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Michael von Brück

ZEN

Geschichte und Praxis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Das Zen – eine besondere historische Entwicklung innerhalb des chinesischen Buddhismus mit großer Wirkung auf viele Länder Ost- und Südostasiens – ist auch aus dem westlichen Kulturkreis nicht mehr wegzudenken. Damit hat sich die mit dem Zen verbundene Meditationspraxis zweifelsohne als die vielleicht wirkungsmächtigste und dauerhafteste Form der Übung erwiesen, durch unmittelbare Einsicht in die Wirklichkeit das Rätsel von Leben und Tod zu lösen und das Wesen des menschlichen Lebens direkt erfahrbar werden zu lassen. Mit Michael von Brück beschreibt einer der besten Kenner die historischen Entwicklungslinien des traditionsreichen Zen, erklärt die wichtigsten Ziele und erläutert die wesentlichen Elemente der Meditationspraxis im Zen.

Über den Autor

Michael von Brück ist Professor em. für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Seine Ausbildung zum Yoga- und Zenlehrer erhielt er in Indien und Japan. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog (zusammen mit Whalen Lai, 1997), Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß (5. Auflage 2005) sowie Leben in der Kraft der Rituale (2011).

Inhalt

1. Einleitung

«Erfahrung der Wirklichkeit, wie sie ist»

Die Übung

Drei «Säulen», drei Charakteristika, drei Aspekte

Gegenseitige Durchdringung aller Erscheinungen

2. Geschichte

2.1 Geschichte des Ch’an in China

Wurzeln und Anfänge

Erste Patriarchen, Kontroverse um Nord- und Südschule und der 6. Patriarch Hui-neng

Shen-hui

Tsung-mi

Ch’an als Praxis dynamischer Nicht-Dualität

Konsolidierung des Ch’an in China: Ma-tsu, Pai-chang, Lin-chi

2.2 Geschichte des Zen in Japan

Hintergrund

Erste eigenständige Entwicklungen: Eisai und Enni Ben’en

Dōgen

Zen und die Künste

Tokugawa-Periode (1603–1868) – Reform durch Hakuin

Zen in der japanischen Moderne (seit 1868)

3. Zen-Literatur – Kōans

Ma-tsu Tao-i

Die großen Sammlungen

4. Tempel und die Praxis in den Klöstern

Organisation der Tempel

Tagesablauf im Zen-Kloster

5. Zen im Westen

 

Weiterführende Literatur

Personenregister

Hinweis:

Die buddhistische Terminologie ist, wo nicht anders vermerkt (chin. = chinesisch; jap. = japanisch) in Sanskrit ohne die wissenschaftlich üblichen diakritischen Zeichen angegeben.

1. Einleitung

Nirvāna ist hier, vor unseren Augen.
 (Zen-Meister Hakuin, 1686–1769)

Zen (chin. ch’an, Sanskrit dhyāna: Versenkung, Absorption des Bewußtseins in seinen eigenen Grund) ist einerseits eine besondere historische Entwicklung innerhalb des chinesischen Buddhismus, die auf Korea, Japan und andere Länder Südostasiens eingewirkt hat. Andererseits ist Zen jedoch eine Meditationspraxis, die nicht unbedingt an ein bestimmtes soziales und weltanschauliches System gebunden ist, sondern die menschliche Grundkonstitution des Leibes und des Atmens zum Ausgangspunkt nimmt, um das Bewußtsein zu konzentrieren und zu einer tiefen geistigen Erfahrung zu führen. Zumindest ist diese praktische Dimension vom Zen selbst betont worden, und zwar schon in der klassischen Zeit. Ich werde in meiner Darstellung daher beide Perspektiven miteinander zu verbinden haben. Durch historisches Erzählen sollen Entwicklung und Charakter des Zen verdeutlicht werden, wobei anhand der jeweiligen Situationen, Geschichten und Kunstwerke die Charakteristika des Zen als Übungspraxis sichtbar werden, die für den heutigen Menschen auch in Europa Bedeutung haben und Anleitung zu einem gestalteten Leben geben können. Zen ist nicht bloß Gegenstand der Religionsgeschichte, sondern aktuelle Übungspraxis.

Als eine Meditationsschule des chinesischen Buddhismus unterscheidet sich Zen in seinen inhaltlichen Aussagen nicht wesentlich von anderen sinisierten Formen des Mahāyāna-Buddhismus (bes. T’ien-t’ai und Hua-yen), wohl aber durch die zugespitzte Rhetorik und einen neuen Lehr- und Meditationsstil. Zen beansprucht, durch unmittelbare Einsicht in die Wirklichkeit das Rätsel von Leben und Tod im zeitfreien Augenblick einer geistigen Erfahrung direkt auflösen zu können. Diese Erfahrung wird Erwachen oder Erleuchtung (jap. kenshō, satori) genannt und verändert die Wahrnehmung der Welt und des eigenen Bewußtseins vollständig, d.h., sie transformiert das Leben grundlegend und wird als tiefstes Glück beschrieben. Ist diese Einsicht aber wirklich «unmittelbar»? Schließlich ist Zen eine Tradition, die sich historisch aus mehreren Wurzeln entwickelt hat. In Abkehr von der alleinigen Autorität der (mahāyāna-)buddhistischen Sūtras (die in anderen Schulen als das direkte Wort des Buddha galten) fand Zen seine Legitimation in einer «heiligen Geschichte» der Patriarchen und in alten Überlieferungen, die nicht nur erzählt werden, sondern die religiöse Landschaft Chinas auch neu gegliedert haben: Es entstanden neue Pilgerzentren und Wallfahrten, die eine Religionsgeographie schufen, die das alte «heilige Land des Buddha», Indien nämlich, nahezu in Vergessenheit geraten und China zum Nabel der Zen-Welt werden ließ. Mönche aus Korea und Japan strömten nach China, um «an der Quelle» Inspiration zu empfangen, die jeweils heimischen Traditionen zu reformieren und eben wiederum selbst Zen zu gestalten.

Zen ist, wie schon die indische Mahāyāna-Philosophie, gegenüber der Sprache und ihrer Fähigkeit, Wirklichkeit zu erfassen, skeptisch. Aber das Schweigen des Zen ist weder sprachlos noch sprachelos. Die Literatur der Zen-Geschichte seit der Sung-Zeit in China beschreibt nicht das, was in der Vergangenheit war, sondern das, was in der Gegenwart sein soll, sie ist nicht deskriptiv, sondern performativ. Das «Unmittelbare» erscheint also in kulturell inszenierter Vermittlung, und gerade so prägte es sich von China aus in die verschiedenen Kulturen ein, in denen Zen heimisch wurde: Korea, Japan, Vietnam, in neuester Zeit auch Amerika, Europa, Australien.

«Erfahrung der Wirklichkeit, wie sie ist»

Im Zen geht es darum, durch Einsicht in die «wahre Natur» der Wirklichkeit bzw. den Grund des Bewußtseins (hsin, jap. shin) das Wesen des menschlichen Lebens direkt zu erfahren. Zen lehrt, wie der Mensch sinnlich und sinnvoll in der Welt leben kann, nicht wie er sich spekulativ oder asketisch über das Irdische erheben könnte. Selbstdisziplin und achtsamer Umgang mit Lebewesen und Dingen sind Voraussetzung für die Zen-Praxis, da die spezielle Praxis der Meditation nur ein Aspekt der Lebens-Übung ist, d.h., jede Aktivität des Menschen wird zur konkreten und kreativen Einübung von Achtsamkeit. Die Praxis des Zen vollzieht sich in mehreren Schritten: Durch fokussierte Konzentration auf die unbedingt korrekte Sitzhaltung und den willentlich nicht gesteuerten Atem werden psychosomatische Energien gebündelt. Danach wird eine nichtfokussierte Achtsamkeit des Bewußtseins angestrebt, die nicht an irgendein Objekt mit räumlich oder zeitlich bestimmten Merkmalen gebunden ist, sondern eine über den Raum ausgebreitete Wachheit und eine Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit aller Erscheinungen darstellt. Ziel der Meditation schließlich ist Weisheit; Weisheit bedeutet, jenseits von begrifflichen und emotional gefärbten Projektionen eine Bewußtheit und Einsicht in die «Wirklichkeit, wie sie ist» zu erreichen. In einem meist als plötzlich erlebten Durchbruch (jap. kenshō, satori) werden alle Widersprüche und Dualitäten aufgelöst, die das rationale Bewußtsein kennzeichnen, und alle Phänomene der Welt erscheinen in ihrer Einheit, ohne daß dabei die Vielheit und Besonderheit der einzelnen Erscheinungen verschwinden würden. Diese Erfahrung zeichnet sich aus durch überdeutliche Klarheit der Wahrnehmung und wird als befreiend und tiefstes Glück erlebt. Zen glaubt, daß sich in dieser Erfahrung dem Bewußtsein das Wesen der Wirklichkeit jenseits der Zeit, jenseits von Leben und Sterben, und doch mitten in diesem gegenwärtigen Augenblick eröffnet. So wird die Erfahrung selbst als Tod des Ichgefühls bzw. der alten, am Ich anhaftenden Identität des Menschen und als Wiedergeburt in eine andere Bewußtseinsweise erlebt. Zen deutet tatsächlich die indische Reinkarnationslehre häufig um in die Vorstellung von der Wiedergeburt im Augenblick des Erwachens zur tiefen Schau des eigenen Wesens. Das ganze Leben wird durchdrungen von dieser Erfahrung, wobei die Einwurzelung dieser grundlegend neuen Sicht aller Erscheinungen im alltäglichen Leben ein Hauptanliegen der Zen-Schulung ist.

Der frühe Buddhismus hatte zahlreiche Schulen hervorgebracht, denen gemeinsam ist, daß sie großen Wert auf konzeptuelle Unterscheidungen und Klassifikationen von Bewußtseinselementen und Übungsfaktoren legen wie z.B. diejenigen von ruhiger geistiger Konzentration (shamatha) und verstehender Einsicht (vipashyanā) oder vom Ruhen des Geistes in sich selbst (samādhi) und Weisheit (prajñā). In Indien entwickelten sich daraus komplexe Systeme geistiger Faktoren und Stufen, die zu erkennen und nacheinander zu üben waren. Der Unterschied des Zen zu diesen Formen des Buddhismus besteht nun darin, daß solche Unterscheidungen als überflüssig erachtet und aufgegeben werden. «Denn warum sollte man Kleidungsstücke, die am Ende ohnehin abgelegt werden müßten, überhaupt erst anziehen?» argumentiert der koreanische Zen-Mönch Muyom (799–888), der in China bei Ma-ku Pao-ch’e (geb. um 720) aus der Hung-chou-Linie das Zen erlernt hatte. Statt dessen bedient sich Zen der chinesischen Ausdrücke des Nicht-Denkens (wu-nien) und Nicht-Bewußtseins (wu-hsin), die aus der taoistischen Philosophie stammen. Dazu heißt es im klassischen Text des Zen, dem Hochsitz-Sūtra des 6. Patriarchen (Liu-tsu t’an ching), Abschnitt Nr. 17: «Nicht-Denken heißt nicht denken, selbst wenn man in Gedanken ist.» Es kommt also nicht auf eine stumpfe Gedankenleere an, sondern darauf, daß der Übende die Gedanken vorüberziehen läßt, nicht bei ihnen verweilt und sie nicht für Abbilder der Wirklichkeit hält. Zen lehrt, daß Begriffsbilder und Konzepte entstehen, wenn Sinneseindrücke zusammengefaßt und vom Bewußtsein in wiedererkennbaren Mustern verarbeitet werden. Sie repräsentieren Teilbereiche des Wahrgenommenen in einer Gestaltgebung (Begriffe), die vom Bewußtsein selbst hervorgebracht wird. Das Problem wird nun nicht nur im Zen, sondern in fast allen Schulen des Buddhismus darin gesehen, daß der Mensch diese Begriffsbildungen (Sanskrit prapañca, chin. hsi-lun) für das Wirkliche hält und damit die Dinge verfälscht wahrnimmt, nämlich getrennt, also in Dualitäten aufgespalten durch Urteile, die zu Einseitigkeiten und Verstrickungen führen. Begriffe sind zwar hilfreich, um die Vielfalt der Sinneseindrücke zu filtern und zu ordnen, doch sie repräsentieren nicht das, «was ist». Sie erzeugen vielmehr Stereotype und Projektionen, vor allem aber verhindern sie die Offenheit für das Gegenwärtige und spontan Neue in jedem Augenblick, da die Wirklichkeit in Rastern des Gewohnten, Vergangenen und stereotyp Geordneten erscheint. Die Zen-Übung nun soll bewirken, daß das Bewußtsein frei werden kann, indem das Aufnehmen und Verarbeiten ständig neuer Sinneseindrücke unterbunden wird. Statt dessen konzentriert sich das Bewußtsein auf sich selbst, d.h. auf einen in ihm selbst wirkenden Strom von achtsamem Gewahrsein. Andernfalls würden neue Sinneseindrücke zu immer neuen Begriffsbildungen führen, und die Begriffe und Gedanken würden dann wiederum «verdinglicht», sie würden, wie ein Zen-Spruch aus dem Lankāvatāra-Sūtra sagt, für den Mond selbst gehalten, obwohl sie nur der Finger seien, der auf den Mond zeigt. Die Zen-Übung besteht darin, den Mond selbst bzw. den Augenblick projektionsfrei und direkt wahrzunehmen, ungetrübt von den selbst erzeugten Begriffsnetzen. Im Zen gilt: Auch alle Begriffe und Vorstellungen des Zen müssen letztlich fallengelassen werden. So heißt es im Hochsitz-Sūtra weiter:

Die Gedankenkette reißt nicht ab – vergangene, augenblickliche, zukünftige Gedanken folgen einander unablässig. Wenn (diese Kette) in einem Gedankenaugenblick durchtrennt wird, trennt sich der Dharma-Körper vom physischen Körper, und inmitten des Gedankenstroms gibt es kein Anhaften mehr an irgendeinem Gedanken. Wenn ein Gedankenaugenblick festgehalten wird, setzen sich daran weitere Gedanken fest. Das ist das Gebundensein. Wenn bei allem die einander folgenden Gedanken nicht anhaften, bist du befreit. Deshalb ist das Nicht-Anhaften die Grundlage.

Das heißt: Die beiden Körper (Sanskrit dharmakāya und nirmānakāya) bezeichnen den befreiten Geist des Buddha (Dharma-Körper) und den materiellen, zeitlich und räumlich begrenzten Körper der Erscheinungswelt. An einzelnen Gedanken anzuhaften und das Bewußtsein mit diesen Gedanken zu identifizieren, wäre der gleiche Fehler, wie den begrenzten Formkörper mit dem unbegrenzten Dharma-Körper zu identifizieren.

Das Ziel des Zen besteht also im Nicht-Anhaften an Gedanken, Gefühlen, Handlungen. Nicht-Anhaften auch am Zen! Diese Haltung teilt das Zen mit allen anderen Formen des Buddhismus. Die berühmte Formulierung des japanischen Zen-Meisters Hakuin (1686–1769) «Denke das Nicht-Denken» taucht schon im Páli-Kanon (Anguttara Nikáya 324f.) des frühen Buddhismus auf: «Gestützt auf dies alles (die vier Elemente, Geistesfaktoren usw.), denkt er nicht und denkt dabei doch.» Gemeint ist eine klare Bewußtheit und Aufmerksamkeit, die in sich selbst stabilisiert ist, ohne daß die Aufmerksamkeit einen Gegenstand des Denkens dabei festhielte und sich durch dieses Festhalten stabilisieren würde. «Nicht-Denken» ist nicht die Abwesenheit von Gedanken – denn das wäre nur der Gegensatz zu Gedanken und bliebe auf der Ebene der Dualität –, sondern ein Zustand frei von der Dualität von ja und nein, der freie Fluß des Bewußtseinsstromes ohne Bewertungen, die das eine ergreifen, das andere aber verneinen würden. Der in der Zen-Geschichte überaus einflußreiche Text Hsin-hsin-ming (jap. Shinjinmei), der dem 3. Patriarchen Seng-ts’an zugeschrieben wird, setzt darum ein mit dem Wort:

Das höchste Tao ist gar nicht schwer,

doch ohne jedes Auswählen.

Nicht-Denken ist im Zen also alles andere als Bewußtlosigkeit, sondern die Wiederherstellung der natürlichen Klarheit des Bewußtseins, und das nennt Zen die Buddha-Natur. Für Zen ist das Bewußtsein wie ein Meer von Wasser bzw. ein Strom von Energie, der sich selbst entfaltet und in den «Wellenbergen» (den Gedanken) gestaltet, um sofort weiterzufließen. Hält sich das Bewußtsein an den «Wellenbergen» fest, kann es seiner selbst nicht gewahr werden und den Zusammenhang nicht sehen. Das Bild von der Welle und dem Bewußtseinsgrund als dem Wasser des Ozeans geht auf das Lankāvatāra-Sūtra und den chinesischen Text «Erwachen zum Glauben im Mahāyāna» zurück. Danach ist reines Bewußtsein die Stille zwischen zwei Wellenbergen, die aufgetaucht und abgeebbt sind; oder in einem anderen Bild – die Pause nach einem Begehren, das völlig gestillt ist, bevor ein neues Begehren sich erhebt. Oder das Bild des berühmten Zen-Meisters Ma-tsu Tao–i (709–788): Er vergleicht die vielfältigen Erscheinungen der Welt mit Wolken am Himmel – sie erscheinen plötzlich und lösen sich auf ohne jede Spur, d.h., die Vielfalt der Dinge und der Einheitsgrund, auf dem sie erscheinen, sind nicht zwei Wirklichkeiten, sondern eins. Beliebt ist auch der Vergleich mit dem Spiegel, der auf indische Überlieferungen zurückgeht und von zahlreichen Zen-Meistern wie Hui-neng, Shen-hsiu, Shen-hui u.a. in jeweils leicht abgewandelter Bedeutung gebraucht wurde. Ma-tsu erklärt dazu: Das klare und erwachte Bewußtsein könne einem Spiegel verglichen werden. Der Spiegel symbolisiere das Bewußtsein, die Spiegelbilder könnten den einzelnen Erscheinungen der Welt verglichen werden – beide nicht getrennt, aber auch nicht identisch. Wer an den Bildern festhalte, irre, denn dieselben entstehen und vergehen. Wer hingegen an keinem Bild festhalte, sondern die Ruhe des Spiegels in und durch die Bilder wahrnehme, habe das Wirkliche erfaßt, das weder entsteht noch vergeht, sondern ist. Das Erwachen bzw. die Erleuchtung des Bewußtseins sei wie der Sonnenaufgang: Er vertreibt die Finsternis, ohne daß dabei «ein Etwas» vertrieben würde. Oder nochmals anders ausgedrückt: Die Zen-Übung will verhindern, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, und zwar nicht dadurch, daß die Bäume ignoriert würden, sondern daß der Wald in der Vielzahl der Bäume wahrgenommen wird.

Die Übung

Die Übung selbst besteht im stundenlangen regungslosen Sitzen mit aufrechter Wirbelsäule, bei dem der Atem völlig beruhigt wird. Gleichzeitig beobachtet das Bewußtsein das Auf und Ab von Gedanken und Gefühlen, ohne dieselben zu bewerten. Allmählich kommen alle Bewußtseinsvorgänge zur Ruhe, und nur die geschärfte Aufmerksamkeit hält an. Dieser Zustand ist keine Trance, sondern hellwache Bewußtheit, in der alle (von innen oder außen kommenden) Eindrücke mit äußerster Klarheit wahrgenommen werden, wodurch jedoch die Bewußtseinsruhe weder gestört noch unterbrochen wird.

Die Übung ist ein Ausbalancieren von aktiver Konzentration und passivem Loslassen aller Gedanken und Empfindungen. Die Konzentration im Zen besteht mithin nicht bloß darin, das Bewußtsein über längere Zeit auf einem Objekt beruhigt verweilen lassen zu können, es geht vielmehr um eine sich einende Bewußtheit, die alle nur möglichen Objekte, die auftauchen können, in sich vereinigt. Ziel ist ein von allem Anhaften befreites Bewußtsein, ganz gleich, ob es an mehreren Objekten nacheinander anhaften oder bei der Anhaftung an einem Objekt verweilen würde. Das bedeutet auch, daß das Bewußtsein weder am Sitzen in Meditation noch am Nicht-Sitzen in Meditation, weder an Übung noch an Nicht-Übung anhaften darf. Zen ist die Überwindung dieses Gegensatzes, auch des Gegensatzes von Anstrengung und Passivität – eine aktive Passivität und passive Aktivität zugleich. Das Bewußtsein kann eine Balance zwischen beiden finden, was folgende Metapher verdeutlichen kann: Das Zen-Bewußtsein ist wie eine dünne Membran zwischen den beiden Einstellungen des Aktiven und des Passiven, ein gelöstes Halten der Zügel, die weder angespannt sind noch schleifen. Anfangs tendiert das Bewußtsein dazu, in das eine oder andere Extrem zu verfallen. Die Zen-Praxis besteht nun darin, die stetige Aufmerksamkeit genau auf dem Punkt jener dünnen Membran halten zu können, wo jeder Eindruck in das Bewußtsein fallen kann, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Natürlich ist diese Praxis auch eine «Aktivität», aber eine Aktivität des beständigen Sich-Lösens und Frei-Werdens von Aktivität und Nicht-Aktivität.

Von Anfang an wußte man im Zen sehr wohl, daß es kompetenter Anleitung durch erfahrene Meister und Meisterinnen bedarf, damit die Schüler nicht in die Irre gehen. Die einzige Vorbedingung seitens der Schüler ist der kompromißlose Wunsch, zur Befreiungserfahrung zu gelangen, sowie die Hingabe an die geistige Führung durch den Meister. Intellektuelle Fähigkeiten spielen hingegen eine völlig untergeordnete Rolle. Oft erst nach langer Übung stellt sich eine Bewußtseinsklarheit ein, die überbegrifflich ist: völlig transparent, all-eins, zeitlos und doch ganz und gar gegenwärtig, Strom der universalen Liebe, absolute Glückseligkeit, Friede. Diese Metaphern versuchen die Richtung anzudeuten, in der das Zen die Befreiung sucht.

Drei «Säulen», drei Charakteristika, drei Aspekte

Die Gesamtheit der Zen-Praxis wird oft unter drei Gesichtspunkten beschrieben, den «drei Säulen» des Zen, die einander bedingen: Einsicht, Kultivierung, Handeln. Einsicht ist die Entdeckung der eigenen Buddha-Natur, vergleichbar der Entdeckung einer Goldmine. Kultivierung ist die Praxis nach diesem transformativen Erleuchtungserlebnis, wobei die Wahrnehmung der Nicht-Dualität in allen Aspekten des alltäglichen Lebens geübt wird, vergleichbar dem Abbau des Goldes. Handeln ist die Lebenspraxis im Alltag, die sich durch spontane Güte und liebevolle Hinwendung zu allen Lebewesen auszeichnet, vergleichbar dem Verkauf des Goldes.

Bei aller Verschiedenheit der Schulen des Zen in einer durchaus wechselvollen Geschichte, vor allem während des Anfangs bis hin zur Sung-Epoche in China, haben sich doch drei Charakteristika für die Übung herausgebildet, die sogenannten «Drei Wesentlichen» (san-yao), die das gesamte spätere Zen beeinflußten, besonders bei Hakuin im 18. Jh. in Japan eine Rolle spielten und bis heute maßgebend sind. Während für Lin-chi (gest. 866) der

Glaube (hsin) im Vordergrund gestanden hatte, weil das Vertrauen in die Wirklichkeit der eigenen Buddha-Natur, der Glaube also, daß jeder Mensch wirklich Buddha ist, die unablässige Ausrichtung auf die Übung überhaupt erst ermöglicht (ein Vertrauen, das auch dem Lehrer entgegengebracht werden muß), betonte Ta-hui (1089–1163), der die Kōan-Praxis, wie sie von Ma-tsu entwickelt worden war, zum Zentrum der Übung erklärt hat, den

Großen Zweifel (ta-i), den Zweifel nämlich an den ganz selbstverständlichen Wahrnehmungen und Konzeptualisierungen, die zu durchbrechen seien. Dies geschehe durch

unablässigen Eifer (ta-fen-chih), der sich vor allem im Hineinbohren in das kōan ausdrückt. Dabei, so heißt es, werde der Zweifel so angetrieben wie bei einem Übeltäter, der die Tat in sich trägt und zweifelt, ob er entdeckt wird oder nicht, d.h., er wird ganz von dem Problem absorbiert und mit dem Kōan eins.

Kao-feng Yüan-miao (1238–1295) hat diese drei Charakteristika in seiner einflußreichen Schrift Ch’an-yao (Die wesentlichen [Aspekte] des Ch’an) zusammengefaßt und als einander gleichrangige Voraussetzungen für die Zen-Praxis erläutert.

Die Kōans sind Experimente mit radikaler, religiös-transformativer Rhetorik, die einerseits jede Begrifflichkeit und Logik ad absurdum führt, andererseits der Diesseitigkeit und Anwendung des Geistigen im alltäglichen Leben, wie es für die chinesische Religionskultur überhaupt charakteristisch ist, Rechnung trägt.

Ein Meister wurde gefragt, was Zen sei. Er antwortete: «Wenn ich esse, esse ich; wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich gehe, gehe ich.» Darauf entgegneten verwundert die Fragenden: «Das tun wir doch täglich auch!» Darauf der Meister: «Nein, wenn ihr eßt, steht ihr schon auf; wenn ihr sitzt, geht ihr schon …»

Die Zen-Praxis kann nun auch unter den folgenden drei Aspekten zusammengefaßt werden (Begriffe jap.):

• Der erste Aspekt der Zen-Übung ist die Arbeit am Kōan oder auch das reine Sitzen (shikantaza), bei dem sich das hochkonzentriert versunkene Bewußtsein nicht auf irgendeinen Inhalt, sondern auf sich selbst richtet.

• Der zweite Aspekt ist das persönliche Gespräch (dokusan) mit dem Lehrer, das in der strengen Übungszeit (sesshin, wörtl.: Sammlung im Tiefenbewußtsein) täglich, gelegentlich sogar zwei- bis dreimal täglich, stattfindet. Hier erspürt der Lehrer den geistigen Zustand des Schülers, prüft ihn und ermuntert zu weiteren individuell angepaßten Schritten in der Übung.

• Der dritte Aspekt der Praxis ist der tägliche Vortrag des Lehrers (teishō), bei dem in kraftvoller, oft humorvoll-witziger und dramatisch anfeuernder Weise die Beispielgeschichten aus den Biographien der klassischen Zeit oder den Kōan-Sammlungen so erläutert werden, daß die Praxis der Schüler unmittelbar davon profitieren kann. Theoretische Lehrfragen haben hier keinen Platz.

Zen ist das Gegenwärtigsein im Augenblick. Deshalb ist ein weiterer wichtiger Teil der Übung die körperliche Arbeit (samu). Die Tätigkeit in Haus und Garten bei ganz alltäglichen Verrichtungen dient der Einübung in konzentrierte Präsenz.

Für Zen ist der Mensch nicht das einzige Maß aller Dinge; jedes Ding hat vielmehr sein eigenes Maß und wird gemessen an seiner inneren Verbindung mit allen anderen Dingen: «Das ganze All mit mir zusammen bildet einen einzigen Leib.» Und dies wird körperlich fühlbar am «Blütenbusch im Garten», von dem ein berühmtes Kōan erzählt. Für ein normales, nicht erwachtes Bewußtsein ist dieser Blütenbusch ein Objekt, für ein «erwachtes Bewußtsein» ist der Blütenbusch ein Aspekt an dem einen großen Geschehen, von dem «Ich» ein anderer Aspekt bin. Subjekt und Objekt sind in dieser Erfahrung zu einer Leiblichkeit verschmolzen.

Gegenseitige Durchdringung aller Erscheinungen

Der Buddhismus gründet in der Erfahrung der Vergänglichkeit (anitya) aller Erscheinungen. Vergänglichkeit heißt, daß alle Daseinsmomente in beständigem Fluß sind, sie entstehen und vergehen sogleich wieder. Die Kraft, die jene Bildungen hervorbringt und strukturiert, ist das karman. Karman ist das Gesetz der Kausalität, das auch reziprok wirkt: Die Ursache einer Erscheinung wird durch die Wirkung, die sie hervorbringt, verändert. Alle Erscheinungen sind demnach gegenseitig abhängig verursacht (pratītyasamutpāda) und durchdringen einander. In diesem Sinne ist die Kausalität dynamisch oder reziprok. Wirklichkeit ist Wechselwirkung. Jedes Individuum oder jeder Aspekt dieser Wechselwirkung birgt jeden anderen in unterschiedlichen Aktualitätsgraden in sich. So formt sich jede Erscheinung, und wiederholte Formungen bilden das aus, was wir «Charakter», also relativ konstante Verhaltensmuster, nennen. Körper und Bewußtsein sind im Zen ein Kontinuum. Die schon im indischen Buddhismus formulierte Erklärung dafür lautet: Bewußtsein ist ein Impuls, der Motivationen freisetzt und sich in Handlungen äußert, die durch karman Strukturen schaffen, die wir als Körper wahrnehmen.

Somit ist die Gestalt des Körpers eine Projektion des Bewußtseins auf der äußersten, grobstofflichen Ebene der Wirklichkeit. Der Mensch, der sich mit seinem gegenwärtigen Körper identifiziert und diesen als sein «Ich» bzw. seine Identität wahrnimmt, identifiziert sich also mit den geronnenen und vergangenen Formen seines Bewußtseins bzw. seiner Lebenskraft. Das ist die fundamentale Unwissenheit, die bindet und unfrei macht, weil sie an Fixiertem anhaftet. In Wirklichkeit ist der «wahre Körper» aber mehr – die Einheit der universalen Energie.

Nirvāna