Über den Inhalt:
Amerika 1920. Harriet Sherwood hat ihre Großmutter Bebe immer bewundert. Aber sie hätte nie gedacht, dass ihre Entscheidung, in die Fußstapfen ihres großen Vorbilds zu treten und für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, sie ins Gefängnis bringen würde. Genauso wenig, wie sie erwartet hätte, dass ausgerechnet ihr alter Widersacher aus Kindertagen, Tommy O’Reilly, sie eines Tages verhaften würde.
In ihrer Gefängniszelle hat Harriet jede Menge Zeit darüber nachzudenken, wie es bloß zu ihrer Verhaftung hat kommen können. Wie ist sie zu dem Menschen geworden, der sie heute ist? In ihr steigen lange vergessene Erinnerungen an die drei Generationen Frauen auf, die sie geprägt haben: Ihre Urgroßmutter Hannah, die Sklaven bei der Flucht half, ihre Großmutter Bebe, eine treibende Kraft in der Abstinenzlerbewegung, und ihre Mutter Lucy. Alle drei Frauen besaßen eine ungeheure innere Kraft – und einen tiefen Glauben an Gott. Kann ihr Vermächtnis Harriet helfen zu erkennen, worauf es im Leben wirklich ankommt?

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist Aufgabe und Inspiration für sie. Wenn ihr neben dem Tagesgeschäft Zeit bleibt, macht sie Vortragsreisen und schreibt Bücher. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich. Ihre Bücher sind ausnahmslos Bestseller und haben dem Genre über die Grenzen des christlichen Buchmarkts hinaus zum Durchbruch verholfen.

Kapitel 7

Mein Gefängnisfrühstück erwies sich, als es endlich kam, als herbe Enttäuschung. Es bestand aus klumpigem Haferbrei und trockenem Toast. Der Kaffee schmeckte, als hätte er den ganzen letzten Monat auf dem Herd gestanden und ununterbrochen vor sich hingeköchelt. Nichts an der Mahlzeit war genießbar, und so stellte ich das Tablett auf den Boden und lehnte mich zurück an die Steinmauer, um weiter nachzudenken. Wenn man nichts zu tun hat außer nachzudenken, fallen einem die merkwürdigsten Dinge wieder ein. Eine davon hatte mit Grandma Bebes Bruder Franklin zu tun.

Ich hatte im Laufe der Jahre immer wieder Geschichten über ihn gehört, aber als ich elf Jahre alt war, lernte ich ihn persönlich kennen. Es war im Jahr 1911, anlässlich des Gedenktags für die Gefallenen des Bürgerkriegs. Grandma hatte sich damals gerade ein eigenes Auto gekauft, sehr zum Missfallen meiner Mutter. „Es ist nicht auszudenken, in welche Schwierigkeiten sie jetzt erst geraten wird, wo sie selbst ein Automobil hat“, sagte meine Mutter, und bat mich Grandma auf ihre Ausflüge zu begleiten und auf sie aufzupassen. Meine Mutter hatte keine Ahnung, dass ich bei Grandmas Dummheiten eine bereitwillige Komplizin war und dass ich keineswegs die Absicht hatte, sie von irgendetwas abzuhalten. Grandma brachte mir auf den einsamen Landstraßen außerhalb der Stadt sogar heimlich bei, selbst Auto zu fahren, sobald meine Beine lang genug waren, um an die Pedale zu kommen. An jenem Tag im Jahr 1911 wartete ich schon ganz ungeduldig auf die nächste Fahrstunde.

Wir fuhren am frühen Morgen los, ließen die Stadt hinter uns und genossen die Fahrt durch das hügelige Farmland. In der Ferne konnten wir die nebligen Wälder der Appalachen bewundern. Sobald wir auf dem Land waren, ließ Grandma mich ans Steuer, damit ich fahren üben konnte. Sie sagte nicht, wohin wir fuhren, aber ich hoffte, dass sie mich zu einer ihrer Abstinenzler-Demonstrationen mitnahm und wir mit Eiern und vergammelten Tomaten beworfen würden. Grandma hatte mir in der Zeitung einen Bericht über einen Saloonbesitzer gezeigt, der mehrere Stinktiere gefangen und auf eine Gruppe Abstinenzlerinnen losgelassen hatte, die vor seinem Saloon demonstrierten. Da ich mich auf irgendein Abenteuer gefreut hatte, war ich ein wenig enttäuscht, als Grandma mich in ein Dorf lotste, in dem ich noch nie gewesen war, und ich den Wagen ausgerechnet vor einem Friedhof parken sollte.

„Was wollen wir denn hier?“, fragte ich, als wir unsere Fahrerhandschuhe und Staubmäntel auszogen und auf den Sitz warfen. „Ist jemand gestorben?“

„Natürlich, Harriet – Tausende sind gestorben!“ Sie warf die Arme in die Luft und starrte mich mit großen Augen an, als müsse ihre Antwort einen Sinn ergeben. „Es ist Decoration Day!“

„Oh …“ Ich verstand noch immer nicht, aber sie hakte sich bei mir unter und schleppte mich zu einer ziemlich zerlumpt aussehenden Gruppe alter Soldaten, die sich um ein Bürgerkriegsdenkmal versammelt hatten. Sie alle hielten kleine amerikanische Flaggen in der Hand und warteten darauf, dass die Feierlichkeiten begannen. Ich hatte schon früher Veteranen der Großen Armee der Republik gesehen. An jedem 4. Juli hielten sie in unserer Heimatstadt eine Parade ab, aber ich war noch nie nah genug an sie herangekommen um zu sehen, wie abgewetzt und mottenzerfressen ihre Uniformen nach sechsundvierzig Jahren waren. Und wie schlecht sie saßen. Die Jahre, die inzwischen vergangen waren, hatten den Leibern schwer zugesetzt, indem sie sie an manchen Stellen ausgedehnt und an anderen zusammengezogen hatten. Ich betrachtete die ernsten Männer mit ihren gealterten Gesichtern und den grauen Haaren und versuchte sie mir als junge Männer vorzustellen, mit neuen Uniformen und gesunden und kräftigen Körpern, wie sie tapfer losmarschierten, um einen Krieg zu kämpfen, der sie für immer verändern würde. Ich sah Stolz in ihren müden Mienen, ein Bewusstsein dafür, dass sie mutig angetreten waren, als ihr Land sie brauchte. Sie hatten das Recht, stolz auf ihre Leistung zu sein.

Grandma blieb neben einem groß gewachsenen, hageren Soldaten stehen, der aussah wie der Sensenmann in Militäruniform. „Harriet, ich möchte dir meinen Bruder Franklin vorstellen.“

Ich dachte, sie mache Witze. Wir reichten ihm kaum bis zu den Achseln. Er ähnelte Grandma Bebe kein bisschen, und mit seinem schlohweißen Haar sah er alt genug aus, um ihr Vater zu sein. Aber dann drehte Franklin sich mit einem breiten, warmherzigen Lächeln zu uns um, und mit einem Schlag sah er zwanzig Jahre jünger aus.

„Hey, schön, dich zu sehen, Bebe.“ Er schlang seinen Arm um ihren Hals und zog sie an sich. Dann drückte er ihr einen Kuss auf das Haar.

„Franklin, das hier ist Harriet – die Enkelin, von der ich dir so viel erzählt habe.“

„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte ich, während wir einander musterten. Ich fragte mich, was genau sie über mich gesagt hatte.

„Sie sieht genauso aus wie du, Bebe, als du so alt warst wie sie.“

„Sei still, Franklin. Das Mädchen bekommt sonst noch Albträume.“ Er lachte, und das Geräusch, das er dabei von sich gab, erinnerte mich an den Klang eines Wagenmotors, der erfolglos angelassen wurde.

Die Zeremonie, die kurz darauf begann, hätte lustig sein können, wenn sie nicht so ergreifend gewesen wäre. Die aufgeblasenen Funktionäre bauten sich nacheinander vor dem Zeitungsfotografen auf, zogen den Bauch ein und umfassten ihr Revers, Kinn und Hängebacken vorgereckt. Der Bürgermeister prustete und zappelte und versuchte nicht zu fluchen, nachdem er rückwärts in eine Schlammpfütze getreten war. Dann stammelte er sich durch eine blumige, unverständliche Ansprache. Der nächste Funktionär ließ den riesigen Blumenkranz versehentlich in dieselbe schlammige Pfütze fallen, in die der Bürgermeister getreten war, wobei die Hälfte der Blüten abfiel. Als er den Kranz schließlich auf dem dafür vorgesehenen Metallständer platziert hatte, sah er genauso verwahrlost und jämmerlich aus wie die Veteranen.

Der Hornist, der alt genug zu sein schien, um schon im Unabhängigkeitskrieg gekämpft zu haben, spielte eine kaum wiederzuerkennende Version des Zapfenstreichs. Onkel Franklin schloss die Augen, während der Kommandant des örtlichen Armeestützpunktes über Begriffe wie Opfer und Pflicht und Freiheit sprach, und ich fragte mich, ob er schlief oder sich erinnerte. Ich sah, wie mehrere alte Veteranen sich die Augen wischten.

Nachdem der Pfarrer den Segen gesprochen hatte, hinkte mein Onkel mit den anderen alten Männern über den Friedhof, wo sie Flaggen und Armeesterne auf verschiedene Gräber legten. Franklin stützte sich auf einen Ebenholzgehstock mit silbernem Griff und bewegte sich sehr steif, während er über den unebenen Boden humpelte, als täte ihm jede Bewegung weh. Das letzte Grab, das, vor dem Grandma und er am längsten stehenblieben, gehörte ihrem Bruder Joseph.

„Was für eine Schande“, murmelte Grandma.

„Joe hatte etwas Besseres verdient“, seufzte Franklin. Während ich wartete, subtrahierte ich die Daten auf dem Grabstein. Mein Großonkel Joseph war im Alter von zwanzig Jahren gestorben – und war damit nur zwei Jahre älter geworden als meine Schwester Alice es gerade war.

Anschließend fuhren Grandma und ich durch die Stadt zu einem schattigen Park, wo wir Onkel Franklin und die anderen Veteranen wiedertrafen. Sie veranstalteten dort ein großes Wiedersehenspicknick der Großen Armee der Republik, und die Laune meines Großonkels besserte sich beträchtlich, als er uns ein Zeichen gab, ihm zu folgen. „Kommt mit, meine Damen. Sadie und ich haben euch einen Platz an unserem Tisch freigehalten.“

Grandma blieb stehen und verschränkte die Arme wie ein Indianerhäuptling. „Hör mal, Franklin. Es gibt hier bei diesem Rummel doch keine alkoholischen Getränke, oder?“

„Nein, Ma’am“, antwortete er grinsend. „Alkohol ist auf öffentlichen Plätzen strengstens verboten – dank dir und den anderen Abstinenzlermädels.“ Ich erzählte Grandma nichts davon, aber ich sah im Lauf des Tages noch einige der alten Soldaten – darunter auch Onkel Franklin – heimlich Schlucke aus silbernen Flachmännern nehmen. Das Gelächter der Männer wurde lauter, je länger der Nachmittag andauerte, und die Schritte der Veteranen wurden immer unsicherer. Es schien fast, als hätte der Erdboden begonnen, sich wie Ozeanwellen zu bewegen.

Wir setzten uns an einen der hölzernen Picknicktische unter den hohen Kiefern und die warme Luft, die über uns hinwegwehte, duftete nach Pinie und Holzrauch. Die Damen packten ihre Picknickkörbe aus und das Fest begann. Alle teilten ihre Schätze mit der Allgemeinheit. Onkel Franklins Frau Sadie steuerte eingelegtes Gemüse und Kartoffelsalat und kaltes gebratenes Huhn bei. Jemand schnitt eine Wassermelone auf, und Grandma und ich veranstalteten einen unserer Spuckwettbewerbe. Wir liebten es zu testen, wer die Kerne am weitesten spucken konnte. Ich schlug sie kein einziges Mal.

„Wo hast du so gut spucken gelernt?“, fragte ich.

„Das hat Franklin mir beigebracht.“

Er drehte sich um, als er seinen Namen hörte. „Was hast du gesagt?“

Grandma hielt eine Scheibe Wassermelone hoch. „Willst du es versuchen, Franklin? Ich wette, ich schlage dich immer noch.“

Er lachte und hob kapitulierend die Hände. „Oh, du spuckst so große Töne, dass niemand mit dir mithalten kann, Bebe.“

Später an diesem Nachmittag wandte Onkel Franklin sich mir zu und zwickte mich in die Wange. „Sag mal, hier verstecken sich doch nirgendwo Spechte, oder?“, fragte er.

„Äh … ich weiß nicht …“

„Hör zu, Harriet. Ich gebe dir zwei Groschen, wenn du für mich nach ihnen Ausschau hältst. Sie könnten hinter mir her sein.“

„Spechte? Willst du mich auf den Arm nehmen, Onkel Franklin?“

„Nein, nein!“ Sein Lachen klang eher wie ein Husten. „Für meinen Arm interessieren sie sich nicht – sie sind hinter meinem Bein her.“ Er schlug mit seinem Stock gegen seine Wade, woraufhin ein Geräusch erklang, das sich anhörte, als hätte er ans Tischbein geklopft. Ich dachte, es wäre ein Trick, aber Onkel Franklin grinste, zog sein Hosenbein hoch und schlug noch einmal dagegen. „Es ist aus Holz, wusstest du das nicht?“

Ich drehte mich mit fragendem Blick zu meiner Großmutter um und sie nickte. „Wenn dein Onkel Franklin nicht gewesen wäre, wärst du heute nicht hier, Harriet.“

„Du meinst, hier beim Picknick?“

„Nein, hier auf der Erde! Ich rede davon, dass es dich überhaupt gibt, Liebes. Das verdanken wir Franklin und seinem Holzbein.“

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie da redete, und ihre verblüffende Äußerung löste bei mir jede Menge Fragen aus. Aber dann verkündete jemand, dass es jetzt Eiskrem gebe, und ich wurde von der Gelöstheit der Erwachsenen mitgerissen, die redeten und lachten und ihr Wiedersehen genossen. Erst als der Tag zu Ende ging und wir nach Hause fuhren, hatte Grandma die Gelegenheit mir zu erklären, inwiefern Onkel Franklin und sein Holzbein für meine Existenz verantwortlich waren.

„Warum hast du gesagt, dass es mich nicht geben würde, wenn Onkel Franklin nicht gewesen wäre?“, fragte ich gähnend. „Und wie kommt es, dass sein Bein zu Holz geworden ist?“

„Ein Miniégeschoss hat es direkt unter dem Knie zertrümmert und die Militärärzte mussten es mit einer Säge abschneiden.“

Grandmas grausige Beschreibung hätte mich abstoßen sollen, aber das tat sie nicht. Ich setzte mich fasziniert auf. „Was ist ein Miniégeschoss?“

„Es ist im Prinzip eine Kugel – nur größer.“ Sie formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis von der Größe eines Fünfcentstücks. „Wenn ein Miniégeschoss Fleisch und Knochen zerfetzt, kann man das Glied nicht mehr retten. Es war am 2. April 1865, während des Durchbruchs der Unionsarmee nach Petersburg. Als wir erfuhren, dass Franklin verletzt worden war, war der Krieg bereits vorbei. General Lee hatte am 9. April in Appomattox kapituliert, eine Woche nach jener schicksalhaften Schlacht. Ein paar Tage später war Präsident Lincoln tot.“

„Ach, du liebe Güte“, murmelte ich. Während des Geschichtsunterrichts passte ich nie besonders gut auf, aber hier sprachen wir von meinem Großonkel, von einem Mann, den ich gerade kennengelernt hatte.

Grandma blickte konzentriert auf die vor uns liegende Straße, während sie fuhr. Ihr Kinn ragte dabei nicht über das Lenkrad hinaus. „Jahrelang habe ich mich gefragt, warum Gott Franklin nicht noch sieben Tage länger beschützen konnte – sieben Tage, Harriet! Besonders nach all dem anderen, was meine Brüder im Krieg hatten ertragen müssen.“

„Hat Gott dir irgendwann den Grund dafür gesagt?“ Ich erinnerte mich noch gut an einige andere von Grandmas Geschichten, zum Beispiel daran, wie Gott sie und ihre Mutter beschützt hatte, als sie den Sklavinnen bei der Flucht geholfen hatten.

„Ich weiß nicht, ob Gott einen Grund dafür hatte. Wenn ja, dann hat er ihn mir gegenüber zumindest mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt.“ Sie konzentrierte sich einen Augenblick lang ganz aufs Fahren und wechselte den Gang, da das Auto jetzt bergauf tuckerte. Kurz darauf flogen wir über die Kuppe und fuhren wieder bergab. Mir rutschte das Herz in die Hose. „Ich habe eine lange Liste mit Fragen, die ich Gott stellen will, wenn ich im Himmel ankomme“, fuhr Grandma fort. „Sie ist inzwischen fast so lang, dass sie ein komplettes Buch füllen könnte – und die Sache mit Franklins Bein steht ziemlich weit oben auf dieser Liste.“

Bevor ich sie an meine ursprüngliche Frage erinnern konnte, sagte sie: „Und außerdem möchte ich ihn sehr gerne fragen, warum ich nie zu einer normal großen Frau herangewachsen bin. Sieh mich doch nur an – ich habe immer noch die Figur eines zehnjährigen Jungen!“

Ich verdrehte die Augen, weil ich diese Worte schon so oft aus ihrem Mund gehört hatte. „Ich finde, du siehst völlig in Ordnung aus, Grandma.“

„Nichts für ungut, Liebes, aber das kannst du kaum beurteilen. Du bist selbst wie ein zehnjähriger Junge gebaut – nur für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.“

„Gut! Ich will auch gar nicht so aussehen wie eine Frau! Oder eine sein. Seit Alice so ‚mädchenhaft‘ geworden ist, benimmt sie sich unmöglich. Deshalb wollte ich heute auch mit dir wegfahren. Mir wird ganz schlecht, wenn ich sehe, wie ihre Verehrer jeden Abend auf unserer Veranda herumschwirren – wie Fruchtfliegen um einen Pfirsichkuchen.“

„Ob du eine Frau werden willst oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Glaub mir, es wird trotzdem geschehen. Obwohl ich vermutlich völlig vergessen hätte, dass ich als Mädchen geboren wurde, wenn der Krieg noch viel länger angedauert hätte. Meine Mutter erinnerte mich gerade rechtzeitig daran, als –“

„Warte, Grandma. Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum Onkel Franklin für meine Existenz verantwortlich ist.“

„Aber das will ich dir doch gerade erzählen, Harriet. Wenn du mich nicht immer unterbrechen und stattdessen zuhören würdest …“

Der Krieg endete für Bebe an dem Tag, an dem James und William nach Hause zurückkehrten. Von da an musste sie nie wieder Arbeiten auf dem Hof verrichten. Sie war gerade dabei, ihrem Vater dabei zu helfen, die Wagenräder mit Schmieröl zu bearbeiten, als sie aufblickte und ihre Brüder den Weg zum Hof heraufkommen sah. Sie wischte sich die Hände an einem leeren Jutesack ab und rannte ihnen entgegen, während ihre zu großen Stiefel kleine Staubwolken aufwirbelten. Ihre Brüder lachten, als sie Bebe sahen.

„Ich dachte, wir hätten eine kleine Schwester hier zurückgelassen“, rief William. „Wo kommt denn dieser schmutzige Kerl her?“

„Und was ist mit der kleinen Bebe passiert?“, fragte James.

Ja, was war passiert? Der Krieg hatte nicht nur sie verändert, sondern auch James und William. Die schlaksigen, immer zu einem Scherz aufgelegten Jungen, die sie vier Jahre zuvor hatte losmarschieren sehen, waren jetzt erwachsene Männer mit faltigen Gesichtern und struppigen Bärten. Sie waren unerwartet heimgekehrt, kurz vor dem Mittagessen, und Hannah zog Bebe schnell ins Haus, damit sie ihr in der Küche half.

„Lauf rasch nach oben und zieh dir etwas Sauberes an, Beatrice. Ich will ein richtiges Festessen für meine Jungs vorbereiten, und dabei brauche ich deine Hilfe.“

Bebe hatte ihren älteren Brüdern nie so nahegestanden wie Franklin, und so wartete sie ungeduldig darauf, dass auch er heimkam. Die Armee hatte ihnen einen Brief geschickt, in dem stand, dass er verwundet worden war, und dann noch einen, der ihnen mitteilte, dass er sich in einem Krankenhaus in Philadelphia von seinen Verletzungen erholte. Nachdem mehrere Wochen vergangen waren, ohne dass ihr Bruder nach Hause gekommen war, fing Bebe an, sich Sorgen zu machen. Franklin beantwortete keinen der Briefe, den sie oder ihre Mutter ihm schickten. Schließlich schrieb Hannah direkt an das Krankenhaus, um etwas über ihn in Erfahrung zu bringen.

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der Zustand Ihres Sohnes Franklin keine Verbesserung zeigt“, antwortete eine Krankenschwester. „Er ist sehr deprimiert, weil er sein Bein verloren hat, und er isst sehr wenig. Infolgedessen ist er recht schwach geworden und seine Wunde verheilt nicht richtig. Wenn Sie irgendetwas tun können, um ihn aufzumuntern, würde das sehr helfen.“

„Ich habe gebetet, um herauszufinden, was wir wegen Franklin unternehmen sollten“, erklärte Hannah Bebe ein paar Tage später, „und ich glaube, Gott hat mir gesagt, was wir tun sollen. Franklin braucht einen Angehörigen, der sich vor Ort um ihn kümmert, und du bist dafür am besten geeignet. Ich will, dass du nach Philadelphia fährst und ihm dabei hilfst, gesund zu werden. Sorg dafür, dass er wieder zu uns nach Hause kommen kann.“

„Du willst, dass ich so weit reise? Ganz allein? Das sind hundertsechzig Kilometer!“

„Du bist nicht allein. Gott wird mit dir gehen.“

Bebe biss sich auf die Lippe, um eine skeptische Bemerkung über Gott als Reisebegleitung zurückzuhalten. Das würde ihre Mutter nur schockieren. „Und was soll ich tun, wenn ich dort bin?“

„Franklin aufmuntern, ihn an zu Hause erinnern, ihn zum Lachen bringen.“

„Warum kannst du nicht fahren, Mama?“

„Jemand muss für deinen Vater und die Jungen kochen. Außerdem dachte ich, du hättest Freude an einer Abwechslung.“

„Das stimmt auch, aber …“ Bebe war noch niemals zuvor allein irgendwohin gereist.

Als Hannah am nächsten Markttag in die Stadt fuhr, organisierte sie alles Notwendige. Reverend Websters Frau besuchte regelmäßig ihre Schwester in Philadelphia, und sie erklärte sich einverstanden, Bebe das nächste Mal mitzunehmen. Bebe konnte so lange bei den Yeagers, Mrs Websters Schwester und Schwager, wohnen, wie Franklin zur vollen Genesung brauchte.

Als alles arrangiert war, ging Hannah mit Bebe zur Gemischtwarenhandlung und kaufte Spitze, Meterware und Baumwollgarn. „Wir nähen neue Ärmel an dein Sonntagskleid“, erklärte Hannah, „und wir lassen das Oberteil aus, weil du langsam einen Busen bekommst.“

„Schhh! Mama!“, flüsterte Bebe peinlich berührt. Aber es stimmte. Ihre Figur hatte endlich begonnen, weibliche Rundungen zu entwickeln.

„Wenn wir den Rock mit einem neuen Volant verzieren, sieht man den verschlissenen Saum nicht“, fuhr Hannah fort. „Außerdem bist du ein paar Zentimeter gewachsen, seit wir das Kleid genäht haben, von daher trifft sich das ohnehin ganz gut.“

Zuletzt kauften sie noch ein neues Paar Schuhe, das unbequemer war als alles, was Bebe bislang getragen hatte, vor allem, nachdem sie sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt hatte, in den alten Stiefeln ihrer Brüder herumzuschlurfen.

„Ich weiß gar nicht, wozu all das Getue und die neuen Kleidungsstücke und Schuhe gut sein sollen“, sagte Bebe an diesem Abend. Sie stand auf einem Melkschemel und versuchte stillzuhalten, während Hannah den Saum ihres Kleides umnähte. Der bauschige Rock fühlte sich ungewohnt sperrig an, immerhin hatte Bebe das ganze letzte Jahr Hosen getragen. Zum Glück waren Reifröcke in der Zwischenzeit aus der Mode gekommen. „Wen kümmert es schon, wie ich aussehe? Franklin ist das egal. Er wird es nicht einmal bemerken.“

Hannah nahm die Nadeln aus ihrem Mund und steckte sie in ein Nadelkissen. „Hör mir mal gut zu, Beatrice. Franklin und die anderen Jungen müssen dringend wieder etwas Schönes sehen und an das Leben erinnert werden, das zu Hause auf sie wartet. Sie haben in den vergangenen Jahren zu viel Elend gesehen.“

„Aber ich kann nicht –“

„Du hast die Arbeit auf dem Hof geschafft, dann wirst du das hier mit Sicherheit auch hinbekommen.“

Bebe war nicht überzeugt.

An dem Abend, bevor Bebe nach Philadelphia aufbrechen sollte, verordnete ihre Mutter ihr ein Bad. Bebe versuchte sich zu verdrücken, als sie sah, dass Hannah den Zuber vorbereitete. „Mach dir keine Mühe, Mama, ich kann mich im Fluss waschen –“

„Oh nein, das wirst du nicht tun.“ Hannah packte Bebe am Arm und zog sie ins Zimmer zurück. „Du brauchst ein anständiges Bad in warmem Wasser. Und du musst dir die Haare waschen. Du kannst nicht mit geflochtenen Zöpfen und nach Pferdeäpfeln riechend nach Philadelphia fahren. Du bist jetzt eine junge Frau, und eine hübsche noch dazu. Ich werde sogar etwas Rosenwasser in den Zuber geben.“

„Rosenwasser!“ Bebe rümpfte die Nase. „Wozu denn das?“

„Damit du gut duftest.“

Hannah schrubbte sie so kräftig, dass Bebe glaubte, ihre Haut würde sich ablösen. Während sie ihr beim Abtrocknen half, inspizierte ihre Mutter sie von Kopf bis Fuß. „Wir müssen etwas gegen den Dreck unter deinen Fingernägeln unternehmen.“

Bebe starrte auf ihre Hände. Sie waren nicht sauber geworden. „Ich glaube, der Dreck ist da, seit die Rebellen Fort Sumter angegriffen haben.“

„Hm. Ich habe ein Paar gehäkelte Handschuhe, die du dir ausleihen kannst.“

Hannah schnitt die Spitzen von Bebes Haar und bürstete es so lange, bis es glänzte. Es war lang und dunkel und dick und von Natur aus wellig. Hannah zeigte Bebe, wie sie es in der Mitte scheiteln und mit den neuen Haarnadeln und hübschen Perlmuttkämmen, die sie in der Stadt gekauft hatten, hochstecken konnte.

Früh am nächsten Morgen zog Bebe ihr umgearbeitetes Kleid an, frisierte sich die Haare und packte ihre Kleider und persönlichen Dinge in eine Reisetasche. Hannah holte den Spiegel herbei, den Henry und die Jungen zum Rasieren benutzten, und hielt ihn Bebe vor. „Sieh dich nur an, Beatrice.“

Bebe erkannte die Person, die ihr aus dem Spiegel entgegensah, kaum wieder. Sie hatte sich in eine richtige Frau verwandelt – zumindest äußerlich – mit einer schlanken Taille und einem hübschen Gesicht und dickem, üppigem Haar. Wenn sie sich doch nur innerlich auch als Frau fühlen würde!

„Du siehst wunderschön aus“, murmelte Hannah.

„Ich sehe so … anders aus.“

„Weißt du noch, wie das Leben sich verändert hat, als der Krieg ausbrach und die Jungen fortgingen? Und wie es wieder anders wurde, als Franklin auch weggehen musste? So ist das Leben nun einmal, Beatrice – es verändert sich immerzu. Wie ein Fluss ist es immer im Fluss. Nichts bleibt für immer gleich. Und so müssen auch wir uns weiterentwickeln und verändern.“

Bebe sah sich in ihrem Schlafzimmer um, das ihr nur allzu vertraut war, und blickte dann wieder in den Spiegel. „Und was ist, wenn ich nicht will, dass sich alles ändert?“

„Du kannst nicht gegen die Strömung ankämpfen. Du bist kein kleines Mädchen mehr, Beatrice, sondern eine erwachsene Frau. Ich habe deinen Vater geheiratet, als ich nur wenig älter war, als du es jetzt bist. Und das erwartet dich auch als Nächstes – eine Heirat und ein eigenes Heim.“

Bebe konnte sich das nicht vorstellen. „Aber ich will nicht von zu Hause weg.“

„Trotzdem musst du Gott vertrauen und für das bereit sein, was der Fluss des Lebens dir als Nächstes bringt.“

Bebe umklammerte ihre Tasche und den Korb mit selbst gebackenen Leckereien für Franklin. Sie empfand eine Mischung aus Aufregung und Angst. Als sie Hannah zum Abschied umarmte, wurde ihr bewusst, dass sie noch nie wirklich von ihrer Mutter getrennt gewesen war. Vor lauter Panik konnte sie kaum atmen.

„Mama, ich –“

„Ich verlasse mich darauf, dass du Franklin dabei hilfst, gesund zu werden.“

„Aber ich kann nicht –“

„Mit Gott ist alles möglich.“

Bebe nickte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Den ganzen Krieg über hatte sie sich danach gesehnt, etwas Mutiges und Bedeutsames zu tun. Vielleicht war das jetzt ihre Gelegenheit. Sie würde um Franklins willen tapfer sein.

„Vergiss nicht, auf dein Äußeres zu achten, Liebes. Sieh ab und zu in einen Spiegel und frisier deine Haare. Und achte darauf, dass dein Kleid ordentlich aussieht.“

Bebe schnitt eine Grimasse. „Es kommt mir immer noch komisch vor, den ganzen Tag über ein Kleid zu tragen.“

„Ich weiß. Aber du siehst darin sehr hübsch aus. Wundere dich nicht, wenn fremde Männer dir nachblicken und sich an den Hut tippen. Sie bemerken hübsche Mädchen.“

Bebe war noch nie mit dem Zug gefahren, und als das riesige Ungetüm schließlich eintraf und mit kreischender Signalpfeife laut rumpelnd in den Bahnhof einfuhr, Rauch und Funken sprühend, wurde ihr ganz anders. Dennoch ging sie mit zitternden Beinen darauf zu.

„Sind Sie so weit?“, fragte Reverend Webster, der sich anschickte, ihr auf die Plattform zu helfen. Die Lokomotive fauchte sie an wie eine wütende Stallkatze. Bebe nickte. Der Pastor hatte kürzlich darüber gepredigt, dass Jesus „Fürchtet euch nicht“ sagte, und so war es ihr peinlich, ihre Angst zuzugeben.

Der Zug ruckelte aus dem Bahnhof wie ein alter Mann, der keuchend nach Luft schnappte, aber als er erst einmal an Fahrt gewonnen hatte, fuhr er so schnell, dass Bebe befürchtete, er würde geradewegs von den Schienen fliegen. Die Landschaft raste mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihrem Fenster vorbei. Bestimmt würde ihr Herz jeden Augenblick zerspringen, so sehr wie es hämmerte. Es musste doch eine weniger beängstigende Art zu reisen geben. Sie fragte sich gerade, wie lange Franklin und sie wohl zu Fuß für die Heimreise brauchen würden, als ihr sein fehlendes Bein wieder einfiel.

Sie fuhren in Richtung Süden, erst nach Stroudsburg, dann nach Allentown, wo sie umsteigen mussten. Am späten Nachmittag wich der Anblick der Felder einer bunten Ansammlung von Gebäuden und rauchenden Fabriken. Ihr Zug näherte sich Philadelphia. Die Stadt war ein riesiger Ort, an dem es vor Menschen nur so wimmelte und an dem es mehr Pferde und Wagen gab, als Bebe sich jemals hätte vorstellen können. Sie rückte ein wenig näher an Mrs Webster heran, weil sie sich so verloren und fehl am Platz fühlte.

Mrs Yeager erwartete sie bereits am Bahnhof und führte sie auf direktem Weg zu ihrer Kutsche.

Wohin Bebe auch blickte, sah sie Soldaten in blauen Uniformen, und sie suchte ihre Gesichter ab, als erwarte sie Franklin unter ihnen zu entdecken. Ihre Sehnsucht nach der friedlichen Ruhe ihres Hofes wuchs ins Unermessliche und sie hoffte, dass sie Franklin überzeugen konnte, gleich mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Sie wollte nicht eine Nacht in dieser furchterregenden Stadt zubringen müssen.

„Möchten Sie sich erst einmal häuslich einrichten?“, fragte Mrs Yeager. „Sich vielleicht von der Reise frisch machen?“

Bebe hatte keine Ahnung, was „frisch machen“ bedeutete oder wie sie das anstellen sollte. „Ich würde lieber ins Krankenhaus gehen und meinen Bruder besuchen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Natürlich nicht“, sagte Mrs Yeager. „Sie können es sicher kaum erwarten, ihn zu besuchen. Es ist nicht weit bis zum Krankenhaus.“ Und das war es wirklich nicht. Die Kutsche hielt vor einem großen roten Backsteingebäude, bevor Bebe Zeit gehabt hatte sich zu überlegen, was sie Franklin sagen sollte.

„Ich sage meinem Fahrer, dass er Sie in einer Stunde abholen soll. Ist das lange genug?“, fragte Mrs Yeager.

„Ja, vielen Dank.“ Bebe kletterte aus der Kutsche und ging auf das Eingangsportal des Krankenhauses zu, wo eine Gruppe Männer stand und Zigaretten rauchte. Bei jedem von ihnen endete ein Arm oder eine Hand oder ein Bein unvermittelt in einem bandagierten Stumpf. Bebe wandte schnell den Blick ab.

Sie konnte das nicht. Der Anblick dieser verstümmelten, verwundeten Männer war bereits zu schrecklich, als dass sie es ertragen hätte – wie würde es ihr da erst mit ihrem eigenen Bruder gehen? Sie hatte versucht sich nicht vorzustellen, wie er ohne sein Bein aussehen würde, als sie ihre Reise geplant hatte, und jetzt wurde ihr klar, dass sie ihm unmöglich gegenübertreten konnte. Wie könnte sie ihn aufmuntern, wenn schon die Verletzungen dieser Fremden sie so entsetzten?

Bebe eilte zurück zur Straße, schwenkte die Arme und rief der davonfahrenden Kutsche nach: „Warten Sie! Kommen Sie zurück!“ Aber der Wagen fuhr ungerührt weiter. Bebe konnte also entweder eine Stunde lang in der heißen Sonne am Bordstein stehen bleiben oder ins Krankenhaus hineingehen. Sie holte tief Luft und wandte sich wieder dem Eingang zu. Die versammelten Männer hatten ihre Unterhaltung unterbrochen. Sie beobachteten Bebe. Verlegen versuchte sie etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Dann riss einer der Männer sich den Hut vom Kopf und verbeugte sich ein wenig.

„Schönen guten Tag, Miss.“ Die restlichen Männer taten es ihm eilig gleich.

„Wie geht’s, Miss.“

„Was für ein hübscher Anblick Sie doch sind.“

„Brauchen Sie Hilfe mit dem Korb?“

Sie grinsten breit, während sie Bebe von Kopf bis Fuß musterten. Bebe umklammerte den Henkel ihres Korbes ein wenig fester. „Nein, danke.“ Ihre Wangen brannten.

Als einer der Männer ihr die Tür aufhielt, eilte sie hinein. Eine Krankenschwester in weißer Uniform sprach sie sofort an. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

Bebes Worte verließen ihren Mund, als wären sie Fragen. „I-ich bin Beatrice Monroe? Ich bin hier, um meinen Bruder zu besuchen? Franklin Monroe?“

„Ach ja. Er wird sich sehr freuen, Sie zu sehen, Miss Monroe. Kommen Sie bitte mit.“

Bebe starrte auf den Boden, während sie der Schwester in einen langen, schmalen Raum folgte, in dem es nach Jod und Krankheit roch. Auf beiden Seiten standen reihenweise Betten an der Wand, und Bebe sah aus dem Augenwinkel weiße Laken und weiße Gesichter und die eine oder andere blaue Uniform. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass die Männer in den Betten sie beobachteten. Abgesehen von einem gelegentlichen Husten schien es in dem Raum unnatürlich still zu sein. Nachdem sie die Hälfte des Zimmers durchschritten hatten, blieb die Krankenschwester am Fuß eines Bettes stehen.

„Sie haben Besuch, Mr Monroe.“

Bebe hätte ihren Bruder niemals erkannt, wenn die Schwester sie nicht zu ihm geführt hätte. Der kräftige, sorglose Junge, der vor einem Jahr von zu Hause fortgezogen war, hatte sich in einen verwelkten alten Mann mit grauem Gesicht und eingefallenem Körper verwandelt. Der benommene Ausdruck in seinen Augen erinnerte sie irgendwie an den präparierten Rehkopf, der in Harrisons Gemischtwarenhandlung über der Tür hing. Zum Glück bedeckte ein Laken Franklins Bein. Bebe lächelte, so gut sie konnte, und trat an seine Seite, um die Hand auf seinen Arm zu legen.

„Hallo Franklin.“

Er schien sie zuerst nicht zu erkennen. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen. „Bebe? Bist du es wirklich?“

Sie nickte und stellte den Korb auf den Boden, damit sie ihn umarmen konnte. Das letzte Mal hatte sie ihn umarmt, bevor er in den Krieg gezogen war, und damals hatte er sie fast zerdrückt. Jetzt war sie die Stärkere von ihnen beiden. Sie klammerte sich an seinen geschwächten Körper und bat Gott um Vergebung dafür, dass sie sich über die Arbeit auf dem Hof beklagt hatte.

Als sie sich schließlich voneinander lösten, wandte Franklin das Gesicht ab und wischte sich unauffällig über die Augen, weil ihm seine Tränen peinlich waren. Bebe ließ ihren freien Lauf. Es waren die ersten Tränen seit vier Jahren, die sie nicht aus Selbstmitleid oder vor Erschöpfung weinte. Sie küsste seine bärtige Wange.

„Was machst du denn hier, Bebe? Wie bist du hierhergekommen?“

„Ich bin mit dem Zug gefahren. Mama hat mir etwas zu essen für dich mitgegeben.“ Sie hob den Korb aufs Bett und stellte ihn neben Franklin. „Sie hat mich geschickt, damit ich für dich sorge und dir dabei helfe, schnell wieder so gesund zu werden, dass du nach Hause kommen kannst.“

„Ich glaube nicht, dass ich noch mal nach Hause komme – es sei denn, du meinst das himmlische Zuhause.“

Als Bebe Franklins Worte hörte, drehte sich ihr der Magen um. Ihr Bruder sah wirklich aus, als stünde er bereits vor dem Himmelstor und wartete darauf, dass Petrus ihm auf sein Klopfen hin aufmachte.

„Das meine ich natürlich nicht! Du kommst mit mir zurück auf unseren Hof, Franklin. Ich bin es leid, all deine Arbeit mitzumachen.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin doch zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie hätten mich besser sterben lassen sollen.“

„So etwas darfst du nicht sagen!“ Bebe versetzte ihm einen Schlag gegen die knochige Schulter. „Joseph zu verlieren, war schlimm genug.“

„Er ist besser dran …“

„Hör sofort auf, Franklin. Mama trauert furchtbar um Joseph. Wag es ja nicht, ihr noch mehr Kummer zuzufügen, indem du auch noch stirbst.“ Sein Selbstmitleid erinnerte sie auf unangenehme Weise an ihre eigenen Klagen in den vergangenen Jahren. Sie holte Luft und setzte neu an. „James und William sind vor ein paar Wochen nach Hause gekommen. Es ist wunderbar, sie wiederzuhaben. Mama ist ganz glücklich.“

„Und du hast sie ganz allein dort gelassen? Wer hilft ihr denn jetzt in der Küche?“

„Sie hat darauf bestanden, dass ich fahre. Sie war so froh, die beiden Jungs wiederzuhaben, dass sie genug Essen für eine ganze Armee gekocht hat. Für dich hat sie auch etwas gemacht.“

Franklin schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Geh weg.“

Bebe hatte sich in Franklins Gegenwart nie unbehaglich gefühlt, aber jetzt tat sie es. Sie hatte keine Ahnung, was sie zu ihm sagen oder wie sie ihn aufmuntern sollte. Krampfhaft überlegte sie immer noch, als ein anderer Patient zu ihnen herübergehumpelt kam, auf einen Ebenholzstock mit graviertem Silbergriff gestützt. Das Bett knarrte, als er sich an seinem Fußende niederließ.

„Mensch, Franklin, du hast mir ja gar nicht gesagt, dass du eine Freundin hast.“

Franklin öffnete langsam die Augen. „Sie ist nicht meine Freundin; sie ist meine kleine Schwester.“

„Du hast mir aber auch nicht erzählt, dass deine Schwester so hübsch ist.“

„Sie war noch ein Kind, als ich weggegangen bin.“

„Aber jetzt ist sie kein Kind mehr. Eine Rose würde vor Scham verwelken, wenn sie es mit solcher Schönheit und Anmut aufnehmen müsste.“

Bebe blickte sich suchend um, weil sie sich fragte, von wem der Mann sprach. Als ihr bewusst wurde, dass er sie meinte, begann ihr Herz genauso zu hämmern wie an diesem Morgen, als die riesige Lokomotive in den Bahnhof eingefahren war. Sie hatte keine Ahnung, wieso.

„Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Monroe“, fuhr der Fremde fort. „Ich habe nicht jeden Tag das Glück, eine so reizende junge Dame kennenzulernen. Ich heiße übrigens Horatio Garner.“

Mr Garners Haar hatte die Farbe von Heu und seine Augen waren von dem blassesten Blau, das Bebe je gesehen hatte. Sein Bart war rot gesprenkelt, als hätte er sein Gesicht mit Kupferspänen gepudert anstatt mit Talkum. Die Haltung seines Kinns und seine selbstbewusste, humorvolle Art zu sprechen ließen ihn sehr selbstsicher wirken. Die einfachen Leute bei ihr daheim hätten ihn als „Dandy“ bezeichnet, weil er einen schicken Stock und blumige Worte benutzte, aber Bebe war fasziniert.

„Ihr Bruder und ich hatten vom ersten Tag unseres Dienstes an das Glück, nebeneinander zu marschieren, nicht wahr, Franklin? Er hat mir Ihre wunderbaren Briefe laut vorgelesen – so oft sogar, dass ich das Gefühl habe, Sie schon zu kennen. Aber er hat nie ein Wort über Ihren beispiellosen Charme verloren. Wie alt sind Sie, Miss Monroe, wenn Sie mir die Frage gestatten? Ich bin übrigens einundzwanzig.“

Bebe konnte nicht antworten. Sie wünschte, sie hätte einen Fächer zur Hand, mit dem sie sich Luft zuwedeln könnte, um ihre glühenden Wangen zu kühlen. Die Veränderungen, von denen ihre Mutter gesprochen hatte, schienen sich viel zu schnell einzustellen. Es war, als führte der Fluss ihres Lebens Hochwasser. Sie hatte kaum Zeit gehabt sich daran zu gewöhnen, dass sie eine Frau war, geschweige denn, zu lernen, richtig mit den Avancen eines gut aussehenden jungen Mannes umzugehen.

„Sind Sie immer so still?“, fragte Mr Garner, als sie nicht antwortete.

Franklin stieß sie an. „Antworte dem Mann, Bebe. Was ist nur aus deinen Manieren geworden?“

„I-ich habe in den letzten vier Jahren keine Manieren gebraucht. Die Kühe und Hühner haben keinen besonderen Wert darauf gelegt, und sonst gab es auf dem Hof niemanden, den ich hätte beeindrucken können.“ Mr Garner lachte, als hätte sie etwas außerordentlich Geistreiches gesagt. „Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin siebzehn.“

„Wie reizend. Siebzehn … Wie es das Schicksal wollte, wurden Ihr Bruder und ich am selben Tag in derselben Schlacht verwundet – nicht wahr, Franklin? Obwohl ich zugeben muss, dass seine Verletzung viel schlimmer ist als die meine. Die Ärzte haben mir erklärt, dass mein Fuß wieder ganz in Ordnung kommt, und sie haben mir mitgeteilt, dass ich bereits gesund genug bin, um nach Hause zu fahren. Aber ich wollte Franklin nicht so hier zurücklassen. Ich mache mir Sorgen um ihn, Miss Monroe. Ich habe zwar versucht, ihn aufzumuntern, aber ohne großen Erfolg. Deshalb bin ich sehr froh, dass Sie gekommen sind, um mir zu helfen. Übrigens, was haben Sie eigentlich in dem Korb da mitgebracht, wenn Sie mir die kühne Frage gestatten?“

Bebe schlug das Tuch zurück, dankbar, dass sie über etwas Alltägliches sprechen konnte. „Ähm … hier ist etwas von Mamas Sauerteigbrot – das hat sie heute Morgen noch für Franklin gebacken. Und ein Glas mit der Rhabarbermarmelade, die er immer so gern gegessen hat … und Schmalzkuchen. Möchten Sie ein Stück?“

Die Stunde verging wie im Flug, weil Mr Garner einen Großteil der Unterhaltung bestritt. Er war ein sehr fröhlicher Geselle und es war interessant, ihm zuzuhören. Doch Franklins düstere Miene änderte sich nicht. Bebe kam sich wie eine Versagerin vor. Morgen würde sie ihre Aufgabe besser erledigen müssen.

„Ich muss gehen“, sagte sie zu Franklin, als die Stunde vorüber war, „aber morgen Vormittag komme ich wieder. Iss doch in der Zwischenzeit bitte etwas von Mamas Leckereien, damit du wieder zu Kräften kommst. Mama will, dass du mit mir nach Hause zurückkommst.“ Sie beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Na, sehen Sie nur“, sagte Mr Garner.

Bebe blickte auf. „Was soll ich sehen, Mr Garner?“

„Ich glaube, das war das erste Lächeln, das ich seit Langem auf Franklins Gesicht gesehen habe. Ihr Kuss ist wie die Frühlingssonne, die den Frost zum Schmelzen bringt.“

Bebe starrte zu Boden. Seine blumigen Worte hatten sie verlegen gemacht. „Bis bald“, sagte sie. „Es war schön, Sie kennenzulernen, Mr Garner.“

„Warten Sie.“ Er streckte seinen Gehstock aus, um sie aufzuhalten. „Ich lasse Sie nicht gehen, bevor Sie mir versprochen haben, dass Sie mich Horatio nennen.“

„Also gut … Horatio. Ich komme morgen wieder.“

Sein Grinsen hätte einen ganzen Keller erleuchten können. „Ich kann es kaum erwarten, schöne Beatrice.“