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Berthold Riese

DIE MAYA

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

Wissenschaftler haben seit 1958 entscheidende Durchbrüche in der Entzifferung der Hieroglyphentexte erreicht, womit die politische Geschichte der Maya und ihre Religion heute weitgehend erschlossen sind. Seither wissen wir, dass dieses mittelamerikanische Volk nicht friedlich und beschaulich dahinlebte, wie es frühere Forschung hat glauben machen wollen, um damit der zerrütteten modernen Welt einen Spiegel vorzuhalten. Die Einzelschicksale der Herrscher mit Kriegsberichten, Totenfeiern und schmerzhafter Selbstkasteiung sprechen nämlich eine andere Sprache. Im Mittelpunkt des Buches steht die politische und kulturelle Entwicklung der Maya und die Geschichte der Dynastien der bedeutenden Stadtstaaten von Tikal, Yaxchilán, Copán und Palenque mit ihrer wechselvollen Geschichte.

Über den Autor

Berthold Riese, emeritierter Professor für Ethnologie und Altamerikanistik an der Universität Bonn, hat in Copán und an anderen Maya-Stätten archäologisch und epigraphisch gearbeitet und auch Archiv- und Sprachquellen über die Maya erforscht. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem: Das Reich der Azteken. Geschichte und Kultur (2011), Machu Picchu (32018) und die Inka (2016).

Inhalt

Einleitung

I. Die Maya-Welt und ihre Entdeckung

1. Die Lebenswelt der Maya

2. Entdeckung und Erforschung

II. Die Gesellschaft formiert sich

III. Die klassische Blüte

1. Eine Naturkatastrophe bringt die zivilisatorische Entwicklung voran

2. Fremdbestimmung durch Teotihuacan

3. Leben in den Städten

IV. Zur Geschichte bedeutender Städte und Dynastien

1.Tikal (Motul)

2. Yaxchilán

3. Copán

4. Palenque

5. Politische Geographie

V. Krise und Neuausrichtung

VI. Die selbstbestimmte Geschichte nimmt ein Ende

ANHANG

Zeittafel

Präklassik

Frühklassik

Mittelklassik

Spätklassik

Nachklassik

Spanische Eroberungszeit

Quellen

Gedruckte Quellen

Internet-Quellen

Abbildungen, Karten und Tabellen

Register

Einleitung

Das indianische Amerika erlebte in seiner jahrtausendelangen Geschichte eine kulturelle Sternstunde: die Entfaltung und Blüte der klassischen Maya-Kultur auf der Halbinsel Yukatan. Zu einer Zeit, als bei uns Kultur und Zivilisation der Spätantike in den Wirren der Völkerwanderung versanken, entwickelten die Maya im fernen Mittelamerika eine unvergleichliche Vielfalt höchster schöpferischer Leistungen. Allein in der Wand- und Vasenmalerei, in Portraitplastik in Stuck und Stein, in Arithmetik, in astronomischer Mathematik und im Schreiben waren sie allen zeitgenössischen Kulturen ihres Kontinents weit voraus. Wie aber gestaltete sich damals der Alltag in ihren Dörfern und Städten? Warum entstand gerade dort diese einmalige Kultur, was waren die Ursachen der mehrmals durchlittenen Krisen, und wieso verstummte sie wieder so plötzlich? Die Forschung hat ihre Hieroglyphentexte und ihre Bildwerke so weit entschlüsselt, dass ich konkrete Einblicke in die Kulturleistungen dieses Volkes, das Leben der Herrscher mit Namen, Lebensdaten und ihren Taten geben kann, wobei auch die häufigen Kriegszüge angesprochen werden, die dem Schicksal eines Stadtstaats oft eine überraschende Wende gaben. Auf den Gebieten der Archäologie und der physischen Anthropologie macht die Forschung ebenso große Fortschritte. Daher habe ich den Text für diese achte Auflage grundlegend überarbeitet und auch die Literaturhinweise auf den neuesten Stand gebracht, bei der Redaktion und dem Korrekturlesen kompetent unterstützt von Albert Josef Urban (Trier), Teresa Löwe-Bahners und Rosemarie Mayr (beide Verlag C.H.Beck, München).

Germering-Unterpfaffenhofen, im Sommer 2018

Berthold Riese

I. Die Maya-Welt und ihre Entdeckung

1. Die Lebenswelt der Maya

Die Halbinsel Yukatan, auf der die Maya leben, ist eine durchkarstete Sedimentkalkfläche im Südosten des heutigen Mexiko. In nördlicher Richtung ragt sie weit in das Karibische Meer hinein und ist somit im Westen, Osten und Norden von der See umspült. Im Süden begrenzen sie die Vorberge der amerikanischen Kordillere. Die Grenze im Südwesten kann etwa mit dem Unterlauf des Río Grijalva im mexikanischen Bundesstaat Chiapas gezogen werden. Kulturell weniger streng ausgeprägt ist die südöstliche Grenze: Sie folgt nord-südlich etwa dem Westrand des Río-Ulúa-Tales in Honduras und biegt von dort nach Südwesten zum Pazifik ab (s. Karte 2, S. 38). Gelegentlich wechseln Hügel und Senken ab, doch überschreiten die Erhebungen nur selten 200 Meter. Nur entlang der Küste des heutigen Belize ragen mit den «Maya Mountains», Ausläufern der Kordillere, richtige Berge empor, die Gipfel bis zu 1120 Metern Höhe bilden.

Das so umrissene Gebiet liegt in den gemäßigten Tropen, ist aber in seinem nördlichen Teil vor allem wegen extrem niedriger und jahreszeitlich ungleich verteilter Regenmengen eine Dornbuschsavanne. Dagegen waren weite Teile des südlichen Tieflandes ehemals von dichtem tropischen Regenwald bedeckt, sofern sie nicht landwirtschaftlich genutzt wurden. Zur Zeit der Hochblüte der Maya-Kultur war die Halbinsel aber so dicht besiedelt und wurde so intensiv genutzt, dass dort nicht Urwald, sondern eine lichte Wald- und Savannenlandschaft vorherrschte.

Tropenstürme, die in der entsprechenden Jahreszeit regelmäßig über Yukatan hinwegfegen, konnten zwar Felder verwüsten, stellten aber keine dauerhafte Gefahr für die Bevölkerung dar. Schwieriger war für die Bewohner der Umgang mit dem Wasserhaushalt. Während der Norden keine Flüsse kennt, sondern nur unterirdisch verlaufende Grundwasserströme, die an vielen Stellen in «Cenotes» genannten Dolinen zugänglich sind, aber durch Steintreppen und Leitern erschlossen werden müssen, ertrinkt weiter im Süden an der Bucht von Campeche die weite Alluvialebene alljährlich während der Regenzeit von April bis November in den Wassermassen, welche die Stromsysteme des Río Grijalva und des Río Usumacinta sammeln und über sie ergießen. Dagegen muss man sich schützen, indem man die Siedlungen auf erhöht gelegenen Stellen errichtet. Die Quellflüsse der östlichen Ströme Río Hondo und Río Belice reichen ebenfalls tief ins Binnenland hinein, stellen aber keine so extreme Überschwemmungsgefahr dar.

Die in Gesteinsbildung, Oberflächengestalt und Wasserhaushalt verschiedenen Zonen weisen auch verschiedenartige Böden, Mineralien, Pflanzen- und Tierpopulationen auf. Der Norden ist ein schier unerschöpfliches Reservoir an Kalkstein, der sich als Baustein bzw. zur Gewinnung von Kalkmörtel und Zement eignet und zur Anfertigung von Skulpturen dient. Er ist auch unentbehrlich für die Zubereitung von Maisspeisen, denn Mais muss vor der Zubereitung durch Wässern in Kalklösung chemisch aufgeschlossen werden, um seine ganze Nährkraft zu entwickeln. Im Norden findet man auch Einschlüsse von Feuersteinknollen, die Rohmaterial für Klingen abgeben. Unter den sich auf der Kalksteingrundlage bildenden Böden ist die ‹Weißerde› (sas-kab) als Ersatz für Sand zur Herstellung von Baumörtel nützlich. Wälder bieten verschiedene Arten von Hölzern: weiche, harte, termitenfeste, so dass an geeignetem Bauholz kein Mangel besteht. Palmblätter lassen sich, ebenso wie lange Gräser, zur Bedachung nutzen. Weniger bekannt ist der vielfältige Nutzen, den Baumharze als Klebematerial für das Handwerk, als Grundstoff für die Beleuchtung mittels Fackeln, als Räucherharz im religiösen Ritual und auch ganz profan als Kaugummi bieten.

Überall gedeihen bei angepasster Anbauweise Mais, Bohnen, Kürbisse, Kalebassen, Tomaten, Tabak und in den feuchteren südlichen Zonen auch Yucca, Kakao, Chilli und Baumwolle. In den Wäldern wachsen außerdem essbare Früchte wild, die sich unschwer in Gartenkulturen pflegen und veredeln lassen, so die Papaya, die Avocado, die birnengroße Zapote-Frucht, die Chirimoya oder Anona, ebenfalls eine Baumfrucht, und die Ramón-Nuss. Das Angebot an jagdbarem Großwild ist hingegen bescheiden: Puma und Jaguar kommen nur ihrer Felle wegen in Betracht. Als Wildbret bieten sich Hirsch, Peccari und Kleinwild wie Kaninchen, Agouti, Tepe-itzcuintli (ein rattengroßes Nagetier) und Leguan an. Vögel sind hauptsächlich wegen ihrer Federn begehrt. Unter ihnen rangiert an erster Stelle der scheue, aber nur in feuchten Bergwäldern des Hochlandes von Guatemala und der Maya Mountains heimische Quetzal-Vogel. Seine langen elastischen, grün-schillernden Schwanzfedern sind ein wichtiger Bestandteil der Tracht gehobener Schichten. Brüllaffen, Kapuzineräffchen und Spinnenaffen leben in den Baumkronen der Wälder. Man wird sie, wie auch heute noch, als possierliche Haustiere gehalten haben. In den Flüssen, den wenigen Seen und vor allem an der Meeresküste sind außerdem Fische, Schalentiere, Muscheln und Schnecken und Meeresschildkröten als Nahrungsquellen verfügbar und werden zum Teil auch wegen ihrer robusten Schalen und Panzer als Rohmaterial für Schmuckstücke und Geräte genutzt. Das Land bietet dem Menschen also eine reiche, wenn auch nicht üppige Lebensgrundlage, fordert von ihm aber ein gehöriges Maß an Anpassung.

2. Entdeckung und Erforschung

Den Anfang archäologischer Erforschung des Maya-Tieflandes machten Erkundungen von Ruinen nahe dem Dorf Palenque. Sie waren den einheimischen Chol-Indianern zwar schon immer bekannt, haben aber erst im ausgehenden 18. Jahrhundert das Interesse der nicht-indianischen Bevölkerung auf sich gezogen. Der spanische König Karl III. griff die Meldungen über die Entdeckung dieser rätselhaften Ruinen in seinem amerikanischen Kolonialreich auf und beauftragte den Artillerie-Hauptmann Antonio del Río mit ihrer Erkundung. Dank des Talents von del Río war die Erforschung der Ruinen erfolgreich, und er brachte außer seinen Aufzeichnungen auch einige dort gefundene Gegenstände nach Madrid zurück. Zur Veröffentlichung seiner umsichtigen und sorgfältigen Bestandsaufnahme von Gebäuden und Skulpturen kam es jedoch erst 30 Jahre später, und zwar nicht in Spanien, sondern in England und Deutschland. Damit war ein Anfang gemacht und das Interesse an indianischen Altertümern geweckt. Doch zunächst kam die Forschung nicht voran, weil infolge der Unabhängigkeitsbestrebungen der amerikanischen Kolonien vom Mutterland Spanien in Mexiko und Zentralamerika Chaos herrschte und Fremde sich kaum mehr in dortige entlegenere Gebiete wagten.

Ein unternehmender Nordamerikaner, John Lloyd Stephens, und der englische Architekt Frederick Catherwood, beide Forschungsreisende mit Erfahrung im Orient, wagten einen Neuanfang und durchstreiften nach dem Abklingen der Kämpfe von 1839 bis 1841 das ganze Maya-Gebiet auf der Suche nach versteckten Ruinen. Ihre Bücher stimulierten mit spannenden Reiseschilderungen und romantischen Stichen von der Hand Catherwoods das Interesse der Öffentlichkeit in Nordamerika und Europa. Mit Stephens und Catherwood schloss die vor-fotografische Ära; denn schon während die beiden Yukatan bereisten, waren in Frankreich und England fotografische Verfahren erfunden und mit Erfolg erprobt worden, so dass der Franzose Désiré Charnay sich ab 1857 mit beachtlichem Erfolg im Fotografieren von Ruinenstätten in Mexiko und eben auch im Maya-Gebiet versuchte. Ihm folgten der ehemalige britische Kolonialbeamte Alfred Percival Maudslay und der ehemalige kaiserlich-mexikanische Hauptmann deutscher Abkunft Teobert Maler. Sie entwickelten ihre Fototechnik ab 1875 zu so hoher Qualität, dass ihre bildlichen Dokumentationen von Ruinen und Skulpturen auch heute noch Grundlage der Forschung sind. Malers und Maudslays Unternehmungen waren privat organisiert und finanziert. Sie opferten dafür ihr persönliches Vermögen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wechselte die Feldforschung von der Bestandsaufnahme oberflächlich sichtbarer Ruinen zu Ausgrabungen. Jetzt waren es nicht mehr privat agierende Einzelforscher, die solche Unternehmungen planten, sondern große Institutionen, die sie finanzierten, ganze Teams zusammenstellten und sie auf jährliche Forschungskampagnen schickten. Schrittmacher war das US-amerikanische Peabody-Museum an der Harvard University, das seine ersten Grabungen schon vor der Jahrhundertwende in Copán begann und später auch auf andere Orte ausdehnte. Ihm folgte bald die Carnegie Institution of Washington, Hauptförderer der archäologischen Forschung für die ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtete sich das Erkenntnisinteresse der Forschung anstatt auf die Prunkbauten und steinernen Skulpturen der Zeremonialzentren, wie man damals die alten Maya-Städte nannte, auf das Leben der einfachen Bevölkerung. Dafür wurden jetzt unscheinbare Dörfer und Wohnbezirke ausgegraben, und die Verteilung der Siedlungen im Raum wurde kartographiert. Auch die Mensch-Umwelt-Beziehungen rückten allmählich stärker in den Vordergrund der Feldarbeit.

Feldforschung war und ist aber nicht das einzige Arbeitsfeld von Archäologen. Geräteaufwendige naturwissenschaftliche Materialuntersuchungen im Labor haben das Aussagepotenzial der ergrabenen Funde schrittweise erweitert und präzisiert. 14C-Untersuchungen und Thermoluminiszenz sind zwei Verfahren, die es erlauben, kulturelle Hinterlassenschaften aus Holz und Keramik zu datieren. Für die Klärung der Herkunft von Rohstoffen der Tonherstellung sind etwas später als die genannten Verfahren Neutronenaktivierung und ähnliche kernphysikalische Methoden hilfreich eingesetzt worden. Hier hat sich in den Jahren nach 1950 ein immer breiter werdendes Angebot von Untersuchungsmethoden eröffnet, das ungeahnte Einblicke in den Zeitrahmen und die Klimageschichte, in und unter denen die Bevölkerung damals lebte, sowie ihren Handel und ihre Ernährungsgewohnheiten gewährt.

Die Entschlüsselung der Maya-Schrift war ein langwieriges und von vielen Sackgassen behindertes Unterfangen. Zwar haben Forscher in Nordamerika und Europa schon im 19. Jahrhundert das in der Schrift verschlüsselte Zahlensystem enträtselt. Darauf aufbauend konnte der königlich-sächsische Bibliothekar Ernst Wilhelm Förstemann schon um 1900 auch die astronomischen Rechentafeln in der von ihm betreuten Dresdener Maya-Handschrift, einer von damals nur drei bekannten vorspanischen Büchern der Maya, entschlüsseln. Und wiederum an seine Ergebnisse anschließend gelang es verschiedenen Schreibtischgelehrten, die auf unzähligen Steindenkmälern gravierten Kalenderdaten in den Ruinenstätten zu entziffern. So stand um die Mitte des 20. Jahrhunderts eine detailreiche Chronologie der Maya-Geschichte zur Verfügung, die auch heute noch das zeitliche Gerüst aller historischen Rekonstruktionen bildet. Von diesen Kalenderdaten war zunächst aber noch unbekannt, welchem Zweck sie dienten. Denn die nicht-chronologischen Textpartien, die immerhin zwei Drittel der Schrifttexte ausmachen, waren noch gänzlich unverstanden geblieben. Es tobte daher jahrzehntelang ein Streit in der Fachwelt, ob die Texte religiös-esoterischen Inhalt hätten oder geschichtlich-historischen. Es waren zwei außerhalb der üblichen Archäologen-Laufbahn stehende Forscher, denen der Durchbruch gelang: Der aus Fürth gebürtige Emigrant Heinrich Berlin in Mexiko und die russische Emigrantentochter Tatiana Proskouriakoff in den USA haben unabhängig voneinander in der kurzen Zeitspanne von 1958 bis 1964 die Beweise dafür erbracht, dass mit den Skulpturen und in den Inschriften aus dem Leben der lokalen Herrscher und ihrer Städte berichtet wird. Damit war die lange Zeit dominierende These vom esoterisch-religiösen Inhalt der Maya-Schrifttexte hinfällig, und die Maya enthüllten sich als ein Volk, das wie fast überall auf der Welt einen Herrscherkult in ihren Texten und Bildwerken pflegte. Der damit aber immer noch nicht gelöste Streit um den Charakter der Schrift klärte sich dann auch bald, indem auch hier der Schleier des Geheimnisvollen in den oft bildlich ausgeführten «Hieroglyphen» fiel, als deutlich wurde, dass die Maya-Schrift im Prinzip nicht anders als Schriften des Vorderen Orients und Ostasiens als Silbenschrift organisiert ist, die sich nach strengen Regeln auf eine Maya-Sprache (das Proto-Cholische) bezieht und daher auch gelernt und sprachlich gelesen werden kann. Heute gibt uns die Maya-Schrift kaum noch Rätsel auf, denn die Regeln, mit denen sie operiert, und etwa 80 Prozent der vielleicht 500 gebräuchlichen Zeichen sind in ihrer Bedeutung und/oder sprachlichen Lautung bekannt, so dass Texte gelesen, wenn auch manchmal nicht genau verstanden werden können. Dieser Durchbruch war nicht Einzelleistung eines Genies oder einer eng kooperierenden Forschergruppe, sondern gelang in internationaler Arbeitsteilung unter Beteiligung von Russen, Nordamerikanern und Deutschen.

Die Erforschung der Kolonialzeit durch Aufschlüsselung von frühen schriftlichen Zeugnissen in lateinischer Buchstabenschrift ist lange ein Stiefkind der Forschung gewesen. Selbst die reichhaltige und wohlgeordnete Dokumentensammlung im Indien-Archiv in Sevilla im spanischen Mutterland wurde nie systematisch ausgewertet. Wegen dieser misslichen Lage hat die schon um die archäologische Forschung verdiente Carnegie Institution of Washington seit den 1930er Jahren viele verstreute Dokumente über die Maya veröffentlicht und durch Übersetzungen ins Englische sowie historiographische Synthesen nutzbar gemacht.

Das Maya-Tiefland war bis ins 20. Jahrhundert eine von der modernen Zivilisation nur wenig berührte Zone fernab der dicht besiedelten Hauptstädte. Daher haben Völkerkundler immer wieder betont, dass man dort noch viele traditionelle Lebensformen unter der ansässigen Maya-Bevölkerung erforschen könne. Zunächst betrafen solche Forschungen die Sprachen. Später setzte auch die professionelle Erforschung traditioneller Lebensformen, also die Ethnographie ein. Zur Erhellung der Kultur der alten Maya haben beide beigetragen.

Im 18. und 19. Jahrhundert gab es noch nicht so etwas wie rationale Theorien über die Geschichte von Völkern außerhalb Europas, sondern allenfalls religiös motivierte oder fantastisch inspirierte Spekulationen mit historischer Zielsetzung: Atlantis, die Alten Ägypter und der verlorene Stamm Israels wurden als Ursprung exotischer Kulturen immer wieder bemüht, und das auch für die Maya. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Ansätze einfacher sozialgeschichtlicher Typisierungen und Entwicklungen über die Maya, ihre Herkunft und ihre politische und wirtschaftliche Verfassung geboren. Sie spiegelten sich in Formulierungen wie «das alte und das neue Reich der Maya», «die Theokratie der Maya» oder «die Griechen der Neuen Welt» wider. Mit dem Anwachsen der gesicherten Daten über die Maya mussten sich solche plakativen und oft auch vom Wunschdenken ihrer Urheber geleiteten Theorien zunehmend an der (rekonstruierten) Lebenswelt der Maya bewähren und wurden differenzierter und komplexer. Schließlich verabschiedeten sie sich ganz von den einfachen evolutionistischen oder gesellschaftstypologischen Schemata. Zugleich wurde deutlich, dass die Maya zur Bewältigung ihrer Lebensprobleme und zur Organisation ihrer Gesellschaft oft zu ähnlichen Mitteln gegriffen haben wie andere Völker auf der Welt. Die Maya sind auf diese Weise in fast allen Lebens- und Kulturbereichen immer weniger exotisch und uns immer ähnlicher geworden, freilich ohne dass im Religiösen und Künstlerischen die Unterschiede ganz verschwunden sind.

II. Die Gesellschaft formiert sich