Manon Fargetton:
Wovon die Sterne träumen

»Zufall, Schicksal, Vorsehung, Fügung, Energieknoten, Planetenkonstellation … Nennt es, wie ihr wollt. Ich nenne es Magie.«

TITOUAN verlässt sein Zimmer nicht mehr.

ALIX träumt vom Theater.

LUCE ist nach dem Tod ihres Mannes untröstlich.

GABRIELLE ist ihre Freiheit zu wichtig, um sich zu binden.

ARMANDS ganzes Leben kreist nur um seine Tochter.

Fünf Personen in ihrer jeweils ganz eigenen Welt. Doch eine unbekannte Nummer, die auf dem Display eines Telefons erscheint, genügt, um ihre Existenzen miteinander zu verflechten – und ihre Schicksale in ganz neue Richtungen zu lenken …

»Eine Geschichte von ergreifender poetischer Kraft.« Télérama

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Viten

 

»Laissons-nous aimer

comme on cligne des yeux dans le plein soleil.«

»Lasst uns lieben,

wie man im grellen Sonnenlicht blinzelt.«

Balmino, »Si vous saviez« (»Wenn ihr wüsstet«)

 

Für den Jugendlichen, der mir nach einer Lesung

in seiner Klasse gestand, dass er immer noch mit Lego spielt,

und der dachte, er sei der Einzige an seiner Schule,

der das noch tut. Ich kann mich nicht mehr an deinen Namen erinnern.

Aber ich erinnere mich an dich und an dein Gesicht,

als ich dir erzählt habe, dass ich Erwachsene kenne, die dieser

Leidenschaft – also der deinen –

ganze Kellergeschosse gewidmet haben.

 

Für Louanne, deren Energie, Aussehen

und tänzelnde Ballerinaschritte das Vorbild

für die Figur der Lila waren.

DANKE

Dieser Roman verdankt sich in weiten Teilen meiner Jugend in der Bretagne, dieser Küstenregion im Norden Frankreichs, die meine Heimat ist und immer sein wird, meiner Zeit am Konservatorium für Musik in Saint-Malo sowie all jenen, die es damals bevölkert haben: meinen Lehrern, M&M, den beiden magischen Schlagzeugern, und all meinen Freunden, mit denen ich so viele Stunden in diesem Park verbracht habe.

Außerdem ist er auch sehr von jenen ungefähr fünfzehn Jahren geprägt, in denen das Theater der andere Mittelpunkt meines Lebens war. Ich danke allen, die mit mir Seminare, Bühnen, Funkgeräte, Leitern und Kulissen geteilt haben. Ein besonderer Gruß an die Uburikiens und die Furiosos (da ging es beim Teilen eher um Scheunen, an Balken festgeschnallte Scheinwerfer, Kartoffelpasteten sowie zwei, drei andere, weniger salonfähige Dinge)!

Großer Dank auch an die Mitglieder des Luftsportvereins in Rennes, insbesondere Daniel, Christian, Michel und Yves-Noël, die mir meine Fragen beantwortet und mir von ›ihrem‹ Luftsportverein erzählt haben.

Ich danke Gaël, der mir erlaubt hat, ihn fast vollständig in diesen Roman einzubringen!

Ich danke Balmino für den Soundtrack.

Ich danke meiner Mutter, der Erstleserin mit dem unschätzbar wertvollen Blick; und Dank auch an Sandrine, Estelle und Julie, die tief in meine Zeilen eingetaucht sind, um mich voranzubringen.

Und ich danke Alain, der immer noch nicht weiß, warum, aber ich schon.

Ich danke dem Centre National du Livre für seine Unterstützung, insbesondere Kathleen Feret, deren Freundlichkeit und Einsatzbereitschaft geradezu legendär sind (doch, doch!).

Ich danke Thierry, Jean-Philippe, Christine und dem ganzen Team bei Gallimard Jeunesse, wo ich mich seit zwei Jahren wie zu Hause fühle. Das Abenteuer geht weiter …

PROLOG

Die Welt ist klein.

Sehr klein.

Es ist fast schon ein Jahrhundert her, dass ein ungarischer Schriftsteller in einer seiner Erzählungen die Idee entwickelt hat, jeder Mensch auf diesem Planeten sei mit jedem anderen beliebigen Menschen über eine Kette von fünf Beziehungen verbunden. In der Forschung wurde diese Theorie später das »Kleine-Welt-Phänomen« genannt.

Stellt euch das nur mal einen Moment lang vor, ganz bildlich: wie ihr die Hand einer Verwandten oder auch nur einer entfernten Bekannten ergreift, die wiederum einem ihrer Freunde die Hand reicht, dem ihr noch nie begegnet seid, und dann immer so weiter, bis sich eine Kette von sechs Personen ergibt. Auf diese Weise könnte man, von euch ausgehend, die ganze Menschheit miteinander verbinden. Egal, in welche Familie oder in welches Land man geboren wurde, ganz gleich welchen Beruf man ausübt, welche Träume man hegt, welche Ängste oder Fantasien, ob man seinen Geburtsort noch nie verlassen hat oder schon um die ganze Welt gereist ist – jeder von uns wäre über gerade mal fünf Zwischenstationen mit jedem beliebigen anderen verknüpft, von Mensch zu Mensch.

Natürlich hatte dieser ungarische Schriftsteller – Frigyes Karinthy, wenn ihr’s genau wissen wollt – im Jahr 1929 noch nicht die technischen Möglichkeiten, seine hübsche Theorie zu beweisen. Und ich glaube auch gar nicht, dass er das wollte. Er war ein Dichter, wie ich, und Dichter ziehen das undurchdringliche Labyrinth der Träume oftmals der Genauigkeit von Daten vor.

Nun ist aber inzwischen das Internet aufgetaucht, mit seiner Vielzahl an sozialen Netzwerken. Und plötzlich sind all diese Dinge – der Beziehungsgrad zwischen den Menschen, alles, was uns trennt oder verbindet – genauestens quantifizierbar geworden. Und obwohl viele Menschen gar keinen Zugang zum Internet haben, scheint das Netz, das wir rund um den Erdball bilden, noch engmaschiger geworden zu sein, als unser lieber Frigyes sich das je hätte träumen lassen. Drei bis fünf Personen sollen mittlerweile genügen, um uns mit dem Unbekanntesten der Unbekannten zu verbinden. Verrückt, oder?

Und dann entstehen ja manchmal auch ganz neue Verbindungen, bei denen mehrere Zwischenglieder übersprungen werden und die Beziehungsketten sich nochmals verkürzen. Vollkommen unwahrscheinliche Begegnungen, die das Leben aller Beteiligten komplett auf den Kopf stellen können. Nennt es, wie ihr wollt: Zufall, Schicksal, Vorsehung, Fügung, Energieknoten, Planetenkonstellation …

Ich nenne es Magie.

Und wenn ihr dann die ganze Geschichte kennt, wenn ich euch erzählt habe, was den Leuten darin widerfahren ist, werdet ihr mir vielleicht zustimmen.

Licht

I. AKT

TITOUAN

»Da oben!«, ruft Lix.

Titouan fährt herum, zielt auf das Mädchen auf dem Balkon, feuert eine Salve ab.

»Hab sie.«

Er klettert rauf, gibt ihr aus nächster Nähe den Rest. Lix hat sich schon ein Stück von den Häusern entfernt. Titouan springt auf den Boden und folgt ihm, immer auf der Hut. Sie laufen einen Wiesenhang hinab, an einer verlassenen Hütte vorbei.

»Achtung, vor dir!«

Schüsse krachen. Titouan kann gerade noch die beiden bewaffneten Typen entdecken, bevor er sich hinter die Hütte wirft, getroffen. Trotzdem richtet er sich gleich wieder auf und feuert seinerseits auf einen ihrer Gegner, bis dieser zusammenbricht. Titouan nimmt die Ausrüstung des Toten an sich, darunter eine Waffe, die leistungsfähiger ist als seine. Lix wartet auf ihn, ein muskelbepackter Riese, dessen Körperbau so gar nicht zu seiner jugendlichen Stimme passen will. Auch er hat seine Waffe gegen eine andere eingetauscht. Gemeinsam stürmen sie weiter, umrunden einen großen Felsen.

»Da vorn auf dem Hügel sind auch noch welche! «, warnt Lix.

Sie verstecken sich hinter einem Baum, errichten hastig eine Bretterwand. Direkt davor geht eine Granate hoch. Titouan zückt seine Sniper, tritt aus der Deckung, legt das Auge ans Zielfernrohr. Der Typ auf dem Hügel schießt im selben Moment wie er.

»Scheiße! Ich bin down!«

»Ich helf dir.«

»Pass auf die Camper auf.«

Schon bald kann Titouan wieder aufstehen. Ihre Bretterwand ist zur Hälfte zerstört. Zwei Mädchen überraschen sie von hinten. Lix und er fahren herum, schießen.

Die Inselkulisse auf Titouans Bildschirm verschwindet.

»Scheiße noch mal!«, schimpft Lix in sein Mikro. »Die haben uns echt am Arsch gekriegt!«

Titouan lächelt. Er hat Lix noch nie in echt gesehen. Eigentlich weiß er nicht viel mehr von ihm, als dass sie ungefähr im gleichen Alter sind, beide in der Bretagne leben, dass Lix gern Theater spielt und allein bei seinem Vater wohnt. Aber durch das gemeinsame Spielen im Internet hat Titouan trotzdem das Gefühl, ihn gut zu kennen, schließlich reden sie jeden Tag miteinander. Und vieles sickert ja auch zwischen den Worten durch. Ein bestimmter Tonfall, ein unabsichtlicher Seufzer, die Jubelrufe, wenn sie gewinnen, und die derben Flüche, wenn sie verlieren … Wenn Lix sich einloggt, weiß Titouan immer schon nach wenigen Worten, welche Laune er heute hat.

»Noch eins?«, schlägt er vor.

»Geht nicht. Ich muss noch für die Klausur in Geschichte lernen.«

»Ach komm, Mut zur Lücke …«

»Nee, im Ernst«, beharrt Lix. »Krasser Tag morgen. Ich mach Schluss für heute.«

»Weichei!«

»Manche Leute haben eben auch noch ein echtes Leben!«

»Sag bloß … Tschau, Alter.«

»Tschau.«

Sie gehen offline. Titouan nimmt die Kopfhörer ab, schaltet den Rechner aus. Einen Moment lang lauscht er auf die vertrauten Geräusche im Haus – die elektronische Musik seines älteren Bruders auf der anderen Seite des Flurs, das Gehopse seiner kleinen Schwester im Zimmer nebenan, das Radio unten im Erdgeschoss, das sporadische Surren eines Mixers. Er schiebt die Decke weg, sammelt ein paar herumliegende Legoteile auf und baut weiter an dem Baum, den er gerade am Fußende seines Bettes errichtet.

Hoch konzentriert verlängert er einen Ast, ohne dass die Konstruktion aus dem Gleichgewicht gerät. In Gedanken sieht Titouan seinen Baum schon vor sich. Das gefällt ihm ja so gut an Lego: wie sich diese kleinen, austauschbaren Plastikteile unter seinen Händen in etwas Einzigartiges verwandeln, wie er mit ihnen die Bilder in seinem Kopf zum Leben erwecken und eine ganze Welt erschaffen kann. Sein Zimmer steht voll mit seltsamen Figuren und anderen Dingen, inspiriert von dem Spiel, zu dem Lix und er sich jeden Tag treffen. Lauter Kreationen, die er irgendwann wieder auseinandernehmen wird, um sie zu etwas Neuem zusammenzufügen. Seine Mitschüler haben schon vor Jahren damit aufgehört. Die Lego-Fans sind alle zu Minecraft gewechselt. Er nicht.

»Es gibt Essen!«, ruft seine Mutter am Fuß der Treppe.

Titouan rührt sich nicht. Mit unerschöpflicher Geduld setzt er seine Arbeit fort.

Hinter dem Baum kratzt ein Mäuschen an der Tür. Lila taucht zwischen den Zweigen auf, lange weißblonde Haare, blauer Gymnastikanzug und Jogginghose.

»Kommst du?«, fragt Titouans Schwester leise.

»Nein, das weißt du doch, Süße.«

Sie schluckt. Nickt.

»Das wird ja bestimmt wieder toll«, flüstert sie vorwurfsvoll.

Ihre zierliche Gestalt verschmilzt mit den Schatten im Flur. Wenig später verlässt auch Eliott sein Zimmer. Durch den Türspalt fällt sein Blick auf Titouan.

»Mann, du nervst«, knurrt er nur, bevor er mit der Anmut eines Diplodocus die Treppe hinunterpoltert.

Unten geht die Diskussion wieder los. Die Lautstärke steigert sich mit jedem Satz.

»Titouan! Es gibt Essen!«, brüllt sein Vater.

Kurz darauf stapft jemand die Treppe hinauf. Die Tür wird aufgerissen.

»Schluss mit dem Theater, Titouan. Du kommst jetzt runter zum Essen.«

»Nein.«

»Die Ferien sind vorbei, morgen fängt die Schule wieder an. Da musst du wohl oder übel hier raus.«

»Ich hab doch gesagt, ich geh nicht hin.«

»Als könntest du das schon entscheiden. Soweit ich weiß, bist du noch minderjährig, und ich bin dein Vater. Also gehst du morgen zur Schule.«

Titouan gibt keine Antwort. Durch die Lego-Zweige mustert er seinen Vater. Ein bisschen tut er ihm leid, so verkniffen und rot im Gesicht, krampfhaft um Autorität bemüht. Seine Mutter kommt hinzu. Besänftigend legt sie ihrem Mann die Hand auf den Arm und murmelt ihm ein paar Worte ins Ohr. Die Schultern seines Vaters sacken nach unten.

»Das geht nicht gegen euch«, wiederholt Titouan zum zehnten Mal.

Während der letzten drei Tage haben seine Eltern alle Register gezogen. Lange, verständnisvolle Gespräche, Strafandrohungen, die Sorge um seine Gesundheit …

Aber nichts davon kann Titouan zum Einlenken bewegen.

Seine Entscheidung steht fest.

Er wird sein Zimmer nicht mehr verlassen.

LUCE

Zwischen ihren Laken ausgestreckt starrt Luce auf die Leuchtziffern ihres Weckers.

7:59

Seit einer Stunde wartet sie nun schon, dass die Minuten verrinnen. Sie will nicht zu früh aufstehen. Sonst wird der Tag nur noch länger. Am schlimmsten ist der Nachmittag. Wenn sie ihren Einkauf erledigt, zu Mittag gegessen, ihr Geschirr gespült, abgetrocknet und zurück in den Schrank geräumt hat, ist Luce ganz allein der Stille in diesem viel zu großen Haus ausgeliefert. Für nichts hat sie die Energie. Selbst ein Buch aufzuschlagen, geht über ihre Kräfte. Manchmal schaltet sie den Fernseher ein, lauscht auf den Lärm der Welt. Mehr ist es ja auch nicht. Lärm, leere Worte, ohne jeglichen Austausch. Sie ist es schnell leid.

8:00

Luce schiebt die Decke zurück, stützt sich mit dem Ellbogen auf die Matratze. Eine Grimasse, ein Impuls, und sie sitzt aufrecht. Ihre Füße finden die Pantoffeln auf dem Teppich. Sie erkundet ihren müden Körper, horcht nach, welche Schmerzen sie den Tag über begleiten werden. Schließlich steht sie auf und geht ins Bad.

Zwischen dem cremefarbenen Waschbecken und der dazu passenden Toilette bleibt sie stehen, den Blick auf die Dusche gerichtet. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen. Viel ist nicht mehr davon übrig, deshalb dauert es einen Moment.

Mit vorsichtigen Bewegungen zieht sie sich das Nachthemd über den Kopf, streift den Schlüpfer ab, hängt beides hinter die Tür. Der Spiegel wirft ihr ein verschwommenes Bild zurück, in dem sie Falten erahnt, vorstehende Knochen und erschlaffte Muskulatur. Luce ist jedes Mal überrascht, wenn sie sich sieht. Ihre Vorstellung von sich selbst ist im Alter von fünfzig Jahren stehen geblieben. Aber ihr Körper ist natürlich weiter gealtert. Und so weicht das, was ihr der Spiegel zurückwirft, immer mehr von ihrem Selbstbild ab.

Der warme Wasserstrahl massiert ihr die Schultern, weckt ihre Haut, lockert die Verspannungen. Sie setzt sich auf den Schemel, seift sich ein. Mechanische Bewegungen. Es gibt so viele Stellen, die sie gar nicht mehr erreicht. Die ewig nicht mehr berührt worden sind, nicht einmal von ihr selbst. Die längst tot sind.

Luce schaut nach unten. Im Becken zu ihren Füßen steigt das schmutzige Wasser immer höher. Der Abfluss ist verstopft, der müsste mal gereinigt werden, aber für solche Probleme war sonst immer Lucien zuständig. Und Luce braucht nur daran zu denken, dass man sich dafür hinknien muss, um es gar nicht erst zu versuchen.

Sie steigt aus der Dusche, wickelt sich in einen verschlissenen Bademantel.

Am Haken hängt, grau-grün gestreift, noch ein zweiter. Luce streicht mit der Hand darüber. Sie hat es nie übers Herz gebracht, ihn wegzuhängen. Alles andere, die Wäsche in der Kommode, die nutzlos gewordenen Unterlagen, das ganze Computerzubehör, die Rasiermesser und Aftershaves, hat sie entsorgt. Aber nicht diesen Bademantel. Sie weiß nicht, warum, aber die Vorstellung, er könnte nicht mehr dort neben der Heizung hängen, ist ihr unerträglich.

Zurück in der Dunkelheit des Schlafzimmers, wird Luce plötzlich klar, dass heute Montag ist.

Der Montag.

Der Gedanke erschüttert sie zutiefst, ein inwendiges Beben, und die aufsteigenden Tränen brennen in ihren Augen. Sie muss sich hinsetzen, wieder zu Atem kommen.

Heute vor genau zwei Jahren hat Luce ihren Lucien verloren.

ARMAND

Armand gießt ein Glas Orangensaft ein und stellt es auf den Tisch, neben die mit Butter und Honig bestrichenen Toastscheiben. Seine Tochter erscheint in der Küchentür, knitteriges weißes T-Shirt, karierte Schlafanzughose, mittellanges, zerzaustes Haar.

»Gut geschlafen, Fröschlein?«

Sie knurrt irgendetwas Unverständliches, schlingt den ersten Toast im Stehen hinunter. Die Schleier des Schlafs hängen noch unter ihren geschwollenen Lidern.

»Ich bin seit mindestens zehn Jahren in der Lage, mir selber Frühstück zu machen, Papa.«

»Das will ich hoffen! Aber ich tu’s halt gern.«

Alix verdreht die Augen, nimmt den zweiten Toast.

»Nun setz dich doch kurz mal hin«, drängt Armand.

»Keine Zeit.«

»Du hattest es schon immer zu eilig …«

Vater und Tochter tauschen ein Lächeln. Armand zeigt auf den Toaster.

»Noch eins?«

»Nee, reicht. Danke.«

Sie kippt den Orangensaft in einem Zug hinunter und verschwindet wieder, um sich fertig zu machen. Armand trinkt seinen Kaffee und geht ins Wohnzimmer, blättert in den Noten, die am Vortag mit der Post gekommen sind. Das Violinkonzert in g-Moll von Max Bruch und seine Schottische Fantasie. Beide hat er schon – Bruch ist einer seiner Lieblingskomponisten –, aber nicht in dieser alten Ausgabe, für die er einem amerikanischen Sammler ein kleines Vermögen bezahlt hat. Er überfliegt die Partitur. Die Klänge entfalten sich in seinem Kopf, seine Finger drücken imaginäre Saiten, ohne dass er es merkt. Ein zufriedenes Lächeln spielt um seine Lippen. Der einzige Luxus, den er sich gönnt: Sein Instrument, seine Noten und Alix. Alles andere ist nicht so wichtig.

»Ich muss los!«

In der Diele wirft sich Alix den Rucksack über die Schulter, öffnet die Haustür. Verstohlen überprüft Armand, ob sie warm genug angezogen ist. Das Frühjahr ist noch jung, trotz der Sonne, die durch die Straße flutet.

»Hast du noch Geld auf deiner Mensakarte?«

»Jaja.«

Sie drückt ihm einen raschen Kuss auf die Wange. Er fasst sie an der Schulter, hält sie zurück.

»Weißt du noch, wie ich Frau Feder immer einen Kuss geben musste, bevor wir zur Schule losgegangen sind?«

»Da war ich fünf, Papa.«

Sie wirbelt herum, ein Sonnenstrahl lässt ihre bunten Ohrringe aufblitzen.

»Ich fand das schön«, sagt er leise.

Armand schaut seiner Tochter nach, während sie in Richtung Schule davongeht, ihre Schritte im Takt der Musik, die in ihren Kopfhörern hämmert. Als sie um die Ecke biegt, schaut er auf die Uhr. In zwei Stunden kommt sein erster Schüler. Gerade noch Zeit, sich etwas zu Mittag zu kochen, das Alix dann am Abend essen kann, bevor er zum Konservatorium los muss.

ALIX

Geschichtsbücher und -unterlagen liegen auf dem Tisch in der Schulbibliothek verstreut. Alix lässt das Mittagessen ausfallen, wie so oft, wenn nachmittags noch eine Klausur ansteht. Ihr Vater würde ausrasten, wenn er das wüsste. Nein, nicht ausrasten. Nur die Stirn in sorgenvolle Falten legen. Ihr Fragen stellen, mit seiner künstlich ruhigen Stimme, die seinen inneren Aufruhr verbergen soll. Dabei machen das alle an ihrer Schule so. Jedenfalls alle Mädchen. Ist ja auch nicht so, als hätte ihr Körper keine Reserven.

Außerdem hat sie ohnehin keine andere Wahl, wenn sie die Klausur bestehen will, denn gestern Abend ist sie doch wieder schwach geworden und hat noch mal eine Runde mit Titouan gespielt. Um den Kopf leer zu bekommen. Aber so ist er dann leider auch geblieben.

»Kann ich mich zu dir setzen? Ist sonst kein Platz mehr frei.«

Knallblaue Haare, Elfenbein-Teint, löchrige Strumpfhose unter einem schwarzen Minirock: Philippine, ein Mädchen aus ihrer Klasse. Sie sind nicht befreundet. Mit Freundschaften hat Alix sich immer schon schwer getan – als besäßen alle eine Gebrauchsanleitung dafür, nur sie selbst nicht. Es käme ihr niemals in den Sinn, mit Philippine irgendetwas Persönliches zu besprechen. Aber sie arbeiten gern zusammen, melden sich oft für Partneraufgaben und warten in den Pausen zusammen auf dem Gang, bis der nächste Kurs anfängt. Alix räumt einen Teil des Tisches frei und steckt die Nase wieder in die Bücher.

Für Klausuren lernen konnte sie immer schon gut. Sie schreibt keine Karteikarten oder so. Die braucht sie nicht. Wenn man den Lehrern richtig zuhört, weiß man ziemlich schnell, was ihnen wichtig ist. Und das muss man dann lernen. Alix prägt sich auch immer zwei, drei Schaubilder ein, die sie dann bis zum Letzten ausschlachtet, egal wie die Fragestellung lautet. Und fertig ist die Laube.

Um ihr Abi macht sie sich keine großen Gedanken. Sie wird es bestehen. Sie hat gar keine andere Wahl. Das Abi ist der Schlüssel zu der Tür, hinter der ihr Leben endlich beginnt.

Paris. Das Theater.

Schon bei dem Gedanken schlägt ihr Herz schneller. Ihr Stift gleitet über die Kästchen auf dem Blatt. Sie denkt nicht nach, lässt die Sätze fließen. Ihr Verstand fliegt von Punkt zu Komma, kristallklar.

Halte an deinen Träumen fest und geh einfach los. Gib nicht auf. Steig hundert Mal auf denselben Berg, wenn es sein muss, solange du sicher bist, dass du wirklich auf die andere Seite musst. Vielleicht musst du auch noch auf die andere Seite der anderen Seite, vielleicht liegt hinter dem Berg noch ein weiterer Berg: ganz egal. Gib nicht auf, denn dort, am Horizont, wachsen deine Träume. Du hast Angst? Dann schrei, brüll, sing, so laut du kannst. Hol dir die Luft, die du brauchst. Spürst du das Feuer, das durch deine Adern rinnt und dich verzehrt? Diese Energie, die in dir brodelt, die Ungeduld in jeder deiner Gesten? Natürlich spürst du es. Nutze dieses Feuer. Mach es zu deiner treibenden Kraft.

Alix liest ihren Text noch mal durch. Er gefällt ihr. Sie schiebt ihn unter ein Heft, bevor Philippine ihn sehen kann.

Von solchen Fragmenten hat sie Hunderte. Die schreibt sie schon seit eh und je, ohne sie jemandem zu zeigen.

Sie versucht, sich wieder auf Geschichte zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweifen zum Theaterkurs heute Nachmittag ab. Ende Juni wollen sie ein Stück aufführen, an dem sie schon seit November arbeiten. Der Kirschgarten von Tschechow. Es handelt von einem Gutshaus in Russland, das versteigert wird, um die Schulden der Eigentümer zu bezahlen, und von der Familie, die es dafür aufgeben muss. Alix spielt Anja, eine der Töchter. Der Autor wollte eigentlich eine Komödie schreiben, aber das hat nicht so ganz geklappt, denn das Stück ist in erster Linie traurig. Obwohl auch diese traurigen Gestalten schon irgendwie zum Lachen sind …

Vor allem aber bereitet sie sich auf das Vorsprechen an einer Pariser Schauspielschule vor, an der sie nächstes Jahr studieren will. Wenn sie durchfällt, kann sie es im September auch noch an anderen Schulen versuchen. Aber eigentlich will sie unbedingt an diese. Die hat einen superguten Ruf. Außerdem hat Alix letzten Sommer bei der Dozentin dort ein Praktikum gemacht, das war echt genial! Als würde sie eine neue Dimension entdecken. Als wäre ihre Welt ein bisschen größer geworden.

Schon seit mehreren Monaten arbeitet sie an den Szenen für die Aufnahmeprüfungen. Und einen freien Teil muss sie sich auch noch überlegen. Der kann, wie der Name schon sagt, jede beliebige Form annehmen. Gesang, Tanz, Musik, Live-Malerei, Pantomime, Marionetten … Hauptsache, es ist irgendwie persönlich. Gabrielle, seit vier Jahren ihre Theaterlehrerin, meinte, damit würde man sich der Jury quasi vorstellen. So nach dem Motto: »Hier bitte, das bin ich.« Alix hat noch zwei Monate Zeit, sich ihren freien Teil zu überlegen und ihn einzustudieren. Aber je mehr sie darüber nachdenkt, desto weniger weiß sie, was sie machen soll. Sie hat überhaupt keine Idee. Kein Wunder, dass sie langsam panisch wird.

Alix zieht den Text, den sie gerade geschrieben hat, noch mal hervor. Wäre der vielleicht was?

Nein.

Nicht genug … nicht genug.

Sie will einen großen Wurf landen. Unvergesslich sein.

Eine Art, mich vorzustellen. Aber wer bin ich denn? Wer bin ich wirklich?

Eine Klingel reißt Alix aus ihren Gedanken. Nur noch knapp eine Stunde bis zur Klausur. Sie schiebt ihre Träume vom Theater beiseite und konzentriert sich auf den Algerienkrieg.

ARMAND

Armand begrüßt seine fünfte Schülerin an diesem Nachmittag, lässt sie die Geige auspacken.

Ein Posaunist geht am Fenster vorbei, sein Instrument auf dem Rücken, dann ein Kind mit seiner Mutter, die verspätet zur musikalischen Früherziehung hetzen. Alle schauen kurz zu ihm hinein, wenn sie die drei Stufen der Außentreppe hinaufsteigen und hinter der schweren Eichentür des Konservatoriums verschwinden.

Armand gefällt die Lage seines Raums in einem Vorbau des großen Gründerzeitgebäudes. Das kommt seiner Neugier entgegen. Er beobachtet das Kommen und Gehen seiner Kollegen, wechselt durchs Fenster ein paar Worte mit ihnen. Nichts entgeht ihm.

»Sagst du mir noch mal, was ich dir über die Ferien aufgegeben hatte, Laura?«

»Den Mozart und eine Etüde.«

»Dann fang mit der Etüde an.«

Das junge Mädchen klemmt sich die Geige unters Kinn, holt Luft. Eine Reihe hoher Töne erhebt sich in den Raum.

»Breiter!«, wirft er ein, während er ihr gleichzeitig bedeutet, nicht aufzuhören.

Gabrielle taucht draußen vorm Fenster auf, in einen langen Samtmantel gehüllt. Sie bleibt stehen, um ihre Zigarette aufzurauchen, grüßt ihn mit einem ironischen Heben der Augenbrauen. Fragend erwidert er ihren Blick, will wissen, worüber sie sich amüsiert.

»Clara«, formt sie mit den Lippen.

Er beißt sich auf die Lippen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Nach der letzten Konferenz vor den Ferien ist Armand am Arm der neuen Gesangslehrerin, Clara, verschwunden. In den zehn Jahren, die Gabrielle und er sich schon kennen, ist sein Ruf als Frauenheld ein Running Gag zwischen ihnen geworden. Sobald sich die Gelegenheit bietet, wird sie ihn einem gründlichen Verhör unterziehen.

Er macht eine Geste, als würde er sich die Lippen verschließen. Gabrielle verdreht die Augen. Drückt mit einem herausfordernden Lächeln ihre Zigarette im Ascher aus. Ich-werd-dich-schon-noch-zum-Reden-bringen. Dann geht sie durch den Park in Richtung Theatersaal davon.

»Bei dieser Abwärtslinie musst du die Töne stärker voneinander trennen«, erklärt Armand seiner Schülerin.

Er greift zu seinem eigenen Instrument, spielt es ihr vor. Sie wiederholt die Stelle.

»Besser!«

GABRIELLE

Im Theatersaal des Konservatoriums.

ALIX:    Hi!

GABRIELLE:    Hallo. Schöne Ferien gehabt?

ALIX:    Sehr ruhig.

GABRIELLE:    Kannst du deinen Text?

ALIX:    So halbwegs.

GABRIELLE, streng:    So halbwegs?

ALIX:    Ach komm, du weißt schon …

Das junge Mädchen wirft seinen Rucksack in die Ecke, zieht die Jacke aus. Gabrielle unterdrückt ein Lächeln, während die anderen Schüler nach und nach eintrudeln.

GABRIELLE:    Zwei nach sechs. Tür zu, bitte!

SIMON:    Timothée und Margaux sind noch nicht da.

GABRIELLE:    Timothée ist krank, und Margaux hätte halt pünktlich kommen müssen.

Na los, Tür zu.

Simon gehorcht.

GABRIELLE:    So, meine Süßen, uns bleiben noch

knapp zwei Monate

bis zur Aufführung.

Und die unter euch, die sich für ein Studium bewerben,

haben jetzt sogar doppelte Portionen auf dem Teller.

Simon, Alix, Lola,

ich weiß, dass ihr euch gerade aufs Abi vorbereitet,

aber

wenn nicht schon geschehen,

wird es höchste Zeit, euch einen Zeitplan zu erstellen,

der nicht nur die Gruppen-

SONDERN AUCH

die Einzelproben umfasst.

Und ich möchte ZEITNAH eure freien Teile sehen.

Gebt das bitte auch an Timothée weiter.

Alles klar?

Schüchternes Klopfen an der Tür. Das runde Gesicht von Margaux taucht im Rahmen auf.

GABRIELLE:    Du bleibst draußen.

MARGAUX:    Ich kann nichts dafür, mein Vater hat vergessen …

GABRIELLE:    Interessiert mich nicht.

Du kennst die Regeln

in diesem Kurs.

Raus mit dir.

Margaux schließt wieder die Tür. Die anderen Schüler wechseln betroffene Blicke.

GABRIELLE:    Ihr findet mich zu streng?

Im Leben ist alles eine Frage

des Engagements.

Wofür seid ihr bereit eure Zeit

und Energie zu opfern?

Wenn es nicht das Theater ist, seid ihr hier falsch.

An Kinderbetreuung hab ich kein Interesse.

Ich bin anspruchsvoll,

weil ich an euch glaube.

Kurze Stille.

Alix, du gehst als Erste auf die Bühne.

Welche Szene spielst du? Geschlossene Gesellschaft oder Antigone?

ALIX:    Geschlossene Gesellschaft.

GABRIELLE:    Also, alle zum Aufwärmen, danach sehen wir uns das an.

ALIX

Alix überspringt ein paar Stuhlreihen und hüpft, in einem Wirbel aus bunten Socken, mit den anderen auf die Bühne. Das Lampenfieber liegt ihr wie ein Kloß im Magen, wie jedes Mal, wenn sie auftreten, sich den Blicken der anderen aussetzen soll. Sie liebt dieses Gefühl.

Alle suchen sich einen Platz auf der Bühne, angeleitet von Gabrielles Stimme.

»Verteilt euch im Raum. Die Ecke dahinten ist noch frei, warum ist da keiner?« Alix macht einen Schritt zur Seite, um die Leere zu füllen. »Unzentrierter Blick, neutrales Gesicht … Nehmt die anderen wahr. Atmet. Entspannt euch, lasst die Schultern locker …«

Das Aufwärmen geht weiter. Nach einer Reihe von vertrauten Übungen setzen die anderen sich wieder in den Zuschauerraum, lassen Alix allein auf der Bühne zurück. Gabrielle sitzt an ihrem gewohnten Tisch, holt ihr Heft hervor, ihren Stift. Alix schlüpft in ein paar hochhackige Schuhe, die sie extra für diesen Monolog gekauft hat. Als sie in den Ferien zur Übung mit ihnen durchs Haus gelaufen ist, hat ihr Vater das Gesicht verzogen – als wäre das ihrer nicht würdig, zu girlymäßig, zu aufreizend, zu weit von dem braven kleinen Mädchen entfernt, das sie für ihn bleiben soll. Daraufhin hat sie sie noch mal doppelt so oft getragen, nur um ihn zu ärgern.

Alix verdrängt ihren Vater aus ihren Gedanken. Er ist ganz in der Nähe, im Geigensaal am anderen Ende des Parks, aber er ist nicht hier und wird nicht sehen, wie sie diese Szene spielt. Sie ist frei von seinem Urteil, das sie in einen viel zu engen Rahmen zwängt.

Sie schaut kurz auf die anderen Schüler, deren Blicke auf sie gerichtet sind. Mehr noch als ihre Sympathie wünscht sie sich ihren Respekt. Ihre Bewunderung vielleicht. In ihren Augen eine andere zu werden. Doch der einzige Blick, der letztlich zählt, ist der von Gabrielle. Alix kennt sie schon so lange, dass es sich fast wie immer anfühlt – seit jener Zeit, als sie an Mittwochnachmittagen stundenlang malend bei ihrem Vater im Raum saß und darauf warten musste, dass er mit dem Unterricht fertig war. Vor vier Jahren hat sie dann den Theaterkurs bei Gabrielle angefangen. Vier Jahre, in denen sie sich ein Bein ausgerissen hat, um ihr Lob zu verdienen.

Alix ordnet ihr Haar, stellt sich hinten an die Wand, konzentriert sich. Tritt vor. Schwankende Schritte auf hohen Absätzen, beherrscht und doch verletzlich.

»Ha! Mir? Wer von Ihnen beiden würde denn wagen, mich sein Quellwasser zu nennen? Sie kann man nicht täuschen, Sie wissen, dass ich ein Miststück bin.«

Sie reiht die Sätze aneinander, spürt, wie sie durch sie hindurchströmen und zu den Rängen aufsteigen. In der Mitte des Monologs wird sie von Gabrielle unterbrochen.

»Ich kann nicht erkennen, mit wem du sprichst, Alix. Eigentlich seid ihr doch zu dritt auf der Bühne, auch wenn die anderen nichts sagen. Wo steht Garcin deiner Vorstellung nach? Und wo Inès? Los, Lola und Simon, ihr übernehmt ihre Rollen. Und dann noch mal von vorn. Schau sie an, erklär ihnen, was du siehst.«

Alix beginnt von vorn. Zweimal, dreimal. Woche für Woche hat sie das Gefühl, ihrer Interpretation immer noch weitere Nuancen hinzuzufügen. Mit Gabrielles Unterstützung malt sie diesen Monolog Strich für Strich weiter aus, wie ein Gemälde des Pointillismus.

»Ist gut für heute, Alix. Hast du den Unterschied gespürt? Du musst deine Gesprächspartner lebendig werden lassen, selbst wenn sie für die Zuschauer unsichtbar sind. Außerdem ist deine Figur ja schon tot, behalt das immer im Kopf. Was macht das mit einem, wenn man tot ist und keinerlei Einfluss mehr auf die Leute hat? Vielleicht würde Estelle die Lebenden, die da einfach ohne sie weitermachen, am liebsten gar nicht mehr sehen? Such danach in deinem Körper, nach dieser Verweigerung, auch wenn sie sich letztlich nicht entziehen kann.«

Alix geht in die Sitzreihen zurück, kritzelt ein paar Anmerkungen in ihr Heft, um nichts zu vergessen. Lola und Simon folgen mit ihrer Szene aus Molière, dann arbeiten alle an dem letzten Akt ihrer Aufführung zum Jahresabschluss.

»Zehn Minuten Pause!«, ordnet Gabrielle an, als sie sieht, dass die Konzentration nachlässt.

Die Schüler gehen hinaus in den Park. Der Abend legt sich sanft über die Bäume und den Teich. Margaux sitzt auf der Wiese. Alix geht zu ihr, um sie zu begrüßen. Gabrielle zündet sich eine Zigarette an.

»Wann hörst du endlich mit dem Rauchen auf?«, schimpft Alix, während sie sich neben ihr niederlässt.

»Wenn du irgendwann aufhörst, mir diese Frage zu stellen, denke ich vielleicht mal drüber nach.«

»Wir wollen dich halt nicht verlieren!«, sagt Lola kokett.

»Oh, da macht euch mal keine Sorgen, meine Süßen. An meinem Todestag führt ihr alle längst euer eigenes Leben, und wir haben uns schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»O nein«, protestiert Lola, »ich bleib immer in Kontakt!«

Gabrielle schüttelt nachsichtig den Kopf. Der Gedanke, ihre Schüler und Schülerinnen aus den Augen zu verlieren, scheint sie nicht weiter zu bekümmern. Alix spürt, wie sich eine Hand in ihre Brust schiebt, ihr Herz zusammendrückt. Er wird ihr fehlen, dieser Theatersaal, der jahrelang ihre Zuflucht war. Und der Abschied von Gabrielle: eine Entwurzelung. Die heitere Gleichgültigkeit, die ihre Lehrerin zur Schau stellt, klingt im pulverigen Licht des Spätnachmittags fast wie eine Ablehnung. Alix überkommt ein Gefühl der Verlassenheit, obwohl sie doch offiziell bald erwachsen wird. Der Gedanke ist für sie allerdings noch weitgehend abstrakt. Was bedeutet es schon, ›erwachsen‹ zu sein? Dass man sein eigenes Geld verdient? Das wird bei ihr noch Jahre dauern. Dass man niemanden mehr braucht? Vom Urteil anderer unabhängig ist? Den Ort seiner Kindheit verlässt? Wählen geht, Auto fährt, seine Wäsche selber wäscht? Ein Datum im Kalender, eine Geburtstagsfeier, nur ein Tag mehr und zack, der große Sprung? Vielleicht von allem ein bisschen, oder auch gar nichts davon. Alix hat keine Ahnung, was Erwachsensein bedeutet. Und oft den Eindruck, dass die Erwachsenen selbst es nicht wissen.

Ihr Blick bleibt an den Schlagzeugern hängen, die hinter den bodentiefen Fenstern proben. Einer von ihnen wirft ihr ein Lächeln zu. Sie haben sich hier schon oft gesehen, aber noch nie ein Wort gewechselt.

»Der Blonde oder der Dunkelhaarige?«, flüstert Gabrielle.

»Beide«, antwortet Alix.

»Du hast recht. Nur keine falsche Bescheidenheit.«

»Die Dunkelhaarige ist auch nicht schlecht.«

Gabrielle lächelt. Kommentiert es aber nicht.

»Auf geht’s, Leute«, sagt sie und steht auf. »Wir machen weiter!« Sie gibt Margaux ein Zeichen. »Du auch, meine Große.«

Alix steht auf, fällt neben Gabrielle in Schritt.

»Deine Szene vorhin war gut«, sagt diese zu ihr. »Wir sind nahe dran.«

Als Alix eine Andeutung von Stolz auf dem Gesicht ihrer Lehrerin erhascht, geht es ihr gleich wieder besser.

»Danke.«

TITOUAN

Titouan verschränkt die Arme über der Bettdecke. In seinem Zimmer findet ein Kriegsrat statt. Seine Eltern haben sich zwei Schemel mitgebracht, von denen sie anscheinend gar nicht mehr aufstehen wollen.

»Der Schule haben wir gesagt, dass du krank bist«, erklärt sein Vater, »aber dir ist hoffentlich klar, dass das nicht so weitergehen kann.«

»Seht es doch mal positiv«, sagt Titouan ironisch. »Ihr müsst euch nie Sorgen machen, wo ich mich nachts rumtreibe und was ich dabei rauche.«

»Meinst du wirklich, so wie es jetzt ist, machen wir uns keine Sorgen?«, fragt seine Mutter. »Wir verstehen das alles nicht, Titouan. Seit einem halben Jahr geht es mit deinen Noten bergab und jetzt willst du gar nicht mehr das Haus verlassen. Ist irgendwas in der Schule passiert, dass du da nicht mehr hingehen willst?«

»Nein.«

Zwei Seufzer kommentieren seine Antwort. Seine Eltern glauben offenbar, dass er lügt. Was er nicht tut. Es ist wirklich nichts Besonderes passiert. Kein Tropfen hat das Fass seiner Ungeselligkeit zum Überlaufen gebracht. Aber er beobachtet die Welt nun schon seit fünfzehneinhalb Jahren, experimentiert, verarbeitet, analysiert. Vor ein paar Tagen hat er seine Studien dann abgeschlossen, mit dem Ergebnis, dass es das Beste ist, einfach im Bett zu bleiben.

Draußen greift ihn alles an. Die Vorgaben und Verpflichtungen, die Stundenpläne, denen er sich unterordnen soll, die Konventionen, an die er sich anpassen muss, die Erwartungen der anderen, die ihn lähmen, die Lehrer, die schon nervös werden, wenn er nur sagt, dass er nicht weiß, was er später mal machen will, dass er einfach nur sein Leben leben will und keine Lust hat, sich jetzt schon zu entscheiden, sich mit Berufen, Studiengängen und Strategien zu beschäftigen, dass er sich diesem Korsett verweigert, in das sie ihn hineinzwängen wollen, jeden Tag ein bisschen mehr … Hier dagegen, in seinem Zimmer, kann er sich ein Universum erschaffen, das zu ihm passt, außerhalb von Raum und Zeit. Hier gelten seine eigenen Regeln. Er hat seinen Rechner, sein Handy, Hunderte Gesprächspartner in Reichweite, virtuelle Abenteuer, die sich echter anfühlen als die Realität. Er hat sein weiches Bett, seine warme Heizung. Seine Legosteine. Warum sollte er diesen Kokon verlassen?

»Ich will doch einfach nur meine Ruhe«, seufzt er.

»Die bekommst du aber nicht«, versetzt seine Mutter aufgebracht. »Wir sind deine Eltern. Meinst du, wir sehen tatenlos zu, wie du dich hier abkapselst?«

Titouan verstummt. Er versteht ja, dass seine Entscheidung ihnen Kummer bereitet, und auch Angst, aber er weiß nicht, wie er es ihnen erklären soll. Nichts, was er sagt, kann sie beruhigen. Es liegt nicht an ihnen. Um ehrlich zu sein, sind sie als Eltern sogar ziemlich okay. Aber er hat nicht darum gebeten, geboren zu werden, und in dieser maroden Welt will er einfach nicht leben.

Zum Beispiel sieht er Tausende von Schülern durch die Straßen ziehen, um die Politik zu zwingen, gegen die Klimaerwärmung vorzugehen. Dabei ist die doch längst da, die Erwärmung. Im Februar war es drei Wochen lang über fünfzehn Grad. Die Politiker und Politikerinnen kleben höchstens hier und da einen Flicken auf das Problem, statt den ganzen Reifen auszutauschen. Und mal ganz ehrlich: Wer ist denn schon bereit, auf seine Bequemlichkeit zu verzichten, damit es der Welt besser geht? Wer ist bereit, ohne sein Smartphone zu leben, ohne Flachbildschirm und Rechner, für deren Rohstoffe ganze Länder verseucht werden? Wer ist bereit, aufs Fliegen zu verzichten und nur noch dreihundert Kilometer weit in den Urlaub zu fahren, statt dreitausend? Oder mehr Geld für eine Jeans auszugeben, weil die näher bei uns und mit weniger Chemie hergestellt wurde? Wer würde das tun, wenn so viele Leute schon jetzt nicht mehr mit ihrem Lohn über die Runden kamen? Kaum jemand. Nur die Reichen, die können sich immer noch alles erlauben. Die Armen sind gar nicht in der Lage, eine solche Wahl zu treffen – bis aufs Fliegen, das können sie sich eh nicht leisten. Und alle dazwischen schließen irgendwelche Kompromisse. Kleine Zugeständnisse zur Gewissensberuhigung, die kaum etwas ändern. Oder nicht genug. Wer an der Macht bleiben will, hat es doch längst kapiert: Für so ein Programm wird man nicht gewählt. Nicht mal die Mitschüler von Titouan, die sich auf den Demos die Lunge aus dem Hals brüllen, aber quasi an ihren Handys festgewachsen sind, wären dazu bereit.

»Titouan, wir reden mit dir!«, regt sein Vater sich auf.

Ihn einfach nicht ansehen. Warten, bis er es leid ist.

Und tatsächlich, nach einer Viertelstunde trotzigen Schweigens räumen seine Eltern das Feld. Sie gehen um den Lego-Baum herum, ziehen die Tür hinter sich zu. Ihr Gemurmel entfernt sich durch den Flur.

Titouan lässt die Jalousie wieder herunter, die seine Mutter beim Reinkommen hochgezogen hat. Sanftes Dämmerlicht senkt sich herab. Er schaltet die Taschenlampe an seinem Handy ein, lässt ihren Strahl über die Lego-Bauten in seinem Zimmer gleiten. Dutzende von Figuren und Objekten tauchen in den Regalen auf und verschwinden wieder. Mehrere Raumschiffe, ein Wal in einem Wellental, ein verfallenes Schloss, von Unkraut überwuchert, eine Giraffe und ihr Kälbchen, eine Kriegerin aus dem Mittelalter, ein Sturmgewehr … Gedankenverloren webt er Lichtfäden zwischen ihnen, lässt ihre Umrisse in Dialog treten. Draußen wird es langsam Nacht. Nur vage nimmt er die Stimmen seiner Familie wahr, die im Erdgeschoss zu Abend isst. Ein Scharren an der Tür holt ihn aus seinen Träumen. Lila tänzelt in ihren Ballettschühchen auf ihn zu.

»Ich hab Brot und Kekse für dich rausgeschmuggelt«, wispert sie.

»Dank dir, Floh.«

Die jüngste Strategie seiner Eltern lautet, ihn so lange aushungern, bis er seinen Bau verlässt. Aber Lila ist auf seiner Seite, bringt ihm heimlich, was er braucht. Wasser gibt es am Waschbecken in einer Ecke des Zimmers. Schwieriger wird es, was seine Notdurft angeht. Da hat er noch keine Lösung gefunden. Also huscht er tagsüber, wenn alle ausgeflogen sind, über den Flur zur Toilette. Dieses Zugeständnis kostet ihn viel. Wenn er sich von solchen körperlichen Zwängen doch genauso leicht befreien könnte wie von stressigen Stundenplänen und dem ganzen Rest.

Lila lässt sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, hebt ihm ihr Mause-Näschen entgegen.

»Sie machen sich Vorwürfe, weil sie sich darauf eingelassen haben, ohne dich in den Urlaub zu fahren.«

Titouan beißt in einen Keks. Er hatte seine Eltern überredet, nur mit Lila in die Vogesen zu fahren und ihn hierzulassen, unter dem Vorwand, er wolle Schulstoff nachholen. Sein älterer Bruder, der fürs Abi lernen muss, sollte eigentlich ein Auge auf ihn haben, aber Eliott hat die ganzen vierzehn Tage nur mit seinen Leuten abgehangen, entweder hier oder draußen. Bestenfalls hat er von Zeit zu Zeit mal nachgesehen, ob Titouan noch lebt. Was dem durchaus recht war. In den ersten Tagen war er noch allein durch die Stadt gestreunt, unerkannt, ohne mit irgendwem zu sprechen. Aber dann hatte er keine Lust mehr dazu.

Am fünften Tag hat er sich angezogen, um Orangensaft zu kaufen. Ist auf die Haustür zugegangen. Und dann war es, als würde eine unsichtbare Kraft ihn zurückstoßen. Er konnte nicht mal mehr die Hand auf die Klinke legen. Er hat kehrtgemacht, ist die Treppe hochgegangen und wieder ins Bett geschlüpft, das noch warm war von der Nacht. Hat sich erneut vom Schlaf übermannen lassen.

Beim nächsten Aufwachen war es dunkel. Sein Handy hat drei Uhr früh angezeigt. Er ist in die Küche runtergegangen, hat sich einen kleinen Snack aus Käse, Brot und Honig gemacht. Er hatte das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Ein gutes Gefühl. Erleichternd, ohne dass er hätte sagen können, warum.

Den Rest der Ferien hat Titouan dann nur noch drinnen verbracht. Das Haus, das er fast für sich allein hatte, so oft, wie sein Bruder verschwunden war, wurde ein Schiff auf hoher See, eine verlassene Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Eine Blase.

Und als seine Eltern dann am Freitag mit Lila zurückgekommen sind, hat Titouan den Rückzug in sein Zimmer angetreten. Und dort auch seine Entscheidung gefällt. Er würde es nicht mehr verlassen.

Hätte es etwas geändert, wenn er mitgefahren wäre? Nein. Vielleicht hätte es den Absturz hinausgezögert. Oder auch nicht.

»Weißt du, Floh, es geht mir ja gut. Ich bin nicht krank oder so. Ich geh nur nicht mehr raus, das ist alles.«

Zwei unstete Augen mustern ihn zwischen Lilas langen, hellen Strähnen hindurch. Titouan ist klar, dass er nicht mal einen Bruchteil von dem erahnt, was seiner Schwester durch den Kopf geht. Lila zeigt nicht viele Gefühle. Außer beim Tanzen.

»Okay«, sagt sie nach ein paar Sekunden. »Gute Nacht.«

»Nacht …«

Sie küsst Titouan auf die Wange und schlüpft geräuschlos aus dem Zimmer.

Er greift nach seinem Rechner, loggt sich ein, lächelt.

Lix ist online.