Über den Autor

Otfried Höffe ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Er leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie und ist Mitherausgeber der «Zeitschrift für philosophische Forschung». Er ist Herausgeber der Reihe «Denker».

Zum Buch

Otfried Höffe unternimmt es, Kants Kritik der reinen Vernunft neu zu lesen, sie historisch und systematisch auszudeuten und sie auf gegenwärtige philosophische Fragestellungen hin zu beziehen. Nach einer Erläuterung, warum Kants wichtigstes Buch überhaupt als die Grundlegung der modernen Philosophie zu betrachten ist, und nach einem Überblick über die häufigsten Verkürzungen und Mißverständnisse, denen Kant ausgesetzt ist, führt Höffe nacheinander durch das Programm der Kritik der reinen Vernunft, deren «Ästhetik», «Analytik», «Dialektik» und «Methodenlehre», und zieht zum Schluß eine Gesamtbilanz.

1. Vier Gründe

Die Gründe für ein Sachgespräch mit Kant bündeln sich in drei Strängen, die diese Studie zusammenzuflechten sucht: Die Kritik bietet zu derzeit vorherrschenden Strömungen eine Alternative (Abschn. 1.2), die sich zwei Besonderheiten unserer Epoche stellt, der nicht bloß politischen, sondern auch epistemischen Globalisierung (Abschn. 1.3) und dem Zeitalter der (Natur-)Wissenschaften (Abschn. 1.4). Vorab erinnern wir an die historische Bedeutung (Abschn. 1.1). Insgesamt geht es nicht um eine Hagiographie Kants, wohl aber um den Einspruch gegen jene Hagiographie der Gegenwart, die die Kenntnis der letzten ein, zwei Generationen, zudem nur einer bestimmten Tradition, für die beste Grundlage systematischen Philosophierens hält. In Wahrheit verhält es sich bei der Kritik wie mit der Weltliteratur, zu der sie übrigens selber zählt: Man begegnet nicht einem vergangenen, sondern bis heute aktuellen Denken.

1.1 Die historische Bedeutung

Für den Studenten der Philosophie versteht sich die Lektüre von selbst. Das Denken der Neuzeit, dieser an herausragenden Werken überreichen Epoche, wird nämlich durch kein Werk so nachhaltig verändert wie durch die Kritik der reinen Vernunft. Trotz der Schriften zunächst von Bacon, Descartes und Hobbes, später von Pascal, Leibniz, Locke, Hume und Rousseau, wieder später von Hegel, Marx und Nietzsche, gefolgt von Frege, Husserl, Russell, Heidegger und Wittgenstein wüßte wohl niemand einen größeren Einschnitt für die neuzeitliche Philosophie zu nennen als Kants erste Kritik:

Nicht nur der Deutsche Idealismus und später der Neukantianismus orientieren sich an diesem Werk, sondern auch der Idealismuskritiker Arthur Schopenhauer und der Kritiker des Neukantianismus Martin Heidegger. Ähnliches gilt für die Logik und Mathematiktheorie Freges, die sich immerhin die gesamte analytische Philosophie erobert hat, ähnliches für Mauthners Sprachkritik, die niemand Geringeren als Ludwig Wittgenstein beeinflußt, für den Wiener Kreis und für Karl Popper. Für Theodor W. Adorno (zum Beispiel 1959) spielt Kants Vernunftkritik kaum eine geringere Rolle als Hegels Dialektik. Schon vorher rühmt der Begründer des amerikanischen Pragmatismus, Charles S. Peirce, die Kritik als «meine Muttermilch in der Philosophie» (1909, 143). Und nach Putnam (1993, 221) «erreichen beinahe alle Probleme der Philosophie erst mit Kants Werk die Form, in der sie wirklich interessant werden». In der Tat: Ob man an die Selbstkritik der Vernunft, an die Wende zum Subjekt oder an die zahllosen Lehrstücke vom synthetischen Apriori über die Raum- und Zeittheorie, das transzendentale «Ich denke» und die Mathematik als Sprache der Naturwissenschaft bis zur Kritik aller Gottesbeweise, selbst die Grundzüge einer autonomen Moral denkt: Wer die Kritik studiert, macht sich mit den Wurzeln der seitherigen Philosophie vertraut.

Das historische Gewicht reicht weiter. Geistesgeschichtlich gesehen gehört Kant in eine Epoche, die Aufklärung, der es angeblich an Selbstkritik fehlt. Weil spätestens mit der Kritik die Aufklärung reflexiv und selbstkritisch wird, mag man zwar alle inhaltlichen Aussagen der Epoche kritisieren und findet doch zu ihrer Grundeinstellung keine ernsthafte Alternative: weder zum Entschluß, selber zu denken, noch zur Loslösung von Eigeninteressen und der Freisetzung einer allgemeinen Menschenvernunft. Das neuerdings beliebte Wort, der Philosophie sei der Standpunkt Gottes verwehrt, könnte vielleicht den Deutschen Idealismus zur Bescheidenheit mahnen. Gegenüber Kant ist es überflüssig, denn er nötigt die Philosophie schon lange vor der Kritik zur Bescheidenheit. Mittels einer methodischen Reflexion tritt er überzogenen Wissensansprüchen der Philosophie, freilich auch der Wissenschaften entgegen, was sich auf eine radikale Ideologiekritik beläuft, die den «Schein der Wissenschaft» (Nachricht II 311) und das «Blendwerk des Wissens» bloßlegt (Briefe Nr. 34/21).

Frühe Kant-Anhänger und -Kritiker wie Reinhold und Fichte, später auch Hegel degradieren die Kritik zu einer Propädeutik, zu der sie selbst das philosophische System errichten. Obwohl Kant selber die Kritik zur ‹Propädeutik (Vorübung)› erklärt (B 869, vgl. B 25 und B 878), hält er es in der Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (XII 370f.) für eine «Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine Propädeutik zur Transzendental-Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern wollen». Im Unterschied zu einer wirklichen Propädeutik, der Logik, die «nur den Vorhof der Wissenschaften» ausmacht (B ix), gehört die Kritik nämlich zur reinen Philosophie und handelt ihr Thema, die «wahre sowohl als scheinbare» Erkenntnis, nicht etwa bloß fragmentarisch ab. Sie entwirft vielmehr schon «den ganzen Plan», zudem «aus Prinzipien», sogar «mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen» (B 27). Nur an nachgeordneter Stelle fehlt es ihr an Vollständigkeit, etwa bei den reinen Verstandesbegriffen, wo sie zwar alle Stammbegriffe, die Kategorien, aufführt, aber nicht zusätzlich die abgeleiteten Verstandesbegriffe, die sogenannten Prädikabilien (B 107f.). So enthält das Werk, obwohl es erst «Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik» bietet, Kants weit ausgearbeitete Fundamentalphilosophie.

Bis vor kurzem bezeichnete sich unsere Epoche als «Moderne». Sie verstand darunter den Aufschwung von Naturwissenschaft, Technik und Medizin sowie die damit verbundene Entzauberung der Natur, ferner die Emanzipation des Subjekts aus den Fesseln der Geschichte und Tradition, allerdings auch Phänomene der Entfremdung und Verdinglichung, weiterhin die grundlegenden Veränderungen in Literatur, Malerei und Musik, nicht zuletzt die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates. Neuerdings beginnt dieses Selbstverständnis sich aufzulösen. Eine Postmoderne im Bereich des Wissens zweifelt an einer allgemeinen, kulturübergreifend gültigen Erkenntnis, woraus sich ein zusätzlicher Grund für das Gespräch mit der Kritik ergibt: Die angeblich zur Disposition stehende epistemische Moderne wird nicht in zweitrangiger Gestalt, sondern auf ihrem selbstkritischen Höhepunkt diskutiert. Damit setze ich meine Erörterung des «Projektes der Moderne» fort. Nach Recht, Staat und Politik (Höffe 1990, auch 22002 und 2009) und einer Ethik des Komplexes Wissenschaft-Technik-Umwelt (Höffe 42000) wende ich mich nun der Theorie von Philosophie und Wissenschaft zu.

1.2 Eine alternative Fundamentalphilosophie

Spräche für die Kritik nur ihr überragendes historisches Gewicht, so könnte man sie zu einem bloßen Denkmal der Zeit herabstufen. Immerhin gilt ihr Leitbegriff, das synthetische Apriori, heute vielerorts als fragwürdig, und ihr konstruktiver Höhepunkt, der Gedanke transzendentaler Naturgesetze, wird kaum noch beachtet. Statt dessen beklagen die einen das Fehlen der sprachphilosophischen Wende, werfen andere der Kritik einen erkenntnistheoretischen Solipsismus vor und räumen ihr wieder andere in der zunehmend dominierenden Philosophie des Geistes bestenfalls eine marginale Bedeutung ein.

Schon Herder kritisiert im Gefolge von Johann Georg Hamann Kants Programm und sucht es sprachphilosophisch zu überbieten. Mit zwei Behauptungen, der ‹genealogischen Priorität der Sprache› und der Sprache als ‹Mittelpunkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst›, greift Hamann (Metakritik, 286) beiden Seiten der sprachphilosophischen Wende, allerdings ohne deren Finesse, vor: sowohl dem fundamentalphilosophischen Anspruch als auch dem sprachtherapeutischen Interesse. Herder erklärt ebenfalls die ‹Philosophie der menschlichen Sprache› zur ‹letzten und höchsten Philosophie› und schreibt einen großen Teil der Widersprüche und Ungereimtheiten der Vernunft ihrem «schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache» zu (Werke VIII, 19f.).

Gut ein Jahrhundert später heißt es in Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie (1910–11, xi): Die «Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik, Sprachkritik ist aber die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen … niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können.» Diese Skepsis steigt in Wittgensteins Fortbildung als Philosophie der Sprachspiele, aber ohne Mauthners Abbildtheorie zu einer der seither herrschenden Philosophien auf. Aus diesem Grund, aber auch wegen der unterschiedlichen sprachphilosophischen Impulse von G. E. Moore, Frege, Russell und Whitehead, nicht zuletzt Heideggers späterem Denken (z.B. 1959) wird es zu einem Dogma, alle Philosophie vor der sprachphilosophischen Wende sei wie die europäische Gesellschaft vor der Französischen Revolution: sachlich zutiefst überholt.

Unser Sachgespräch mit der Kritik prüft, ob sie wegen der Unentbehrlichkeit der Sprache und der Intersubjektivität der Erkenntnis entwertet ist oder ob sie, da es ihr auf anderes ankommt, weniger «vor» als «neben» der Sprachphilosophie steht. Jedenfalls loten wir am Beispiel der Kritik die Möglichkeit einer Fundamentalphilosophie aus, die weder von der sprachphilosophischen Wende noch von einer Diskurstheorie bestimmt ist. Im übrigen wendet sich die analytische Philosophie selbst von der Sprache als Leitbegriff ab und konzentriert sich auf eine Philosophie des Geistes, ergänzt um eine Erkenntnistheorie und Ontologie.

Sogar Kants eigene Entwicklung läßt eine Alternative zur Sprachanalyse erwarten. Denn wie die eine, idealsprachliche Richtung nimmt sich Kant zunächst die Mathematik zum methodischen Vorbild und liefert in der Monadologia (1756) eine «Probe für den Gebrauch der Metaphysik, sofern sie mit der Geometrie verbunden ist». Schon die Abhandlung über die negativen Größen (1763) lehnt aber jede Nachahmung der mathematischen Methode ab, da der erwartete Nutzen ausgeblieben sei (II 167). Statt dessen folgt Kant der anderen, sprachkritischen Richtung und erklärt, daß die «Metaphysik durchaus analytisch verfahren müsse, denn ihr Geschäfte ist in der Tat, verworrene Erkenntnisse aufzulösen» (Grundsätze II 289). Obwohl er also in seiner vorkritischen Zeit von ähnlichen Motiven wie die analytische Philosophie bestimmt ist, sieht er sich später, in der Kritik, zu einem alternativen Programm gezwungen. (Für eine knappe Skizze der vorkritischen Schriften vgl. Gerhardt 2002, Kap. 1.)

1.3 Epistemischer Kosmopolitismus

Kants Alternative verspricht um so mehr Erfolg, als sie reich und differenziert ausfällt; keine Grundlegungsschrift der modernen Philosophie verfügt über eine vergleichbare Komplexität. Sachlich gesehen ist die Kritik zunächst eine ‹Metaphysik von der Metaphysik› (Briefe Nr. 166/97), eine Metaphysik zweiter Stufe, die über die Möglichkeiten der gewöhnlichen Metaphysik bzw. Fundamentalphilosophie nachdenkt. Dabei kommt die Selbstkritik zum Tragen: Kant überprüft den überlieferten Anspruch der Philosophie, eine Fundamental- und zugleich Universalwissenschaft zu sein, und schränkt ihn im Verlauf der Prüfung empfindlich ein.

Die Prüfung erfolgt auf dem Weg jener damals bekannten Fundamentalphilosophie erster Stufe, der Ontologie oder allgemeinen Metaphysik, die aber zwei grundlegende Veränderungen erfährt: Zum einen trägt Kant nur im Rahmen einer kritischen Erkenntnistheorie zur Ontologie bzw. Gegenstandstheorie bei; eine von Erkenntniskritik unabhängige Theorie von Gegenständen überhaupt lehnt er nachdrücklich ab. Zum anderen gliedert er die Erkenntnistheorie in zwei Teile. Der erste, im Ansatz traditionelle Teil besteht in «metaphysischen» Theoremen zu Raum und Zeit sowie den reinen Verstandesbegriffen (Philosophie 1), die der zweite, schon im Ansatz innovative, «transzendentale» Teil als Bedingung der Möglichkeit anerkannter Wissenschaften ausweist (Philosophie 2). Auf diese Weise geht die Philosophie 1 in eine nichtempirische, genuin philosophische Wissenschaftstheorie der Mathematik und vor allem der (mathematischen) Physik über und gelangt dabei zu den neuartigen, transzendentalen Naturgesetzen. Weiterhin widmet sich Kant den drei Disziplinen der sogenannten «besonderen Metaphysik». Als Philosophie 3 untersucht er drei Ideen des Unbedingten: in der rationalen Psychologie die Seele im Blick auf die Unsterblichkeit, in der transzendentalen Kosmologie die Welt und die Freiheit und in der natürlichen Theologie Gott. Schließlich erörtert die Philosophie 4 die Möglichkeiten und Grenzen aller Philosophie.

Einwenden könnte man, durch die ‹alles zermalmende› Kritik (Mendelssohn 1785, «Vorbericht») werde die Metaphysik nicht grundlegend verändert, sondern recht eigentlich abgeschafft. Dagegen sprechen vier Argumente. Erstens bleibt die wörtliche Bedeutung der Meta-Physik, die Transzendenz (Meta-) der Erfahrung bzw. Natur (-physik), erhalten. Zweitens spricht Kant in der «Dialektik» trotzdem über die transzendenten Gegenstände Gott, Freiheit und unsterbliche Seele und läßt ihnen in der neuen, transzendentalen Bedeutung ein (begrenztes) Recht. Drittens bezieht sich schon das Paradigma der Metaphysik, Platons Ideenlehre, auf die metaphysischen Gegenstände nicht unmittelbar, sondern nur im Rahmen einer Theorie der Voraussetzungen von Wissen und Handeln. Schließlich wird von der überlieferten Metaphysik allenfalls ein Teil «zermalmt», und dies geschieht mit Hilfe des anderen Teils: Die Entmachtung der bisherigen besonderen Metaphysik (Philosophie 3) erfolgt durch die revolutionäre neue allgemeine Metaphysik (Philosophie 1 und 2).

Systematisch betrachtet läßt sich Kant erst danach auf jene resignativ bescheidene Aufgabe «eines Platzhalters für empirische Theorien mit starken universalistischen Ansprüchen» ein (Habermas 1983, 23). Die entsprechenden Beiträge zur Naturforschung fallen aber in die frühe vorkritische Zeit, was dieser Philosophie 5 einen Platz außerhalb des philosophischen Kernbereichs zuweist.

Die vier Kernaufgaben dagegen werden so themenreich abgehandelt, daß sich die Kritik insgesamt wie eine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften liest. Im Unterschied zu den Enzyklopädien der Aufklärungsepoche geht es ihr nicht um das gesamte, sondern weit bescheidener lediglich um das philosophische Wissen. Im Gegensatz zur Encyclopédie wird sie auch nicht von fast 150 Autoren, sondern einem einzigen verfaßt. Auch läßt sie nicht auf einen einleitenden Stammbaum des Wissens ein barockes Sammelbecken der historisch verfügbaren Kenntnisse folgen. Sie entfaltet vielmehr ein veritables System. Quantitativ gesehen liegt dessen Schwerpunkt zwar in der theoretischen Philosophie, einschließlich einer Teleologie der Natur. Der Hauptzweck der Vernunft besteht aber in der Moral, einschließlich der Moraltheologie; selbst die politische Philosophie taucht auf. Von den drei berühmten Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? (B 833), konzentriert sich die Kritik zwar über weite Strecken auf die erste Frage. Sie findet sich aber von ihr zur zweiten und dritten Frage weitergetrieben. Und weil die drei Fragen zusammengenommen die vierte beantworten: «Was ist der Mensch?» (Log. IX 25), beläuft sich das Werk auf eine eminent philosophische Anthropologie. Nicht in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, schon gar nicht in einer die Moralphilosophie ergänzenden praktischen Anthropologie (GMS IV 388) findet sich Kants fundamentale Anthropologie, sondern in der Kritik.

Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt ein alter Anspruch der Philosophie eine neue Aktualität: Wo höchst unterschiedliche Kulturen dieselbe Welt nicht bloß wie bisher «im Prinzip», sondern für alle sichtbar miteinander teilen, dort braucht es eine auf ähnlich sichtbare Weise kulturunabhängige, nicht ethnozentrische, sondern inter- und transkulturell gültige Argumentation. In Analogie zu einer globalen Rechtsordnung kann sie kosmopolitisch heißen, kosmopolitisch freilich nicht in einem rechtlichen, sondern epistemischen Verständnis.

Mit ihm erweitert die Kritik den bekannten, politischen Kosmopolitismus Kants um einen noch kaum bemerkten, aber nicht minder wichtigen epistemischen Kosmopolitismus. Über den Hauptzweck der Vernunft erweitert sie ihn zusätzlich um einen moralischen Kosmopolitismus. Auf der metaphilosophischen Ebene jedenfalls nehmen wir eine neuartige, kosmopolitische Lektüre vor (schon Höffe 2001, Kap. 12). Sie versteht die Kritik als Versuch, eine in theoretischer Hinsicht allen Kulturen gemeinsame Welt und eine ebenso allen gemeinsame Menschenvernunft auszuweisen. Der neuerdings beliebten Skepsis gegen die Möglichkeit eines kultur- und epochenunabhängigen Denkens, dem erkenntnistheoretischen Historismus, stellt Kant ein Wissen entgegen, das «für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat» (B 848). Er bündelt es im Begriff des synthetischen Apriori: einer nichtrelativierbaren, schlechthin kultur- und geschichtsunabhängig gültigen Erkenntnis. Mit ihm, dem Kern der einen epistemischen Welt, beginnt ein Programm, das für das Zeitalter der Globalisierung wichtiger als die sprachphilosophische Wende sein dürfte, weshalb diese zu Recht, etwa als formale Semantik, sich demselben Programm, der epistemisch einen Welt, anschließt.

Hinsichtlich der Philosophie 1 und 2 knüpfen heutige Erkenntnistheorien gern an Descartes an, um ihn sodann unter empiristischen Vorzeichen zu verwerfen. Die nachhaltig anticartesische und zugleich antiempiristische Kritik taucht die einschlägigen Debatten um Realismus versus Antirealismus und um Naturalismus versus Antinaturalismus in ein neues Licht.

Auf der dritten Ebene, der Theorie von Seele, Freiheit und Gott, gelingt ihr nicht bloß eine Entmachtung beider Seiten, sowohl der überlieferten Metaphysik als auch ihrer frontalen Ablehnung. Sie entdeckt auch ein neues Thema: für das Fortschrittspathos der Naturwissenschaften einen mehr als bloß pragmatischen Grund (s. Abschn. 20.1). Und der Philosophie des Geistes samt den Kognitionswissenschaften zeigt sie eine Alternative zur immer noch beliebten Bezugnahme auf Descartes’ Leib-Seele-Dualismus (Abschn. 17.3).

1.4 Praktische Philosophie im Zeitalter der (Natur-)Wissenschaften

Kants Alternative verspricht auch deshalb Erfolg, weil sie die schwierige Gratwanderung zwischen einer Über- und einer Unterbewertung der Philosophie und zugleich die zwischen einem Über- und einem Unterschätzen der Naturwissenschaften vornimmt. Sie versöhnt das Interesse der Philosophie an autonomer Erkenntnis mit dem Erfahrungspathos einer wissenschaftsbeherrschten Epoche. Dem immer wieder aufbrechenden Szientismus bedeuten im Kosmos des Wissens die Wissenschaften nicht bloß viel, sondern so gut wie alles, wogegen der schlichte Kontrahent eine umfassende Wissenschaftsskepsis stellt. Im Gegensatz zu beiden erkennt Kant das Gewicht der Wissenschaften an und weist trotzdem jeden intellektuellen Imperialismus zurück. Sorgfältig darauf bedacht, den Einzelwissenschaften nicht vorzugreifen, wendet er sich deren Vor- und Grundfragen zu, darüber hinaus zwei Bereichen, die die Kompetenz der Einzelwissenschaften ganz übersteigen: dem moralischen Sollen und dem moralinspirierten Hoffen.

Bei den Wissenschaften spielen diejenigen eine besondere Rolle, die das Selbstverständnis der Neuzeit nachhaltig prägen, für die sich heute aber wenige Philosophen interessieren: die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft. Historisch gesehen kann man im Verhältnis von Philosophie und Mathematik/Naturwissenschaft fünf Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, von Thales und Pythagoras über Aristoteles (Zoologie) bis Descartes, Pascal und Leibniz, herrscht eine partielle Personalunion: große Philosophen sind zugleich bedeutende Naturforscher oder Mathematiker.

In der zweiten Phase, dem freundschaftlichen Commercium, tragen die großen Philosophen zwar noch zur Mathematik und Naturwissenschaft selbst, mehr aber zu deren Theorie bei. Hierzu zählen nicht erst Frege, Mach, Whitehead, Russell und Carnap, sondern schon Kant. Er gehört sogar noch zu den Ausläufern der ersten Phase. Denn er liefert eine beachtliche Erklärung der Passat- und Monsunwinde (I 489ff.) und eine geradezu moderne Definition der kleinsten Teilchen als «raumfüllende Kraft» (Monadologia I 482f.). Ferner nimmt er schon eine Vielzahl von Sternensystemen (Galaxien) an (Naturgeschichte I 254f.). Und seine Theorie der Saturnringe und der Nebelsterne (ebd. I 290ff.) wird später durch Beobachtungen des Astronomen Herschel bestätigt und durch v. Weizsäcker für unser Sonnensystem weiterentwickelt. Überdies bietet er, sieht man von Descartes’ Wirbeltheorie ab, die erste rein wissenschaftliche Kosmogonie, die mit der Devise ‹Gebt mir nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen› von jenem göttlichen Nachbessern frei ist, das Newton noch zur Vermeidung eines Kollapses im Sonnensystem postulierte. Weiterhin antwortet Kant auf das Erdbeben von Lissabon weder in der Nachfolge Leibniz’ mit einer Theodizee noch wie der Leibniz-Spötter Voltaire mit deren Kritik, vielmehr mit einer rationalen Erklärung aus unterirdisch weitergeleiteten Explosionen (I 429ff.). Nicht zuletzt hält er über fast vier Jahrzehnte Vorlesungen über ein damals zentrales Lehrgebiet, die Physische Geographie, die eine Kosmische Geographie (über die Stellung der Erde im Planetensystem) mit einer Physischen Geographie im engeren Sinn (unter anderem über die vier Reiche: Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen) und mit einer Politischen Geographie verbindet. Trotz dieser beachtlichen Beiträge und einer Fülle bemerkenswerter Reflexionen zur Mathematik, Physik, Chemie und Physischen Geographie (XIV) ist Kant insgesamt aber mehr ein Philosoph der Naturforschung als selber ein Naturforscher (zu Kant als Naturforscher s. Adickes 1924/25, neuerdings: Falkenburg 2000). Und vor allem hat er mit seiner Naturforschung heute nur noch historische, mit seiner Natur- und Forschungsphilosophie dagegen auch systematische Bedeutung.

Die Ausläufer der zweiten Phase: daß Philosophen naturwissenschaftlich (z.B. E. Mach) und Naturwissenschaftler philosophisch bewandert sind (z.B. H. v. Helmholtz und J. H. Poincaré, später etwa Planck, Einstein und Heisenberg), überschneiden sich zeitlich mit den Anfängen der dritten: Bedeutende Philosophen nehmen selbst so revolutionäre Einschnitte wie die Quantentheorie und Relativitätstheorie kaum noch zur Kenntnis. Wenn sie trotzdem wie etwa die ältere Frankfurter Schule munter über die Naturwissenschaften theoretisieren, so wären sie von mangelnder Kenntnis des Gegenstandes nur dann entlastet, wenn sie ausschließlich über die Anwendbarkeit in Technik und Industrie und nicht mehr über theoretische Ansprüche philosophierten. Im Theorem der Erkenntnisinteressen – die Naturforschung diene der Herrschaft über die Natur – erhebt die (kritische) Sozialtheorie aber auch einen innerepistemischen Anspruch.

In der vierten Phase, der Wissenschaftsethik, werden die wissenschaftsinternen Fragen ausdrücklich ausgeblendet, um die Wissenschaften, sofern sie unsere Lebenswelt und uns selbst verändern, einer moralischen Beurteilung zu unterziehen.

Die fünfte Phase schließt sich sachlich zum Teil an die zweite an. Denn von Spezialdebatten abgesehen, tritt das Interesse an wissenschaftsgestützten, umfassenden, ganzheitlichen Weltbildern in den Vordergrund. Weil die Philosophen dafür aber seit längerem ausfallen, wird es vornehmlich von Naturwissenschaftlern übernommen, früher eher von Physikern, heute mit wachsendem Selbstbewußtsein von Lebenswissenschaftlern, etwa Gehirnforschern. Da sich die einschlägigen Philosophie-Debatten aber vom Alltagsverstand weit entfernt haben, droht die Gefahr, daß sich professionelle Fachkenntnisse mit philosophischem Dilettantismus verbinden und die ganzheitlichen Weltbilder naiv ausfallen.

Die Alternative lautet, frei nach Platons Philosophenkönigssatz: Wenn nicht entweder die Naturforscher zu Philosophen werden oder die Philosophen sich gründlich mit der Naturforschung befassen und beides zusammenkommt, philosophische und naturwissenschaftliche Kompetenz, gibt es kein Ende des Unheils mit ganzheitlichen Weltbildern. Die Kritik steuert nun für den philosophischen Part die bis heute entscheidende Klärung der Frage bei, welcherart Ganzheit überhaupt möglich ist. Insofern bietet sie dem Zeitalter der (Natur-)Wissenschaften zwei sich ergänzende Philosophien an: Die «Ästhetik» und die «Analytik» entfalten die konstitutiven Elemente der Naturerkenntnis, die die «Dialektik» um regulative Elemente der Naturforschung vervollständigt.

Als Traktat über die Wissenschaften provoziert die Kritik freilich den Einwand, wissenschaftlich überholt zu sein. Überholt ist in der Tat die Annahme einer exklusiven Gültigkeit von Euklidischer Geometrie und Newtonscher Physik samt deren deterministischer Kausalität. Unsere Doppelbrille prüft deshalb, ob die Annahmen auf die philosophischen Aussagen durchschlagen, so daß die Kritik als wissenschaftstheoretisch gescheitert gelten muß. Man könnte Kant zwar zum Hegelianer avant la lettre erklären, insofern er die Wissenschaften seiner Epoche auf den Begriff bringe; eine derartige Epochen-Relativierung widerspricht aber seinem Programm.

Eine weitere Rückfrage an die Kritik: Sind die Philosophien 1 und 2 so eng miteinander verknüpft, daß der erste, metaphysische und der zweite, transzendentale Teil nur in Verbindung miteinander überzeugen? Ist beispielsweise Kants Begründung der Mathematik an seine Raum-Zeit-Theorie und umgekehrt seine Raum-Zeit-Theorie an die Theorie der Mathematik gebunden, mit der Gefahr, daß einer der Attraktivitätsfaktoren, der Bezug auf Mathematik und Physik, die Kritik angreifbarer, folglich am Ende doch unattraktiver macht?

Letztlich will Kant aber nicht vorempirische Voraussetzungen der Empirie, sondern die Möglichkeit von Moral und Moraltheologie mit ihren Fragen nach Seele, Freiheit und Gott ausloten. Deren Recht wird nämlich vom Siegeszug der naturwissenschaftlichen Weltsicht bedroht. Um nun die Bedrohung zu überprüfen, fragt Kant, was man denn (naturwissenschaftlich) wissen kann, und gibt mit der Einsicht in die Grenzen allen Wissens den Raum für die Moral und Moraltheologie frei.

Wer die Kritik nur als Theorie der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, vielleicht zusätzlich noch als allgemeine Erkenntnistheorie liest, dem entgeht diese Pointe: Nicht erst in seiner Moraltheorie, sondern schon in seiner Theorie des Wissens philosophiert Kant in praktischer, genauer: moralischer Absicht. Wer das Werk bis zum letzten Teil, der «Methodenlehre», liest, erfährt, was schon im Motto und der zweiten Vorrede anklingt: Die Kritik als ganze ist eine im emphatischen Sinn praktische Philosophie.

Damit verbindet sich eine gewaltige Aufwertung der Moral. Im Gegensatz zur Tradition von Aristoteles bis mindestens Descartes wird sie, weil als reine praktische Vernunft bestimmt, zu einem integralen Bestandteil der Fundamentalphilosophie bzw. Metaphysik. Durch den Primat der reinen praktischen Vernunft erhält sie sogar den Vorrang. Während Kant die reine theoretische Vernunft in die Schranken weist, indem er die metaphysischen Exzesse der Tradition einer rigorosen Diät unterwirft, erhöht er im Gegenzug Rang und Reichweite der Moral als der reinen praktischen Vernunft.

2. Innovation und Tradition

Selbst ein radikaler Einschnitt stellt keine pure Revolution dar. Wie Kant mit dem Zitat eines Vorgängers als Motto andeutet, stürzt seine neue Wissenschaft nicht schlechthin alles um. Die Kritik verbindet Innovation mit Tradition. Ihre Grundmotive lassen sich zu Paaren anordnen, die jeweils traditionelle Motive (im folgenden die mit den ungeraden Ziffern) um neue ergänzen.

2.1 Wissen im Dienst der Moral

Die frühneuzeitliche Philosophie verpflichtet ihre Erneuerung der Wissenschaften und Künste auf das menschliche Wohlergehen. In der Aufklärung, etwa in der französischen Encyclopédie (V 635–648), steigert sich diese Verpflichtung zur Erwartung, durch das gesammelte Wissen würden «unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher». Gegen diese Erwartung reitet Rousseau eine scharfe Attacke, durch die Kant nach eigenem Zeugnis von seiner anfänglichen Überschätzung der Wissenschaft frei wird (Bemerkungen XX 44).[1] In diesem Sinn, aber entgegen aller Erwartung beginnt die Kritik mit einem praktischen, nicht theoretischen Interesse, deutlich sichtbar in dem der zweiten Auflage vorangestellten Motto.

Kant entnimmt es aber nicht Rousseau, sondern dem prophetischen Wissenschaftspolitiker Francis Bacon. Denn im Gegensatz zu Rousseau verbindet er sein praktisches Interesse (Motiv 1) nicht mit einer Attacke auf die Wissenschaften, sondern wie Bacon mit deren Wertschätzung (Motiv 2) und darüber hinaus mit einem Pathos des Neubeginns. Was Bacon aber nur plant, führt Kant bei einem Teil der Wissenschaften, der Metaphysik, tatsächlich durch: eine große Erneuerung. (Zum Pathos eines radikalen Neubeginns s. schon Grundsätze II 283.)

Das (selten kommentierte) Bacon-Zitat enthält auch die theoretische Absicht, einen endlosen Irrtum zu beenden. Kant richtet sie aber vornehmlich auf ‹alle Einwürfe wider Sittlichkeit und Religion›, denen er ‹durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner auf alle künftige Zeit ein Ende machen› will (B xxxi). Die im Zitat weiterhin erwähnte Sorge um den Nutzen und das Ansehen der Menschheit ist daher streng moralisch und nicht wie bei Bacon utilitaristisch zu verstehen. Da Kant schon in der ersten Auflage das moralische Leitziel verfolgt und es, freilich erst gegen Ende, im «Kanon» und der «Architektonik» hervorhebt, wird es der Kritik in der zweiten Auflage nicht etwa nachträglich unterlegt, vielmehr gegen die Gefahr, am Ende eines langen Werkes überlesen zu werden, an den veritablen Anfang gestellt.

Ein zweiter Gesichtspunkt im Bacon-Motto könnte dem ersten in die Quere kommen. In der Alternative von «menschlich» statt «Schulrichtung» (secta; vgl. «Schulen»: B xxxiiff.) klingt Kants kosmopolitisches, auf die gesamte Menschheit gerichtetes Interesse an. Die entsprechende Kosmo-Polis meint freilich nicht die übliche Weltgemeinschaft, sondern die Welt des Wissens und der «Wissensdurstigen», also ein epistemisches Gemeinwesen (vgl. B 879). Wegen seiner demokratischen Verfaßtheit darf es die «epistemische Weltrepublik» heißen. Kosmopolitisch ist auch der Dienst an der Allgemeinheit, denn der Philosoph ist «immer ausschließlich Depositär einer dem Publikum … nützlichen Wissenschaft» (B xxxiv). Die Kritik will also zwei zumindest auf den ersten Blick konkurrierenden «Herren» dienen, einem epistemischen Gemeinwesen und einer außerepistemischen Aufgabe, dem moralisch verstandenen Wohl aller Menschen.

Dieser doppelte Dienst läßt zwei Deutungen zu. Nach der primär theoretischen Lesart sucht Kant vornehmlich das epistemische Wohl, sieht aber mit Genugtuung, daß es auf das praktische Wohlergehen durchschlägt. Dafür spricht, daß er über Hunderte von Seiten rein theoretischen Aufgaben, der Rechtfertigung der objektiven Erkenntnis und der Philosophie als Wissenschaft, nachgeht. Die «Endabsicht» der Vernunft betrifft aber drei Gegenstände, die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes, bei denen das theoretische Interesse sehr gering ist (B 826). Groß dagegen ist das außerepistemische und zugleich öffentliche Interesse, allgemein schädlichen Lehren wie dem Materialismus, Fatalismus und Atheismus die Wurzel abzuschneiden (B xxxiv). Infolgedessen ist eine zweite, primär praktische Lesart vorzuziehen. Danach stellt das epistemische Wohlergehen nur das (freilich unerläßliche) Mittel für jenen praktischen Hauptzweck dar, das «Moralische», der allein ‹bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich› zählt (B 829).

image  Erstes Motiv: Der Vernunft kommt es ebenso wie der Kritik am Ende aufs Moralische an; das Gemeinwesen allen Wissens, die epistemische Weltrepublik, steht letztlich im Dienst einer moralischen Weltrepublik.

In Platons (Fast-)Enzyklopädie, der Politeia, dient die gesamte Philosophie der Moral. Dem widerspricht Aristoteles mit der Trennung zweier Hemisphären, mit dem Gegensatz einer theoretischen Philosophie, die das Wissen um seiner selbst willen (Metaphysik I 2, bes. 982b26), und einer praktischen Philosophie, die es aus moralisch-praktischem Interesse sucht (Nikomachische Ethik I 1, 1095a5f.; X 6–7). Noch Descartes begründet die Überlegenheit der Europäer über die Barbaren mit der Philosophie, weshalb es im Staat kein größeres Gut geben könne, als wenn er wahre Philosophen aufweise (Principia philosophiae, «Schreiben an Picot»). Die Kritik überwindet den Gegensatz.

Die ersten zwei Teile, die «Ästhetik» und die «Analytik», suchen nämlich bloßes Wissen, unabhängig von jedem moralischen Belang. Selbst der dritte Teil, die «Dialektik», enthält ein rein theoretisches Element, die regulativen Forschungsprinzipien. Und hinsichtlich der Moral hat sie die bloß negative Bedeutung, ihr jenen Freiraum zu verschaffen, den die kausalitätsdominierte Wissenschaft bedroht. Erst im vierten Teil, der «Methodenlehre», verfolgt Kant das praktische Ziel direkt. Bliebe er beim ersten Motiv, so wäre seine Kritik traditionell. Innovativ wird sie erst durch die Abwehr jeder Instrumentalisierung des Wissens; trotz des Vorrangs der Moral behält die Wissenschaft ihren Eigenwert.

image  Zweites Motiv: Die Kritik dient dem moralischen Hauptzweck vornehmlich indirekt, durch die Widerlegung entgegenstehender Irrtümer, und überwindet dabei den Gegensatz von Platonischer Einheitsphilosophie und Aristotelischer Trennung zweier Hemisphären.

Liest man, durchs Motto veranlaßt, die Kritik mit Baconschen Augen, so findet man noch weit mehr Gemeinsamkeiten. Sie erstrecken sich sowohl auf die Diagnose als auch das Kriterium, sogar die Richtung der Therapie. Kant übernimmt von Bacon: daß sich die Wissenschaften – in der Kritik die Fundamentalphilosophie – durch zahllose Streitfragen, aber wenige Leistungen auszeichnen; daß der Leistungsnachweis im Wissensfortschritt besteht, dieser aber noch immer nicht nennenswert begonnen hat; daß man deshalb eine ganz neue Methode zu suchen und in ihrem Rahmen Experimente – die Kritik: ein Experiment der Vernunft – durchzuführen hat; daß der menschliche Geist von seinen Irrtümern zu befreien, dabei die Geringschätzung der Sinne aufzugeben ist; daß es auf zwei Erkenntnisvermögen, Sinnlichkeit und Verstand, und ihretwegen auf einen mittleren Weg zwischen den Extremen Dogmatismus/Rationalismus und Empirismus ankommt. Selbst der berühmte Satz «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind» (B 75) hat einen Baconschen Vorläufer. Denn in der «Rede zum Ruhme der Erkenntnis» wirft Bacon den Universitäten vor, den Geist des Menschen «mit leeren Begriffen und blinden Experimenten» zu verheiraten (Works VIII 125). Auch wenn Kant in seiner Theorie der Naturwissenschaft anders als Bacon kaum Wert auf Experimente und keinen Wert auf Machbarkeit und Lebenserleichterung legt, atmet seine Kritik in so hohem Maß Baconschen Geist, daß die im Motto zutage tretende Ehrung berechtigt ist. (Zur Wertschätzung Bacons vgl. auch Anthropologie § 56 und Log. IX 32.)

2.2 Aporetische Wißbegier

Vor bald zwei Jahrhunderten erklärt Hegel, selber ein großer Metaphysiker, «Metaphysik» zum «Wort, vor dem jeder … wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft» (Werke II 575). Daß Kant bei dem Ausdruck, auch bei dessen Sache bleibt, verdient trotzdem keine kategorische Ablehnung. Denn erstens hat er seit seinen metaphysischen Anfängen einen unbedenklich bescheidenen Begriff von ihr: Als «eine Philosophie über die ersten Gründe unseres Erkenntnisses» (Grundsätze II 285) ist die Metaphysik zunächst nichts anderes als eine fundamentale Erkenntnistheorie. Zweitens gibt man der Metaphysik nach ihrem Aufschwung im Deutschen Idealismus zwar generell den Laufpaß: Hegel wird von Kierkegaard und in anderer Weise von Marx angegriffen. Nietzsche hält die Metaphysik für eine Wissenschaft, «welche von den Grundirrtümern des Menschen handelt – doch so, als wären es Grundwahrheiten» (Menschliches, Allzumenschliches I Nr. 18). Und Carnap (1932) plädiert für eine «Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache». Der rhetorische Aufwand der Verabschiedung verdeckt aber, daß man im Kern der Sache der Metaphysik treu bleibt. Unter dem Mantel der Metaphysikkritik unterwirft sie sich «nur» der Antriebskraft der Moderne, der «morale canonique du changement», stilisiert sich zur Ablösung jeder vorangehenden Fundamentalphilosophie und entwirft doch wieder eine neue Metaphysik, nämlich erneut Fragen und Antworten, die über (meta) die wissenschaftlich erforschbare Natur (ta physika) hinausweisen. Wer sich trotzdem am Ausdruck «Metaphysik» stört, kann statt dessen von Fundamentalphilosophie oder schlicht von (eigenständiger, autonomer) Philosophie sprechen. Für die Kritik jedenfalls sind die Ausdrücke «Vernunft», «Metaphysik» und «Philosophie» weithin äquivalent (vgl. B 868f.).

Schließlich wird Kants «metaphysikkritische Metaphysik» durch eine Diagnose angestoßen, deren Richtung auch den Skeptiker überzeugen sollte. Während die neuere Fundamentalphilosophie selten lebenspraktische Bedeutung erlangt, hat die gesamte Kritik, nicht bloß ihr moralisch-praktischer Hauptzweck, den Rang einer fundamentalen Anthropologie von existentiellem Gewicht. Ihre Fragen werden nämlich «durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben» (A vii). Dabei meint die Vernunft keine philosophiespezifische Fähigkeit, sondern die «[all]-gemeine Menschenvernunft» (A viii), womit Platons Philosophenkönigssatz (Politeia V 473c-d) eine entschiedene Demokratisierung erfährt (vgl. Frieden VIII 369). Auch wenn die «schulmäßige» Ausarbeitung den Philosophen vom Fach vorbehalten ist, findet sich die Anlage bei jedermann.

image  Drittes Motiv: Weil ihre Fragen durch die Natur der Vernunft aufgegeben sind, hat die gesamte, auch die theoretische Philosophie eine anthropologische und zugleich existentielle Bedeutung.

Gäbe sich Kant mit diesem Motiv zufrieden, so bliebe er wieder traditionell. Denn während uns heute ein existentielles Gewicht der Metaphysik fremd anmutet, ist es der philosophischen Tradition wohlvertraut. Bei Platon klingt es schon im Gedanken des Philosophenkönigs, bei Spinoza sogar im Titel seiner Metaphysik, Ethica, an. Auch Aristoteles’ Metaphysik dient einem existentiellen, freilich epistemischen Interesse, der Vollendung einer natürlichen Wißbegierde (Metaphysik I 1–2). Kant folgt insofern Aristoteles, als er «die menschliche Vernunft» in ihrer «Wißbegierde … zur völligen Befriedigung» bringen will (B 884). Dabei wird der Weg zur Metaphysik auf eine raffinierte Weise einfacher. Nach Platons Höhlengleichnis (Politeia VII 514a – 519d) fehlt dem Menschen, da er im falschen Bewußtsein gefangen ist, zunächst jede Beziehung zur Metaphysik. Gemäß dem Aristotelisch-Kantischen Motiv von Naturanlage und innerer Vollendung ist man dagegen zur Metaphysik mindestens immer schon unterwegs. «Vornehmlich dem nachdenkenden Menschen» ist sie sogar so notwendig wie «das Atemholen» (Prol. IV 367).

Innovativ auch gegen Aristoteles wird er erst durch die Diagnose der verfahrenen Situation, daß sich der Vernunft Fragen aufdrängen, die sie «nicht abweisen … aber auch nicht beantworten kann» (A vii). Bei bloßer Unbeantwortbarkeit läge die «positivistische» Strategie nahe, die Fragen auf sich beruhen zu lassen. Nach dem Vorbild von Bergsteigern oder Tiefseetauchern kehrt man, sobald es zu gefährlich wird, besser um. Dagegen spricht aber die andere Seite, die Unvermeidbarkeit der Fragen. Ihretwegen entpuppt sich die Vernunft als in sich gebrochen; die natürliche Wißbegier erscheint als aporetisch und der Mensch auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht als aus «krummem Holze» geschnitzt (Idee VIII 23, Rel. VI 100): Seine Sonderstellung im Kosmos, die Vernunft, gibt ihn «allem Unsinn oder Wahnsinn der Einbildungskraft» preis (KpV V 120), und die ehemalige Königin aller Wissenschaften, die Metaphysik, wird zum Kampfplatz endloser Streitigkeiten (A viii).

Kontroversen sind der Philosophie nicht neu, wohl aber, daß sie nicht zwischen vorläufigen, sondern so gut durchdachten Ansichten bestehen, daß man sie weder als einen Irrtum oder als Sprachverhexung entlarven noch durch eine Verfeinerung der Ansichten schlichten kann. Die Kontroversen gründen in einer der Vernunft innewohnenden Gebrochenheit, in einem Bürgerkrieg der Vernunft: Die Instanz, «die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, [gerät] mit sich selbst in Streit» (B 768).

In Form philosophischer Richtungen gesprochen, streitet sich ein rationalistischer «Dogmatismus» mit einem Empirismus samt Skeptizismus. Zur einen Partei gehört außer Descartes vor allem jenes ‹Leibniz-Wolffianische Lehrgebäude› (B 329), dem Kant zunächst selber anhing. Diese Partei gilt nicht wegen einer schlichten Rechthaberei als Dogmatismus, sondern wegen einer Rechthaberei zweiter Stufe, die in Ermangelung einer Erkenntniskritik überzogene Erkenntnisansprüche erhebt. Folgerichtig nennt Kant gelegentlich auch den Empirismus dogmatisch, sofern er «dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist» (B 499), womit er ebenfalls mangels Erkenntniskritik zu viel beansprucht. Der Rationalismus bejaht durchaus die Erfahrung als Erkenntnisquelle; Descartes will ausdrücklich im großen Buch der Welt lesen (Discours, 1. Teil). Er vermeint aber durch bloßes Denken die Erkenntnis erweitern zu können.

Weil die Dogmatiker schon untereinander streiten, artet die Metaphysik in eine Anarchie aus, worauf die zweite Partei, die Skeptiker (Kant denkt an David Hume), «mit der ganzen Metaphysik kurzen Prozeß» macht (B xxxvi). Zuvor verwirft eine dritte Partei, der Empirismus des ‹berühmten Locke›, die (rationalistische) Lehre angeborener Ideen und läßt nur innere und äußere Erfahrung zu. Da der Skeptizismus zum Empirismus zählt (vgl. B 127f.), kämpft in der Metaphysik ein Rationalismus, der dogmatisch ist, mit einem Empirismus, der skeptisch wird. (Nach dem dritten Abschnitt der «Antinomien» sieht Kant nicht bloß Leibniz/Wolff gegen Locke/Hume streiten, sondern auch Platon gegen Epikur.) Die philosophiegeschichtliche Forschung setzt zwar hinter eine zu schroffe Entgegensetzung einige Fragezeichen. Kant entdeckt jedoch ein Kriterium, das synthetische Apriori (s. Abschn. 4.1), mit dem er die durchaus komplexe Streitlage auf den entscheidenden Punkt bringt.

image  Viertes Motiv: Die existentielle Bedeutung der Philosophie beginnt negativ, mit vernunftinternen Widersprüchen, die einen endlosen Streit heraufbeschwören und an der Möglichkeit einer eigenständigen Philosophie zweifeln lassen.

2.3 Judikative Kritik

Seit dem Verlust ihrer Selbstsicherheit heißt ein Thema der Aufklärung: Entzweiung. Rousseau reagiert auf die «natürliche» Weise, daß er der ungebrochenen Einheit nachtrauert, auch wenn er sie nicht wiederherstellen will. Nach Hegels Alternative enthält die Entzweiung ein Kreativitätspotential; sie hilft zur Entfaltung der Freiheit. Auch die aporetische Naturanlage könnte ein Kreativitätspotential enthalten, das die Wißbegier zugunsten ihrer Entfaltung «auszukosten» hat. Dagegen spricht aber die Art der Entzweiung: «Widersprüche» (A viii) in Form eines «Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst» (A xii).

image  Fünftes Motiv: Die Kritik sucht den Philosophenstreit von dessen Wurzel, den vernunftimmanenten Widersprüchen, her zu schlichten.

Schon Hume bemerkt «ewige Widersprüche und Streitigkeiten» (vgl. B 730), vermag sie aber in ihrem Medium, der Vernunft, weder zu plazieren noch zu lösen. Aus der «Melancholie», der er deshalb verfällt, kann er sich nur durch eine zwar sympathische, aber außerphilosophische Strategie, die Geselligkeit, befreien: «Ich speise, ich spiele eine Runde Backgammon, ich unterhalte mich mit meinen Freunden und bin fröhlich mit ihnen» (Treatise I, IV 7). Man könnte die Strategie zu einer neuartigen Metaphysikkritik hochstilisieren. Die Metaphysik mit ihren Widersprüchen entstehe dort, wo man die gemeinsame Welt der Kommunikation verlasse, so daß die Widersprüche erst unter Verzicht auf Metaphysik, bei der Rückkehr in die sinnlich erfahrbare, überdies sinnlich genießbare Welt verschwinden. Eine derartige Metaphysikkritik übersähe aber den vernunftimmanenten Ursprung der Widersprüche. Sie entstehen nicht beim Verlassen der gemeinsamen Welt, sondern beim unvermeidbaren Weiterfragen. Ihm gegenüber – weiß auch Hume – ist der Weg der Geselligkeit keine überlegene Wahl, sondern eine Verdrängung, die nur vorübergehend entlastet. Zu Recht spricht Kant von einer «Beschäftigung und Unterhaltung, im Grunde aber nur Zerstreuung …, um den beschwerlichen Ruf der Vernunft zu übertäuben» (Prol. IV 381).

Mit seiner Alternative, der Suche nach einer vernunftinternen Lösung, gelingt Kant gegenüber Hume dreierlei. Er konstatiert die Widersprüchlichkeit in größerer Schärfe, diagnostiziert deren Grund und weist den Weg der Therapie. An die Stelle des vorhumeschen «spekulativen Krieges» und Humes lebenspraktischer Verdrängung tritt ein Vorgehen, das Kant schon in seinen Frühschriften andeutet (I 7ff. und 387): ein Rechtsprozeß. Die Herausforderung durch Skepsis kennt die Philosophie seit Anbeginn. Aristoteles setzt sich sogar mit jener Radikalform auseinander, die selbst den Satz vom Widerspruch in Frage stellt (Metaphysik IV 4); und Descartes’ Neubegründung der Philosophie baut auf dem Zweifel auf. Die Innovation der Kritik: Sie sieht in der Skepsis eine Fortsetzung des Empirismus, konfrontiert diesen mit dem Rationalismus und überwindet die Konfrontation, den Gegensatz von skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz (B 434), in einem förmlichen Gerichtsprozeß. In dessen Verlauf werden übrigens noch weitere Gegensätze überwunden, beispielsweise der Gegensatz zwischen dem (französischen) Materialismus, der eine unsterbliche Seele ableugnet, und dem Spiritualismus, der sie für beweisbar hält.

«Neue Wörter zu schmieden», liebt Kant nicht; denn das sei «eine Anmaßung zum Gesetzgeben in Sprachen, die selten gelingt» (B 368f.). Die meisten Ausdrücke übernimmt er aus der neueren Tradition, beispielsweise «Wahrnehmung», «Anschauung» und «rein» aus Lockes Essay und Leibniz’ Nouveaux Essais. Andere Ausdrücke wie «Kategorie», «transzendental», «Analytik» und «Dialektik» stammen aus der deutschen Aristoteles-Tradition, die «Idee» aber von Platon. In deutschen Handbüchern der Zeit, etwa Meier und Zedler, finden sich Fachausdrücke wie «Amphibolie», «Antinomie» und «Paralogismus», denen Kant freilich neue Einfärbungen gibt.

Der Titelausdruck «Kritik» steht dagegen in der Tradition der auf Cicero zurückgehenden und im 17. Jahrhundert vom französischen «critique» übernommenen ars critica. Als Kunst, über den Wert und Unwert einer Sache ein fachmännisches Urteil abzugeben, dient sie bei Lessing der ästhetischen, namentlich literarischen Bewertung, erstreckt sich aber später auf so gut wie alles, zunächst auf alle Arten von Texten, später auch von Traditionen und Institutionen, um schließlich als Fähigkeit, Wahres vom Falschen zu unterscheiden, zu einem Grundwort der Aufklärungsepoche zu werden (vgl. Tonelli 1978). In diesem Sinn meint Kant weder eine negative, entlarvende noch eine positive, affirmative Kritik, vielmehr die in der Kunst- und Literaturkritik bis heute bekannte richterliche Form. Kant verbindet sie mit einer thematischen und einer methodischen Neuerung.

Thematisch richtet er sich auf einen ungewöhnlichen Gegenstand, die reine Vernunft, zu verstehen als das höchste Vermögen der Menschen. Als reine theoretische Vernunft erhebt es Anspruch auf eine von der Erfahrung unabhängige Erkenntnis, als reine praktische Vernunft auf eine von empirischen Gründen unabhängige Willensbestimmung. Methodisch entfaltet Kant ein Bild aus dem Encyclopédie] Und damit keinerlei Zweifel bleiben, orientiert er sich im Unterschied zur ästhetischen Kritik an «ewigen und unwandelbaren Gesetzen» (A xiif.).