenden in der Bedeutung von «Meister» verwendet wird. Ironischerweise ist die Zusammensetzung «K’ung fu-tzu» im klassischen Chinesisch überaus selten und kommt von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen in der Literatur erst ab dem 12. Jahrhundert vereinzelt vor. Eigentlich taucht sie erst um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert regelmäßiger auf, als die ersten Jesuiten sich bereits in China aufhielten. Sprach ein gebildeter Chinese von Konfuzius, dann sagte er zumeist einfach «K’ung-tzu», was ebenfalls «Meister Kung» bedeutet, oder er sprach von «fu-tzu» oder gar nur «tzu», also einfach vom «Meister». Wahlweise standen ihm verschiedene andere Namen und Beinamen zur Verfügung. «K’ung fu-tzu» jedoch klang den meisten Literaten offensichtlich zu überhöht. Wahrscheinlich hatte der jesuitische «K’ung fu-tzu» zunächst einen eher kindlich-volkstümlichen, zumindest aber umgangssprachlichen Beigeschmack. In der Tat kam es etwa zum selben Zeitpunkt, da sich dieser Name durchzusetzen begann, auch zu einer Veränderung in der Verehrung des Konfuzius, die nun von einer viel breiteren Bevölkerung getragen wurde als zuvor.
Auf jeden Fall hängt der Begriff des Konfuzianismus, den alle europäischen Sprachen übernommen haben, für den es im Chinesischen jedoch erst seit dem 20. Jahrhundert ein Äquivalent gibt, mit dem Meister selbst ursächlich zusammen. Darum hat eine Darstellung des Konfuzianismus mit Konfuzius und seiner Schule zu beginnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Publikationen zu diesem Thema soll hier sein Denken jedoch einen relativ kleinen Raum einnehmen, um dafür dem selbständigen Wirken der konfuzianischen Gedanken und der Tradition des Konfuzianismus um so mehr Rechnung tragen zu können. Im Bewußtsein, daß künftige Forschung einiges, was hier gesagt ist, relativieren oder widerlegen mag, bietet dieser Band eine kurze Gesamtdarstellung konfuzianischer Ideen aus einem Zeitraum von 2500 Jahren. Dabei erweist sich, daß die gesamte Bandbreite des Konfuzianismus die Gedanken des Gründers weit hinter sich läßt.
Wir sind über Biographie und Person des Konfuzius im wesentlichen durch Quellen informiert, die mehrere hundert Jahre nach seinen Lebzeiten abgefaßt wurden. Nur einige kurze Bemerkungen zur späten Karriere des Meisters macht das Tsochuan, ein auf das 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgehendes Geschichtswerk, das allerdings wohl eine Reihe von späteren Einsprengseln enthält. Ein Beispiel hierfür könnten moralisierende Kommentare sein, in denen manchmal Konfuzius selbst, manchmal auch ein nicht näher bezeichneter «Edler» Stellung zu bestimmten historischen Ereignissen bezieht. Seiner Form nach ist das Tso-chuan ein Kommentar zu der Chronik seines Heimatstaates Lu, den Frühlings- und Herbstannalen (Ch’un-ch’iu), die nach Ansicht der chinesischen Tradition in ihrem heutigen Aussehen das Werk des Konfuzius selbst sein sollen. Autor soll einer seiner Schüler namens Tso Ch’iu-ming (oder: Tso-ch’iu Ming) gewesen sein; dieser war in Sorge, weil nach dem Tode des Meisters die Schüler begannen, unterschiedliche Auffassungen über dessen Ansichten zu entwickeln.
Die Gespräche des Konfuzius (Lun-yü, LY) sind die wichtigste Quelle zu den Gedanken des Konfuzius. Sie setzen sich zusammen aus 20 Kapiteln zu 3 bis 49, durchschnittlich aber etwa 25 Abschnitten, die aus manchmal nur wenige Worte kurzen, bisweilen auch etwas ausführlicheren Aussprüchen des Konfuzius oder verschiedener seiner Schüler bestehen. Viele davon reflektieren ihren Entstehungsort: Es handelt sich um Gespräche, die in einem Schulkontext stattfanden. Der Text dürfte sein heutiges Aussehen im 2., vielleicht auch erst zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. durch einen namentlich nicht bekannten Kompilator erhalten haben. Ab der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. häufen sich die Gelehrtenbiographien, in denen erwähnt ist, daß die betreffende Person in ihrer Jugend die Gespräche des Konfuzius studiert habe. Eines der großen Versäumnisse der westlichen Sinologie besteht darin, bisher noch keine philologisch saubere Edition dieses Textes erstellt zu haben – wie es zum Beispiel die Theologie mit der Bibel vorgemacht hat –, die es ermöglichen würde, die einzelnen Aussprüche in Zusammenhang zu allen Parallelstellen in der alten Literatur zu stellen. Nur so nämlich könnte es eines Tages einmal möglich sein, Aufschlüsse darüber zu gewinnen, was einzelne kryptische Aussprüche wirklich heißen sollten beziehungsweise welche tatsächlich auf Konfuzius zurückgehen mögen und welche ihm von späterer Hand zugedichtet worden sind. Auch die neuesten Versuche in diese Richtung müssen als gescheitert angesehen werden, da ihre Datierungskriterien nicht überzeugend schlüssig sind und eine sorgfältige philologische Übersetzung fehlt. Erst wenn diese Arbeit geleistet ist, werden wir in der Lage sein, abzuschätzen, was der Gründer des Konfuzianismus wirklich dachte und ob nicht viele der Aussprüche aus den Gesprächen des Konfuzius in Wahrheit ein Denken repräsentieren, das erst viele Jahrhunderte nach ihm aufkam.
Die erste Biographie des Meisters wurde in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfaßt, vielleicht nicht lange vor der Wende zum 1. Jahrhundert. Auf sie stützen sich fast alle gängigen Konfuziusdarstellungen, mißachten dabei aber zumeist, daß Ssu-ma Ch’ien, der Verfasser dieser Lebensbeschreibung und Autor des ersten hauptsächlich aus Biographien bestehenden chinesischen Geschichtswerkes, der Aufzeichnungen des Historiographen (Shih-chi), Konfuzius gegenüber möglicherweise skeptisch eingestellt war. Zumindest galt er seit dem Urteil eines Historiographen aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. vielen traditionellen Gelehrten als Anhänger daoistischer Schriften und als Gegner der Konfuzianer. Ein Literat des frühen 19. Jahrhunderts verstieg sich sogar zu der Aussage, daß ein großer Teil der Konfuziusbiographie frei erfunden sei. Zwar ist dies wahrscheinlich übertrieben, doch ist dieser Quelle gegenüber einige Vorsicht geboten. Die von Ssu-ma Ch’ien verfaßte Biographie stützt sich in hohem Maße auf in den Gesprächen des Konfuzius enthaltene Aussprüche sowie solche aus vergleichbaren Texten der frühen Literatur und versucht, eine chronologische Abfolge in diese zu bringen, die aber nicht unbedingt korrekt sein muß.
Ebenfalls mit Vorsicht zu betrachten sind eine Reihe von zumeist nur noch bruchstückhaft als Zitate in späteren Kommentaren erhaltenen sogenannten apokryphen Texten der Zeit der Han (206 v. Chr.–220 n. Chr.), in denen Konfuzius göttliche Züge erhält. Großenteils ernstzunehmen sind hingegen die Familiengespräche des Konfuzius (K’ung-tzu chia-yü), die ähnliches Material enthalten wie die Gespräche. Die Familiengespräche sind zwar wahrscheinlich erst um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. kompiliert worden, doch enthalten sie mit Sicherheit wenigstens einen Kern von sehr frühem Inhalt. Gleiches gilt für eine Reihe von Konfuziusanekdoten aus dem Buch der Riten (Li-chi). Aus der Zeit der Han gibt es weitere Anekdotensammlungen, die nicht auf Konfuzius fixiert sind, aber ebenfalls wahrscheinlich frühes Material über ihn enthalten. Diese sind bisher allerdings kaum untersucht.
Konfuzius wurde in eine Zeit hineingeboren, die vom Verfall der Zentralmacht des Hauses der Chou-Könige gekennzeichnet war. Diese hatten zu Beginn ihrer Herrschaft am Anfang des 1. Jahrtausends v. Chr. Verwandte als Lehnsherren in verschiedenen Regionen des Landes eingesetzt. Im ostchinesischen Staate Sung jedoch hatten sie einen Fürsten installiert, der die Aufgabe hatte, als Nachfahre der Vorgängerdynastie Shang deren Ahnenopfer fortzuführen. Hier lebten zu Beginn des 8. Jahrhunderts die ersten bekannten Träger des Namens K’ung als hohe Würdenträger. Sie unterlagen jedoch im Machtkampf gegen eine konkurrierende Familie und mußten in die Stadt Tsou im benachbarten Staat Lu umziehen, was vermutlich mit einem Statusverlust verbunden war; zunächst dürften die K’ung keine Würdenträger mehr gewesen sein.
Obwohl schon das Tso-chuan den Konfuzius auf die Herrscher der Shang zurückführt, enthalten erst die Familiengespräche des Konfuzius eine vollständige Genealogie des Meisters. Sie geben auch Aufklärung über die erstaunliche Bemerkung des Ssu-ma Ch’ien, Konfuzius sei die Frucht einer «wilden Vereinigung» seines Vaters mit seiner Mutter gewesen. Der Vater nämlich habe sich eine Nebenfrau genommen, da ihm bis dahin nur Mädchen beschieden gewesen seien. Tatsächlich habe die Nebenfrau einen Sohn mit Namen Meng-p’i und dem Großjährigkeitsnamen Po-ni (Älterer Ni) geboren, doch habe dieser, nachdem er erwachsen war, eine Fußkrankheit entwickelt, was ihn für die Fortführung der Familienopfer disqualifizierte.
Der nun schon recht betagte Vater sah sich nach einer zweiten Nebenfrau um. Nur die jüngste von drei Töchtern der ausersehenen Familie erklärte sich ihrem Vater gegenüber bereit, eine Ehe mit diesem Greis einzugehen. Dessen Ahnen hatten zwar zu den Nachfahren der Shang gehört, doch sein Vater und sein Großvater waren nur noch einfache Männer gewesen, so daß er offensichtlich keine gute Partie war. Das Mädchen fürchtete, wegen des hohen Alters ihres Mannes den gewünschten Sohn nicht beizeiten gebären zu können. Daher soll sie am Berge Nich’iu gebetet und in der Folge den Konfuzius geboren haben, der den Namen Ch’iu (Hügel) erhielt, welcher sich nach einer Tradition auf eben dieses Gebet beziehen soll. Später bekam er, ebenfalls in Anlehnung an das Gebet seiner Mutter, den Großjährigkeitsnamen Chung-ni (Mittlerer Ni). Eine andere Tradition besagt, daß der Name Ch’iu eine Anspielung auf eine Verformung der Stirn des Konfuzius gewesen sei. In der Tat kommen solche Verweise auf körperliche Merkmale in der frühen chinesischen Namensgebung vor. Angeblich soll Konfuzius ein Hüne von Statur gewesen sein, die zweite Besonderheit, die über seine physische Gestalt berichtet wird. Der Kung-yang Kommentar zu den Frühlings- und Herbstannalen, der vielleicht noch vor dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeit entstanden ist, datiert die Geburt des Konfuzius übrigens auf einen Tag, der im 20. Jahrhundert als der 3. Oktober 551 rekonstruiert worden ist, wenn auch andere Auffassungen die Jahre 552 oder 550 favorisieren.
Die «wilde Vereinigung», die bei Ssu-ma Ch’ien leicht als Hinweis auf eine illegitime Herkunft des Meisters zu verstehen ist, wird durch diese Geschichte umgedeutet zu einer rituell zwar nicht korrekten Verbindung – der Mann war bereits zu alt, um einen Hausstand zu gründen, die Frau eigentlich noch zu jung dafür –, die aber ihren schmählichen Charakter verloren hat, weil sie den Fortbestand der Ahnenopfer einer Familie sicherte, eines der höchsten Güter der chinesischen Tradition. Schon als Konfuzius drei Jahre alt war, soll sein Vater gestorben sein. Die Mutter, die das Grab geheimhielt, starb, als Konfuzius noch jugendlich war. Nach ihrem Tod fand er jedoch den rechten Ort heraus und begrub sie zusammen mit dem Vater.
Der Staat Lu, in den Konfuzius hineingeboren wurde, stand innerhalb der Hierarchie der altchinesischen Oikumene ganz weit oben. Sein erster Herrscher, der Herzog von Chou, war ein Bruder eines der Gründerkönige der Chou gewesen und hatte zum Dank für die loyale Ausführung der Regentschaft für einen minderjährigen König angeblich das Recht erhalten, sich in seinem Zeremoniell direkt an dasjenige des Herrscherhauses anzulehnen. Lu stand deshalb nach traditioneller Vorstellung rituell über allen anderen Lehnsstaaten. Ähnlich wie in Chou war allerdings zu Lebzeiten des Konfuzius auch in Lu den legitimen Herrschern die Macht entglitten. An ihre Stelle waren drei Familien getreten, die auf Söhne des Huan (reg. 710–693), des zweiten Herzogs von Lu der Frühlings- und Herbstperiode (771–481), zurückgingen. Die nächste unter diesen «Drei Huan» war die Familie Chi, in deren Diensten Konfuzius und später auch einige seiner Schüler zeitweise standen. Der Staat Lu verlor jedoch unter der Ägide der Drei Huan innerhalb des Staatenbundes, aus dem die chinesischen Mittellande damals bestanden, in hohem Tempo an Einfluß.
In vielerlei Hinsicht wichtig für die Tradition ist eine Geschichte, die besagt, daß Konfuzius in noch recht jungen Jahren eine Reise in die Chou-Hauptstadt unternommen habe, um dort die Riten oder aber die «Sitten» zu studieren. Was damit genau gemeint ist, geht aus den entsprechenden Textstellen nicht hervor. Vieles deutet darauf hin, daß das an dieser Stelle stehende, li ausgesprochene Zeichen, das in der Sinologie gerne mit «Ritual» oder «Ritus» übersetzt wird, ursprünglich den rituell korrekten Umgang mit den Opfern für die Ahnen bezeichnete und für die entsprechenden Zeremonien stand. Die «Riten», die Konfuzius dieser Geschichte zufolge lernte, sind wohl als konkrete zeremonielle Regeln für unterschiedliche Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und für die Opferpraxis zu verstenen. Diese Praktiken waren am Sitz der nominell herrschenden Dynastie Chou vermutlich am besten zu lernen. In seinen Gesprächen äußert Konfuzius übrigens häufig Vorbehalte gegenüber diesen «Riten» – zu seinen Standardermahnungen gehört, daß die Beachtung zeremonieller Vorschriften leicht zur leeren Form entarten könne. Besser sei es, auf sie zu verzichten und statt dessen ehrlich zu sein.
Jedoch ist klar, daß das für den Konfuzianismus so zentrale Wort li diese enge Bedeutung zur Zeit des Konfuzius hinter sich gelassen hatte. Oft trägt es schon in alten Texten einen viel allgemeineren Sinn, nämlich denjenigen des Anstandes, der Sitte, des Normengerüstes, das die alte Gesellschaft angeblich zusammengehalten hatte. Auf dieses Normengerüst wurde gerne verwiesen, wenn sich ein Stärkerer gegenüber einem Schwächeren nicht an die vorgeblich seit Urzeiten gültigen Normen, die «Sitte», gehalten, sondern Eigeninteressen durchgesetzt hatte. In späteren Zeiten, als der Staat in China ein stärkeres Gewicht bei der gesellschaftlichen Gestaltung bekam, wurde diese «Sitte» häufig auch zur Verteidigung der auf Traditionsrechten basierenden Autonomie des einzelnen gegenüber den staatlichen Gesetzen zitiert. Mit «Riten» oder «Ritual» im europäischen Sinne hat das Wort li in diesem Kontext nicht viel zu tun. In diesem Punkt ist gerade die neuere sinologische Literatur oft begrifflich ausgesprochen unscharf. Das hat zu einiger Verwirrung und zu falschen Vorstellungen geführt. Die alte chinesische Gesellschaft ist nicht in dem Maße von Ritualität bestimmt gewesen, wie Übersetzungen und Sekundärliteratur der letzten Jahre, welche an jeder Stelle für das chinesische Wort li das Äquivalent «Riten» gebrauchen, den Eindruck erwecken möchten.
Da das Thema für den frühen Konfuzianismus von einiger Bedeutung ist, sei ein Beispiel angeführt, um zu belegen, was gemeint ist: Der Herrscher eines Staates erhielt in einer Notlage Nahrungsmittelhilfe seines Nachbarstaates, doch weigerte er sich, mit Gleichem zu antworten, als sich die Situation umkehrte. Der Fürst des Nachbarstaates begründete darauf seinen wenig später erfolgenden Angriff damit, daß der andere Fürst keinen Anstand (li) habe und man deshalb vor den göttlichen Mächten eine Strafaktion rechtfertigen könne. In einer englischsprachigen Publikation aus dem Jahr 1999 wird «keinen Anstand haben» übersetzt mit «he violated ritual» («er verletzte die Ritualität»). Dieses Bestreben nach einheitlicher Übersetzung des Begriffes li wirkt fast ein wenig komisch. Es verkennt den recht pragmatischen Charakter des Textes und ist für das allgemeine Publikum irreführend. Das Beispiel ist symptomatisch.
Die zeremoniellen Regeln, die in der alten Literatur nur eine Teilmenge des wesentlich weiteren Begriffes li sind, soll Konfuzius übrigens bei Lao-tzu gelernt haben, dem Gründerahnen der taoistischen Philosophie, der in der Hauptstadt als Archivar tätig war und den die chinesische Tradition eigentlich eher als Gegner des Beharrens auf der «Sitte» kennt. Bei ihm erhielt Konfuzius den Quellen zufolge zum ersten Mal Einblick in die sonst nicht frei im Reich verfügbaren Dokumente der Chou. Diese Reise soll sich formierend auf sein Denken ausgewirkt haben, und die Dokumente, die er zu Gesicht bekam, sollen später zu seinem Unterrichtsstoff geworden sein. Auch wenn diese Geschichte aus verschiedenen Gründen nicht sehr glaubhaft ist, hat das ihrer Popularität doch keinen Abbruch getan. Aus ihr hat sich im 20. Jahrhundert die These entwickelt, die Bedeutung des Konfuzius sei darin zu sehen, daß er der erste Gebildete (ju) gewesen sei, der als Erzieher von Schülern Materialien popularisierte, die zuvor nur einem kleinen Kreis von höfischen Beamten der Chou zugänglich gewesen seien.
Nach seiner Rückkehr nach Lu soll die zuvor kaum existente Schar der Anhänger des Konfuzius erstmals angewachsen sein. Einige Jahre später erhielt er eine Gelegenheit, seine Loyalität unter Beweis zu stellen. Herzog Chao von Lu (reg. 540–509) hatte versucht, gegen die Drei Huan vorzugehen, verlor die Auseinandersetzung mit ihnen jedoch und mußte außer Landes ins im Norden gelegene mächtige Ch’i fliehen. Konfuzius folgte ihm und bemühte sich, in Ch’i Anstellung zu finden. Der dort herrschende Minister indes sorgte dafür, daß der Herzog des Staates Ch’i ihn nicht «gebrauchen» konnte. Dies war die erste derartige Niederlage für Konfuzius in einer ganzen Reihe, die später noch folgen sollten. Der Historiograph Ssu-ma Ch’ien legt übrigens ganz offensichtlich großen Wert darauf darzustellen, wie frustrierend diese Erfahrungen für den Meister gewesen sein müssen – das zentrale Thema bei seinem Bericht über das Leben von Konfuzius ist dessen Erfolglosigkeit.
Konfuzius kehrte nach Lu zurück, wo er unter Herzog Ting (reg. 508–495), dem Nachfolger des Chao, langsam Karriere machte. Bis zur Position eines Justizministers soll er es gebracht und Lu in wichtigen Staatsangelegenheiten gegen Ch’i so erfolgreich geholfen haben, daß man es im Nachbarstaat mit der Angst zu tun bekam und auf ein Mittel sann, ihn zu beseitigen. Dafür soll der Staat Ch’i achtzig Tänzerinnen vor die Stadttore von Lu geschickt haben, die den Auftrag hatten, den Herzog mit ihren Reizen von den Regierungsgeschäften abzuhalten. Der als sittenstreng bekannte Konfuzius soll ihm ein Ultimatum gestellt haben: Die Tänzerinnen oder ich. Doch der Herzog, und vor allem der machthabende Huan-tzu aus der Familie Chi, entschieden sich für die Tänzerinnen, worauf Konfuzius im Alter von 55 Jahren den Staat Lu verließ.
Seine Reisen der folgenden Jahre führten Konfuzius in verschiedene der kleineren und größeren Staaten der Region. Mehrfach geriet er dabei in lebensgefährliche Situationen, ohne daß ihn dies aus der Fassung gebracht zu haben scheint. Als man ihn einmal bei einer Ortschaft namens K’uang für einen Rebellen hielt und umstellte, soll Konfuzius gesagt haben: «Ist nicht seit König Wen [der Gründer der Chou] tot ist, die Bildung hier in mir? Wenn der Himmel diese Bildung zerstören wollte, dann könnten solche, die nach mir sterben, nicht mehr dieser Bildung teilhaftig werden. Will aber der Himmel diese Bildung nicht zerstören, was sollen mir die Männer von K’uang da anhaben?» (LY9.5)