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Jan Assmann | Florian Ebeling

ÄGYPTISCHE
MYSTERIEN

Reisen in die Unterwelt in
Aufklärung und Romantik

Eine kommentierte Anthologie

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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ZUM BUCH

Unterweltsreisen sind ein zentrales Thema der abendländischen Literatur, von Homer und Vergil bis zu James Joyce und Thomas Mann. Gerade im 18. und frühen 19. Jahrhundert war das Thema beliebt: Die Aufklärung organisierte sich unter den Bedingungen politischer und kirchlicher Zensur in der Form der Geheimgesellschaft und erblickte in den antiken, insbesondere ägyptischen Mysterien ihr Vorbild. Die kurzweiligen und spannenden Schilderungen von Unterweltsreisen, die Jan Assmann und Florian Ebeling in diesem Band versammeln und erläutern, beeindrucken bis heute durch die suggestiven Bilder von einer Gegenwelt, deren Erlebnis überhaupt erst wahres Menschsein ermöglichen soll.

ÜBER DIE AUTOREN

Jan Assmann ist Professor em. für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Von ihm erschienen unter anderem «Das kulturelle Gedächtnis» (62007), «Tod und Jenseits im Alten Ägypten» (32010) sowie zuletzt «Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung» (2010).

Florian Ebeling, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Ägyptologie der Universität Heidelberg. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Ägyptenrezeption. Bei C.H.Beck erschien von ihm «Das Geheimnis des Hermes Trismegistos» (22009).

INHALT

EINWEIHUNG ALS AUFKLÄRUNG
Unterweltsreisen im Zeitalter der Geheimgesellschaften

EDITORISCHE VORBEMERKUNG

  1. APULEIUS
Die Mysterien der Isis erobern die griechisch-römische Welt

  2. TERRASSON
Die Abenteuer des Prinzen Sethos in der Unterwelt der Pyramiden

  3. MOUHY
Das Grauen der Unterwelt und das Martyrium der himmlischen Mysterien

  4. CRATA REPOA
Deutsche Freimaurer inszenieren ägyptische Mysterien

  5. KREIL
Wiener Freimaurer erforschen die Mysterien in der ägyptischen Unterwelt

  6. WIELAND
Die Entlarvung der ägyptischen Mysterien als Scharlatanerie

  7. MOZART UND SCHIKANEDER
Die Zauberflöte und das Ritual auf der Opernbühne

  8. ALBRECHT
Der keusche Joseph in der Unterwelt

  9. RAMBACH
Die sinnlichen Freuden der Mysterien und der lüsterne Initiand

10. JUNG-STILLING
Die ägyptischen Mysterien als christlicher Kantianismus

11. ECKARTSHAUSEN
Gegenaufklärerische Mysterien in den Pyramiden von Memphis

12. NERVAL
Ein romantisches Nachspiel

ANMERKUNGEN

NAMENREGISTER

EINWEIHUNG ALS AUFKLÄRUNG

UNTERWELTSREISEN IM ZEITALTER DER GEHEIMGESELLSCHAFTEN

Die Unterweltsfahrt ist ein klassischer Topos der abendländischen Literatur.[1] Homer schildert im 11. Gesang der Odyssee, wie Odysseus auf Kirkes Rat hin den Okeanos-Strom durchquert, um am Rande der Welt, wo das Totenreich beginnt, den Seher Teiresias nach seinem Schicksal zu befragen. Diese Unterweltsfahrt ist kein Abstieg, sondern eine Überquerung, und Odysseus dringt nicht ins Totenreich ein, sondern verbleibt an seinem Rande und lässt die Schatten der Toten zu sich kommen, angelockt vom Blut geschlachteter Schafe. Die Heimkehr, nach der Odysseus sich sehnt, kann nur gelingen, wenn ihm Teiresias seine Zukunft kündet und das Dunkel erhellt, in dem Odysseus orientierungslos umherirrt. Der Seher klärt ihn auf über den Zorn des Poseidon, den er sich durch die Blendung des Polyphem zugezogen hat, und verkündet ihm seine endliche Heimkehr nach Ithaka. Wer Klarheit über das Leben gewinnen will, muss mit dem Totenreich in Verbindung treten. Ganz anders liegt der Fall eines anderen Unterweltsfahrers, der für das Abendland mindestens ebenso bedeutsam geworden ist. Orpheus steigt in die Unterwelt hinab, um durch die magische Gewalt seines Gesangs und Lyra-Spiels von den Mächten des Tartarus seine geliebte Eurydike zurückzugewinnen. Ihn leitet nicht das Verlangen nach Aufklärung, nach Einblick in das von Göttern verhängte Schicksal, nach Orientierung in unerträglich gewordener Irrfahrt, sondern die Liebe. Bei Odysseus ging es um die Zukunft, er will nur heimkehren und das dunkle Verhängnis durchschauen, das seine Heimkehr verhindert. Bei Orpheus geht es um Wiederherstellung, um die Rückführung der Geliebten ins Leben, um die Überwindung des Todes, der sie ihm entrissen hat. Gemeinsam aber ist beiden, Orpheus und Odysseus, die Klage. Beide treten die Unterweltsfahrt in einer Situation hoffnungsloser Sehnsucht und Verzweiflung an. Odysseus wird die Heimkehr gelingen, Orpheus aber scheitert mit Eurydikes Rückkehr ins Leben; dennoch scheint die Überwindung des Todes als eine Möglichkeit und Hoffnung auf, sodass Orpheus als eine Präfiguration Christi verstanden werden konnte. Vergil und Ovid haben diesen Mythos dem Abendland überliefert, wo Orpheus zum Gründungsheros und geradezu zur Verkörperung einer neuen Kunstform wurde, der Oper, die um 1600 mit der Darstellung seiner musikalischen Unterweltsreise einsetzt.

Der dritte der klassischen Unterweltsfahrer ist Aeneas, den Vergil im 6. Gesang der Aeneis in die Unterwelt reisen lässt. Wie Odysseus tritt auch Aeneas diese Reise auf dem Tiefpunkt seiner Irrfahrt, in einer Situation tiefster Depression und Verzweiflung an. Anders aber als Odysseus strebt er nicht heim, seine Heimat Troja ist vernichtet, ein göttliches Verhängnis treibt ihn von dannen, sein Ziel kennt er nicht. Im Traum erscheint ihm sein Vater Anchises und trägt ihm die Unterweltsfahrt auf, wo er ihn über Ziel und Zukunft aufklären wird. Mit Hilfe der Cumaeischen Sibylle und des berühmten «Goldenen Zweiges» gelingt ihm der Abstieg zum Avernus. Wie Odysseus bringt auch Aeneas an der Hadespforte ein blutiges Opfer dar: Da erscheint ihm Hekate mit dem Ruf: «procul, o procul este, profani! – Fern, o fern bleibt, ihr Ungeweihten!» Das ist der Ruf, der bei der Einweihung in die eleusinischen Mysterien die Uneingeweihten ausschließt: «thyras d’epithesthe bebēloi – Macht die Türen von außen zu, ihr Uneingeweihten!» In der Unterwelt trifft Aeneas seine Geliebte, Dido, die sich aus Kummer über seine Abreise das Leben genommen hat. Dido und Aeneas bilden wie Orpheus und Eurydike einen der beliebtesten Opernstoffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Ziel von Aeneas’ Abstieg ist aber das Wiedersehen mit seinem Vater Anchises, der ihm, so wie Teiresias dem Odysseus, die Zukunft offenbart: seine Landung in Latium und die künftige Größe Roms. Anders als Odysseus und darin allenfalls Abraham zu vergleichen, soll Aeneas zum Stammvater eines gewaltigen Volkes werden. Das Vorbild Homers ist offensichtlich, aber Vergils Unterwelt hat sich um einen entscheidenden Punkt verändert: Anchises wohnt nicht bei den gewöhnlichen Toten, sondern bei den «Frommen», im «lieblichen Elysium», einem locus amoenus mit grünen Wiesen und schattigen Hainen. Das Elysium ist das Ziel der Mysterien, die sich mit dem Namen Orpheus verbinden. Den in die orphischen oder bakchischen Mysterien Eingeweihten wurden Goldblättchen mit ins Grab gegeben, die ihnen den Weg zum Elysium weisen und sie als Eingeweihte ausweisen sollen.[2] Bei Vergil ist die Unterweltsreise zur Einweihung in die Mysterien geworden.

Einweihung bedeutet Verwandlung, und in der Tat verlässt Aeneas die Unterwelt als ein gewandelter Mensch. Aus einem Menschen der Vergangenheit, der von seinem Trauma, dem Brand Trojas, dem Verlust seiner geliebten Frau Kreusa, dem Blutbad, den Gefahren der Flucht mit dem greisen Vater und dem kleinen Sohn, nicht loskommt und der, unfähig, sich von dieser Vergangenheit zu lösen, ziellos in die Fremde getrieben wird, ist ein Mensch der Zukunft geworden, der vorausschaut und tatkräftig das Werk der Eroberung und Gründung in Angriff nimmt. Die Unterweltsfahrt des Aeneas ist eine Mysterienreise, von der er gewandelt zurückkehrt. Nicht Odysseus, sondern Aeneas, nicht der heimkehrende, sondern der ausziehende Held, der bei diesem Auszug überhaupt erst zum Helden wird, ist der Protagonist der Unterweltsfahrten, die wir in diesem Buch vorstellen.

Eine ganz andere Unterweltsreise unternimmt Dante in seiner Divina Commedia, nicht als Held, sondern als Dichter, aber er wird dabei von Vergil geleitet und knüpft dadurch an die antiken Unterweltsreisen, an Orpheus und Aeneas, an, denn beide hat Vergil besungen, und auch an Odysseus, dessen Nekyia das unverkennbare Vorbild von Aeneas’ Unterweltsfahrt ist und den Dante wegen seiner rastlosen Neugier in die Hölle versetzt. Mit Orpheus verbindet ihn der Schmerz um den Tod der Geliebten, Beatrice, mit Odysseus und Aeneas aber die Depression und vollkommene Desorientierung. In der Mitte seines Lebensweges, so beginnt sein Gesang, hat er sich in einem finsteren Wald verlaufen. Auch diese Unterweltsfahrt trägt die Züge der Mysterienreise, denn sie endet mit der visio beatifica des Paradieses.

Vergil bleibt auch das große Vorbild moderner Unterweltsreisen. Den goldenen Zweig, der Aeneas als Schlüssel zum Tor der Unterwelt diente, hat Sir James Frazer als Titel seines zwölfbändigen Werkes The Golden Bough: A Study in Magic and Religion (1906–1915) gewählt und dadurch sein Unternehmen als eine wissenschaftliche Unterweltsreise gekennzeichnet. Sie führte ihn in die Mythologien der Welt, in denen es um Tod und Verwandlung, Verfall und Erneuerung geht. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert konnte sich diese gigantische Erkundung des Archaischen als eine Reise in die Unterwelt des modernen Bewusstseins darstellen. Mit diesem Werk hat Frazer einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Moderne genommen, in der das Motiv der Unterweltsreise wieder eine bedeutende Rolle spielt.[3] Noch bahnbrechender und bestimmender für die geistige Welt der Moderne wurde die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Seiner Traumdeutung, der ersten und entscheidenden psychoanalytischen Veröffentlichung, in der er seine revolutionierenden Ideen vortrug und die, symbolisch genug, im Jahre 1900 erschien, stellte er einen Vers aus der Aeneis als Motto voran: Flectere si nequeo superos Acheronta movebo – «Kann ich den Himmel nicht beugen, so hetz ich die Hölle in Aufruhr»,[4] der das ganze Projekt der Erforschung des Unbewussten als eine Unterweltsfahrt deutet. Freud hat sich Frazer eng verbunden gefühlt und die Parallelen zwischen dem Archaischen und dem Unbewussten immer wieder betont, vor allem in seinen kulturanalytischen Schriften Totem und Tabu und Der Mann Moses. Sein abtrünniger Schüler Carl Gustav Jung hat sich dann systematisch der Erforschung dieser Unterwelt des Archaischen und Unbewussten gewidmet.

Die Parallele zwischen Archaischem oder Mythischem und dem Unbewussten ist dann ein durchgehendes Thema im Werk Thomas Manns. In vielen seiner Werke, vor allem in Tod in Venedig, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus, ist das Thema der Unterweltsfahrt, des Unterweltlichen oder der Hölle präsent. Das große Vorspiel zur Joseph-Tetralogie ist mit «Höllenfahrt» überschrieben; hier wird die Unterweltsfahrt als Zeitreise in eine mythische Vergangenheit gedeutet. Aber auch Josephs Reise nach Ägypten wird als Unterweltsreise dargestellt. Ägypten erscheint in der Sicht der Anhänger eines neuen Glaubens als Unterwelt sowohl in Bezug auf seine unerleuchteten Sitten als auch wegen seines märchenhaften Reichtums. Immerhin steigt Joseph in der Unterwelt zum «Ersten der Westlichen» (ein Beiname des Gottes Osiris, des Beherrschers des Totenreichs), zum Spender von Reichtum und Wohlstand auf. Die Unterweltsreise wird hier zum Bildungsroman.

Alle diese Unterweltsfahrten sind wohlbekannt und gut erforscht; ein wichtiges Kapitel in der Geschichte dieses Motivs ist jedoch bis heute weitgehend unbeachtet geblieben. Das sind die Unterweltsfahrten in der Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Diese Lücke brachte uns auf den Gedanken, einige Beispiele, die uns besonders interessant und repräsentativ erschienen, in einer kommentierten Anthologie zusammenzustellen. Wir sind auf diese Texte im Zusammenhang mit einer systematischen Erforschung des kulturgeschichtlichen Umfelds der Zauberflöte gestoßen, deren Handlung sich als der Prototyp einer Unterweltsfahrt im Sinne dieser Zeit verstehen lässt. Taminos Reise in die Sarastro-Welt, angetreten, um die entführte Pamina zurückzuerobern, gerät ihm zum Abstieg in die Unterwelt, die hier aber keine Hölle und kein Totenreich ist, sondern ein unterirdischer Raum der Prüfung und Unterweisung, durch den er zur Erleuchtung aufsteigt. Der Prüfungstempel, in dem seine Initiation in die «Mysterien der Isis» stattfindet, ist eine Krypta oder Höhle, wie sie die Abbildung auf dem Umschlag dieses Buches, ein Bühnenbildentwurf zur Zauberflöte von Simone Quaglio aus dem Jahre 1818, darstellt. In dieser Unterwelt werden die Mysterien der Isis begangen, in einem Raum der Weisheit, Vernunft und Aufklärung, in den Tamino aus der Oberwelt der Königin der Nacht, der Illusionen und des Aberglaubens, hinabsteigt. Hier finden wir alle Motive vereinigt, die das Motiv der Unterweltsreise in der Literatur der europäischen Spätaufklärung kennzeichnen: die Unterwelt in Form des Prüfungstempels in den Substruktionen des Sarastro-Reichs, die ägyptischen Mysterien, die Prüfungen und Unterweisungen, denen sich die beiden Eindringlinge, Tamino und Papageno, dort unterziehen müssen, der Geheimbund der Priester, in den Tamino und Pamina aufgenommen werden, und der Gang durch Feuer und Wasser, der sie als schwerste Prüfung und letzte Stufe der Einweihung zur Erleuchtung führt.

Mit den antiken Unterweltsreisen hat das auf den ersten Blick wenig zu tun. Wo bleibt das Totenreich, das doch in der Antike und auch bei Dante das entscheidende Merkmal der Unterwelt ist? Wenn hier überhaupt von «Unterwelt» und «Totenreich» die Rede sein kann, dann im metaphorischen Sinne, mit Bezug auf eine unterirdische Architektur, die den Rahmen für Riten abgibt, die dann ihrerseits einen symbolischen Tod bedeuten. Auch für diesen Typus der Unterweltsreise gibt es antike Beispiele. Das bedeutendste und für die Unterweltsfahrten des 18. Jahrhunderts maßgebliche haben wir unserer Anthologie vorangestellt: den verschlüsselten Bericht, den Apuleius von Madauros in seinem Werk Metamorphosen oder Der Goldene Esel von der Einweihung des Lucius in die Mysterien der Isis gibt. Auf dem Höhepunkt dieser Initiation, den Apuleius nur in stark verschlüsselter Sprache beschreibt, tritt der Initiand «an Proserpinas Schwelle», also an das Tor des Totenreichs, «durchfährt alle Elemente», also Feuer, Wasser, Luft und Erde, tritt den Göttern von Angesicht zu Angesicht gegenüber, schaut die Sonne um Mitternacht und wird nach seiner Reise, bei der er zwölfmal das Gewand wechseln musste, am Morgen «als Abbild des Sonnengottes» im Palmenkranz der jubelnden Menge gezeigt. Lucius hat die Nachtfahrt des ägyptischen Sonnengottes rituell nachvollzogen. Als Ägyptologen können wir nicht umhin, bei Apuleius’ Andeutungen an die Unterweltsbücher zu denken, die an den Wänden der ramessidischen Königsgräber angebracht sind, aber auch im Osireion zu Abydos, in das man, anders als in die Königsgräber, in rituellen Vollzügen hinabsteigen konnte.[5] Man möchte sich vorstellen, dass der Myste in ähnlich dekorierte Räume – vielleicht die Krypta – eines Tempels geführt wird. Auf jeden Fall scheint es hier um eine symbolische Unterweltsfahrt zu gehen, wobei diese Unterwelt ganz im ägyptischen Sinne als das unterirdische Reich der Mitternachtssonne dargestellt wird. Auch diese Unterwelt ist ein Totenreich, das der Sonnengott jede Nacht durchfährt, um den Toten für die Zeit seiner Durchfahrt Licht und Luft, Recht und Versorgung zu bringen.

Lucius kehrt von dieser initiatorischen Nachtfahrt verwandelt zurück. Der ganze Roman handelt von Verwandlung. Erst wird Lucius in einen Esel verwandelt, weil er sich von Lust und Neugier getrieben mit einer zaubermächtigen Dirne einlässt, und durchlebt alle möglichen Abenteuer auf der Suche nach Rückverwandlung in einen Menschen, aber die entscheidende Verwandlung vom moralisch haltlosen Jüngling zum verantwortungsvollen, gottesfürchtigen Bürger gelingt erst durch die verwandelnde Erfahrung der Initiation.

In drei Punkten knüpft die Zauberflöte explizit an Apuleius’ Beschreibung von der symbolischen Unterweltsfahrt des Lucius an: Auch hier geht es um die «Mysterien der Isis», auch hier gehen die beiden Prüflinge, Tamino und Pamina, durch die Elemente Feuer und Wasser – die Erde wird durch das unterirdische Szenario vertreten und die Luft durch das Flötenspiel –, und auch hier endet die Prüfung mit dem Sonnenaufgang. In anderen Punkten ist die Unterweltsfahrt des Orpheus das Vorbild. Auch Tamino wird auf der Suche nach der Geliebten in die Unterwelt geführt, auch er vermag mit Hilfe der Musik den Gefahren zu trotzen, aber da er anders als Orpheus nicht nur nach Liebesvereinigung, sondern auch nach Weisheit strebt, gelangt er ans Ziel, das nicht in der Rückkehr besteht, sondern im Durchgang zu einem neuen, höheren Leben. In diesem Punkt nun ist Aeneas das Vorbild. Mit Aeneas hat Tamino die Berufung zum Herrscher gemeinsam. Wie Aeneas ist Tamino ein aus seiner Heimat ausgezogener Prinz, der sich einen Thron in der Fremde erwirbt.

Das Todesmotiv steht auch bei den symbolischen Unterweltsreisen eines Initiationsrituals im Mittelpunkt. Die Verwandlung, die sich in der Initiation mit dem Initianden vollziehen sollte, stellte man sich – ganz im Sinne der Unterweltsreise – als eine Konfrontation mit dem Tod vor. Als wichtigstes Zeugnis galt ein Plutarch zugeschriebenes Fragment, in dem dieser die Ängste der Mysterienweihe mit Berichten über Nahtod-Erlebnisse verknüpft:[6]

Hier [d.h. in diesem Leben] ist die Seele ohne Erkenntnis außer wenn sie dem Tode nah ist. Dann aber macht sie eine Erfahrung, wie sie jene durchmachen, die sich der Einweihung in die Großen Mysterien unterziehen. Daher sind auch das Wort «sterben» ebenso wie der Vorgang, den es ausdrückt, (teleutân) und das Wort «eingeweiht werden» (teleîsthai) ebenso wie die damit bezeichnete Handlung einander gleich. Die erste Stufe ist nur mühevolles Umherirren, Verwirrung, angstvolles Laufen durch die Finsternis ohne Ziel. Dann, vor dem Ende, ist man von jeder Art von Schrecken erfaßt, und alles ist Schaudern, Zittern, Schweiß und Angst. Zuletzt aber grüßt ein wunderbares göttliches Licht und man wird in reine Gefilde und blühende Wiesen aufgenommen, wo Stimmen erklingen und man Tänze erblickt, wo man feierlich-heilige Gesänge hört und göttliche Erscheinungen erblickt. Unter solchen Klängen und Erscheinungen wird man dann, endlich vollkommen und vollständig eingeweiht, frei und wandelt ohne Fesseln mit Blumen bekränzt, um die heiligen Riten zu feiern im Kreise heiliger und reiner Menschen.[7]

Die Mysterien sollten den Initianden einen symbolischen Tod sterben lassen und ihm so die Angst vor dem wirklichen Tod nehmen, indem sie ihn auf ein unsterbliches Leben im Elysium vorbereiten, wie es in der Aeneis beschrieben ist. Im II. Akt der Zauberflöte, der Taminos initiatorische Unterweltsreise beschreibt, ist ständig vom Tod die Rede.

Beim Ritus der Meisterweihe in der Freimaurerei muss sich der Kandidat in einen Sarg legen und die Passionsgeschichte des Adonhiram nachempfinden, des sagenhaften Architekten des salomonischen Tempels und Gründungsheros der Freimaurerei, der von Neidern erschlagen und zum Märtyrer seines Geheimnisses wurde. Gleich zu Anfang seines Prüfungswegs wird der «Suchende» in einer schwarz ausgeschlagenen Kammer allein gelassen, mit einem Totenkopf, einem Dolch und einem Strick (den beiden Dingen, mit denen sich Pamina und Papageno in der Zauberflöte das Leben nehmen wollen). Nach dem Ritual der Crata Repoa schreitet der Initiand durch die «Pforte des Todes», wird rituell getötet, trifft in der Unterwelt auf Särge, Knochen, Schlangen und grauenerregende Wesen, um danach im hell erleuchteten Logentempel einen Tanz der Priester zu erleben. Tod, Unterwelt und Initiation gehören in den Mysterienreisen des 18. Jahrhunderts zusammen.

Um eine Konfrontation mit dem Tod geht es auch in der gescheiterten Initiation, die Schiller in seiner Ballade vom Verschleierten Bild zu Sais beschreibt. Ein Jüngling ist «von des Wissens heißem Durst» getrieben nach Sais in Ägypten gereist, um sich in die Mysterien der Wahrheit, in der wir die Göttin Isis erkennen dürfen, einweihen zu lassen, und muss sich von dem Priester, der ihn führt, sagen lassen, dass noch kein Sterblicher den Schleier gehoben habe, der ihr Bild verhüllt. Nachts hält ihn die Neugier nicht länger, er dringt in den Tempel ein, reißt den Schleier vom Bild der Wahrheit und –

Besinnungslos und bleich,
So fanden ihn am andern Tag die Priester
Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.
Was er allda gesehen und erfahren,
Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig
War seines Lebens Heiterkeit dahin,
Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.

Schiller lässt offen, was er da gesehen hat. Auf jeden Fall war es zu viel für die Fassungskraft des Jünglings, eine verwandelnde Erfahrung, die in Schwermut und Tod endete.

Wer sich dieser Erfahrung aussetzt, muss dabei geführt und berufen sein. Der Mysterien- und Unterweltsreisende des 18.Jahrhunderts unternimmt diese Reise unter der offenen oder verborgenen Führung eines Geheimbunds, der ihn auf seiner Suche nach Sinn und Weisheit – die in Novalis’ Deutung des verschleierten Bildes zu Sais auf eine Suche nach sich selbst hinauslief – an die Hand nahm. Mozarts Zauberflöte, Schillers Ballade, das Ritual der Freimaurer, Goethes Wilhelm Meister – das sind alles Varianten des Geheimbundromans, der seinerseits eine Variante des Bildungs- oder Erziehungsromans ist.

Nach dem Vorbild des ersten und bedeutendsten Erziehungsromans, der im 18. Jahrhundert unendliche Nachfolger gefunden hat, des Télémaque (1699) von François de Salignac de la Mothe-Fénelon, schrieb Andrew Michael Ramsay den Roman The Travels of Cyrus, der im Jahre 1727 erschien.[8] Ramsay hatte jahrelang in Cambrai in Fénelons Haus gelebt und gab dessen Schriften, darunter eine Neuauflage der Aventures de Télémaque (1717), heraus. Ramsay schickt seinen Cyrus auf eine Bildungs- und Studienreise, die ihn zu Zoroaster, Hermes Trismegistos und Pythagoras führt. Hier fehlen zwar noch die Motive der Unterwelt und des Geheimbunds, aber es wundert nicht, dass Ramsay wenig später als prominenter Freimaurer hervortrat.[9] An diese Vorbilder knüpfte der erste Geheimbundroman an, der 1731 anonym erschienene Roman Séthos des Abbé Jean Terrasson,[10] Professor der altgriechischen Literatur am Collège de France und Herausgeber und Kommentator der Historischen Bibliothek des Diodor von Sizilien. Terrasson verlegt den Bildungsweg seines Helden ins Alte Ägypten. Dieser Roman wurde mit seiner packenden Schilderung der Initiation des Helden in den Substruktionen der Pyramiden und Tempel von Memphis zum Modell nicht nur aller folgenden Mysterienreisen einschließlich der Zauberflöte, sondern auch mancher freimaurerischer Ritualbücher, die diese Darstellung für historische Wahrheit nahmen. Denn Terrasson gab seinen Roman als wissenschaftliche, mit Fußnoten annotierte Edition eines altgriechischen Manuskripts aus.

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Aufnahme in einen ägyptischen Geheimbund, in: Christian Heinrich Spieß, Die Geheimnisse der alten Egipzier. Eine wahre Zauber- und Geistergeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1798.

Der deutsche Geheimbundroman folgt diesem Vorbild, aber erst in den späten siebziger Jahren, als Matthias Claudius’ Übersetzungen von Terrassons Séthos und Ramsays Travels of Cyrus erschienen.[11] In den wenigen Jahren zwischen 1785 und 1795, dem Jahrzehnt der Zauberflöte, erschienen z.B. die beiden Romane Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1786) und Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790) von Karl Philipp Moritz, die Linda Simonis als initiatorische Geheimbundromane interpretiert hat,[12] Adolph von Knigges, Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg (1787),[13] Christoph Martin Wielands, Peregrinus Proteus (1789–1791),[14] Wilhelm Friedrich Meyerns, Dya-Na-Sore oder Die Wanderer (1787–1791),[15] Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1793) sowie vor allem Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und der zweibändige Roman Das Heimweh von Johann Heinrich Jung-Stilling (1795), der das freimaurerische und freidenkerische Mysterienparadigma im christlich-pietistischen Sinne umdeutet und das Reich Gottes als eine Geheimgesellschaft darstellt, in die der Held in verschiedenen Stufen der Einweihung aufgenommen wird.[16]

In diesen Geheimbundromanen wird das Geheimnis positiv behandelt, und die Einweihung dient der Erziehung und Veredelung des Helden. Der lehrhafte Aspekt der unterweltlichen Initiation wird in der Erbauungsliteratur besonders betont; so vermittelt Jung-Stilling etwa im Heimweh seinem Protagonisten die kantische Transzendentalphilosophie. Es gibt aber auch eine negative Variante. Hinter ihr steht eine in genau denselben Jahren um sich greifende Verschwörungsangst, die gewissermaßen die Schattenseite der für diese Zeit charakteristischen Allianz zwischen Aufklärung und Geheimnis darstellt. Das Geheimnis bot eben nicht nur der freidenkenden Weisheit, sondern auch dem Verbrechen, Betrug, der Verschwörung und Spionage einen Schutzraum. Im Jahre 1781 schrieb Goethe an Lavater:

Ich habe Spuren, um nicht zu sagen Nachrichten, von einer großen Masse Lügen, die im Finstern schleicht, von der du noch keine Ahndung zu haben scheinst. Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Kellern, Gängen und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt.[17]

Nach der Aufdeckung des bayerisch-österreichischen Ländertausch-Skandals im Jahre 1784[18] und der Halsband-Affäre in Paris in den Jahren 1785/86, die Goethe in seinem Lustspiel Der Groß-Cophtha (s.u. zu Wieland) satirisch verarbeitete, bekam diese allgemeine Verschwörungsangst neuen Auftrieb; Friedrich Schiller hat sie in seinem unvollendeten Roman Der Geisterseher (1786–1788) mit unvergleichlicher Präzision eingefangen. In diesem Text stellt Schiller das Grundprinzip des initiatorischen Bildungsromans auf den Kopf, indem er seinen Helden, den Prinzen, durch den Kontakt mit einem Geheimbund nicht der Erziehung und Veredelung, sondern der moralischen und seelischen Zerstörung anheimfallen lässt.[19]

Terrasson, der vielleicht als der Erfinder des Geheimbundromans gelten darf, verlegt den Bildungsweg seines Helden nach Ägypten und die Unterweltsfahrt in die Substruktionen der Pyramiden und Tempel von Memphis. In Ägypten sah man seit jeher den Ursprung und das Vorbild aller Mysterienreligionen und Einweihungen. Im 17. und 18. Jahrhundert galt Ägypten als das Land mit einer doppelten Religion, die in eine volkstümliche Außen- und eine elitäre, nur auserwählten Eingeweihten zugängliche Innenseite gespalten war.[20] So hatten sich schon die Alten Griechen die Existenz zweier ganz verschiedener Schriften erklärt, die in Ägypten in Gebrauch waren. Die Hieroglyphen galten ihnen als symbolische Bilderschrift, die von den Priestern als Geheimschrift der Mysterien verwendet wurde, und die abstrakte Kursivschrift deuteten sie als Volksschrift, die jedermann zugänglich war.[21] In der Neuzeit kamen die Berichte der Reisenden hinzu, die ausgedehnte unterirdische, über und über mit Hieroglyphen beschriftete Anlagen beschrieben, also das, was wir heute als Grabanlagen verstehen. Damit schien klar, dass die ägyptische Religion nicht nur zwei Schriften, sondern auch zwei Bauweisen verwendete, eine oberirdische für die Tempel und Feste der Volksreligion und eine unterirdische, die den Mysterien als Kultbühne, Forschungsstätte und Wissensspeicher diente. So kam es zu der Vorstellung von der Einweihung als einer Reise in das unterirdische Ägypten, wo der Initiand im Innern der Erde schwerste Prüfungen zu bestehen hat, bevor er gereinigt und erleuchtet zum Licht aufsteigen darf. Die Mysterien, so nahm man auf der Basis einer Fülle von griechischen Aussagen zur ägyptischen Kultur und Religion an, galten der Göttin Isis als der all-einen, allumfassenden Gottheit, die sich in der Inschrift auf dem berühmten «verschleierten Bild zu Sais» mit den Worten verkündete: «Ich bin alles, was da war, ist und sein wird. Kein Sterblicher hat meinen Schleier gehoben.»[22] Isis galt als «Mutter Natur», als Inbegriff von Weisheit, Wahrheit und Vernunft, als Göttin der Aufklärung.

Was haben aber die Mysterien der Natur, Wahrheit und Aufklärung im Untergrund zu suchen, in Krypten und Höhlen? Dahinter stand eine politische Deutung, mit der William Warburton in seinem im 18. Jahrhundert viel gelesenen und in mehrere Sprachen übersetzten Buch über die göttliche Sendung Moses[23] die eigentümliche Spaltung der ägyptischen Kultur in eine Außen- und eine Innenseite mit ihren beiden Schriftsystemen und ihren beiden Bauweisen erklärte. Die Mysterien der Isis, der «Mutter Natur», konnten nicht staatstragend sein, weil die Natur nun einmal keinen Unterschied macht zwischen Guten und Bösen sowie Freunden und Feinden. Ein Staatswesen aber braucht Götter, die solche Unterscheidungen treffen, verkörpern und überwachen. Da die heidnischen Kulturen von der Offenbarung ausgeschlossen waren und nur die der Vernunft zugängliche natürliche Religion kannten, mussten sie die staatstragenden Gottheiten und ihre politische Theologie erfinden. Die natürliche Religion aber mussten sie in den Untergrund verbannen, damit die fiktiven Götter, auf denen alle politische und zivile Ordnung beruhte, nicht als Fiktionen entlarvt würden. Diese Situation zog dann alles Weitere nach sich, die doppelte Religion, das doppelte Schriftsystem und die doppelte Architektur über und unter der Erde.

Dieses Bild war für das späte 18. Jahrhundert umso attraktiver, als sich manche Parallelen zu der eigenen Situation ziehen ließen, in der die Aufklärer ihren Betätigungen unter den Bedingungen staatlicher und kirchlicher Zensur nachgehen mussten. So erschien den Freimaurern, Illuminaten, Rosenkreuzern und anderen Geheimbündlern das Alte Ägypten als Spiegelbild ihrer eigenen Lage und das unterirdische ägyptische Priestertum als Modell ihrer eigenen Logen.

Was an Ägypten vor allem interessierte, waren die Mysterien der Isis, die man mit denen von Eleusis identifizierte, weil man mit Diodor davon ausging, dass diese von Orpheus aus Ägypten nach Eleusis gebracht worden seien.[24] Von diesen Riten, über die sich die antiken Quellen aus naheliegenden Gründen weitgehend ausschweigen, wusste man immerhin so viel, dass sie mit theatralischen Mitteln dem Initianden eine Leib und Seele zutiefst erschütternde und den ganzen Menschen verwandelnde Erfahrung beibrachten. Das Zeitalter der Empfindsamkeit betonte vor allem die psychologischen Wirkungen der Initiation, die nach Christoph Meiners «nicht nur Aug und Ohr rührten, sondern alle Sinne betäubten, und den Hörern und Zuschauern kalten Angstschweis, heiligen Schauder, so wohl als entzückende Freude und aus allen diesen plötzlich abwechselnden entgegengesetzten Empfindungen entspringende Andacht hervorbrachten».[25] Schiller schreibt von den ägyptischen Mystagogen: «Sie brachten die neuen Begriffe mit einer gewissen sinnlichen Feyerlichkeit in die Seele, und durch allerley Anstalten, die diesem Zweck angemessen waren, setzten sie das Gemüth ihres Lehrlings vorher in den Zustand leidenschaftlicher Empfindung, der es für die neue Wahrheit empfänglich machen sollte.»[26] Es ging also um «Leiden und Lernen», pathein und mathein, wie es ein Wortspiel des Aristoteles ausdrückt;[27] die Einweihung bildete den Höhepunkt eines Erziehungsprogramms, das auf eine durchgreifende «Veredelung» des Neophyten abzielte. Darin bestand die Verbindung zwischen Mysterien- und Bildungsroman, und der «kalte Angstschweis» und «heilige Schauder», von dem Meiners schreibt, stellte die Verbindung zum Schauerroman her. Wer nicht durch diese verwandelnde Erfahrung gegangen ist, war dem Anblick der Wahrheit nicht gewachsen, wie es Schiller in seiner Ballade vom «Verschleierten Bild zu Sais» darstellt. Man unterschied mit einigen antiken Quellen zwischen den «kleinen» und den «großen Mysterien», was sich gut mit den verschiedenen Graden der Freimaurerei in Verbindung bringen ließ. In den kleinen Mysterien ging es um Prüfung und Unterweisung, in den großen Mysterien aber um die verwandelnde Erfahrung, an deren Ende die Erleuchtung steht.

Während zu den kleinen Mysterien alle freien und unbescholtenen Bürger zugelassen wurden (daher ist in der Zauberflöte auch Papageno dabei), sind zu den großen Mysterien nur wenige Auserwählte zugelassen. Die folgende Stelle bei Clemens von Alexandria, in der er die Exklusivität der Mysterien betont, bezog man auf die großen Mysterien:

Die Ägypter offenbaren ihre religiösen Mysterien nicht unterschiedslos allen, noch teilen sie das Wissen um die göttlichen Dinge den Profanen mit, sondern nur denen, die zur Nachfolge im Königtum ausersehen sind, und solchen von den Priestern, die dazu aufgrund ihrer Geburt und Erziehung am besten qualifiziert sind.[28]

Von den eingeweihten Königen schreibt auch Plutarch in seiner Schrift Über Isis und Osiris:

Wenn unter den Ägyptern ein König aus dem Militärstand gewählt wird, bringt man ihn von Stund an zu den Priestern und unterrichtet ihn in jener Arkantheologie, die geheimnisvolle Wahrheiten unter obskuren Fabeln und Allegorien verbirgt. Daher stellen sie Sphingen vor ihren Tempeln auf, um zu bedeuten, daß ihre Theologie eine gewisse arkane und rätselvolle Weisheit enthält.[29]

Diese Stellen sind zentral für das Mysterienverständnis des 18. Jahrhunderts, weil sie Geheimnis und Herrschaft in engste Beziehung setzen. Die Legitimation zum Herrschen setzt Einweihung in die Mysterien voraus; hier ging es im wahrsten Sinne des Wortes um Herrschaftswissen. Man muss nur «Einweihung» durch «Aufklärung» ersetzen, um die politische Brisanz dieser Lesart zu verstehen. Von daher erklärt sich, dass der typische Unterweltsfahrer dieser Zeit ein zum Herrschen berufener Prinz oder Auserwählter ist: Sethos, Tamino und Kosti sind Prinzen, Eugenius wird in Ostenheim herrschen. Das gilt auch für Aeneas, das klassische Vorbild aller zum Herrschen berufenen Unterweltsfahrer. Die verwandelnde Erfahrung der initiatorischen Unterweltsreise formt und befähigt sie zu ihrer hohen Aufgabe. Diese Romane sind nicht nur Bildungsromane, sondern auch Fürstenspiegel. Das gilt schon für Télémaque und Cyrus, die noch keine Geheimbundromane sind, aber an deren Vorbild sich die späteren Schöpfungen orientieren. Auch ihre Helden sind zum Herrschen berufene Prinzen und ihre Autoren Prinzenerzieher. Fénelon war Erzieher der Enkel Ludwigs XIV., Ramsay der des jungen Grafen Sassenage und kurzfristig auch des britischen Kronprätendenten Charles Stuart. Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Welt war im 18. Jahrhundert allgemein, und wer seine Hoffnung nicht auf eine Revolution setzte, der setzte sie auf eine Verbesserung der Herrschenden, auf Erziehung und Aufklärung der Monarchen.

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Die antiken Ursprünge der Freimaurerei, Frontispiz von Alexandre Lenoir, La Franche-Maçonnerie, Paris 1814.

Der Historiker Reinhart Koselleck hat in seiner Dissertation «Kritik und Krise» eine faszinierende Deutung der politischen Funktion des Geheimnisses vorgelegt. Er sieht in der Unterscheidung von Politik und Moral die entscheidende Leitdifferenz des Jahrhunderts der Geheimgesellschaften. «Das Geheimnis, dieses dem Zeitalter scheinbar so widersprechende Element, […] führt in das Zentrum der Dialektik von Moral und Politik. Das Geheimnis verdeckt in ambivalenter Weise die politische Kehrseite der Aufklärung.»[30] Das Freimaurergeheimnis zieht eine Grenze zwischen innen und außen, die, wenn Koselleck recht hat, semantisch besetzt wird als Gegensatz von Politik und Moral. Durch diese Unterscheidung wird die Loge als politikfreier und die Politik als moralfreier Raum konstruiert: Darin liegt die Dialektik dieser Grenze und ihre staatskritische Stoßkraft. Der absolutistische Staat wird auf die Basis einer moralfreien machiavellistischen Logik der Staatsräson gestellt, die ihr Ziel nicht in der «Glückseligkeit» aller Bürger, sondern im Machterhalt des Staates sieht. Die Loge dagegen stellt sich auf die Grundlage einer politikfreien Moral, von der aus gesehen sich der absolutistische Staat als «Tyrannei» darstellt. Die Maurer verbünden sich aber nicht etwa zu dem revolutionären Ziel, den Staat zu stürzen, sondern sie gründen im kleinen Maßstab der Loge einen Alternativstaat – und in der Tat ist der Vorwurf, einen statum in statu zu bilden, ein Leitmotiv der Vorwürfe und Verdächtigungen, die gegen die Logen erhoben wurden –, der sich auf Moral gründet. Die Ideale dieses Mikrostaates heißen Tugend und Gerechtigkeit, tätige Menschenliebe, Freundschaft und Gleichheit. Das klingt harmlos und wünschenswert genug, und man fragt sich, warum es nötig war, daraus ein Geheimnis zu machen. Der Zwang zum Geheimnis ergibt sich aus dem utopischen Charakter dieser Ideale. Mozarts und Schikaneders in der Zauberflöte an sehr prominenter Stelle[31] auftauchenden Verse: «Wenn Tugend und Gerechtigkeit/Der Großen Pfad mit Ruhm bestreut,/Dann ist die Erd ein Himmelreich/Und Sterbliche den Göttern gleich» hat man als ein Adynaton, d.h. als Ausdruck einer Undenkbarkeit, zu verstehen. Würden sie sich allgemein durchsetzen, dann bedeutete das den Umsturz der bestehenden Ordnung und das Ende des absolutistischen Staates. Deshalb müssen sie im Geheimen, im Schutzraum der Loge (oder allenfalls im utopischen Reich des Sarastro und auf der Opernbühne), praktiziert werden. Die Freimaurer praktizieren sie im Verborgenen als Avantgarde einer kommenden Welt und im Vertrauen auf deren allmähliche Selbstdurchsetzung. Daher, im Hinblick auf die kommende Welt der bürgerlichen Demokratie, deutet Koselleck diesen Prozess als «Pathogenese der bürgerlichen Welt». Zunächst aber, im Horizont des 18. Jahrhunderts, handelt es sich um die Genese einer Doppelstruktur im Sinne der religio oder philosophia duplex. In den Kommunikationsraum der Gesellschaft wird ein doppelter Boden eingezogen, und die Aufklärung «emigriert in den privaten Untergrund».[32] Im Alten Ägypten, d.h. in dem von den Griechen überlieferten Bild der altägyptischen Kultur und Gesellschaft, erblickte man das Vorbild dieser Doppelstruktur.

Dass Altägypten hier als Vorbild dienen konnte, verdankt es seiner Beschreibung durch Diodor, eines Lieblingsschriftstellers des 18. Jahrhunderts. Diodor beschreibt den ägyptischen König als einen an gerechte und unverrückbare Gesetze gebundenen Herrscher, der sich in allen seinen Schritten von den Priestern beraten lässt, von denen es heißt:

So sind sie immer um den König und beraten mit diesem in wichtigen Dingen alles im Voraus, in anderen wieder sind sie teils Mitarbeiter, teils mit ihren Vorschlägen Belehrende für ihn. Mit Hilfe von Sternenkunde und Opferschau deuten sie die Zukunft und lesen jeweils aus den heiligen Schriften die Berichte vor, die von Nutzen sind. […] Steuern zahlen sie nicht, folgen an Ansehn und Einfluß aber gleich hinter dem König. (I 73,4f.)

Das ist die Rolle, die sich die Freimaurer im Absolutismus erträumten und in den Romanen entwarfen. Aber schon Diodors Text hat den Charakter und die Funktion eines Fürstenspiegels, und so ist seine politische Rezeption im 18. Jahrhundert alles andere als zufällig. Diodor hat ihn der verlorenen Geschichte Ägyptens des Hekataios von Abdera entnommen, die dieser Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. für Ptolemaios I. geschrieben hatte, um ihm ein Bild ägyptischer Kultur und Geschichte an die Hand zu geben, auf das er seine Herrschaft als König Ägyptens gründen konnte.

Die Ägypten- und Mysterienfaszination des 18. Jahrhunderts beruht aber noch auf anderen Quellen und geht auf die Renaissance zurück. Als im 15. Jahrhundert die antike Literatur wiederentdeckt und studiert wurde, waren es vor allem zwei umfangreiche, für genuin ägyptisch gehaltene Textwerke, die ein neues Interesse für die ägyptischen Mysterien auslösten: die beiden Hieroglyphen-Bücher des Horapollon, die für eine Hieroglyphenbegeisterung der Gelehrten und Künstler sorgten,[33] und das Corpus Hermeticum, eine Sammlung hermetischer Schriften, die die Theologen und Philosophen faszinierten.[34] Sie werden dem legendären ägyptischen Weisen Hermes Trismegistos zugeschrieben und gelten als älteste ägyptische Weisheit. Schon Laktanz hat in Hermes einen wahren Monotheisten und Vorläufer Moses gesehen und durch zahlreiche Zitate in seinen Divinae institutiones ein Bewusstsein seiner Lehren schon vor der Wiederentdeckung des Corpus im Abendland wachgehalten. In initiatorischen Lehrgesprächen wird die Einheit des Geistig-Göttlichen als prägender Grund der Vielheit der sichtbar-leiblichen Erscheinungen sowie die Welt im Ganzen als universeller Verweiszusammenhang verstanden. Die zahlreichen hermetischen Schriften leiten daraus naturphilosophische und ethische Paradigmata ab wie auch astronomische, magische oder alchemische Lehren.[35] Auch noch als diese Texte als Zeugnisse der Spätantike anstatt uralter Weisheit erkannt wurden, blieb Ägypten der Ort, an dem immer wieder die Ursprünge gesucht wurden: sei es die Frage nach der Entstehung der Menschheit, nach dem adamitischen Urwissen oder nach der Entstehung der Religion. Erik Hornung, der die Genese und Geschichte dieses Ägyptenbildes beschrieben hat, hat dafür den glücklichen Begriff «Ägyptosophie» geprägt.[36]

Im 19. Jahrhundert wurde das Ägyptenbild auf vollkommen neue Fundamente gestellt. Als es Jean-François Champollion im Jahre 1822 gelang, die Hieroglyphen zu entziffern und damit die altägyptische Kultur selbst zum Sprechen zu bringen,[37] bedeutete dies das Ende des überlieferten Ägyptenbildes. Von nun an war man nicht mehr auf die Vermittlung der Antike und Spätantike angewiesen, um sich ein Bild der altägyptischen Kultur zu machen, sondern konnte die ägyptischen Quellen selbst befragen. «Ägyptosophie», die Ägyptenrezeption auf der Grundlage der antiken Quellen, und Ägyptologie, die wissenschaftliche Erforschung der altägyptischen Quellen, traten auseinander. Die Idee der ägyptischen Mysterien und mit ihnen das Motiv der initiatorischen Reise in die ägyptische Unterwelt verschwand aus der Ägyptologie und führt noch heute ein reges Nachleben in der Ägyptosophie.[38]

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Der Prüfungstempel als unterirdische Höhle mit einem Sitzbild und den Säulen (des Hermes?), Grabstätten und Sarkophag. Bühnenbildentwurf von Simone Quaglio zum II. Akt der Zauberflöte (München 1818), nach Bärbel Pelker (Hg.), Theater um Mozart, Heidelberg 2006.

EDITORISCHE VORBEMERKUNG

Grundlage der Edition ist jeweils die Erstausgabe. Im Falle von Übersetzungen wurde diejenige ausgewählt, die im 18.Jahrhundert die weiteste Wirkung entfaltet hat. Orthographie und Zeichensetzung der Originale wurden beibehalten; nur offensichtliche Satzfehler sind stillschweigend korrigiert. Kurze Erläuterungen und Textzusammenfassungen der Herausgeber stehen in eckigen Klammern; Kürzungen sind durch Auslassungspunkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Fußnoten und Anmerkungen der Originale werden generell als Fußnoten wiedergegeben. Die Seitenzahlen der Originaltexte sind als Marginalien gesetzt; ein senkrechter Strich (|) markiert den Seitenumbruch des Originals.

1. APULEIUS

DIE MYSTERIEN DER ISIS EROBERN DIE GRIECHISCH RÖMISCHE WELT

Die wichtigste Quelle für das abendländische Bild der antiken Mysterien im Allgemeinen und der ägyptischen Mysterien im Besonderen ist ein Werk der epischen Literatur: Im elften Buch des um 170 entstandenen Romans Metamorphosen schildert Apuleius ausführlicher und lebendiger als andere die Mysterien der Isis. Bis heute ist diese auf Lukians Lukios oder Der Esel beruhende «fabula» die am meisten konsultierte und zitierte Quelle, wenn es um die Mysterien und das Isisbild der Antike geht.

In elf Büchern berichtet Apuleius von den Erlebnissen des Lucius, der durch seine Neugier an Magie und Zauberei und seine erotischen Eskapaden in einen Esel verwandelt wird. In dieser Gestalt erlebt er zahlreiche Abenteuer, hört viele in die Rahmengeschichte eingebettete Erzählungen und muss große Leiden erdulden. Im Schlusskapitel wird von der Begegnung des Protagonisten mit der Göttin Isis berichtet, von den Verheißungen der Mysterienweihe, seiner Rückverwandlung in einen Menschen, den Vorbereitungen zur Einweihung und schließlich, in verschlüsselter Form, von der Einweihung selbst, bei der der Initiand an die Schwelle des Totenreichs tritt, die Götter von Angesicht zu Angesicht sieht, durch die Elemente fährt und die Sonne in der Unterwelt erblickt.

In der Rede vom Göttlichen, dem menschliche Sprache nie gerecht werden könne, und im Schweigegebot der Mysterien formuliert Apuleius ein poetologisches Programm und umkreist in bewusst mehrdeutigen allegorischen Bildern das Mysterium und das Göttliche. Mit der narrativen Einbettung der Ägypten- und Mysterientopoi wie der Askese, der Leibskepsis, einer platonisch inspirierten Seelenlehre und Gnoseologie wurde das Isisbuch der Metamorphosen zum locus classicus für ägyptische Mysterien in der griechisch-römischen Antike.

Apuleius’ Isisbuch zeigt darüber hinaus, dass die ägyptische Kultur und ihre Götter nicht mehr an das Niltal gebunden waren, denn die Handlungsorte sind Griechenland und Rom. Isistempel gab es in Rom, Taormina oder Köln; in Rom konnte man Obelisken bestaunen, und Cestius ließ sich als Grabmal eine Pyramide erbauen.[1] Die ägyptischen Mysterien waren zu einem kulturellen Element des Imperium Romanum geworden und gehören unmittelbar zur abendländischen Kultur und nicht nur zu ihrer Vorgeschichte. Ägypten ist in diesem Zusammenhang ein zwar rätselhaftes, aber kein fremdes Land.

Apuleius wurde zwischen 123 und 125 in Madaurus geboren, das im heutigen Algerien liegt und damals zum Imperium Romanum gehörte.[2] Sein Vater war ein hoher römischer Amtsträger und hinterließ seinen Söhnen ein großes Vermögen. Dies ermöglichte ihm eine Ausbildung in Karthago und Athen; dort bildete er sich zu einem «platonischen Philosophen» und ließ sich auf ausgedehnten Reisen in verschiedene Mysterienkulte einweihen.[3] Da seine Muttersprache Punisch war, musste er Griechisch und Latein erst lernen, die Sprachen, mit denen er seinen Ruhm als Schriftsteller, Übersetzer und Philosoph erlangen sollte.[4] Gestorben ist er wohl in den siebziger Jahren des zweiten Jahrhunderts.

Neben den Metamorphosen sind von Apuleius zahlreiche Schriften überliefert, u.a. eine Schrift Über Platon und seine Lehre,[5] unter dem Titel Florida eine Sammlung von Reden,[6] eine dämonologische Abhandlung Über den Gott des Sokrates[7] und eine Verteidigungsrede vor Gericht, die der Magie gewidmet ist.[8] Dieser Prozess gilt heute als das biographisch herausragende Ereignis: Apuleius hatte die seit langem verwitwete und vermögende Mutter eines Freundes geheiratet. Nachdem sein Studienfreund gestorben war, wurde Apuleius beschuldigt, den Freund ermordet und die Mutter mittels Magie und Zauberei verführt und zur Ehe gezwungen zu haben. Der Vorwurf wog schwer, denn bei einer Verurteilung hätte ihm die Todesstrafe gedroht; vor Gericht verteidigte sich Apuleius selbst und wurde freigesprochen. Diese Rede, die unter dem Titel Pro se de Magia überliefert ist, hat Apuleius zu einer der bekanntesten Gestalten der Magiedebatte gemacht.

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Isis als Mondgöttin und Personifikation der Natur, in: Alexandre Lenoir, La Franche-Maçonnerie, Paris 1814.

ZUR HANDLUNG DER METAMORPHOSEN

Sein Hang zu Magie und Zauberei führt den jungen und schönen Lucius nach Thessalien, das für seine Hexen und Zauberer berüchtigt ist. Und tatsächlich hört er auf seinem Weg dorthin vom Liebeszauber und von mächtigen Hexen; der Roman enthält die ausführlichste Sammlung von Hexengeschichten in der lateinischen Literatur, und die ersten drei Kapitel stehen ganz im Zeichen dieser Geschichten, die Apuleius im Interesse guter Unterhaltung satirisch übersteigert. So berichtet er von der Wirtin Meroe, die mittels Magie ihren Geliebten sexuell hörig macht, ihn all seiner Habe beraubt und ihn schließlich tötet, indem sie ihm während des Schlafes das Herz aus dem Leib reißt und durch einen Schwamm ersetzt. Der Leser erfährt von Lampenorakeln, Hexenküchen und Toten, die von einem ägyptischen Priester kurzzeitig ins Leben zurückgerufen werden, um ihren Mörder anzuklagen. Die Hexen sind so mächtig wie gefährlich: Sie besitzen gleichsam kosmische Kräfte, und sich mit ihnen einzulassen heißt, sich in äußerste Gefahr zu begeben.