Die Demokratie und die
Zukunft der Weltwirtschaft
Mit einem Nachwort von Gabriel Felbermayr
Aus dem Englischen von
Karl Heinz Siber
C.H.Beck
Die vorherrschende, liberale Globalisierungslehre hilft nicht weiter, sondern hat die jüngsten Krisen sogar mit verursacht. Das zeigt der renommierte Ökonom Dani Rodrik auf anschauliche und sympathische Weise anhand von zahlreichen historischen Rückblicken und harten ökonomischen Fakten. Insbesondere macht Rodrik deutlich, dass die Weltökonomie von einem politischen Trilemma bestimmt ist: Freier Welthandel und unbegrenzte Mobilität von Kapital und Arbeit sind nicht mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Nationalstaat vereinbar. Auch wenn die Vorteile der Globalisierung für Rodrik unzweifelhaft sind, macht er keinen Hehl daraus, dass sie in diesen Trilemma das Nachsehen haben sollte. Statt sich die «goldene Zwangsjacke» der Globalisierung überzustreifen, sollte sich jedes Land auf demokratischem Weg für eine eigene Kombination von Marktöffnung, Produkt- und Arbeitsstandards und sozialem Netz entscheiden.
Dani Rodrik, geboren 1957 in Istanbul, ist Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Harvard University und «zählt seit Jahren zu den angesehensten und meistgelesenen Entwicklungsökonomen» (Gerald Braunberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung). 2020 wurde er in die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften gewählt.
Gabriel Felbermayr ist Präsident des Instituts für Weltwirtschaft und lehrt Wirtschaftspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Für Çetin Doğan, einen außergewöhnlichen Mann, dessen Würde, Tapferkeit und Entschlossenheit triumphieren werden über die große Ungerechtigkeit, die er erdulden muss.
EINLEITUNG
Die Geschichte der Globalisierung, anders erzählt
EINS
Von Märkten und Staaten:
Ein historischer Blick auf die Globalisierung
ZWEI
Aufstieg und Fall der ersten großen Globalisierung
DREI
Warum erkennt nicht jeder die Vorteile des Freihandels?
VIER
Bretton Woods, das GATT und die WTO:
Handel in einer politisierten Welt
FÜNF
Die finanzielle Globalisierung und ihre Eskapaden
SECHS
Die Füchse und Igel des Finanzkapitals
SIEBEN
Arme Länder in einer reichen Welt
ACHT
Handelsfundamentalismus in den Tropen
NEUN
Das politische Trilemma der Weltwirtschaft
ZEHN
Ist eine Globalregierung machbar? Ist sie wünschenswert?
ELF
Kapitalismus 3.0
ZWÖLF
Eine Globalisierung mit Augenmaß
EPILOG
Eine Gutenachtgeschichte für Erwachsene
NACHWORT
Von der Hyper- zur Hypoglobalisierung?
Von Gabriel Felbermayr
Anmerkungen
Danksagung
Register
Anfang 1997 veröffentlichte ich ein schmales Büchlein mit dem Titel «Has Globalization Gone Too Far?» (auf Deutsch erschienen 2000 als «Grenzen der Globalisierung»). Wenige Monate später lagen die Volkswirtschaften von Thailand, Indonesien, Südkorea und anderen Ländern Südostasiens am Boden, Opfer eines massiven finanziellen Schleudertraumas von internationaler Reichweite. Jahrzehntelang hatten diese Länder hohe wirtschaftliche Wachstumsraten geboten und waren so zu Lieblingen der globalen Finanzwirtschaft und der entwicklungspolitischen Fachkreise aufgestiegen. Doch dann beschlossen internationale Banken und Investoren von einem Tag auf den anderen, dass diese Länder kein Ort mehr für sichere Geldanlagen waren. In einer steilen Abwärtsspirale wurden immer mehr Gelder aus den besagten Ländern abgezogen. Ihre Währungen stürzten ab, ihre Unternehmen und Banken wurden zahlungsunfähig, die Wirtschaft der ganzen Region brach zusammen. Das war die Geburtsstunde der asiatischen Finanzkrise, die in der Folge zunächst auf Russland, dann auf Brasilien und schließlich auf Argentinien übergriff und nebenbei auch den gefürchteten wie bewunderten Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) zu Fall brachte.
Ich hätte mir zu meiner Hellsichtigkeit und meinem Timing gratulieren können. Mein Buch entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem Verkaufsschlager für seinen Verlag, das Institute for International Economics (IIE) in Washington, was meiner Meinung nach nicht zuletzt daran lag, dass das IIE allgemein als wackerer Verfechter der Globalisierung galt. Die Wirkung war vergleichbar mit der von Nixons Besuch in China: Eine skeptische Stellungnahme zur Globalisierung war interessanter, wenn sie aus einer Ecke kam, aus der man sie am wenigsten erwartete. «Globalisierungsfreundliche Denkfabrik veröffentlicht warnende Studie von Harvard-Professor: die Globalisierung sei nicht das, als was sie ausgegeben wird» – na, das lässt doch aufhorchen!
Ich war nur leider weit davon entfernt, die Sache richtig getroffen zu haben. Die Krise, die sich auf den Finanzmärkten zusammenbraute, fand in meinem Büchlein keinerlei Erwähnung. Nicht genug damit, dass ich den aufziehenden Sturm nicht hatte kommen sehen, ich hatte sogar beschlossen, die finanzielle Globalisierung – die Devisen, Wertpapiere, Derivate und sonstigen Finanzprodukte im Volumen von Billionen Dollar, die Tag für Tag weltweit gehandelt werden – ganz aus der Betrachtung heraus zu lassen. Ich konzentrierte mich stattdessen auf die Probleme, die der internationale Warenhandel auf den Arbeitsmärkten der Welt und auf dem sozialpolitischen Terrain hervorruft. Ich äußerte die Befürchtung, das rasante Wachstum des internationalen Handels und die Zunahme des Outsourcing würden zu mehr sozialer Ungleichheit führen, Arbeitsmarktrisiken verschärfen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf nationaler Ebene aushöhlen. Ich sprach mich dafür aus, diese Konflikte durch einen Ausbau der Sozialleistungen und durch verbesserte internationale Regeln zu steuern.
Den Entschluss, das Buch zu schreiben, hatte ich gefasst, weil meine Ökonomenkollegen sich lieber über derartige Befürchtungen mokierten, als die Gelegenheit zu nutzen, sich produktiv in die öffentliche Debatte darüber einzubringen. Nach meiner Überzeugung lag ich in diesem Punkt jedoch richtig, und tatsächlich hat sich die Gemeinschaft der wissenschaftlichen Ökonomen seither den von mir vertretenen Auffassungen merklich angenähert. Aber die Kehrseite der finanziellen Globalisierung? Die hatte ich damals noch nicht auf meinem Radar.
In den Jahren nach der asiatischen Finanzkrise wandte sich mein Forschungsinteresse zunehmend der Frage zu, wie die finanzielle Globalisierung funktioniert (oder eben nicht). Als der Internationale Währungsfonds mich 10 Jahre später bat, eine Studie zu diesem Thema zu erarbeiten, hatte ich daher die Zuversicht, für diesen Auftrag gerüstet zu sein. Der Aufsatz, den ich 2007 mit meinem Koautor Arvind Subramanian schrieb, trug den Titel: «Warum hat die finanzielle Globalisierung enttäuscht?».1
Was die finanzielle Globalisierung den Menschen verhieß, war, dass sie Unternehmern helfen würde, Investitionskapital aufzutreiben und das unternehmerische Risiko an gewiefte Investoren abzutreten, die dieses Risiko leichter tragen konnten. Die Schwellenländer würden davon am meisten profitieren, weil sie an Kapitalarmut leiden, anfällig für Konjunktureinbrüche und weniger gut in der Lage sind, ihre Wirtschaft zu diversifizieren. Allein, dazu kam es nicht. Die Länder, die sich wirtschaftlich besser schlugen – China zum Beispiel –, wurden nicht zu Empfängern internationalen Investitionskapitals, sondern zu Gläubigern, die den reichen Ländern Geld liehen. Den Ländern hingegen, die auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesen waren, erging es tendenziell schlechter. In unserem Aufsatz versuchten wir zu erklären, weshalb die Liberalisierung der globalen Finanzmärkte den Entwicklungsländern nicht den versprochenen Segen gebracht hatte.
Kaum hatten wir den Artikel an die Druckerei geschickt, brach in den USA die Subprime-Krise aus und riss die Finanzwirtschaft in den Abgrund. Die Immobilienblase platzte, die Kurse für mit Hypotheken besicherte Wertpapiere (Subprime-Papiere) brachen ein, die Kreditmärkte trockneten aus, und innerhalb weniger Monate stellte sich heraus, dass die Geldhäuser der Wall Street kollektiven Selbstmord verübt hatten. Der Staat musste auf den Plan treten – zuerst in den Vereinigten Staaten, danach in anderen entwickelten Volkswirtschaften – und mit gigantischen Ausfallbürgschaften und mit der Übernahme von Geldinstituten das Schlimmste verhüten.
Die Globalisierung des Finanzsektors bildete den Kern der Krise. Befeuert wurden die Immobilienblase und das monströse Gespinst aus riskanten Derivaten dadurch, dass einige asiatische Länder und die erdölreichen Staaten exzessive Devisenreserven angehäuft hatten. Dass die Krise so leicht von der Wall Street auf andere finanzwirtschaftliche Zentren in aller Welt übergreifen konnte, hatte seinen Grund in der internationalen Verflechtung der Bilanzen, die eine Folge der finanziellen Globalisierung war. Ein weiteres Mal war mir die größere Geschichte, die sich unmittelbar hinter dem Horizont aufbaute, durch die Lappen gegangen.
Natürlich war ich nicht der Einzige. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, hatten die meisten Ökonomen Loblieder auf die Innovationskraft der Finanzwirtschaft gesungen, statt auf die Gefahren hinzuweisen, die sich aus dem stetigen Anwachsen eines Systems von «Schattenbanken» ergaben, das als Drehkreuz für unregulierte Finanzgeschäfte diente. Wie schon bei der asiatischen Finanzkrise, hatten sie auch jetzt wieder die Gefahrenhinweise übersehen und ignoriert.
Eigentlich hätte uns weder die eine Krise noch die andere auf dem falschen Fuß erwischen dürfen. Die asiatische Finanzkrise löste eine Flut von Studien aus, die letzten Endes alle auf dieses Fazit hinausliefen: Es birgt Gefahren, wenn ein Staat den Kurs seiner Währung stabil zu halten versucht, während zugleich der Zu- und Abfluss von Finanzkapital ins Land und aus dem Land ungehindert möglich ist. Jeder mit einem guten Zeugnis ausgestattete Ökonom musste das wissen, und zwar lange bevor der thailändische Baht im August 1997 seinen tiefen Sturz tat. Die Subprime-Krise hat ebenfalls ihre umfangreiche literarische Würdigung gefunden, und in Anbetracht ihrer Größenordnung und ihrer tiefgreifenden Auswirkungen scheint sicher, dass noch sehr viel mehr über sie geschrieben werden wird. Einige der wichtigsten Erkenntnisse lassen sich jedoch schon jetzt unschwer voraussehen: Märkte neigen zu Blasenbildung, unregulierte Hebelgeschäfte erzeugen systemische Risiken, Mangel an Transparenz untergräbt das Vertrauen, und rasches Intervenieren ist von entscheidender Bedeutung, wenn Finanzmärkte ins Trudeln geraten. Aber wussten wir das alles nicht schon spätestens seit der berühmten Tulpenmanie im 17. Jahrhundert?
Diese Krisen konnten entstehen, nicht weil sie unvorhersehbar gewesen wären, sondern weil sie nicht vorhergesagt wurden. Die Ökonomen (und diejenigen, die auf sie hören) hatten sich zu selbstgewiss ihrem jeweils aktuellen Lieblingsmantra hingegeben: dass der Markt funktioniert, dass innovative neue Finanzprodukte die Risiken auf diejenigen übertragen, die am besten in der Lage sind, sie zu schultern, dass Selbstregulierung besser funktioniert als alles andere, dass jedes staatliche Eingreifen unproduktiv und schädlich ist. Wo Hybris ist, entstehen blinde Flecken. Auch ich, ein Kritiker der finanziellen Globalisierung, war dagegen nicht immun. Wie meine Kollegen von der Ökonomenzunft hatte ich mich der Zuversicht hingegeben, ein wohl überlegtes Regelwerk und entsprechende Vorkehrungen der Zentralbanken hätten ausreichend hohe Barrieren gegen Finanzpaniken und eine finanzielle Kernschmelze in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften errichtet. Als Aufgabe verbliebe lediglich, für entsprechende Regelungen auch in den Entwicklungsländern zu sorgen. Möglich, dass in meiner Deutung der Vorgänge ein paar nachgeordnete Handlungsstränge anders verliefen, aber in der Hauptsache entsprach mein Drehbuch dem der meisten Fachkollegen.
Wenn Länder am Rande des globalen Systems, wie Thailand oder Indonesien, in eine Krise stürzen, dann werfen wir ihnen ihre Versäumnisse vor und ihr Unvermögen, die strengen Regeln dieses Systems anzuwenden. Wenn Ländern aus der Mitte des Systems das Gleiche passiert, dann geben wir die Schuld dem System und sagen, es sei an der Zeit, Korrekturen daran vorzunehmen. In diesem Sinn können wir sicher sein, dass die große Finanzkrise von 2008 eine Ära des erneuerten Reformwillens einläuten wird. Die Krise, die die Wall Street in die Knie zwang und die Vereinigten Staaten ebenso wie andere bedeutende Industrieländer alt aussehen ließ, hat ernstzunehmende Fragen zur Nachhaltigkeit des globalen Kapitalismus aufgeworfen, zumindest der Spielart von Kapitalismus, die sich im verflossenen Vierteljahrhundert herausgebildet hat.
Wie hätte sich die Finanzkrise abwenden lassen? Waren skrupellose Hypothekengeber der Kern des Problems? Gierige Kreditnehmer? Fehlerhafte Praktiken bei den Ratingagenturen? Zu große Hebel bei den Wertpapiergeschäften der Finanzinstitute? Das globale Überangebot an Anlagekapital? Eine zu lockere Geldpolitik der Federal Reserve? Staatliche Garantien für die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac? Die staatlichen Rettungsmaßnahmen für Bear Stearns und AIG? Die Weigerung des US-Schatzamtes, auch Lehman Brothers mit einer Bürgschaft zu retten? Glücksspielermentalität? Zu wenig Regulierung? Zu viel Regulierung? Die Diskussion über diese Fragen ist und bleibt heftig und wird zweifellos noch eine ganze Weile anhalten.
Von höherer Warte aus betrachtet, betreffen die genannten Fragen eher Meinungsverschiedenheiten bei Details. Das grundlegendere Problem ist, dass die Auffassung von Globalisierung, die wir seit Jahrzehnten verbreiten, ihre Glaubwürdigkeit und Attraktivität eingebüßt hat. Es wird viel Zeit vergehen, bis ein verantwortlicher Politiker sich wieder davon überzeugen lässt, dass innovative Finanzprodukte im Großen und Ganzen etwas Segensreiches sind, dass die Finanzmärkte sich am besten selbst regulieren oder dass große Finanzinstitutionen in Zukunft den Preis für ihre Fehlleistungen selbst bezahlen werden. Wir brauchen ein neues Szenario, wenn wir die nächste Etappe der Globalisierung gestalten wollen. Und je durchdachter dieses neue Szenario ist, desto gesünder werden unsere Volkswirtschaften sein.
Das globale Finanzwesen ist nicht der einzige Teilbereich unserer Welt, dem die überzeugenden Szenarien ausgegangen sind. Im Juli 2008, als sich die Subprime-Krise zusammenbraute, scheiterte eine globale Verhandlungsrunde, deren Ziel der Abbau internationaler Handelsbarrieren war, und ließ heftige Ressentiments und Schuldzuweisungen zurück. Diese Gespräche, die unter der Schirmherrschaft der Welthandelsorganisation (WTO) stattfanden und als «Doha-Runde» bezeichnet wurden, hatten sich seit 2001 hingezogen. Für viele Globalisierungsgegner waren sie zu einem Sinnbild der Ausbeutung von Arbeitskräften, armen Bauern und natürlicher Ressourcen durch multinationale Konzerne geworden. Die Verhandlungen waren zwar häufig Zielscheibe kritischer Attacken, scheiterten aber letzten Endes aus profaneren Gründen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer, angeführt von Indien und China, gelangten zu dem Schluss, dass das, was die Vereinigten Staaten und die Europäische Union ihnen anboten, keine attraktive Gegenleistung für die geforderte Abschaffung ihrer Einfuhrzölle auf industrielle und landwirtschaftliche Erzeugnisse war. Zwar hat man seither immer wieder versucht, die Gespräche wiederzubeleben, doch verstärkt sich der Eindruck, es mangele der WTO an Ideen, wie sie ihre eigene Legitimität aufwerten und sich selbst wieder eine maßgebliche Rolle verschaffen könnte.
Das Regelwerk, nach dem der weltweite Handel abgewickelt wird, unterscheidet sich in einer bedeutsamen Hinsicht von dem des globalen Finanzsystems: Wenn Sand ins Getriebe der Handelsbeziehungen gerät, entsteht daraus nicht von einem Tag auf den anderen ein Schlamassel. Findet ein Land die Regeln zu restriktiv und seinen Bedürfnissen nicht mehr angemessen, so wird es Mittel und Wege finden, die Regeln zu umgehen. Die Folgewirkungen sind meist eher subtiler Art und treten erst im Lauf der Zeit auf, in Form eines allmählichen Rückzugs von den grundlegenden Prinzipien des Multilateralismus und der Gleichbehandlung.
Die Entwicklungsländer haben immer beklagt, das System des Welthandels sei gegen ihre Interessen austariert, weil die Regeln von den Großen gemacht würden. Eine bunte Koalition aus Anarchisten, Umweltschützern, Gewerkschaften und progressiven Bewegungen hat ebenfalls gelegentlich ihre Kräfte gebündelt, um ihren sattsam bekannten Protest gegen die Globalisierung zu artikulieren. Doch die eigentliche Neuigkeit, die sich in den zurückliegenden Jahren herauskristallisiert hat, ist die, dass auch die reichen Länder mit den geltenden Regeln nicht mehr zufrieden sind. Der ziemlich dramatische Rückgang der Zustimmung zur wirtschaftlichen Globalisierung, der in wichtigen Ländern wie den Vereinigten Staaten zu verzeichnen ist, reflektiert diesen neuen Trend. Der Anteil derjenigen, die in einer dort veranstalteten Umfrage der Aussage zustimmen, die Globalisierung sei eine gute Sache für die amerikanische Wirtschaft, ist jäh gesunken: von 42 Prozent im Juni 2007 auf 25 Prozent im März 2008. Und überraschenderweise ist das Unbehagen auch bei einer wachsenden Zahl von Mainstream-Ökonomen angekommen, die inzwischen Zweifel an den angeblich so eindeutigen Segnungen der Globalisierung äußern.
So konnten wir erleben, dass der inzwischen verstorbene Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1970, Paul Samuelson, Autor des einflussreichsten ökonomischen Standardwerks der Nachkriegszeit, seinen Fachkollegen zu bedenken gab, dass die Vorteile, die der chinesischen Wirtschaft aus der Globalisierung erwachsen, sehr wohl zu Lasten der Vereinigten Staaten gehen können. Paul Krugman, Wirtschafts-Nobelpreisträger von 2008, macht darauf aufmerksam, dass der Handel mit Niedriglohnländern heute nicht mehr zu unbedeutend ist, um Auswirkungen auf die Ungleichheit in den reichen Ländern zu haben. Alan Blinder, ehemals zweiter Mann im Vorstand der amerikanischen Zentralbank, äußert die Befürchtung, das Outsourcen von Arbeit ins Ausland werde zu nie dagewesenen Verwerfungen innerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung der USA führen. Martin Wolf, Kolumnist der Financial Times und einer der eloquentesten Befürworter der Globalisierung, äußert seine Enttäuschung darüber, wie sich die finanzielle Globalisierung ausgewirkt hat. Und Larry Summers, in der Amtszeit von Präsident Clinton dessen «Mr. Globalization» und derzeit Wirtschaftsberater von Präsident Barack Obama, sinniert über die Gefahren eines Wettlaufs nach unten im Bereich der Regulierungen und über die Notwendigkeit internationaler arbeitsrechtlicher Standards.
Diese geäußerten Bedenken an der Globalisierung kommen zwar nicht an die wuchtigen Frontalangriffe heran, die Männer wie Joseph Stiglitz, Wirtschafts-Nobelpreisträger auch er, geritten haben. Aber sie markieren einen bemerkenswerten Wandel im geistigen Klima. Und selbst diejenigen, die noch keine kalten Füße bekommen haben, streiten oft aufs heftigste darüber, wie es mit der Globalisierung weitergehen soll. Jagdish Bhagwati beispielsweise, angesehener Vorkämpfer des Freihandels, und Fred Bergsten, Direktor des globalisierungsfreundlichen Peterson Institute for International Economics, haben sich mit dem Vorwurf ins Getümmel gestürzt, die Kritiker der Globalisierung würden deren Nachteile hemmungslos übertreiben und ihre Vorzüge unterschätzen. Doch in ihren Debatten über das Für und Wider regionaler Handelsabkommen – die Bergsten befürwortet und Bhagwati ablehnt – vertreten sie ebenso konträre Positionen wie jeder von ihnen gegenüber den erwähnten Kollegen.
Natürlich ist keiner dieser Ökonomen ein Gegner der Globalisierung. Sie wollen die Globalisierung nicht ungeschehen machen, sprechen sich aber dafür aus, neue Institutionen und kompensierende Mechanismen – auf nationaler wie internationaler Ebene – ins Leben zu rufen, die die Globalisierung wirksamer, fairer und nachhaltiger machen sollen. Ihre politischen Empfehlungen sind oft vage (wenn sie überhaupt welche unterbreiten) und lassen keine Konsenslinie erkennen. Offensichtlich hat sich die Kontroverse in Sachen Globalisierung von den Straßen ausgehend bis in die Kolumnen der Finanzpresse und in die heiligen Hallen etablierter Denkfabriken hinein fortgepflanzt.
Zu bröckeln begonnen hat der konzeptionelle Konsens, der unserem derzeit praktizierten Globalisierungsmodell zu Grunde liegt, schon vor Ausbruch der großen Finanzkrise von 2008. Die hochtönende Selbstgewissheit der Globalisierungs-Herolde ist weitgehend verflogen, an ihre Stelle sind Zweifel, Fragen und Skepsis getreten.
Die Welt hat schon einmal das abrupte Ende einer Ära der Globalisierung erlebt. Das Zeitalter des Goldstandards – mit seinem Freihandel und seiner unbeschränkten Kapital-Mobilität – nahm 1914 ein jähes Ende und ließ sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder zum Leben erwecken. Könnte uns in den kommenden Jahren eine ähnliche Kontraktion der Weltwirtschaft blühen?
Die Frage ist keineswegs frivol. Die wirtschaftliche Globalisierung hat zwar nie dagewesene Wohlstandssprünge in den entwickelten Ländern ermöglicht und sich als Goldader für Hunderte Millionen armer Arbeiter in China und anderswo in Asien erwiesen, doch sie steht bis heute auf wackligen Beinen. Anders als nationale Märkte, die in der Regel in ein stabiles Geflecht aus einheimischen Regulierungsinstanzen und politischen Institutionen eingebunden sind, sind globale Märkte nur «schwach verankert». Es gibt keine mit globalen Kompetenzen ausgestattete Kartellbehörde, keine globalen Kreditgeber letzter Instanz, kein globales Regulierungswesen, kein globales soziales Netz und natürlich auch keine globale Demokratie. Mit anderen Worten, globale Märkte leiden unter schwacher Beaufsichtigung und sind daher anfällig für Instabilität, Ineffizienz und einen Mangel an demokratischer Legitimation.
Diese Diskrepanz zwischen dem nationalen Aktionsradius von Regierungen und der globalen Reichweite der Märkte ist die Achillesferse der Globalisierung. Ein jederzeit fein austariertes Gleichgewicht zwischen beiden ist notwendige Voraussetzung für ein gesundes globales Wirtschaftssystem. Gewähren wir den Regierungen dieser Welt zuviel Einfluss, dann handeln wir uns damit Protektionismus und das Bestreben nach Autarkie ein. Lassen wir den Märkten zu viel Freiheit, dann ernten wir eine instabile Weltwirtschaft mit wenig gesellschaftlicher und politischer Unterstützung von Seiten derer, denen sie eigentlich zugutekommen soll.
Die ersten drei Jahrzehnte nach 1945 standen im Zeichen des Kompromisses von Bretton Woods, benannt nach dem Kurort in New Hampshire, in dem sich 1944 amerikanische, britische und andere politische Entscheider versammelten, um das Währungssystem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu entwerfen. Das Regelwerk von Bretton Woods atmete den Geist eines mäßigen Multilateralismus, der den einzelnen Regierungen die Freiheit ließ, sich auf ihre inneren Aufgaben im Bereich der Gesellschaft und des Arbeitsmarktes zu konzentrieren, und zugleich die Voraussetzungen für eine Wiederbelebung und einen Aufschwung des Welthandels schuf. Das Geniale an dem System war, dass es auf bewundernswerte Weise mehreren Zielen zugleich gerecht wurde. Einige der übelsten Handelsbeschränkungen wurden zwar beseitigt, aber den Regierungen blieb freie Hand, ihre Wirtschaftspolitik selbstständig zu gestalten und ihre jeweils bevorzugte Version des Wohlfahrtsstaates zu errichten. Was die Entwicklungsländer betraf, so erhielten sie die Möglichkeit, ihre jeweils eigene Wachstumsstrategie unter den Voraussetzungen einer begrenzten Einflussnahme von außen zu verfolgen. Die internationalen Kapitalströme blieben einer straffen Kontrolle unterworfen. Der Kompromiss von Bretton Woods war ein durchschlagender Erfolg: Die Industrieländer erholten sich und häuften Wohlstand an, und die Mehrzahl der Entwicklungsländer erlebte ein bis dahin nicht gekanntes Wirtschaftswachstum. Die Weltwirtschaft florierte wie nie zuvor.
Als das Kapital immer internationaler und mobiler wurde und die Ölschocks der 1970er Jahre die fortgeschrittenen Volkswirtschaften heftig durchrüttelten, erwies sich die Währungsordnung von Bretton Woods jedoch als nicht mehr zeitgemäß. In der Folge wurde das System im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre im Zuge einer ehrgeizigen Agenda der wirtschaftlichen Liberalisierung und tiefgreifenden weltwirtschaftlichen Integration modernisiert – es handelte sich um nicht weniger als den Versuch, etwas zu bewerkstelligen, das man als Hyperglobalisierung bezeichnen könnte. Bei Handelsabkommen zwischen Ländern ging es nun nicht mehr um die herkömmlichen Einfuhrbeschränkungen. Sie enthielten vielmehr auch Festlegungen zur nationalen Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder. Mechanismen für die Steuerung der internationalen Kapitalmärkte wurden außer Kraft gesetzt und die Entwicklungsländer wurden mit Nachdruck dazu gedrängt, ihre Märkte für Einfuhren und Investitionen zu öffnen. Im Grunde wurde die wirtschaftliche Globalisierung in dieser Phase zum Selbstzweck.
Die Ökonomen und politischen Entscheider, die das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Modell der Globalisierung überstrapazierten, übersahen dabei, was das ursprüngliche Erfolgsgeheimnis dieses Modells gewesen war. Als Folge davon kam es zu einer Serie von Enttäuschungen. Die finanzielle Globalisierung führte unter dem Strich eher zu mehr Instabilität als zu mehr Investitionen und höheren Wachstumsraten. Binnenwirtschaftlich beförderte die Globalisierung in vielen Ländern Ungleichheit und Unsicherheit, anstatt wie versprochen «alle Boote gleichermaßen anzuheben».
Gewiss wurden in dieser Periode auch spektakuläre Erfolgsgeschichten geschrieben – besonders in China und Indien. Gerade diese Länder jedoch spielten, wie wir noch sehen werden, das große Spiel der Globalisierung nicht nach den neuen Regeln, sondern nach denen von Bretton Woods. Statt ihre Wirtschaft bedingungslos den internationalen Handels- und Kapitalströmen zu öffnen, mischten sie in ihre Strategie eine starke Dosis staatlichen Interventionismus, um eine Diversifizierung ihrer Wirtschaft zu erreichen. Länder, die sich enger an die Vorgaben des neuen Globalisierungsrezeptes hielten, wie zum Beispiel etliche Staaten Lateinamerikas, mussten dagegen darben. Auf diese Weise wurde die Globalisierung zum Opfer ihres eigenen anfänglichen Erfolgs.
Wenn wir unser Wirtschaftssystem auf ein sicheres Fundament stellen möchten, brauchen wir ein besseres Verständnis der empfindlichen Balance und Interdependenz zwischen den Märkten und staatlicher Kontrolle. Ich möchte in diesem Buch ein Alternativszenario präsentieren, das auf zwei simplen Gedanken fußt. Erstens: Markt und Staat schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Wer mehr und bessere Märkte will, muss mehr (und bessere) staatliche Kontrolle herbeiführen. Märkte funktionieren am besten nicht dort, wo sie es mit einem schwachen, sondern dort, wo sie es mit einem starken Staat zu tun haben. Zweitens: Es gibt nicht nur eine Spielart des Kapitalismus. Wirtschaftlicher Wohlstand und Stabilität lassen sich durch vielfältige Kombinationen institutioneller Arrangements von Arbeitsmarkt, Finanzwesen, Unternehmenskultur, Sozialpolitik und anderen Faktoren herbeiführen und sicherstellen. Nationen neigen dazu – und haben in der Tat auch das Recht dazu –, ihre je eigene Auswahl aus diesen Kombinationsmöglichkeiten zu treffen, in Abhängigkeit von ihren Bedürfnissen und Wertmaßstäben.
Diese beiden Grundgedanken mögen abgedroschen erscheinen, sie bergen jedoch enorme Implikationen für unsere Auffassung von Globalisierung und Demokratie sowie für die Frage, wie weit man beide ohne Gefährdung des jeweils anderen vorantreiben kann. Wenn man einmal verstanden hat, dass Märkte auf Institutionen der staatlichen Kontrolle und Regulierung angewiesen sind, um gut funktionieren zu können, und wenn man des Weiteren zugesteht, dass jedes Land seine eigenen Vorstellungen davon hat, welche Gestalt diese Institutionen annehmen sollen, dann hat man bereits den Anfang eines Drehbuchs geschrieben, das zu einem radikal anderen Ende führt.
Man hat dann insbesondere erste Einsichten in etwas gewonnen, das ich als das grundlegende politische Trilemma der Weltwirtschaft bezeichnen möchte: Wir können die drei Dinge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung nicht zugleich vorantreiben. Wollen wir die Globalisierung weitertreiben, so müssen wir uns entweder vom Nationalstaat oder von der Demokratie verabschieden. Wollen wir demokratische Entscheidungsprozesse beibehalten und ausbauen, dann müssen wir uns zwischen dem Nationalstaat und der internationalen wirtschaftlichen Integration entscheiden. Und wenn wir am selbstbestimmten Nationalstaat festhalten wollen, müssen wir eine Wahl treffen zwischen einer Weiterentwicklung der Demokratie und einem Vorantreiben der Globalisierung. Die Ursachen für unsere Probleme liegen in unserer Neigung, uns vor diesem unausweichlichen Trilemma zu drücken.
Im Prinzip wäre es sicher möglich, Demokratie und Globalisierung unter einen Hut zu bringen, doch legt das Trilemma die Vermutung nahe, dass als Voraussetzung dafür erst einmal eine Weltrepublik geschaffen werden müsste, die um einige Größenordnungen über das hinausginge, was wir bis heute an supranationalen politischen Institutionen kennen oder was in absehbarer Zeit möglich erscheint. Wir bräuchten dazu Mechanismen für eine globale demokratische Regelerstellung, unterfüttert von Rechenschaftspflichten, die weit über den heutigen Ist-Zustand hinausgehen. Eine so geartete globale demokratische Kontrolle ist eine Schimäre. Wie ich in diesem Buch zu zeigen versuchen werde, sind die Diskrepanzen zwischen den Nationalstaaten zu zahlreich und zu groß, als dass sich ihre Bedürfnisse und Präferenzen in das Korsett global geltender Regeln und Institutionen zwängen ließen. Gleich welches Maß an globalstaatlicher Kontrolle wir durchzusetzen vermögen, wir werden damit immer nur eine abgespeckte Version der wirtschaftlichen Globalisierung erreichen. Die große Vielfalt, die unsere heutige Welt auszeichnet, macht eine Hyperglobalisierung inkompatibel mit der Demokratie.
Wir müssen uns also entscheiden. Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, wie meine Entscheidung aussieht: Demokratie und nationale Selbstbestimmung sollten uns wichtiger sein als eine Hyperglobalisierung. Demokratien haben das Recht, ihre gesellschaftlichen und sozialen Errungenschaften zu verteidigen, und wenn dieses Recht mit den Erfordernissen der Weltwirtschaft in Konflikt gerät, sollten Letztere zurückstehen. Vielleicht denken Sie jetzt, dieses Axiom sei das Ende jeder Globalisierung. Dem ist nicht so. Ich hoffe, Sie werden im Verlauf der Lektüre dieses Buches zu der Überzeugung gelangen, dass ein Wiedererstarken nationaler Demokratien die Weltwirtschaft in der Tat auf ein sichereres, gesünderes Fundament stellen würde. Und hierin besteht die eigentliche Paradoxie der Globalisierung: Eine dünne Schicht internationaler Regeln, die den nationalen Regierungen einen erheblichen Gestaltungsspielraum lässt, ist die bessere Variante der Globalisierung. Ein solches Modell vermag die bösartigen Potenziale der Globalisierung in Schach zu halten, während sie gleichzeitig deren nicht geringe wirtschaftliche Vorteile kultiviert. Wir brauchen eine intelligente Globalisierung, keine maximale.
Viel zu lange verschlossen Ökonomen und Politikberater die Augen vor den Spannungen und Unwägbarkeiten, die die Globalisierung mit sich bringt. Jede Störung, die unterwegs eintrat, war in ihren Augen die Schuld rückwärtsgewandter Ignoranten oder, schlimmer noch, Resultat der Lobbyarbeit von Protektionisten jedweder Couleur. Nur wenig Aufmerksamkeit schenkten sie der Tatsache, dass das einseitige Vorantreiben der Globalisierung zwangsläufig einen Konflikt zwischen widerstreitenden Werten und Idealen heraufbeschwört, der legitim ist und ausgetragen werden muss. Sie übersahen den Zusammenhang zwischen gut funktionierenden Märkten und einer zweckmäßigen staatlichen Lenkung. Ihre Rezepte stifteten denn auch zuweilen mehr Schaden als Nutzen. Und sie versäumten zahlreiche Gelegenheiten, das Handwerkszeug ihres Metiers besseren Zwecken dienlich zu machen.
So ist dieses Buch zwangsläufig auch eine Auseinandersetzung mit Ökonomen und ihren Ideen geworden – mit den Märchen, die sie sich selbst und Anderen erzählen. Es versucht zu erklären, wie diese Märchen unsere Welt geprägt haben, wie sie diese Welt beinahe zum Stillstand gebracht hätten und wie nicht wenige dieser volkswirtschaftlichen Ideen jetzt für den Aufbau eines besseren weltwirtschaftlichen Systems verwendet werden können.
Es ist vielleicht nicht verwunderlich, wenn ein Ökonom wie ich glaubt, dass Ideen – und besonders volkswirtschaftliche Ideen – von großer Bedeutung sind. In der Tat lässt sich nach meiner Überzeugung kaum hoch genug einschätzen, wie sehr diese Ideen unser Verständnis von der Welt um uns herum geprägt haben und wie stark sie in die Gestaltung dieser Welt eingeflossen sind, indem sie den Diskurs zwischen Politikern und anderen Entscheidern beeinflussten und unsere Handlungsspielräume einengten oder erweiterten. Zweifellos würden auch Politologen, Soziologen, Historiker und andere Akademiker ihrer jeweiligen Disziplin ähnliche Verdienste zusprechen. Es ist keine Frage, dass politische Wahlmöglichkeiten durch vielerlei Faktoren eingeschränkt werden: durch Interessengruppen und deren politische Organisationen, durch gesellschaftliche Tiefenströmungen und durch geschichtliche Verhältnisse und Bedingungen. Die wissenschaftliche Ökonomie hat jedoch dank ihrer naturwissenschaftlich anmutenden Zauberformeln, mit denen sie sich eine Aura von Klarheit und Gewissheit verlieh, zumindest seit Ende des Zweiten Weltkrieges die besseren Karten gehabt. Sie hat die Terminologie geliefert, in der wir politische Grundfragen erörtern, und hat die Topologie unserer kollektiven mentalen Landkarte geprägt. Keynes hat einmal den berühmt gewordenen Ausspruch getan: «Praktische Leute, die sich selbst ganz frei von intellektuellen Einflüssen wähnen, sind gewöhnlich die Sklaven eines verstorbenen Ökonomen.»2 Nach meinem Dafürhalten ist das nicht drastisch genug formuliert. Die Ideen, die hinter den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der letzten 50 Jahre stehen, sind auf dem Mist von Ökonomen gewachsen, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl noch höchst lebendig sind.
Ökonomen werden oft unfair angegangen. Sie werden als Marktfundamentalisten hingestellt, die sich wenig um das Gemeinwesen, um gesellschaftliche Werte oder um Ziele jenseits von Effizienz und Wirtschaftswachstum scheren. Sie propagierten, so heißt es, Konsum, Gier und Eigennutz auf Kosten anderer ethischer Normen und eines kooperativen sozialen Miteinanders. Das Klischeebild eines Ökonomen, das den meisten Leuten vorschwebt, ist das von Milton Friedman, der nie müde wurde, die Segnungen des freien Marktes zu predigen und die Gefährlichkeit staatlicher Interventionen zu beschwören, sei es im Wohnungsbau, im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, im Beschäftigungssektor, in Handel und Gewerbe oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Nur, dieses Klischee ist in keiner Weise zutreffend. Ökonomen verwenden unterschiedliche Modelle und Perspektiven, um die Welt zu analysieren. Einige davon ergeben eine Präferenz für den freien Markt, andere nicht. Ein großer Teil der ökonomischen Forschung zielt auf die Beantwortung der Frage ab, welche Spielarten staatlicher Intervention geeignet sind, die Wirtschaftsleistung zu verbessern. Nicht-ökonomische Motive und sozial kooperatives Verhalten gehören in zunehmendem Maß zu den Phänomenen, die die wissenschaftliche Ökonomie erforscht.
Das Problem besteht nicht darin, dass die Ökonomen Hohepriester des Marktfundamentalismus sind, sondern darin, dass sie dieselben heuristischen Fehler begehen wie gewöhnliche Menschen. Sie neigen dazu, Gruppendenken und Überheblichkeit an den Tag zu legen. Sie stützen sich gerne auf die Beweise, die zu ihrem jeweils aktuellen Lieblings-Szenario passen, und wischen andere Beweise, die nicht so gut passen, vom Tisch. Sie schließen sich Trends und Moden an und wechseln hin und wieder die Ideen, die sie propagieren. Sie überbewerten Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit und berücksichtigen die weiter zurückliegende Geschichte zu wenig. Sie fokussieren sich tendenziell zu stark auf Rezepte, die in der jüngsten Krise geholfen haben, und achten nicht genügend auf Spannungen, die womöglich die nächste Krise auslösen werden. Sie neigen dazu, Leuten, die andere Auffassungen vertreten, Ignoranz oder Eigeninteressen zu unterstellen, anstatt ihnen zuzugestehen, dass sie aus den Gegebenheiten einfach andere Schlüsse ziehen. Sie sind akademische Vereinsmeier – sie ziehen einen dicken Strich zwischen denen, die ihrem inneren Kreis angehören, also eingetragenen Mitgliedern ihrer Zunft, und allen anderen. Wie alle Inhaber von spezialisiertem Fachwissen neigen sie dazu, in Arroganz zu verfallen, wenn Außenseiter sich erdreisten, sich in ihre Wissensgebiete einzumischen. Mit anderen Worten: Auch unter Ökonomen menschelt es. Sie verhalten sich wie andere Leute auch – nicht wie die super-rationalen Maximierer des Gemeinwohls, die ihren theoretischen Modellen zugrunde liegen.
Die Ökonomen sind freilich nicht bloß eine Berufsgruppe unter vielen: Sie sind die Architekten der Denkwelt, in der sich die innen- und außenpolitische Willensbildung vollzieht. Sie genießen Respekt und finden Gehör – paradoxerweise umso mehr, desto schlimmer die wirtschaftliche Lage ist. Wenn Ökonomen falsch liegen, was sie hin und wieder tun, können sie echten Schaden anrichten. Wenn sie hingegen richtig liegen, können sie einen außerordentlich großen Beitrag zur Wohlfahrt der Menschheit leisten. Hinter einigen der größten wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten unserer Zeit – dem Wiederaufbau des Welthandels in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Aufstieg Chinas und Indiens – stehen simple, aber machtvolle Ideen, die von den Ökonomen unermüdlich heruntergebetet werden: Außenhandel ist besser als Autarkie, Anreize bewirken etwas, Märkte sind Wachstumsmotoren. Wie ich zeigen werde, hat die Ökonomie durchaus viel Rühmenswertes zu bieten.
Somit ist dieses Buch keine schlichte Moritat über Helden und Schurken. Mit Plädoyers, die die Ökonomen für die ganze Schlechtigkeit der Welt verantwortlich machen, habe ich ebenso wenig am Hut wie mit selbstbeweihräuchernden Ergüssen von Marktfundamentalisten. Ich möchte die Ideen der Ökonomen weder schlecht reden, noch möchte ich für sie den Herold spielen. Ich will vielmehr zeigen, wie diese Ideen zu verschiedenen Zeiten angewandt und missbraucht worden sind und wie wir sie hier und heute als Bausteine für eine bessere Spielart der Globalisierung benutzen können – eine, die kompatibler ist mit den Werten und Bestrebungen unterschiedlicher Länder und die vor allem mehr Nachhaltigkeit besitzt. Bis jetzt bestand die Ökonomie allzu oft aus zwei Teilen Wundermedizin und einem Teil Quacksalberei. Ich hoffe, dieses Buch wird seinen Lesern helfen, den Unterschied zu erkennen.
Am 17. November 1671 wurden die Stammgäste von Garraway’s Kaffeehaus, einem beliebten Treffpunkt von Londoner Schiffsreedern, Finanzagenten und Kaufleuten, mit einer ungewöhnlichen Ankündigung begrüßt:
Am 5. Dezember diesen Jahres werden im großen Saal dieser Örtlichkeit 3000 Stück Biberfelle zum Verkauf kommen, portioniert in 30 Lose, aus dem Besitz der Ehrenwerten […] Handelscompagnie des Governor und der Abenteuerkaufleute in der Hudson’s Bay.
Dieser Verkauf von Biberfellen war für die Kundschaft, die bei Garraway’s verkehrte, von mehr als bloß flüchtigem Interesse. Biberpelze waren qualitativ hochwertig und daher im 17. Jahrhundert ein äußerst gefragter Artikel. In so hohem Ansehen standen sie, dass der englische König Charles I. 1638 dekretierte, es dürfe für die Herstellung von Mützen kein anderes Material mehr als Biberfell verwendet werden.
Zum großen Verdruss der dortigen Kaufleute, Kapitalgeber und Adligen war London in Sachen Welthandel ein Nachzügler. Die meisten Biberfelle kamen aus Russland und wurden über die russischen Ostsee- und Schwarzmeerhäfen an Händler in kontinentaleuropäischen Metropolen wie Paris, Wien oder Amsterdam geliefert. Übermäßige Bejagung hatte im Übrigen zu einer starken Abnahme der Biberbestände und zu steigenden Preisen geführt. Wohlhabende Londoner mussten sich mit Pelzen zweitklassiger Qualität begnügen, die über das europäische Festland den Weg nach England fanden, oder mussten sich für sehr teures Geld in den besagten Städten versorgen. Die öffentliche Auktion bei Garraway’s schien eine neue Ära einzuläuten, in der es hochwertige Pelze im Überfluss geben würde.1
Wie hatten diese Biberfelle ihren Weg zu Garraway’s gefunden? Wer oder was war die «Handelscompagnie des Governor und der Abenteuerkaufleute in der Hudson’s Bay»? Hier schlummert eine interessante Globalisierungsgeschichte aus einer anderen Zeit.2 Gewiss, es war eine ganz andere Art von Globalisierung. Doch ein aufmerksamer Blick darauf kann uns eine ganze Menge darüber lehren, was Globalisierung möglich macht – und was ihr Schranken setzt.
Die Verkettung von Umständen, die zu der Biberfell-Auktion bei Garraway’s führte, ging auf drei unwahrscheinliche Hauptakteure zurück. Zwei davon waren französische Abenteurer, die miteinander verschwägert waren. Sie führten die schillernden Namen Pierre-Esprit Radisson und Médard Chouart des Groseilliers und waren als coureurs des bois, freie Trapper und Pelzhändler, in den nördlichen Gefilden Quebecs im heutigen Kanada unterwegs. Die französische Kolonialherrschaft in dem damals «Nouvelle-France» genannten Gebiet hatte ein profitables Geschäft daraus entwickelt, den amerikanischen Eingeborenenstämmen Biberpelze abzukaufen. Die Indianer brachten ihre Ware zu den von den Kolonisten errichteten Handelsstützpunkten und tauschten die Biberfelle gegen Feuerwaffen und Branntwein ein. Im Einklang mit der damals aktuellen Wirtschaftsdoktrin, dem Merkantilismus, war dieses Geschäft monopolistisch strukturiert und darauf ausgerichtet, den größtmöglichen Gewinn für die französische Krone und ihre Statthalter abzuwerfen.
Radisson und Des Groseilliers hatten Expeditionen in die nördlichen Wälder der Region unternommen, in die Nähe der Hudson’s Bay, und hatten dort den Eindruck gewonnen, das Angebot an Biberpelzen lasse sich noch erheblich ausweiten, indem man weiter in die noch unerforschten Regionen des amerikanischen Nordens vorstieß. Die französische Kolonialregierung aber war mit dem Status quo zufrieden und wollte nichts von neuen Ufern wissen. Die beiden Abenteurer wurden mit einer Strafe dafür belegt, dass sie ohne Lizenz mit Pelzen gehandelt hatten – Des Groseilliers landete sogar für kurze Zeit hinter Gittern.
Nachdem die beiden Schwäger von ihren Landsleuten eine Abfuhr bekommen hatten, beschlossen sie, sich neue Förderer zu suchen. Auf der Suche nach alternativen Geldgebern reisten sie nach London, wo es ihnen gelang, eine Audienz bei König Charles II. zu erhalten. Noch wichtiger war, dass sie das Interesse des Prinzen Rupert von der Pfalz wecken konnten, des dritten Protagonisten in unserer Geschichte. Prinz Rupert (Ruprecht von der Pfalz), in Böhmen geboren, war ein Neffe von Charles II. und auf seine eigene Weise ebenfalls ein Abenteurer. Er hatte in England, auf dem europäischen Festland und in der Karibik gekämpft und sich zeitweise als Erfinder und Künstler betätigt. Der Plan von Radisson und Des Grosseilliers sah vor, einen neuen Seeweg zu eröffnen: aus England über den Nordatlantik in die Hudson’s Bay und durch die Hudson-Meerenge. Auf diese Weise wollten sie der französischen Kolonialverwaltung ein Schnippchen schlagen und von Norden her direkt zu den Indianerstämmen vorstoßen, durch ein Gebiet, das bislang noch von keinem europäischen Staat beansprucht wurde. Es war ein riskanter und mit hohen Vorlaufkosten verbundener Plan, für den sie sowohl königliche Protektion als auch finanzielle Unterstützung benötigten. Prinz Rupert konnte für beides sorgen.
Am Morgen des 3. Juni 1668 stach Des Grosseilliers von London aus in See, auf eine von Prinz Rupert und dessen Entourage finanzierte Entdeckungsreise. Er hatte sich für die Nonsuch entschieden, ein kleines Schiff, das sich besonders gut für das Befahren von Inlandsgewässern eignete. Nach vier Monaten erreichte er die Ufer der Hudson’s Bay. (Ein zweites Schiff mit Radisson an Bord geriet unterwegs in mehrere schwere Stürme und musste nach England zurückkehren.) Des Grosseilliers und seine Crew überwinterten in der Hudson’s Bay, nahmen Verbindung mit den Cree-Indianern auf und kehrten im Oktober 1669 auf der Nonsuch nach England zurück, versehen mit einer ansehnlichen Ladung Biberfelle.3
Nachdem sie bewiesen hatten, dass ihre Geschäftsidee funktionierte, taten unsere drei Protagonisten, was zu jener Zeit jeder mit Geschäftssinn begabte Fernkaufmann getan hätte: Sie bewarben sich beim König um eine Monopol-Lizenz. Dass Prinz Rupert mit Charles II. verwandt war, schadete ihrer Sache natürlich nicht. Am 2. Mai 1670 gewährte die Krone dem Prinzen und seinen Geschäftspartnern die königliche Lizenz zur Gründung der «Handelscompagnie des Governor und der Abenteuerkaufleute in der Hudson’s Bay». Das damit ins Leben gerufene Unternehmen wurde später unter dem Namen Hudson’s Bay Company bekannt. Es besteht bis heute unter dem Namen HBC weiter und kann sich rühmen, Kanadas größte Warenhauskette und zugleich auch die älteste noch bestehende Aktiengesellschaft der Welt zu sein. Die Lizenz, die Charles II. der Hudson’s Bay Company in Form einer Charta gewährte, ist ein bemerkenswertes Dokument, das die Handelsfirma mit immensen Vollmachten ausstattete. In einer Art Präambel lobt der König seinen «geliebten Vetter» Prinz Rupert und seine Partner dafür, dass sie die Expedition in die Hudson’s Bay «auf hohe eigene Kosten» unternommen und in ihrem Zielgebiet «reichhaltige Handelswaren» entdeckt hatten, von denen «große Vorteile für uns und unser Königreich» zu erwarten seien. Im Folgenden gewährt der König der Company das alleinige Recht auf den Handel mit allen «Meeren, Meerengen, Buchten, Flüssen, Seen, Bächen und Lagunen» im Einzugsbereich der Hudson-Meerenge, «gleich über welche Breitengrade sie sich erstrecken möge», und zwar einschließlich aller angrenzenden Territorien, die sich nicht schon im Besitz eines anderen «christlichen Fürsten oder Staates» befanden. Doch damit nicht genug: Charles II. erklärte die Company auch noch zur «wirklichen und absoluten Herrscherin und Besitzerin» aller genannten Territorien.4
Zur Belohnung dafür, dass Prinz Rupert und seine Kompagnons – die «Abenteuerkaufleute», die für das Unternehmen ihr Kapital riskiert hatten – so große Mühen auf sich nahmen, und in Antizipation der künftig reichen Einnahmen für das Königreich erhielt die Gesellschaft nicht nur ein Monopol für den Handel mit den Bewohnern der neuen Territorien, sondern auch uneingeschränkte Besitzrechte an den an die Hudson’s Bay angrenzenden Gebieten. «Ruperts Land», ein Territorium, das den Einzugsbereich aller in die Bay mündenden Flüsse umfasste, wurde zum Eigentum der Company erklärt. Die volle Ausdehnung dieses Territoriums war zu dem Zeitpunkt gar nicht bekannt, weil es noch nicht zur Gänze erkundet war. Wie sich später herausstellte, hatte Charles II. ein gutes Stück dessen abgetreten, was heute Kanada ist – ein Gebiet, das 40 Prozent der Fläche des heutigen Kanada ausmacht oder mehr als das Sechsfache der Fläche Frankreichs – an eine private Firma!5
Die königliche Charta machte die Hudson’s Bay Company zu einem De-facto-Staat, zur Herrin über ein riesiges Territorium und über die dort lebenden Indianer, die bei alledem nichts mitzureden hatten. Die Company konnte Kriege führen, Gesetze erlassen und Recht sprechen. Es versteht sich, dass sie auch die höchste und einzige Instanz für den Pelzhandel in Ruperts Land war und festsetzte, zu welchen Bedingungen und Preisen die Eingeborenen ihre Waren abgaben. Im 19. Jahrhundert gab die Company sogar ihre eigene Papiergeldwährung heraus und erklärte sie in dem von ihr kontrollierten Territorium zum gesetzlichen Zahlungsmittel. Die territoriale Herrschaft der Hudson’s Bay Company hatte zwei Jahrhunderte lang Bestand, bis sie 1870 ihre Besitzrechte an Ruperts Land für 300.000 britische Pfund an das Kronland Kanada abtrat (was heute knapp 30 Millionen Euro entspräche).6
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