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Harald Welzer

Das kommunikative Gedächtnis

Eine Theorie der Erinnerung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Unser Gedächtnis ist nicht das, wofür wir es halten. Es weiß mehr über uns als wir selbst und ist zudem höchst erfinderisch. Erstmalig werden hier die neuesten Befunde der neurowissenschaftlichen Hirn- und Gedächtnisforschung mit denen der Psychologie und der Kulturwissenschaft in einer faszinierenden Synthese zusammengeführt. Sosehr wir uns alle für selbstbestimmte Individuen halten: Unser Gedächtnis bildet sich nicht individuell. Vielmehr zeigt sich: Ohne Austausch, ohne das vielfältige Wechselspiel mit anderen und ohne Emotionen wäre unsere Erinnerung leer. Das Gedächtnis ist sozial und kommunikativ.

Über den Autor

Harald Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung «Futurzwei» und seit 2012 Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, wo er das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research leitet. Außerdem ist Welzer Affiliated Member of Faculty am Marial-Center der Emory University (Atlanta/USA); er lehrt als Gastprofessor an der Universität St. Gallen und ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Akademien. Die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung.

 

 

 

Für Nicholas

Inhalt

    I. Das kommunikative Gedächtnis

   II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie

  III. Lernen, sich zu erinnern – die Entstehung des kommunikativen Gedächtnisses

1. Erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung

  IV. Zusammensein mit anderen. Die Bildung des kommunikativen Gedächtnisses

1. Die protonarrative Sequenz

2. «Sleep ’cause». Die Entstehung der Sprache beim Sprechen

3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses

   V. Wie man Ich wird – Zeit, Emotion und Synchronizität

  VI. Die Macht der Gefühle. Über emotionale Erinnerung

 VII. Fräulein Smillas Gespür für die Gefühle der anderen. Über kulturelle Rahmen und Schemata

 1. Das kommunikative Gedächtnis der Familie

VIII. Der Stoff, aus dem die Lebensgeschichten sind

  IX. Versionen eines autobiographischen Gedächtnisses

   X. Mein Gedächtnis weiß mehr als ich selbst, oder: Das kommunikative Unbewußte

  XI. Danksagung

 

Anmerkungen

Bibliographie

Personen- und Sachregister

I. Das kommunikative Gedächtnis

In den letzten zehn Jahren hat die Neurowissenschaft, so behauptet jedenfalls Antonio Damasio, einer ihrer prominentesten Vertreter, mehr über das Gehirn und den Geist herausgefunden, als in der gesamten Geschichte der Psychologie zuvor entdeckt worden ist. Wohlgemerkt, nicht nur über das Gehirn, sondern auch über den menschlichen Geist, und diese Behauptung ist durchaus geeignet, die Geistes- und Kulturwissenschaften bis ins Mark zu erschüttern. Damasio, der neben Medizin auch Philosophie studiert hat, erhebt, wie andere Neurowissenschaftler auch, den nicht gerade bescheidenen Anspruch, die Entstehung des Bewußtseins mit Hilfe einer immer subtileren Beobachtung und Durchdringung jenes im Durchschnitt drei Pfund schweren Organs von milchiger Farbe und weicher Masse aufklären zu können, das unter unserer Schädeldecke Dienst tut und gewiß das komplexeste organische System darstellt, das die Evolution hervorgebracht hat.

Ganz zweifellos sind in den vergangenen Jahren – insbesondere mit Hilfe der sogenannten bildgebenden Verfahren, die Gehirnaktivität und damit womöglich auch Denkvorgänge sichtbar machen können – beeindruckende Befunde gewonnen worden. Man weiß inzwischen, daß in jedem unserer Köpfe drei- bis vierhundert Milliarden Nervenzellen, «Neuronen», arbeiten – 150.000 Neuronen je Quadratmillimeter Hirnrinde –, die zu neuronalen Netzwerken verknüpft sind, so daß jedes Neuron theoretisch mit bis zu 10.000 anderen in Verbindung stehen kann. Die Zahl der Verbindungsstellen, der «Synapsen», beläuft sich auf unvorstellbare 100 Billionen, vielleicht sind es im Einzelfall ein paar mehr oder weniger. Die faserigen Verbindungen, über die die Neuronen kommunizieren, würden aneinandergelegt eine Strecke von 500.000 Kilometern ergeben; heruntergerechnet auf jeden Kubikmillimeter Hirnrinde sind das immer noch einige Kilometer. Dieses Dickicht steuert nicht nur unsere Körperfunktionen, -aktionen und -reaktionen von der Wahrnehmung über die Handlung bis zur Erfahrung, sondern es ist auch für die merkwürdige menschliche Fähigkeit verantwortlich, daß wir über uns selbst und eben auch über unser Gehirn nachdenken können. Und das wirft eine wichtige Frage auf: was denn die Substanz ist, die über all die endlosen Kilometer labyrinthischer Netzwerke geschickt wird und uns selbst und damit unser Bewußtsein ausmacht, was also der Stoff ist, den die Millionen und Abermillionen Neuronen so emsig und kreativ verarbeiten. Sowenig dieser Stoff materiell sein kann, so wenig genügt sich doch das Gehirn selbst – denn Gedanken sind etwas anderes als synaptische Verschaltungen, und das «Engramm», das neuronale Verschaltungsmuster, das etwa einen Vers aus dem «Faust» repräsentiert, ist nicht identisch mit dem Sinn, den wir diesem Vers beimessen.

Wir wissen inzwischen, daß der neuronale Apparat unterschiedliche Systeme für die Verarbeitung von Kognitionen und Emotionen vorsieht, daß das Gedächtnis, das unser Selbst ausmacht, sich auf eine Reihe mittels biochemischer und elektrophysiologischer Prozesse kommunizierender Hirnorgane stützt, von deren Funktion man vor gar nicht allzu langer Zeit noch nichts wußte. Wir wissen, daß unser Gehirn unterschiedliche Systeme für die Kurzzeit- und die Langzeitverarbeitung von Gedächtnisinhalten in Anspruch nimmt und daß es unterschiedliche Gedächtnissysteme für selbstbezogene, für wissensbasierte, für körperliche und für implizite Wahrnehmungen und Erfahrungen gibt. Damit wissen wir eine Menge über die Verarbeitung, aber so gut wie nichts über das Verarbeitete.

Nach dem Studium der neurowissenschaftlichen Standardliteratur fühlt man sich ein bißchen wie der Besucher einer gigantischen neuen Fabrikanlage, in der sich freundliche Ingenieure alle Mühe geben, einem die sinnreichen Funktionen jeder einzelnen Maschine en détail näherzubringen, während einen die ganze Zeit die Frage beschäftigt, ob denn das alles wohl zur Herstellung von Panzern oder von Margarine dient. Im Grunde ist man so irritiert, daß man sich nicht einmal mehr sicher ist, ob man den Hinweis über dem Fabriktor, welchem Zweck das Wunderwerk dient, nur übersehen hat oder ob es ihn überhaupt gab.

Wechseln wir das Szenario: Auf der Erde leben gegenwärtig etwa sechs Milliarden Menschen, die sich in unterschiedlicher Anzahl auf fünf Kontinente verteilen, mehr als fünftausend verschiedene Sprachen sprechen, auf einige tausend Jahre je eigene Geschichte und Kultur zurückblicken, Nahrungsmittel, Sitzmöbel und, je nachdem, Raumschiffe produzieren und sich mit Hilfe einer Unzahl einzigartiger Kommunikationsmittel verständigen: Sprache, Schrift, Musik, Malerei, Tanz, Film usw. Wir wissen von Bruce Chatwin, daß es in Australien Menschen gibt, die die Topographie ihrer Welt durch jeweils besondere Gesänge markieren, daß andere Menschen, je nach ihrer Lebensumwelt, vierzig verschiedene Formen von Schnee, Eis oder Sand unterscheiden können, und wir alle kennen das doch eigentlich sehr überraschende Phänomen, daß wir uns über ungeheuer komplexe Sachverhalte mit einem kurzen Blick in die Augen des anderen verständigen können, mit einem Blick, wie Chris Marker gesagt hat, von der Dauer einer zweiunddreißigstel Sekunde, so kurz wie ein Bild in einem Film.

Und auch wenn wir als Angehörige einer bestimmten Gruppe mit einer besonderen Geschichte, Kultur und Sprache nur das wenigste von dem verstehen, was die anderen tun und warum sie es tun, so wissen wir doch, daß die entscheidenden Bedingungen menschlichen Lebens – jene, die uns von Tieren unterscheiden – Bewußtsein und autobiographisches Gedächtnis sind, und die bilden sich in Kommunikation. Es ist doch ziemlich erstaunlich, daß wir über alle Differenzen, über alle kulturellen, regionalen, sprachlichen Unterschiede hinweg prinzipiell zur Verständigung in der Lage sind, ja daß sogar die soziale Vernetzung all der Milliarden Menschen offenbar so eng ist, daß es im Durchschnitt nur sechs Personen braucht, um eine Nachricht im Medium der mündlichen Weitergabe an eine willkürlich ausgewählte Person auf einem beliebigen Kontinent in einem beliebigen Kulturkreis weiterzugeben. Mit anderen Worten: Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist Kommunikation, genauer gesagt das unerschöpfliche und spezifisch menschliche Potential, Netzwerke direkter und indirekter, enger und loser, naher und ferner Verbindungen herzustellen.

Ich nehme an, und das werde ich in den folgenden Kapiteln zu zeigen versuchen, daß das Phänomen des menschlichen Zusammenlebens wahrscheinlich nicht minder komplex ist als die unüberschaubar komplizierte Architektur des menschlichen Gehirns, daß wir letztere aber nicht wirklich verstehen können, wenn wir davon absehen, daß die Inhalte, die dieses Wunderorgan verarbeitet, vor allem sozialer Natur sind. In den Neurowissenschaften wird irrigerweise weit überwiegend der Begriff der «Information» verwendet, wenn davon gesprochen wird, was das Gehirn ver- und bearbeitet. Aber das Gehirn hat es nur selten mit einfach gegebenen Reizen, Daten oder Werten zu tun, sondern meist mit «Informationen», die Bedeutung haben, und Bedeutungen entstehen nicht neuronal und individuell, sondern durch Kommunikation. Aus Sicht des Neurowissenschaftlers Wolf Singer hängt die Entstehung von Bewußtsein davon ab, daß Gehirne in einen Dialog miteinander eintreten können. Nach seiner Auffassung «kann ein Gehirn erst dann, wenn es zu einem solchen Dialog in der Lage ist, jene Erfahrungen machen, die wir mit dem Bewußtsein für das eigene Ich und die eigenen Gefühle in Verbindung bringen, und nur dann kann sich die Erfahrung der Ichwahrnehmung und der Subjektivität entwickeln.»[1] Mit anderen Worten: Die Entstehung von Bewußtsein ist jenseits von Kommunikation mit anderen nicht möglich, sie liegt im Dialog «zwischen mehreren Gehirnen» begründet und ist damit aus Singers Sicht rein neurobiologischen Erklärungsversuchen nicht zugänglich.

Lange bevor im Kleinkindalter, mit drei oder vier Jahren, unser reflexives, selbstbezogenes Bewußtsein erwacht, hat uns das Zusammensein mit anderen mit einer Unzahl von Bedeutungen über die Dinge des Lebens vertraut gemacht. Wir haben sie in der Praxis des Zusammenseins erfahren, sie werden nicht «erlernt» oder «verinnerlicht», sondern im genauen Wortsinn erlebt. Da sich sowohl die organische Reifung des Gehirns als auch die Entstehung neuer Nervenzellen sowie die Etablierung ihrer Netzwerkstrukturen noch über lange Zeiträume nach der Geburt erstrecken und in Teilen lebenslang in Entwicklung begriffen sind, können wir davon sprechen, daß sich das Gehirn selbst in Abhängigkeit von sozialer Erfahrung entwickelt, formt und strukturiert.

Dieses Buch beschäftigt sich zunächst mit dem Gedächtnis, wie es aus Sicht der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie verstanden wird. Derjenige Teil der neuronalen Entwicklung, der nicht genetisch festgelegt ist – und das ist ein beträchtlicher Teil –, wird, wie ich im dritten und vierten Kapitel zu zeigen versuche, durch vielfältige Modi des Zusammenseins mit anderen gebildet, das heißt durch nichtsprachliche und sprachliche Kommunikation. In den Neurowissenschaften wird dieser Umstand als «erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung» bezeichnet, und hier scheint mir der Schlüssel dafür zu liegen, daß wir uns ein wirklichkeitsangemesseneres Produkt vorstellen können, das in der wundersamen Fabrik unter unserer Schädeldecke be- und verarbeitet wird: Es sind nämlich genausowenig «Informationen», die durch die neuronalen Schaltkreise rauschen, wie ein Telefongespräch aus den digitalen Impulsen besteht, die durch das Glasfaserkabel jagen. Es sind sozial gebildete bedeutungsvolle Erfahrungen und Verständigungen, die unser Gehirn unter Vollbeschäftigung halten und sowohl unser Gedächtnis wie unser Bewußtsein entwickeln und aufrechterhalten.

Die entscheidenden Operatoren bei der Bewertung von Erfahrung und Zuweisung von Bedeutung sind Emotionen – damit beschäftigt sich das fünfte Kapitel. Ausfälle und Störungen im emotionalen Verarbeitungssystem führen bei den Betroffenen zum Verlust der Fähigkeit, die Botschaften ihrer Gesprächspartner jenseits des manifesten Inhalts zu entschlüsseln, mehr noch, sie führen oft auch zum Totalausfall von Entscheidungsfähigkeit: Ohne das Potential, Vorgänge emotional zu bewerten, kann man nicht intuitiv handeln, und wenn man das nicht kann, ist eine mögliche Entscheidung so gut oder schlecht wie jede andere. Es gibt dann einfach keinen Grund, die eine der anderen vorzuziehen (was Damasio ironisch als die Grenze der reinen Vernunft bezeichnet).

All dies diskutiere ich vor dem Hintergrund der zentralen Frage, wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und was es verarbeitet – zunächst, wie die Neurowissenschaften, vor allem mit Blick auf das Individuum. In den Kapiteln sechs und sieben wird diese Optik erweitert. Es geht dann nämlich um die sozialen Prozesse der Erfahrungs- und Vergangenheitsbildung: Hier wird die Rolle sozialer und kultureller Schemata für die Entwicklung unseres Gedächtnisses diskutiert, und es werden anhand von Interview- und Gesprächsbeispielen soziale Prozesse der Erinnerungs- und Vergangenheitsbildung vorgestellt. Dabei zeigt sich, daß unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen, also das, was wir für die ureigensten Kernbestandteile unserer Autobiographie halten, gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sondern oft aus ganz anderen Quellen, aus Büchern, Filmen und Erzählungen etwa, in die eigene Lebensgeschichte importiert werden. Das achte Kapitel schließlich kehrt zum individuellen autobiographischen Gedächtnis zurück und beschäftigt sich damit, wie sich die lebensgeschichtliche Erinnerung über die Zeit hinweg verändert. Es handelt sich dabei um den Vergleich zweier biographischer Interviews mit einer Person, die ich im Abstand von elf Jahren über ihr Leben befragt habe.

In allen Kapiteln zeigt sich, soviel vorweg, auf unterschiedliche Weise, daß unser Gedächtnis, und damit unser Selbst, ein durch und durch kommunikatives Gedächtnis ist, auch wenn vor allem Angehörige des westlichen Kulturkreises zutiefst der Auffassung sind, Individuen zu sein, die autonom gegenüber und getrennt von anderen existieren. «Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im Stromkreis des geschichtlichen Lebens», hat Hans-Georg Gadamer etwas streng geschrieben, und darauf werde ich im Schlußkapitel zurückkommen, das auch einige Gedanken dazu vorträgt, daß unser Gedächtnis mehr weiß, als wir selbst wissen, und daß auch unser Zusammenleben und unsere Fähigkeit zur gelingenden Kommunikation auf einer Fülle von Regeln und Kompetenzen basiert, die wir mit traumhafter Sicherheit beherrschen, ohne sie zu kennen. Das Buch endet also mit einigen Gedanken über ein «kommunikatives Unbewußtes», und ich sage vorsichtshalber gleich, daß man sich darunter nichts Psychoanalytisches vorzustellen hat: Dieses Unbewußte hat nichts mit den dunklen und ominösen Tiefenschichten unserer Seele zu tun, sondern bildet ganz im Gegenteil die Grundierung für unsere bewußten Wahrnehmungen und Reflexionen, ist also etwas ganz und gar Alltägliches, ja eigentlich das, was Alltag, Routine, Gewohnheit überhaupt erst ermöglicht.

Bevor ich aber mit all dem beginne, sind noch ein paar Worte zum «kommunikativen Gedächtnis» selbst nötig, damit verständlich wird, in welchen Entstehungszusammenhang und in welche geistige Urheberschaft diese Begriffsverbindung gehört. Wir verdanken den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann eine recht genaue kulturwissenschaftliche Bestimmung von Gedächtnisformen, die eine dringend notwendige Differenzierung des so eindrucksvollen und faszinierenden, nichtsdestoweniger aber ziemlich unklaren Konzepts vom «kollektiven Gedächtnis» von Maurice Halbwachs geliefert haben. Jan Assmann hat das «kulturelle Gedächtnis» zunächst definiert als «Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht».[2] Diesen Sammelbegriff setzt Assmann ab vom «kommunikativen Gedächtnis» einerseits und von «Wissenschaft» als einer hochspezialisierten Form von Gedächtnisbildung andererseits.

Das «kommunikative Gedächtnis» ist Assmann zufolge gekennzeichnet «durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit»[3] – es lebt in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen. Das «kommunikative Gedächtnis» ist im Vergleich zum «kulturellen» beinahe so etwas wie das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft – es ist an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfaßt etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen. Der Zeithorizont des «kommunikativen Gedächtnisses» wandert entsprechend «mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Das kommunikative Gedächtnis kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden.»[4] Eine dauerhaftere Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses ist nur durch «kulturelle Formung» zu erreichen, d.h. durch organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit. Während das «kommunikative Gedächtnis» durch Alltagsnähe gekennzeichnet ist, zeichnet sich das «kulturelle Gedächtnis» durch Alltagsferne aus. Es stützt sich auf Fixpunkte, die gerade nicht mit der Gegenwart mitwandern, sondern als schicksalhaft und bedeutsam markiert werden und durch «kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten» werden.[5] Merkmale des «kulturellen Gedächtnisses» sind erstens Identitätskonkretheit – d.h., es ist bezogen auf den Wissensvorrat und die konstitutive Bedeutung dieses Vorrats für die Identität einer Wir-Gruppe – und zweitens Rekonstruktivität: Dieses Wissen der Wir-Gruppe bezieht sich auf die Gegenwart. «Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung.»[6]

Assmann zufolge existiert das «kulturelle Gedächtnis» in zwei Modi, nämlich in der Potentialität des in Archiven, Bildern und Handlungsmustern gespeicherten Wissens und als Aktualität, also in dem, was aus diesem unermeßlichen Bestand nach Maßgabe von Gegenwartsinteressen verwendet wird.

Als weitere Merkmale des «kulturellen Gedächtnisses» nennt Assmann seine Geformtheit – etwa durch Schrift, Bilder und Riten –, seine Organisiertheit – durch Zeremonialisierung oder durch Spezialisierung von Erinnerungsexperten – und schließlich seine Verbindlichkeit, d.h., es ist durch einen normativen Anspruch gekennzeichnet, der den «kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert».[7]

Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen kommt Assmann zu jenem Begriff des «kulturellen Gedächtnisses», wie er seither in der Fachdiskussion verwendet wird: der «jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ‹Pflege› sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt».[8]

Soweit die mittlerweile klassische Definition. Das «kommunikative Gedächtnis» bezeichnet demgegenüber die eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen. «Kulturelles» und «kommunikatives Gedächtnis» sind also nur analytisch zu trennen; in der Erinnerungspraxis der Individuen und sozialen Gruppen hängen ihre Formen und Praktiken miteinander zusammen, weshalb sich die Gestalt des «kulturellen Gedächtnisses» auch – zumindest über längere Zeitabschnitte hinweg – wandelt, indem bestimmte Aspekte ab- und andere aufgewertet und wieder andere neu hinzugefügt werden.

Die Definition Assmanns ist deutlich auf die kommunikative Praxis von Gruppen und Gesellschaften bezogen und klammert vor diesem Hintergrund mit Recht die Frage aus, wie das kommunikative Gedächtnis auf der Ebene des Individuums beschaffen ist. Genau diese Frage versuche ich im ersten Teil dieses Buches zu klären, in dem es um die Entstehung, die Funktionsweise und die emotionalen Qualitäten des Gedächtnisses geht. Besonders die Entwicklungspsychologie hat in den vergangenen Jahren eindrucksvolle Untersuchungen dazu vorgelegt, daß für die Herausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses die soziale Praxis eines «memory talk» notwendig ist, die das Thematisieren vergangener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen im Rahmen familialer Interaktion einübt [9] – eine Art unbewußter Praxis der Herausbildung unterschiedener Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Menschen zu «geschichtlichen Wesen» macht. Dieser Prozeß findet als gemeinsame Verfertigung erlebter Vergangenheiten («conversational remembering» [10]) eine lebenslange Fortsetzung, wobei nicht unbedingt ausdrücklich über Vergangenheit gesprochen werden muß, wenn Vergangenes vermittelt wird. Man kann sich das einfach daran klarmachen, daß z.B. bei Familientreffen über das Erzählen persönlicher Erlebnisse, etwa, wie sich die Großmutter und der Großvater kennengelernt haben, im Hintergrund der erzählten Geschichte zugleich so etwas wie ein historischer Assoziationsraum der Umstände, des Zeitkolorits, des Habitus der historischen Akteure etc. vermittelt wird. Ein großer Teil der Praxis des kommunikativen Gedächtnisses transportiert Vergangenheit und Geschichte en passant, von den Sprechern unbemerkt, beiläufig, absichtslos.

Und damit sind wir wiederum bei dem, was ich das kommunikative Unbewußte nenne. Im Grunde bin ich der Auffassung, daß wir den Kern des kommunikativen Gedächtnisses, nämlich den, der in seiner Praxis selbst besteht, wissenschaftlich immer nur unzureichend und unvollständig erfassen können – ästhetische Zugänge wie literarische Autobiographien (wie etwa «Erinnerung, sprich!» von Vladimir Nabokov), Filme (wie Chris Markers «Sans Soleil») etc. kommen wegen ihrer Freiheit, ihre Überlegungen nicht belegen zu müssen, dem Phänomen des kommunikativen Gedächtnisses oft näher, als es mit den sperrigen Instrumenten der wissenschaftlichen Argumentation möglich ist.

Das gilt besonders dann, wenn man sich in das Feld der unbewußten Wahrnehmungs- und Gedächtnisbildungsvorgänge hineinwagt, die sich nur sehr eingeschränkt in wissenschaftliche Begründungszusammenhänge einfügen lassen. Nehmen wir zum Beispiel die Überlegung, die der Entwicklungspsychologe Colwyn Trevarthen angestellt hat, der glaubt, daß sich bereits im Säuglingsalter beim Kind Repräsentationen seiner Bezugspersonen herausbilden, die die Art und Weise der Bewegungen, der Körperhaltung, der Gesten dieser Personen umfassen. Wie sollte man solch eine durchaus plausible Annahme verifizieren? Man würde damit größte Schwierigkeiten haben, denn wir wissen ja nicht, was das Baby weiß, sondern können das nur über Umwege und in vorsichtiger Annäherung erschließen. Und deshalb möchte ich diese einleitenden Überlegungen mit einer kurzen Geschichte beschließen, die mich fasziniert, seit sie geschehen ist. Vielleicht, aber da fängt mein Gedächtnis schon an, die Vergangenheit zu erfinden, vielleicht liegt in dieser Geschichte auch der erste Anstoß, dieses Buch zu schreiben.

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Abb. 1: «Papa!» (Privatarchiv des Autors)

Sie geht einfach so, daß ich mit meinem Sohn Nicholas, als er vielleicht zweieinhalb Jahre alt war, Fotoalben durchblätterte. Als das oben abgebildete Foto kam, drückte er spontan seinen Zeigefinger auf die linke Person und sagte «Papa!».

Diese Identifizierung war richtig, nur daß «Papa» auf diesem Foto zwanzig Jahre jünger ist, ziemlich anders aussieht als heute und obendrein nur von hinten zu sehen ist. Was also hat das Kind dazu veranlaßt, auf diesem Foto erstens überhaupt etwas Signifikantes zu entdecken und dieses Signifikante dann auch noch sicher von der zweiten Person auf dem Foto zu unterscheiden? Ich habe ihm das Bild später noch mehrmals gezeigt, das Ergebnis war jedesmal dasselbe. Kann es sein, daß das Gedächtnis des kleinen Jungen eine Repräsentation der Gesamtgestalt seines Papas gebildet hatte, die deutlich mehr als das äußere Erscheinungsbild umfaßte und die gerade darum in jenem zwei Jahrzehnte alten Rückenporträt wiedererkennbar war? Sei es, wie es sei. Jedenfalls weiß unser Gedächtnis viel mehr, als wir selbst wissen, und einige Gründe dafür, warum das so ist, finden Sie in den folgenden Kapiteln.

II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie

«Eine meiner ältesten Erinnerungen würde, wenn sie wahr wäre, in mein 2. Lebensjahr hineinreichen. Ich sehe noch jetzt mit größter visueller Genauigkeit folgende Szene, an die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr geglaubt habe: Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer Amme auf den Champs-Élysées (nahe beim Grand Palais) geschoben wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. Der gestraffte Lederriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während sich die Amme dem Mann mutig widersetzte (dabei erhielt sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute vage sehen kann). Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie sie sich in der Nähe der Metro-Station abspielte. Doch als ich 15 Jahre alt war, erhielten meine Eltern einen Brief jener Amme, in dem sie ihren Eintritt in die Heilsarmee mitteilte und ihren Wunsch ausdrückte, ihre früheren Verfehlungen zu bekennen, besonders aber die Uhr zurückzugeben, die sie als Belohnung für diese – einschließlich der sich selbst zugefügten Kratzspuren – völlig erfundene Geschichte bekommen hatte. Ich mußte also als Kind diese Geschichte gehört haben, an die meine Eltern glaubten. In der Form einer visuellen Erinnerung habe ich sie in die Vergangenheit projiziert. So ist die Geschichte also eine Erinnerung an eine Erinnerung, allerdings an eine falsche. Viele echte Erinnerungen sind zweifellos von derselben Art.»

Diese kleine Geschichte stammt von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget[11], und besonders seine Schlußfolgerung ist überraschend. Gewiß kommt es gelegentlich vor, daß wir feststellen, irgend etwas «falsch» erinnert zu haben, aber daß «echte» Erinnerungen oft mit etwas zu tun haben sollen, das wir gar nicht selbst erlebt haben, daß wir unsere Lebensgeschichte sozusagen mit Erinnerungen aus zweiter Hand ausstatten, mutet zunächst doch etwas befremdlich an. Ein Blick auf den aktuellen Stand der Gedächtnisforschung mag vielleicht Aufschluß darüber geben, wieweit wir Piaget in seiner Überlegung folgen können.

Bekanntlich hat die lange Zeit gängige Vorstellung, Erlebnisse und Ereignisse würden im Gehirn wie in einem Computer gespeichert und wären – vorausgesetzt, man verfügt über die richtigen Passwörter und Aufrufbefehle – aus diesem Speicher wieder abrufbar, mit der Funktionsweise des Gedächtnisses, soweit sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu viel zu tun. Wie die falsche Erinnerung Piagets schon nahelegt, kann man eher davon ausgehen, daß das Gedächtnis ein konstruktives System ist, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Das Gedächtnis als «constructive memory framework»[12] operiert mit unterschiedlichen Systemen des Einspeicherns, Aufbewahrens und Abrufens, die ihrerseits wieder, je nach Art und Funktion verschiedener Lern- und Repräsentationsebenen, auf unterschiedliche Subsysteme des Gedächtnisses zugreifen. Mentale Repräsentationen von Erfahrungen werden mithin als multimodale Muster der unterschiedlichen Aspekte und Facetten der jeweiligen Erfahrungssituation verstanden.

Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind nun nicht – wie man lange Zeit annahm – an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt und als solche, verändert oder unverändert, abrufbar. «Dabei wird zunächst ein Teil der Komponenten, die eine bestimmte Erfahrung konstituieren, reaktiviert, woraufhin sich dann die Aktivierung auf die übrigen konstituierenden Komponenten der Erfahrung ausweitet.»[13] Sich zu erinnern bedeutet mithin, assoziativ Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. Schon intuitiv leuchtet ein, daß dieser Prozeß der Muster-Vervollständigung so vielfältigen internen und externen Einflüssen unterliegt, daß von einer authentischen Erinnerung an die Situation und das Geschehen, die sich bei jemandem als eine Erfahrung niedergeschlagen hat, nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwendungsbezogen modelliert.

Allgemein, so resümiert Daniel Schacter seinen umfangreichen Überblick über die Befunde der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, ließe sich denn auch festhalten, daß unsere Gedächtnisse einigermaßen ordentliche Arbeit im Aufbewahren der allgemeinen Konturen unserer Vergangenheit und im Festhalten vieler Ereignismerkmale leisten,[14] daß die Präzision dieser Erinnerungsarbeit aber aus vielerlei Gründen doch arg begrenzt ist.

Denn zunächst einmal ist ganz generell davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden, insbesondere dann, wenn sie selten oder nie abgerufen werden, weil die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen. Dies ist übrigens nicht zuletzt ein Grund dafür, daß sich Erinnern nicht getrennt von Vergessen diskutieren läßt. Während etwa alltägliche und routinehafte Verrichtungen von äußerst geringer Erinnerungsrelevanz sind, werden Ereignisse, die aufgrund ihrer emotionalen Bedeutung einen besonderen Aufmerksamkeitswert haben, offensichtlich gerade deswegen erinnert, weil man sie sich oft wieder «ins Gedächtnis ruft», und auch, weil man häufig über sie spricht.

Dies wirft aber sofort die Frage auf, ob eigentlich Erinnern und Vergessen so klar zu scheidende Aktivitäten sind oder ob nicht das Gedächtnis prinzipiell als ein Wandlungskontinuum aufzufassen ist, auf dem weniger relevante Wahrnehmungen und Erfahrungen sukzessive dem Verblassen und Vergessen anheimfallen, während biographisch bedeutsame aufbewahrt, vertieft, refiguriert, neu bewertet, kurz: verändert werden. Daneben ist zu bedenken, daß es nicht nur einen einzigen Typ von Erinnerung gibt, sondern eine ganze Reihe verschiedener, die nach unterschiedlichen Logiken operieren und die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zunächst kann Gedächtnis auf einer zeitlichen Ebene differenziert werden, in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Während das Ultrakurzzeitgedächtnis im Bereich von Millisekunden operiert und sich vorwiegend auf die neuronalen Vorgänge etwa des Wahrnehmungssystems bezieht, bleibt das Kurzzeitgedächtnis über einige Sekunden bis wenige Minuten aktiv – so lange etwa, wie Sie benötigen, eine nachgeschlagene Telefonnummer in die Tastatur einzugeben. Die durchschnittliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegt etwa bei sieben Informationseinheiten, die «online» präsent gehalten werden können. Das Kurzzeitgedächtnis ist weitgehend deckungsgleich mit dem in der neueren Literatur häufig anzutreffenden «Arbeitsgedächtnis», dem zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiven Teil des Gedächtnisses.[15] Alle zeitlich darüber hinausgehenden Gedächtnisfunktionen werden als Langzeitgedächtnis bezeichnet.

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Abb. 2: Schematische Darstellung der Beziehung zwischen Dauer von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (Abszisse) und der Tiefe der Informationsverarbeitung (Ordinate). Gestrichelt ist noch ein «intermediäres Gedächtnis» als weitere mögliche Form zeitbezogenen Gedächtnisses dargestellt (Markowitsch 2002a, S. 86).

Daneben lassen sich auf einer funktionalen Ebene unterschiedliche Gedächtnissysteme mit je verschiedenen Einspeicherungs- und Abrufmodalitäten bestimmen. «Das zerebrale System, mit dem ich lernte, einen Baseball zu treffen, ist ein anderes als jenes, mit dessen Hilfe ich mich erinnere, wie ich den Ball zu treffen versuchte und ihn verfehlte, und dieses unterscheidet sich wiederum von dem System, das mich angespannt und nervös sein ließ, als ich am Schlagmal Aufstellung nahm, nachdem ich den Ball beim letzten Mal voll an den Kopf gekriegt hatte. Es geht in allen Fällen um eine Form von Langzeitgedächtnis […], die aber jeweils von einem anderen neuralen Zentrum vermittelt wird.»[16]

Wie der Neuropsychologe Joseph LeDoux hier andeutet, unterscheidet die neuere neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung Typen von Gedächtnissystemen, und zwar im wesentlichen fünf, die untereinander jeweils noch differenzierbar sind (s. Abb. 3).

Da die Erforschung jedes dieser fünf Gedächtnissysteme, die natürlich – wie das Beispiel von LeDoux schon andeutet – interdependent sind, Ergebnisse hervorgebracht hat, die für das Verstehen des kommunikativen Gedächtnisses wichtig sind, hierzu ein paar Erläuterungen.

Es ist eine sehr einfache Erfahrungstatsache, daß es Erinnerungen gibt, die man in vollem Bewußtsein absichtsvoll wieder «hervorholen» und möglichst detailliert zu erinnern versuchen kann – biographische Wendepunkte, abenteuerliche Erlebnisse, einschneidende Geschehnisse, aber auch Anekdoten. Die Modi dieses «Vor-Augen-Führens» können sehr unterschiedlich sein: indem man intensiv an die entsprechenden Begebenheiten denkt, indem man sie jemandem erzählt, indem sie innerhalb einer Gruppe, die diese Erinnerung teilt, ausgetauscht wird,[18] indem Erinnerungsgemeinschaften wie die Familie aus ganz persönlichen Anlässen – Hochzeitstage, Geburtstage, Jubiläen etc. – gemeinsam Ereignisse aus der Vergangenheit rekonstruieren usw. Die Gesamtheit dieser expliziten, intentionalen Akte des Erinnerns, bei denen man sich auch bewußt ist, daß man sich erinnert, bildet das episodische Gedächtnis. Es bildet die Basis dafür, daß einzelne Zusammenhänge aus unserer Vergangenheit und unserem biographischen Erleben als lebensgeschichtliche Episoden, als «meine» Vergangenheit konturiert werden können. Die Inhalte des semantischen Gedächtnisses, das neuerdings etwas zutreffender auch als «Weltwissen» oder «Wissenssystem» bezeichnet wird, sind ebenfalls grundsätzlich bewußt verfügbar, sind aber kontextfrei und beziehen sich auf Wissensinhalte, wie man sie in der Schule gelernt hat oder wie sie in den beliebten Quizsendungen im Fernsehen abgefragt werden. Es gibt aber eine vermutlich weit größere Fülle von Erinnerungen, die aktiviert werden, ohne daß man sich bewußt wäre, daß man sich gerade erinnert: das Sprechen einer Sprache, das Einhalten grammatischer Regeln, die Fähigkeit, eine Unzahl von Zeichensystemen dechiffrieren zu können, Tischsitten einhalten zu können usw. – all dies sind Erinnerungen, die die Grundsemantik unserer Alltagsorientierung bilden, ohne daß wir sie, wenn wir sie einmal gelernt haben, uns bewußt vergegenwärtigen müßten. Dieser Komplex wird als prozedurales Gedächtnis bezeichnet; er bildet ein Subsystem des impliziten, nichtdeklarativen Gedächtnisses, weil seine Inhalte allenfalls dann bewußt erinnerbar sind, wenn das Gedächtnis nicht perfekt funktioniert: wenn man also Schwierigkeiten mit den unregelmäßigen Verben in einer Fremdsprache hat, wenn man bei einem Festbankett Rotwein ins Wasserglas schüttet etc.

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Abb. 3: Einteilung des Langzeitgedächtnisses nach Markowitsch 2002b[17]

Schon hier sieht man, daß die Grenzen fließend sind, denn man kann sich ja bewußt daran erinnern, wie schwer es einem ursprünglich gefallen ist, das Spielen eines Instrumentes zu erlernen, das man jetzt jederzeit und ohne bewußte Erinnerung an einzelne Techniken beherrscht. Prozedurales, semantisches und episodisches Gedächtnis hängen also eng miteinander zusammen, und in einer hierarchischen Perspektive ließe sich gewiß formulieren, daß es ohne semantisches Gedächtnis ein episodisches nicht geben könnte: Ohne die Möglichkeit, Erfahrungen in ein konventionelles, d.h. sozial geteiltes System von Regeln und Rahmen einbetten zu können, nähme ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu einer Erfahrung, die bewußt zu erinnern wäre. In diesem Sinne ist davon auszugehen, daß zwar auch Säugetiere (zum Beispiel Primaten) durchaus über ein semantisches Gedächtnis verfügen, d.h. auf einen Komplex erlernten Wissens zurückgreifen können, aber nicht in der Lage sind, sich dieses Wissen bewußt zu vergegenwärtigen. Sie erinnern sich, indem sie in erlernter Weise situativ reagieren, sie erinnern sich aber nicht daran, daß sie sich erinnern.

Das episodische Gedächtnis scheint mithin ein menschliches Spezifikum zu sein, was mit dem neuroanatomischen Befund in Einklang zu stehen scheint, daß seine Aktivität an eine evolutionär jüngere Region des Gehirns gebunden ist, an die Region des rechten Frontallappens nämlich.[19] Die neurowissenschaftliche Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Gedächtnissystem liefert eine wichtige Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen und im engeren Sinne sozialpsychologischen Fragestellungen: Denn wenn man davon ausgeht, daß einerseits der Inhalt des semantischen Gedächtnisses, das «Weltwissen», gelerntes Wissen ist, also in Prozessen sozialer Interaktion erworbenes Wissen, und daß andererseits nur dasjenige Inhalt episodischer Erinnerung sein kann, was prinzipiell kommunizierbar ist, also eine soziale Formbestimmung erfahren hat, dann leuchtet einmal mehr ein, warum wir es hier mit einem Spezifikum der menschlichen Gattung zu tun haben: weil eben nur Menschen in ein sozial dimensioniertes Universum hineinwachsen.

Beim perzeptuellen Gedächtnis geht es um das Erkennen von Reizen, die einem schon mal begegnet sind. Dieses System nimmt eine Zwischenstufe zwischen den bewußten und unbewußten Formen des Gedächtnisses ein, da ein Wiedererkennen ja auch ein höchst absichtsvoller, also bewußter Vorgang sein kann. Das erkannte Objekt muß übrigens nicht identisch mit dem sein, das man schon einmal wahrgenommen hat; einige charakteristische Merkmale genügen, um eine entsprechende Zuordnung zu ermöglichen. Als erfahrungsbasiertes Gedächtnissystem stellt das perzeptuelle Gedächtnis schon eine recht komplexe Funktionseinheit dar und entwickelt sich ontogenetisch auch erst später als Priming- und prozedurales Gedächtnis.

Nimmt man jetzt die beiden Systeme des non-deklarativen Gedächtnisses hinzu, nämlich das prozedurale Gedächtnis und das unübersetzbare «Priming», wird die Spezifität menschlicher Bildungsprozesse noch einmal deutlicher. Als nichtdeklaratives oder implizites Gedächtnis wird allgemein die Gesamtheit der Erinnerungen bezeichnet, die einen Menschen in der Gegenwart beeinflussen, ohne daß er sich dieses Einflusses bewußt wäre.[20] Effekte von impliziten Erinnerungen spielen eine Rolle in Urheberrechtsprozessen, in denen es z.B. darum geht, ob jemand eine Schlagermelodie wissentlich oder unabsichtlich plagiiert hat, genauso wie in Routinehandlungen wie etwa Autofahren, dessen Beherrschung gerade darin besteht, daß man sich über die komplexen Handlungsvollzüge und das Regelwissen, das man für eine erfolgreiche Autofahrt braucht, keine Rechenschaft ablegt. Daniel Schacter berichtet von einem hirngeschädigten Patienten, dem nahezu vollständig die Fähigkeit abhanden gekommen ist, sich an etwas zu erinnern, der nach wie vor aber ein glänzender Golfspieler ist, der mit Selbstverständlichkeit nicht nur über die Technik und das Körperwissen, sondern auch über die zugehörigen Fachausdrücke verfügt – jeweils während des aktuellen Spiels, danach nicht mehr. Dieser Patient greift auf das Vollzugswissen zurück, das im prozeduralen Gedächtnissystem aufgehoben ist – und zwar, ohne daß ihm das in irgendeiner Weise bewußt würde.

Kurz gesagt, beinhaltet das prozedurale Gedächtnis alle routinisierten körperlichen Fähigkeiten wie Radfahren, Klavierspielen, Schreiben usw. Alle diese Fähigkeiten werden zwar gelernt, ereichen aber im Unterschied zum semantischen Wissen nicht das Potential symbolischer Vermittlung. Radfahren etwa lernt man dadurch, daß einem die Füße auf die Pedale gestellt und die Hände an den Lenker geführt werden, daß man von einer Hand geschoben und im Gleichgewicht gehalten wird und sukzessive sein Balancegefühl und seine muskulären und motorischen Möglichkeiten mit dem Objekt, das einen zunächst (durch Mamas oder Papas Hand) bewegt, so perfekt synchronisiert, daß man es schließlich selbst bewegt. Was man nun allerdings tatsächlich für komplexe Operationen vollzieht, wenn man etwa «lenkt», wird man sich nie vergegenwärtigen und es demzufolge auch nicht kommunizieren können – das bleibt nichtsymbolische Praxis, prozedurales Wissen, das funktional ist und Reflexion allenfalls dann erfordert, wenn man auf die Nase fällt.

Das Phänomen des «Priming» zeigt ebenfalls kein Symbolisierungspotential und damit auch keine reflexive Zugänglichkeit; es bezeichnet das verblüffende Phänomen, daß unser Gehirn offensichtlich auch dann permanent Reizwahrnehmungen verarbeitet, wenn wir das überhaupt nicht bemerken: also in den Randbereichen unserer Aufmerksamkeit, aber auch in Zuständen von Bewußtlosigkeit, also im Schlaf oder in der Narkose. Mit Hilfe einfacher Worterinnerungstests läßt sich zeigen, daß die Erinnerungsleistungen der Testpersonen regelmäßig dann besser ausfallen, wenn sie in irgendeinem Zusammenhang zuvor schon einmal den entsprechenden Begriffen begegnet sind – und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Begegnung überhaupt die Schwelle der bewußten Wahrnehmung erreicht hatte. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die Kampagne von Coca-Cola aus den fünfziger Jahren, die darin bestanden hatte, bewußt nicht wahrnehmbare Filmschnipsel mit dem Firmensignet in Spielfilme zu schneiden, was in den Kinobesuchern ein unstillbares Bedürfnis nach ebendiesem Getränk hervorrief; weniger bekannt ist der Effekt, daß sich die Genesungschancen von postoperativen Patienten meßbar verbessern, wenn ihnen während der Narkose erzählt wird, daß ihre Operation glänzend verlaufe und sie bald wieder gesund seien. Bei narkotisierten Patienten läßt sich auch der Priming-Effekt nachweisen, wenn sie später Erinnerungstests unterzogen werden.[21]

Daß wissenschaftliche Erkenntnisse gelegentlich auch praktische Funktionen erfüllen können, zeigt ein privates Experiment, das ich an dem kleinen Sohn von Freunden vorgenommen habe, der im Alter von vier Jahren eine der nicht seltenen Marotten entwickelt hatte, die auf Angst vor Kontrollverlust zurückgehen: In diesem Fall war es die Manie, zwanzigmal an einem Vormittag zur Toilette zu rennen, aus Angst, er könne sich in die Hosen machen. Solche Ängste haben die unangenehme Eigenschaft, sich zu erweitern, etwa um die Angst, daß die anderen Kinder im Kindergarten sich lustig machen werden, wenn sie (zwangsläufig) bemerken, wie oft man die Toilette aufsucht usw., woraus eine veritable Spirale sich generalisierender Ängste und damit verbundener Zwangshandlungen entstehen kann. Ich habe dieses Problem eingedenk des Priming-Effektes dadurch zu lösen versucht, daß ich ihm, während er schlief, erzählt habe, daß das Problem mit dem Pipi-Machen viel schneller vorbeigegangen sei, als man gedacht hätte, und man nun überhaupt keine Angst mehr zu haben brauche, daß es wieder aufträte usw. Schon am Tag nach dem ersten «Besprechen» zeigte sich eine Verringerung der Pipi-Frequenz, und nach etwa einer Woche war das Problem nicht mehr existent (jedenfalls auf der Ebene des manifesten Verhaltens).

Die Untersuchungen zum impliziten Gedächtnis sind deswegen aufschlußreich, weil man unbewußte Erinnerungen nicht selbst korrigieren kann, sie aber in unserer sozialen Praxis wirksam sind – was folgenreich z.B. für die Tradierung von Stereotypen und Vorurteilen ist. Bereits auf einer vorsymbolischen Ebene lernen Kinder ja, wie man sich gegenüber anderen verhält – wie man mit anderen Menschen umgeht, welche Form von Kontakt man vermeidet, wo man sich zurückhält usw. Rassistische Einstellungen zum Beispiel basieren vor diesem Hintergrund nicht nur auf (falschen) Kognitionen, sondern können ein Ergebnis der ganz selbstverständlichen sozialen Praxis der Personen sein, mit denen das Kind aufwächst. Auf dieser Basis wird auch ohne weiteres verständlich, wieso Menschen auf einer kognitiven Ebene sich als vollkommen antirassistisch und vorurteilsfrei verstehen können, aber von Unbehagen befallen werden, wenn ein Mensch anderer Hautfarbe neben ihnen in der Straßenbahn steht. Auch das Phänomen idiosynkratischer Empfindungen – daß man an einer Person etwas nicht ausstehen kann, aber gar nicht weiß, was das genau ist – findet hier einen Erklärungsansatz.

Daniel Schacter weist zu Recht ausdrücklich darauf hin, daß wir es hier mit einer unbewußten Dimension der Erinnerung zu tun haben, die dem psychoanalytischen Konzept vom Unbewußten insofern geradezu entgegengesetzt ist, als es hier nicht um unsere tiefsten Erfahrungsschichten und Konflikte geht, sondern ganz im Gegenteil um oberflächliche, alltägliche Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsprozesse. Implizite Erinnerung hat viel mehr mit routinisierten und habitualisierten Handlungs- und Verhaltensweisen zu tun, und gerade die sind es ja, die von frühkindlichen Entwicklungsphasen an prägend für die Weltwahrnehmung sind. Genau deswegen dürften die Überlegungen zum impliziten Gedächtnis auch hilfreich für eine präzisere Vorstellung vom kommunikativen Gedächtnis sein, denn die implizite Erinnerung ist die am stärksten sozial präformierte Art von Erinnerung, weil sie nichtsymbolisch operiert, also nicht reflexiv, und deshalb jeder subjektiven Steuerung entzogen ist. Sie ist das Produkt einer Praxis, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle verläuft.

Widerfahrnisse und Erlebnisse nehmen, wie später noch eingehender dargestellt wird, erst mit dem Spracherwerb im Bewußtsein Gestalt an als Erfahrung und Erinnerung, werden also in symbolvermittelter Interaktion geformt und werden selbst in sozialer Kommunikation wieder mitteilbar.

Soziale und individuelle Erinnerung sind in diesem Sinne genauso untrennbar voneinander wie Erinnern und Vergessen. Ein Erlebnis wird erst zur Erfahrung, wenn es reflektiert wird, und reflektieren bedeutet, der Erfahrung eine Form zu geben. Diese Form kann nur sozial vermittelt sein; anders steht sie dem Individuum nicht zur Verfügung und wäre im übrigen auch nicht kommunizierbar. Es ist einleuchtend, daß die Niveaus und die Operationen der vier hier nur in allergröbster Vereinfachung dargestellten Gedächtnissysteme jeweils auch unterschiedliche Modi des Behaltens und Vergessens implizieren: Prozedurale Gedächtnisinhalte, das zeigen insbesondere Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten, sind offenbar ausgesprochen resistent gegen Verluste – schwimmen verlernt man nicht. Dagegen sind semantische, in noch viel stärkerem Maße aber episodische Gedächtnisinhalte höchst verletzlich gegenüber physischen Schädigungen, aber auch gegenüber altersbedingten und psychogenen Störungen: Schon Unterbrechungen kleinster Verbindungen zwischen neuronalen Netzen können zu Totalausfällen episodischer Erinnerung führen, während das semantische und erst recht das prozedurale Gedächtnis erhalten bleiben.

Das Gefühl, über ein identisches und kohärentes Selbst zu 2223