James Q. Whitman
Hitlers
amerikanisches
Vorbild
Wie die USA die Rassengesetze der
Nationalsozialisten inspirierten
Aus dem amerikanischen Englisch von
Andreas Wirthensohn
C.H. BECK
Als in Deutschland die Nationalsozialisten triumphieren, ist in den USA die hohe Zeit der «Jim Crow-Gesetze», mit denen die Diskriminierung der Schwarzen geltendes Recht wird. Eine zufällige Parallele? Was kaum zu glauben klingt, das dokumentiert der Rechtshistoriker James Q. Whitman unwiderleglich: Der Rassismus in den USA lieferte den Nazis Anschauungsmaterial für die Diskriminierung der Juden.
«Brillant, gelehrt, bestürzend.» Prof. Lawrence M. Friedman, Stanford-Universität
«Whitmans Studie ist ein Musterbeispiel dafür, wie man mit heiklen Themen wissenschaftlich umzugehen vermag.» Wolfram Pyta, Frankfurter Allgemeine Zeitung
James Q. Whitman ist Professor für vergleichendes und internationales Recht an der Yale-Universität und einer der angesehensten Rechtshistoriker der USA.
Einleitung
KAPITEL 1: Reichsflaggen und Reichsbürger
Das erste Nürnberger Gesetz:
Von New Yorker Juden und Reichsflaggen
Das zweite Nürnberger Gesetz:
Das Reichsbürgergesetz
Amerika: Weltweit führend beim
rassistischen Einwanderungsrecht
Staatsbürgerschaft zweiter Klasse in Amerika
Die Nazis nehmen den Faden auf
Auf dem Weg zum Reichsbürgergesetz:
Die NS-Politik in den frühen 1930er Jahren
Die Nazis und die amerikanische Staatsbürgerschaft
zweiter Klasse
Schlussfolgerung
KAPITEL 2: Zum Schutze deutschen Blutes
und deutscher Ehre
Auf dem Weg zum «Blutschutzgesetz»:
Auseinandersetzungen auf den Straßen und
in den Ministerien
Straßenkämpfe: Die Forderung nach
«eindeutigen Gesetzen»
Auseinandersetzungen in den Ministerien:
Die Preußische Denkschrift und das
amerikanische Vorbild
Konservativer juristischer Widerstand:
Gürtner und Lösener
Das Treffen der Strafrechtskommission
vom 5. Juni 1934
Woher wussten die Nationalsozialisten über
amerikanische Gesetze Bescheid?
Wie lässt sich der amerikanische Einfluss bewerten?
Die Definition von «Mischlingen»: Die Ein-Tropfen-Regel und die Grenzen amerikanischen Einflusses
SCHLUSS: Amerika in den Augen der Nazis
Amerikas Ort in der Globalgeschichte des Rassismus
Der Nationalsozialismus und die
amerikanische Rechtskultur
Danksagung
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1
Reichsflaggen und Reichsbürger
Kapitel 2
Zum Schutze deutschen Blutes und deutscher Ehre
Schluss:
Amerika in den Augen der Nazis
Weiterführende Literatur
Personenregister
Für den Geist von Louis B. Brodsky
[D]iese Rechtsprechung würde für uns vollkommen passen, mit einer einzigen Ausnahme. Dort werden nämlich, praktisch gesprochen, überall nur Farbige und Halbfarbige gemeint, worunter die Mestizen und die Mulatten erscheinen; lediglich sind die Juden, die außerdem uns interessieren, nicht unter die Farbigen gerechnet.
Roland Freisler, 5. Juni 1934
Am 5. Juni 1934, gut eineinhalb Jahre nachdem Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt worden war, versammelten sich die führenden Juristen des nationalsozialistischen Deutschlands, um zu planen, was im Jahr darauf die Nürnberger Gesetze werden sollten, die berüchtigte antijüdische Gesetzgebung des NS-Rassenregimes. Geleitet wurde dieses Treffen von Franz Gürtner, dem Reichsjustizminister, und zugegen waren hohe Beamte, die in den Jahren danach bei der Verfolgung der deutschen Juden eine zentrale Rolle spielen sollten. Zu den Teilnehmern gehörten auch Bernhard Lösener, der an der Formulierung der Nürnberger Gesetze in führender Position beteiligt war, und der schreckliche Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofs und ein Mann, dessen Name zum Inbegriff juristischer Brutalität im 20. Jahrhundert geworden ist.
Das Treffen war wichtig, und ein ebenfalls anwesender Stenograph sollte ein wortgetreues Protokoll anfertigen, damit die stets so gewissenhafte NS-Bürokratie diesen entscheidenden Moment bei der Schaffung des neuen Rassenregimes festhielt. Diese Mitschrift offenbart eine irritierende Tatsache, die den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet: Bei diesem Treffen kam es zu detaillierten und ausführlichen Diskussionen über die Gesetze der Vereinigten Staaten. Gleich zu Beginn präsentierte Justizminister Gürtner ein Memorandum zu den amerikanischen Rassengesetzen, das von den Beamten des Ministeriums speziell für dieses Treffen sorgfältig erstellt worden war; und die Teilnehmer kamen im Verlauf der Diskussion wiederholt auf die amerikanischen Modelle rassistischer Gesetzgebung zu sprechen. Besonders erschreckend daran ist, dass ausgerechnet die radikalsten Nationalsozialisten bei diesem Treffen zu den glühendsten Verfechtern der Vorstellung gehörten, Deutschland könne von den amerikanischen Ansätzen lernen. Und dieses Protokoll ist, wie wir sehen werden, beileibe nicht das einzige Zeugnis dafür, dass sich die Nationalsozialisten eingehend mit amerikanischem Recht befassten. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre zeigten viele Nazis, unter ihnen auch Hitler selbst, ernsthaftes Interesse an der amerikanischen Rassengesetzgebung. In Mein Kampf pries Hitler Amerika gar als den «einzigen Staat», der bei der Schaffung einer gesunden rassistischen Ordnung, wie die Nürnberger Gesetze sie etablieren sollten, Fortschritte gemacht habe.
Diese Bemühungen der Nationalsozialisten, bei der Formulierung der Nürnberger Gesetze in den amerikanischen Rassengesetzen nach Anregungen zu suchen, sind von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigt worden. Ich möchte deshalb im Folgenden ihre Geschichte nachzeichnen und danach fragen, was sie uns über das NS-Deutschland, die moderne Geschichte des Rassismus und insbesondere auch über Amerika verrät.
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Die nationalsozialistische Verfolgung der Juden und anderer, die im Holocaust gipfelte, gilt als das fürchterlichste Verbrechen des 20. Jahrhunderts, und allein die Vorstellung, die Nationalsozialisten hätten sich dabei in irgendeiner Weise an amerikanischen Vorbildern orientiert, klingt zu schrecklich, als dass man sie überhaupt in Betracht ziehen wollte. Manchem mag sie sogar völlig abwegig erscheinen: Trotz aller unbestreitbaren Fehler und Mängel gilt uns Amerika noch immer als Hort der Freiheit und der Demokratie – als ein Land, das mit aller Macht gegen Faschismus und Nationalsozialismus kämpfte und 1945 schließlich den Sieg davontrug. Natürlich wissen wir alle, dass auch Amerika in der Zeit, als der Nationalsozialismus auf dem Weg zur Macht war, seinen eigenen Rassismus erlebte, insbesondere in den Südstaaten mit ihren Jim Crow-Gesetzen. In den 1930er Jahren wirkten das nationalsozialistische Deutschland und der amerikanische Süden wie ein «Spiegelbild»:[1] beides unverhohlen rassistische Regime, die in ihrer Gnadenlosigkeit ohne Beispiel waren. In den frühen 1930er Jahren wurden die deutschen Juden verfolgt, verprügelt und mitunter ermordet, vom Mob genauso wie vom Staat. Zur gleichen Zeit wurden auch die Schwarzen in den Südstaaten der USA verfolgt, verprügelt und mitunter ermordet.[2]
Trotzdem ist die Vorstellung, amerikanisches Recht habe auf irgendeine Weise direkten Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenverfolgung und Unterdrückung gehabt, schwer zu verdauen. Mag es zwischen den rassistischen Regimen der 1930er Jahre auch Ähnlichkeiten gegeben haben, mag die Geschichte des amerikanischen Rassismus auch widerwärtig sein, so halten wir den Nationalsozialismus doch gewöhnlich für einen letztlich beispiellosen Schrecken. Die Verbrechen der Nazis sind das nefandum, der unbeschreibliche Abstieg in die Niederungen dessen, was wir gern das «radikal Böse» nennen. Niemand will sich vorstellen, Amerika habe Hitler auch nur im Geringsten dazu inspiriert. Jedenfalls mag es schon ganz grundsätzlich unwahrscheinlich erscheinen, dass die Nazis das Bedürfnis hatten, in irgendeinem anderen Land nach Lehren in Sachen Rassismus zu suchen – schon gar nicht in den Vereinigten Staaten, die schließlich, allen Mängeln zum Trotz, Heimat einer großen, freiheitlichen Verfassungstradition waren.
Und so gut wie niemand hat dem widersprochen, abgesehen von einem scharfsinnigen Absatz in Mark Mazowers 2008 erschienenem Buch Hitlers Imperium.[3] Andere haben betont, was die meisten von uns für die offenkundige Wahrheit halten: Natürlich gab es keinen direkten amerikanischen Einfluss auf die NS-Rassengesetze, zumindest keinen bedeutsamen. Bei allen Ähnlichkeiten, die es womöglich gab, haben die Nazis ihr eigenes ungeheuerliches Gesetzeswerk selbst verfasst; von Amerika konnte Hitler mit Sicherheit nichts lernen. Die größte Beachtung hat dieser Frage der deutsche Jurist Andreas Rethmeier geschenkt. Er legte 1995 eine Dissertation über die Nürnberger Gesetze vor und untersuchte darin auch einige der vielen nationalsozialistischen Verweise auf amerikanisches Recht.[4] Dabei kam er zu einer irritierenden Einschätzung: Für die Nazis sei Amerika ein «klassisches Beispiel» eines Landes mit Rassengesetzgebung gewesen.[5] Trotzdem beharrte er mit Nachdruck darauf, die Vergleiche mit der Rassentrennung in den USA seien «nicht nur schief, sondern schlichtweg falsch». Schließlich hätten die Amerikaner die Juden der «kaukasischen Rasse» zugerechnet, aus Sicht der Nazis ein grober Irrtum.[6]
Andere kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. «Die wenigen flüchtigen Hinweise von nationalsozialistischen Hetzern und ‹Juristen› auf die Jim Crow-Gesetze», so beispielsweise der amerikanische Rechtshistoriker Richard Bernstein, «waren, soweit ich das beurteilen kann, schlicht Versuche, vage auf einschlägige Präzedenzfälle heimischer Gesetze und Maßnahmen zu verweisen, um Kritik abzulenken, nicht aber wirkliche Quellen geistigen Einflusses.»[7] Ähnlich argumentiert Marcus Hanke von der Universität Salzburg: «Die Rassentrennungsgesetze der Bundesstaaten hatten keinerlei bedeutsamen Einfluss.»[8] Jens-Uwe Guettel sprach 2012 gar von der «erstaunlichen Bedeutungslosigkeit amerikanischer Segregationsgesetze» für die NS-Politik. Die Nazis, so Guettel, betrachteten Amerika als hoffnungslos gefangen in einer überkommenen liberalen Sichtweise.[9] Demnach gab es also nichts, was die Bezeichnung «Einfluss» verdiente. All diese Autoren wissen genau, dass die Nazis etwas über die US-Gesetze zu sagen hatten. Sie sind jedoch übereinstimmend der beruhigenden Ansicht, dass die Nazis das nur sagten, um angesichts internationaler Kritik eine fadenscheinige Parallele zu den eigenen rassistischen Programmen zu behaupten.[10] Die Nazis wollten Amerika verhöhnen, nicht von ihm lernen.
Liest man die Quellen ganz nüchtern, so ergibt sich ein anderes Bild. So schrecklich der Gedanke auch sein mag: Fakt ist, dass die Nazis nachhaltiges, signifikantes und mitunter sogar eifriges Interesse am amerikanischen Beispiel in Sachen Rassengesetze zeigten. Sie wollten mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich von den USA lernen. Wie wir sehen werden, waren es gerade die radikalsten Nationalsozialisten, die am energischsten darauf drängten, sich an amerikanischen Vorbildern zu orientieren. Die NS-Verweise auf amerikanisches Recht waren weder zahlenmäßig gering noch flüchtig, und die Diskussionen fanden in einem politischen Kontext statt, der nicht dazu gedacht war, internationale Propaganda im Sinne des Regimes zu produzieren. Wichtiger noch: Es war nicht nur und nicht einmal primär der Süden der Jim Crow-Gesetze, dem die NS-Juristen Beachtung schenkten. Anfang der 1930er Jahre stützten sich die Nazis auf eine ganze Reihe von Beispielen aus den USA, im Bund ebenso wie in den Bundesstaaten. Ihr Amerika war nicht nur das der Südstaaten; es war ein viel größeres rassistisches Amerika. Die ironische Wahrheit ist zudem: Wenn die Nazis das amerikanische Vorbild ablehnten, dann mitunter deshalb, weil ihnen die amerikanischen Praktiken übermäßig hart erschienen. Selbst radikalen Nazis waren die amerikanischen Rassengesetze Anfang der 1930er Jahre manchmal zu rassistisch.
Selbstverständlich, das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, gab es bei den Nazis nicht auch nur entfernt so etwas wie uneingeschränkte Bewunderung Amerikas, denn sie lehnten die liberalen und demokratischen Überzeugungen der US-Regierung vehement und aggressiv ab. Die Nazis waren zu keiner Zeit daran interessiert, die USA in Mitteleuropa einfach nachzuahmen. Trotzdem betrachteten NS-Juristen Amerika nicht ohne Grund als innovativ und weltweit führend bei der Entwicklung von Rassengesetzen; und soviel sie dabei auch zu beklagen hatten, so gab es doch auch viel Nachahmenswertes. Es ist sogar möglich, ja wahrscheinlich, dass die Nürnberger Gesetze selbst unmittelbaren amerikanischen Einfluss widerspiegeln.
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Die These, die Nazis hätten sich bei der Entwicklung ihres rassistischen Verfolgungsprogramms von amerikanischen Gesetzen inspirieren lassen, wirkt auf viele sicherlich erschütternd; niemand will auch nur im Geringsten mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden. Für diejenigen, die sich intensiver mit der NS-Geschichte beschäftigt haben, dürfte sie jedoch keine allzu große Überraschung sein. In den letzten Jahren haben Historiker jede Menge Belege dafür zusammengetragen, dass sich die Nazis für eine ganze Reihe amerikanischer Praktiken, Programme und Errungenschaften interessierten und sie sogar bewunderten. Insbesondere in den ersten Jahren des Regimes betrachteten die Nationalsozialisten die USA keineswegs als eindeutigen ideologischen Gegner.
Teilweise blickten die Nazis aus so ziemlich den gleichen Gründen wie auch andere weltweit in Richtung Amerika. Die Vereinigten Staaten sind mächtig, wohlhabend und kreativ, und selbst ihre eingefleischtesten Gegner haben noch immer etwas Bewundernswertes an ihnen gefunden. In den gut einhundert Jahren seit 1918 hat sich die Strahlkraft Amerikas als besonders unwiderstehlich erwiesen. Wie deutsche Rassisten in der Zwischenkriegszeit bemerkten, waren die USA als «die erste Macht der Welt» aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen;[11] es ist also wenig überraschend, dass die Nazis wie andere auch danach fragten, welche Lehren das Machtzentrum dieser Welt für sie bereithielt, selbst wenn sie die liberalen und demokratischen Überzeugungen der amerikanischen Gesellschaft verhöhnten. Wie andere waren auch die Nazis von der industriellen Innovationskraft Amerikas und der Strahlkraft Hollywoods beeindruckt (wenngleich ihre Vorliebe für amerikanische Kultur aufgrund ihrer Abneigung gegen die «Negermusik» des Jazz keineswegs ungetrübt war).[12] Insbesondere Hitler bekundete – in Mein Kampf – seine Bewunderung für den dortigen «Reichtum an bedeutenden Erfindungen».[13] Das alles war keine Eigenheit des nationalsozialistischen Deutschlands.[14]
Wie Historiker gezeigt haben, gab es allerdings auch Dinge an Amerika, die den Ansichten und Zielen der Nazis deutlich spezifischer entsprachen. Das betraf zum Teil die US-Politik der frühen 1930er Jahre. Wir wissen schon lange um die seltsame Tatsache, dass die Nazis Franklin D. Roosevelt und den New Deal in diesen Jahren häufig lobten. FDR kam in der NS-Presse mindestens bis 1936 oder 1937 recht gut weg; er wurde gepriesen als Mann, der sich «diktatorische Vollmachten» zu verschaffen wusste und «kühne Experimente» im Sinne des «Führers» wagte.[15] Ähnliches wurde allgemeiner über das gesagt, was in den 1930er Jahren mitunter als «der faschistische New Deal» bezeichnet wurde.[16] Die Berliner Illustrierte Zeitung, die «arisiert» und in eine Art nationalsozialistische Life verwandelt worden war, brachte heldenhafte Fotostrecken über Roosevelt,[17] während Nazigazetten wie Wille und Macht, das Organ der Hitlerjugend, ihn als «Revolutionär» darstellten, der womöglich nur deshalb scheiterte, weil er nicht über eine so «disziplinierte, im gesamten Volke verankerte Parteitruppe verfügt wie unser Führer».[18] Roosevelt seinerseits war zwar ohne Zweifel angesichts der Judenverfolgung besorgt und fand harte Worte für «Diktatoren», doch bis 1937 oder gar 1939 war er darauf bedacht, Hitler nicht explizit hervorzuheben.[19] Zwischen den beiden Regierungen gab es Anfang der 1930er Jahre sicherlich keine engeren freundschaftlichen Bande, doch über den deutsch-amerikanischen Beziehungen lag noch nicht der Schatten der bedingungslosen Feindschaft. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der New Deal in hohem Maß von der Unterstützung der Südstaaten abhing, wo die Rassentrennung galt.[20] Das Verhältnis zwischen den Demokraten des Nordens und des Südens war in den frühen 1930er Jahren besonders innig, also in einer Zeit, da nationalsozialistische Beobachter, wie wir sehen werden, besonders hoffnungsfroh waren, man könne den USA auf der Grundlage der gemeinsamen Überzeugung von der Überlegenheit der Weißen «die Hand entgegenstrecken».[21]
Nun lässt sich die positive Darstellung, die der amerikanische New Deal in der NS-Presse erfuhr, natürlich auf die eine oder andere Art relativieren. Niemand würde behaupten, Hitler habe sich auf dem Weg zum Diktator ein Beispiel an Franklin D. Roosevelt genommen; und unbestritten ist auch, dass der US-Präsident ein überzeugter Demokrat war, der die verfassungsmäßige Regierung seines Landes zu einer Zeit schützte, als sie unter gehörigem Druck stand.[22] Wenn also die USA und Deutschland, die beide mit den ungeheuren Herausforderungen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert waren, ähnlich «kühne Experimente» wagten, so macht sie das noch nicht zu innigen Bettgenossen.[23] Und was auch immer die Nazis vom Rassismus in den Südstaaten halten mochten: Weiße aus dem Süden wurden im Allgemeinen nicht zu Anhängern Hitlers.[24] Wenn die Nazis das Amerika des New Deal als potenziellen Waffenbruder betrachteten, dann verrät uns das nicht unbedingt viel darüber, was für ein Land Amerika wirklich war. Allerdings haben Historiker in jüngster Zeit auch amerikanischen Einfluss auf einige der unzweifelhaft verbrecherischsten NS-Programme ausgemacht – insbesondere auf die Eugenik und den mörderischen Eroberungsfeldzug in Osteuropa.
Beginnen wir mit der Eugenik. Ein rücksichtsloses Eugenikprogramm, das für eine «gesunde» Gesellschaft frei von Erbkrankheiten sorgen sollte, war ein zentraler Aspekt der NS-Bestrebungen in den 1930er Jahren. Schon kurz nach der «Machtergreifung» erließ das Regime ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, und am Ende des Jahrzehnts betrieb man ein systematisches Euthanasieprogramm, bei dem auch Gas zum Einsatz kam und das schon den Holocaust erahnen ließ.[25] Wir wissen heute, dass der Hintergrund dieser Schreckenstaten eine nachhaltige Befassung mit der Eugenikbewegung in den USA war. Mit seinem 1994 veröffentlichten Buch The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National Socialism sorgte der Historiker Stefan Kühl für beträchtliches Aufsehen, weil er zeigte, dass es bis Ende der 1930er Jahre einen aktiven Austausch zwischen amerikanischen und nationalsozialistischen Eugenikern gab, ja dass die Nazis die USA sogar als «Vorbild» betrachteten.[26] In der Zwischenkriegszeit waren die USA nicht nur bei der Fließbandproduktion und der Populärkultur Hollywoods weltweit führend. Sie waren auch globaler «Spitzenreiter» in der «wissenschaftlichen» Eugenik, für die vor allem Personen wie der Historiker Lothrop Stoddard und der Anwalt Madison Grant standen, Verfasser des 1916 erschienenen rassistischen Bestsellers The Passing of the Great Race or the Racial Basis of European History (dt. Der Untergang der großen Rasse. Die Rassen als Grundlage der Geschichte Europas, 1925). Diese Männer befürworteten die Sterilisierung von geistig Behinderten und den Ausschluss von Immigranten, die angeblich genetisch minderwertig waren. Ihre Lehren fanden Eingang in die Einwanderungsgesetze nicht nur der USA, sondern auch anderer englischsprachiger Länder: Großbritannien, Australien, Kanada und Neuseeland begannen alle damit, Zuwanderer auf ihre «Erbgesundheit» zu untersuchen.[27] Kühl zeigte, dass die Auswirkungen der amerikanischen Eugenik auch im nationalsozialistischen Deutschland stark zu spüren waren, wo die Schriften von Grant, Stoddard und anderen amerikanischen Eugenikern zur Standardlektüre gehörten.
Auch in diesem Fall könnten wir natürlich wieder versuchen, die Bedeutung der Eugenik-Geschichte zu relativieren. Mochten die amerikanischen Eugeniker auch noch so widerwärtig sein, so sprachen sie sich doch nicht für massenhafte Euthanasie aus, und zu der Zeit, als die Nazis am radikalsten ihren mörderischen Weg beschritten, rissen auch ihre unmittelbaren Verbindungen zur amerikanischen Eugenik ab. In jedem Fall war die Eugenik, die damals weithin als respektable Wissenschaft galt, eine internationale Bewegung, die weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten und des nationalsozialistischen Deutschlands hinausreichte. Die globale Geschichte der Eugenik lässt sich nicht als ausschließlich deutsch-amerikanische Geschichte erzählen. Doch die Geschichte des nationalsozialistischen Interesses am amerikanischen Vorbild endet nicht mit der Eugenik der frühen 1930er Jahre; Historiker haben ihr bis in die albtraumhaften Jahre des Holocaust Anfang der 1940er Jahre nachgespürt.
Hier finden sich einige der erschütterndsten Belege, denn die nationalsozialistische Expansion in Richtung Osten war begleitet von Verweisen auf die amerikanische Eroberung des Westens und die damit einhergehenden Kriege gegen die Ureinwohner. Anders als die Geschichte der Eugenik ist diese Geschichte deutlich ausschließlicher eine deutsch-amerikanische. Die Nazis waren förmlich zerfressen von dem Drang, «Lebensraum» für ein expandierendes Deutschland zu erobern, der die Gebiete im Osten umfassen sollte, und für «Generationen deutscher Imperialisten wie auch für Hitler selbst gab es ein Vorbild für die Kolonialisierung großer Landmassen: die Vereinigten Staaten von Amerika».[28] In den Augen der Nationalsozialisten musste man nicht nur die Briten, sondern auch die Amerikaner als «‹Rassenverwandte› und Erschaffer eines riesigen Imperiums respektieren»;[29] beide waren «nordische» Gemeinwesen, die Eroberungsvorhaben epischen Ausmaßes unternommen hatten.
Tatsächlich bekundete Hitler schon 1928 seine Bewunderung für die Amerikaner: «Und nachdem der Weiße die Millionen von Rothäuten auf ein paar Hunderttausend zusammengeschossen hatte, will er die bescheidenen Überreste im Käfig beobachten.»[30] Und in den Jahren des Genozids Anfang der 1940er Jahre verwies die NS-Führung wiederholt auf die amerikanische Eroberung des Westens, wenn man von den eigenen mörderischen Eroberungen im Osten sprach.[31] Historiker haben zahlreiche Zitate von Hitler und anderen zusammengetragen, in denen die deutschen Eroberungen und das damit einhergehende Vernichtungsprogramm mit der amerikanischen Besiedelung des Westens verglichen wurden. Liest man diese Zitate, läuft es einem kalt den Rücken hinunter, und es gibt tatsächlich Historiker, die ihre Bedeutung zu leugnen versuchen.[32] Für die Mehrzahl der Wissenschaftler jedoch wiegen die Beweise zu schwer, als dass man sie ignorieren könnte: «Die amerikanische Politik der Expansion gen Westen», so etwa die eindringliche Schlussfolgerung von Norman Rich, «in deren Verlauf die Weißen die ‹minderwertige› indigene Bevölkerung rücksichtslos verdrängten, diente als Vorbild für Hitlers gesamte Vorstellung vom Lebensraum.»[33]
All das summiert sich zu einem durchaus beachtlichen nationalsozialistischen Interesse an dem, was das Vorbild der Vereinigten Staaten zu bieten hatte. Diese Geschichte muss freilich mit Vorsicht erzählt werden. Es wäre sicherlich zu viel, würde man die Vereinigten Staaten ohne sorgsame Einschränkungen als das Vorbild für das nationalsozialistische Deutschland bezeichnen; die Einstellung der Nazis gegenüber Amerika war dafür zu widersprüchlich, und die nationalsozialistischen Programme speisten sich aus zu vielen eigenen Quellen. Amerika seinerseits verkörperte, wie wir sehen werden, zu viel von dem, was die Nazis am meisten hassten, zumindest in seinen besseren Momenten. Auch wenn die Nazis in Amerika Vorläufer, Parallelen und Inspiration fanden, so schlugen sie gleichwohl ihren ganz eigenen Weg ein. Trotzdem zeigen all diese Forschungen unmissverständlich eines: Die Nazis fanden in den Vereinigten Staaten eben durchaus Vorläufer, Parallelen und Inspiration.
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Die Leser sollten die hier präsentierten Belege deshalb stets vor diesem Hintergrund betrachten. In den frühen 1930er Jahren, als die Nazis das Programm der Rassenverfolgung entwarfen, das in den Nürnberger Gesetzen Gestalt annahm, hatten sie nicht nur großes Interesse an der Art und Weise, wie Henry Ford Autos für die breite Masse baute, nicht nur daran, wie Hollywood seinen eigenen Massenmarkt schuf, nicht nur an Franklin D. Roosevelts Regierungsstil, an der amerikanischen Eugenik und an der amerikanischen Expansion gen Westen, sondern auch an den Lehren, die sich aus den Techniken rassistischer Gesetzgebung und Rechtsprechung in den USA ziehen ließen.
Dass diese Geschichte von der Wissenschaft bislang nicht geschrieben wurde, hat zwei Gründe: Man hat den falschen Ort in den Blick genommen und sich der falschen Interpretationsinstrumente bedient. Zuerst und vor allem hat man den Blick auf den falschen Ort gerichtet. Wissenschaftler wie Guettel und Hanke haben ihre Frage in unverkennbar amerikanische Begriffe gekleidet. Amerikaner fragen danach, ob «Jim Crow» irgendwelchen Einfluss auf die Nazis hatte; und mit «Jim Crow» meinen sie die Rassentrennung, wie sie in den amerikanischen Südstaaten praktiziert und in der Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung von Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre bekämpft wurde – Rassentrennung im Bereich der Bildung, in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Wohnen und dergleichen. Ausgehend von der Frage, ob die amerikanischen Gesetze zur Rassentrennung Einfluss auf die Nazis hatten, kommen Guettel und Hanke zu dem Schluss, dass dies kaum oder gar nicht der Fall war. Diese Schlussfolgerung ist allerdings, wie wir sehen werden, etwas voreilig. Die Nazis wussten sehr wohl um die amerikanische Rassentrennung und machten sich durchaus Gedanken darüber; und fest steht auch, dass einige von ihnen durchaus beseelt waren von der Hoffnung, Jim Crow auf Deutschland zu übertragen. Wie wir sehen werden, beriefen sich wichtige programmatische Texte der NS-Zeit auf das Beispiel der Jim Crow-Segregation, und es gab führende NS-Juristen, die ernsthaft vorschlugen, etwas Ähnliches auch in Deutschland einzuführen.[34] Das eigentliche Problem der Schlussfolgerungen von Guettel und Hanke ist jedoch, dass sie die falsche Frage beantworten. Es geht nicht in erster Linie um Rassentrennung.
Ja, es stimmt, dass Segregation nach Art der amerikanischen Südstaaten für das NS-Regime keine allzu große Rolle spielte – allerdings aus dem schlichten Grund, weil Rassentrennung für das nationalsozialistische Programm nicht von zentraler Bedeutung war. In den Nürnberger Gesetzen ist an keiner Stelle von Segregation die Rede. Ihnen und dem NS-Regime der frühen 1930er Jahre ging es vor allem um zwei andere Bereiche: erstens um die Staatsbürgerschaft und zweitens um Sex und Reproduktion. Die Nazis waren der festen Überzeugung, dass «jeder Staat das Recht [hat], sein Volkstum rein und unvermischt zu erhalten», es vor rassischer Verunreinigung zu schützen.[35] Zu diesem Zweck waren sie entschlossen, eine Staatsbürgerschaftsregelung einzuführen, die auf «rassisch bestimmten» Kategorien beruhte. Sie waren darüber hinaus entschlossen, Mischehen zwischen Juden und «Ariern» zu verhindern und außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Angehörigen der beiden Gemeinschaften unter Strafe zu stellen.[36]
In beiderlei Hinsicht fanden sie zu ihrer Freude Vorläufer und Beglaubigung im amerikanischen Recht, und beileibe nicht nur im Recht der Südstaaten. In den 1930er Jahren standen die USA, worauf die Nazis häufig verwiesen, an vorderster Front, wenn es um «rassisch bestimmte» Gesetzgebung ging. Das amerikanische Einwanderungs- und Einbürgerungsrecht – in Gestalt einer Reihe von Gesetzen, die im Immigration Act von 1924 gipfelten – regelte den Zugang zu den Vereinigten Staaten anhand von Tabellen «nationaler Herkunft», die auf dem Prinzip der Rasse beruhten. Es war Amerikas rassistisches Zuwanderungsrecht, das Hitler in Mein Kampf pries, in einer Passage, die von amerikanischen Rechtsgelehrten seltsamerweise außer Acht gelassen wurde; und führende NS-Juristen taten es dem «Führer» wiederholt und wortreich gleich. Auch bei der Schaffung von de jure und de facto bestehenden Formen einer Staatsbürgerschaft zweiter Klasse für Schwarze, Filipinos, Chinesen und andere standen die USA an vorderster Front; auch das war für die Nazis von großem Interesse, insofern sie ihre eigenen Formen einer Staatsbürgerschaft zweiter Klasse für deutsche Juden schaffen wollten. Was die Rassenmischung zwischen den Geschlechtern anging, waren die USA ebenfalls führend. Amerika war ein Leuchtturm des Mischehenverbots mit insgesamt dreißig verschiedenen Regelungen in den Bundesstaaten – viele von ihnen außerhalb des Südens und alle (wie wir sehen werden) von NS-Juristen sorgfältig studiert, katalogisiert und diskutiert. Was die Gesetzgebung in Sachen Mischehen anging, so fanden die Nazis schlicht keine anderen Modelle auf der Welt, wie Justizminister Gürtner auf dem Treffen am 5. Juni 1934 betonte. Wenn es um Einwanderung, Staatsbürgerschaft zweiter Klasse und Mischehen ging, war Amerika in den frühen 1930er Jahren tatsächlich das «klassische Beispiel» eines Landes mit hoch entwickelten und rigorosen Rassengesetzen, und NS-Juristen verwiesen im Zuge der Ausarbeitung der Nürnberger Gesetze sowie anschließend bei ihrer Interpretation und Anwendung immer wieder auf amerikanische Vorbilder und Vorläufer. Diese Geschichte ist keineswegs eine der «erstaunlichen Bedeutungslosigkeit».
Diejenigen Wissenschaftler, die einen möglichen amerikanischen Einfluss auf die nationalsozialistische Gesetzgebung leugnen, haben sich zudem der falschen Interpretationsinstrumente bedient. Die einschlägige Literatur befleißigt sich einer recht rigorosen Sichtweise: Ihr zufolge können wir nur dort von «Einfluss» sprechen, wo wir unmittelbare und unveränderte, ja sogar wörtliche Nachahmung finden. Diese Annahme steht hinter Rethmeiers zuversichtlicher Behauptung, amerikanische Rassengesetze hätten die Nazis gar nicht beeinflussen können, denn die amerikanischen Gesetze hätten sich nicht speziell gegen Juden gerichtet. Die gleiche Annahme finden wir bei Hanke: Das nationalsozialistische Recht sei etwas ganz anderes, denn die deutschen Gesetze der frühen 1930er Jahre seien «nur ein Schritt auf dem Weg zu den Gaskammern» gewesen.[37] Anders als die amerikanischen Gesetze zur Rassentrennung, die schlicht das Prinzip des «separate but equal» zur Anwendung brächten, seien die deutschen Gesetze Teil eines Vernichtungsprogramms gewesen. Das Problematische an dieser Argumentation, derer sich nicht nur Hanke bedient,[38] ist, dass ihre historische Prämisse falsch ist: Es trifft schlicht nicht zu, dass die Verfasser der Nürnberger Gesetze 1935 bereits die Vernichtung der Juden im Sinn hatten. Der nationalsozialistischen Politik ging es zunächst darum, die jüdische Bevölkerung ins Exil zu treiben oder sie zumindest innerhalb der Grenzen des Reiches zu marginalisieren, und unter den verantwortlichen Nationalsozialisten gab es heftige Konflikte darüber, wie man dieses Ziel erreichen sollte.
Es ist jedenfalls ein großer Irrtum zu glauben, wir könnten nicht von «Einfluss» sprechen, solange die NS-Gesetze nicht vollständig mit den amerikanischen übereinstimmten. Wie wir sehen werden, hatten NS-Juristen keinerlei Probleme damit, sich der amerikanischen Rassengesetze zu bedienen, selbst wenn darin von den Juden als solchen überhaupt nicht die Rede war. Einfluss im vergleichenden Recht bedeutet jedenfalls nur selten wörtliche Nachahmung. Einfluss ist eine komplexe Angelegenheit der Übersetzung, kreativen Übernahme, selektiven Entlehnung und Berufung auf Autorität. Jeder, der etwas übernimmt, bastelt daran herum und gestaltet es um; das gilt für die Nationalsozialisten genauso wie für jedes andere Regime. Wer etwas entlehnt, hält sich zunächst an fremde Modelle und gestaltet sie dann so um, dass sie den eigenen Umständen entsprechen; das gilt für üble Rassisten genauso wie für alle anderen.
Einfluss entsteht nicht nur durch wortgetreue Übernahme. Er entsteht durch Inspiration und Exempel, und die USA hatten den NS-Juristen Anfang der 1930er Jahre, in der Zeit, als die Nürnberger Gesetze entstanden, jede Menge Inspiration und Exempel zu bieten.
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Über all das zu sprechen ist nicht ganz leicht. Es gibt mehr als nur einen Grund, warum es schwierig ist, sich ganz nüchtern mit der Frage zu beschäftigen, ob das rassistische Programm der Nazis durch das, was in anderen westlichen Regimen vor sich ging, beeinflusst wurde oder sich gar Parallelen finden lassen – so wie es schwer ist, die Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und den europäischen Nachkriegsordnungen, die an seine Stelle traten, einzugestehen. Niemand möchte in den Verdacht geraten, NS-Verbrechen zu relativieren. Insbesondere die Deutschen sind im Allgemeinen und verständlicherweise zurückhaltend, sich an Diskussionen zu beteiligen, denen der Geruch des Apologetischen anhaften könnte. Moralischer Grundpfeiler des heutigen Deutschland ist nicht nur die Ablehnung des Nationalsozialismus, sondern auch die Weigerung, die deutsche Verantwortung für das, was unter Hitler geschah, zu leugnen. Auf ausländische Einflüsse hinzuweisen ist in Deutschland deshalb weiterhin ziemlich verpönt. Umgekehrt will kein Nicht-Deutscher, dass seinem Land irgendeine Beteiligung an der Genese des Nationalsozialismus vorgeworfen wird. Das Gefühl, wenn wir den Nationalsozialismus beeinflusst hätten, hätten wir uns auf eine Weise schmutzig gemacht, die sich nie wieder ganz abwaschen lässt, ist schwer zu überwinden. Ganz tief drinnen verspüren wir überall in der westlichen Welt vielleicht das Bedürfnis, ein echtes nefandum auszumachen, einen Abgrund beispiellosen modernen Schreckens, gegen den wir uns selbst definieren können, ein «radikal Böses», vollkommen sui generis – eine Art finsterer Stern, den wir als Orientierungspunkt brauchen, damit wir unseren moralischen Kompass nicht verlieren.
Aber natürlich macht es einem die Geschichte nicht so leicht. Der Nationalsozialismus war nicht einfach eine albtraumhafte historische Parenthese, die in keiner Beziehung zu dem stand, was davor und danach passierte; ebenso wenig war er ein völlig beispielloser rassistischer Schrecken. Die Nazis waren nicht einfach Dämonen, die aus irgendeiner finsteren Unterwelt hervorbrachen und das, was innerhalb der westlichen Tradition gut und gerecht war, zerschlugen, bis sie mit Waffengewalt in die Knie gezwungen und die wahren menschlichen und fortschrittlichen Werte Europas wieder in Kraft gesetzt wurden. Es gab westliche Regierungstraditionen, innerhalb derer die Nazis ihr Werk taten. Es gab Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und dem, was davor und danach war. Es gab Exempel und Inspirationen, von denen die Nazis zehrten, und den amerikanischen Rassengesetzen kam dabei eine prominente Rolle zu.
Damit soll keineswegs behauptet werden, dass Amerika in den 1930er Jahren ein nationalsozialistisches Land war. Natürlich war es das nicht, so schrecklich seine Gesetze Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts mitunter auch waren. Natürlich bestanden die rassistischen Züge im amerikanischen Recht neben und in Konkurrenz zu glorreichen menschlichen und egalitären Aspekten. Natürlich verachteten nachdenkliche Amerikaner den Nationalsozialismus – auch wenn einige sich zweifellos für Hitler begeisterten. Der berühmteste Jurist unter ihnen war kein Geringerer als Roscoe Pound, Dekan der Harvard Law School, Ikone fortschrittlichen amerikanischen Rechtsdenkens und ein Mann, der aus seiner Vorliebe für Hitler in den 1930er Jahren kein Geheimnis machte.[39] NS-Juristen ihrerseits sahen in Amerika jede Menge Dinge, die sie verachteten.
Es geht nicht darum, dass das amerikanische und das nationalsozialistische Rassenregime gleich waren, sondern dass die Nazis in der rassisch bestimmten amerikanischen Rechtsordnung Beispiele und Vorläufer fanden, die ihnen sehr zusagten, während sie gleichzeitig die Stärke der liberalen Gegenströmung in einem Land, das den Rassismus so offen und ohne schlechtes Gewissen gestattete, bedauerten oder zumindest irritierend fanden. Wir können und sollten uns gegen den einfältigen Anti-Amerikanismus verwahren, der die Vereinigten Staaten für alle Übel dieser Welt verantwortlich macht oder Amerika allein auf seine Geschichte des Rassismus reduziert.[40] Aber es gibt keine Entschuldigung, sich nicht den schwierigen Fragen an unsere Geschichte und an die Geschichte amerikanischen Einflusses im Ausland zu stellen. Die amerikanische Wirkung auf die übrige Welt beschränkt sich nicht auf das, was Amerikaner besonders stolz auf ihr Land macht. Zu ihr gehören auch Aspekte der amerikanischen Vergangenheit, die wir lieber vergessen würden.
Wir werden die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands und, wichtiger noch, die Stellung Amerikas in der umfassenderen Geschichte des weltweiten Rassismus nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit diesen Tatsachen auseinandersetzen. In den frühen 1930er Jahren waren NS-Juristen damit beschäftigt, Rassengesetze zu entwickeln, die auf einem Verbot der Mischehe und auf einem rassisch bestimmten Einwanderungs-, Einbürgerungs- und Staatsbürgerschaftsrecht beruhten. Sie suchten im Ausland nach Beispielen und fanden sie – in den Vereinigten Staaten von Amerika.
KAPITEL 1
Der rassisch rein und unvermischt gebliebene Germane des amerikanischen Kontinents ist zum Herrn desselben aufgestiegen; er wird der Herr so lange bleiben, so lange nicht auch er der Blutschande zum Opfer fällt.
Adolf Hitler, Mein Kampf[1]
Nimmt man die New York Times vom 16. September 1935 zur Hand, macht man eine seltsame Entdeckung. Der Leitartikel dieses Tages berichtete von einem der finstersten Momente in der Geschichte des modernen Rassismus, und zwar unter der folgenden Überschrift, die in großen Lettern auf der Titelseite prangte: «Reich übernimmt Hakenkreuz als offizielle Nationalflagge; Reaktion Hitlers auf ‹Beleidigung›.»[2] Mit dieser Schlagzeile berichtete die New York Times wie die meisten anderen amerikanischen Zeitungen darüber, dass am Tag zuvor eines der schändlichsten Beispiele für die Rassengesetzgebung der Zwischenkriegszeit, die sogenannten Nürnberger Gesetze, verabschiedet worden war. Erst darunter fügte die Zeitung in weniger auffälliger Typografie einen Hinweis auf das hinzu, woran wir beim Stichwort «Nürnberg» heute mit Schrecken denken: «Antijüdische Gesetze verabschiedet. Nicht-‹Arier› verlieren Staatsbürgerschaft und Recht auf Mischehe.» Das waren die Maßnahmen, die wir heute als Nürnberger Gesetze bezeichnen – Maßnahmen, welche die vollständige Durchsetzung eines rassistischen Staates in einem Deutschland signalisierten, das sich auf dem Weg zum Holocaust befand. Warum aber galten die amerikanischen Schlagzeilen nicht diesen Gesetzen?
Die Antwort auf diese Frage hat mit der politischen Entstehungsgeschichte der Nürnberger Gesetze zu tun – und sie zeugt davon, wie vielschichtig und widersprüchlich die Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem Amerika des New Deal in den frühen 1930er Jahren waren. Während der beängstigenden und ungewissen Jahre zwischen 1933 und 1936 gab es Augenblicke, in denen die nationalsozialistischen Ansichten über die USA von antiamerikanischen Ressentiments, Hass auf amerikanische Juden und Verachtung der amerikanischen Verfassungswerte geprägt waren. Es gab jedoch auch Momente, in denen die Nazis ihrer Hoffnung auf künftige gute Beziehungen Ausdruck verliehen und davon überzeugt waren, die USA und Deutschland seien als Länder, die beide der Wahrung der «nordischen» Vormachtstellung verpflichtet seien, verwandtschaftlich verbunden.
Die Schlagzeilen in der amerikanischen Presse vom 16. September hatten mit einem Fall von nationalsozialistischem Hass auf amerikanische Juden zu tun. Die Nürnberger Gesetze wurden der Welt denn auch als Reaktion des nationalsozialistischen Deutschlands auf eine «Beleidigung» der Hakenkreuzflagge präsentiert – und diese «Beleidigung» hatte sich in New York zugetragen. Gemeint war der sogenannte «Bremen»-Zwischenfall von Ende Juli 1935, als aufgebrachte Hafenarbeiter die Hakenkreuzflagge vom deutschen Ozeandampfer «SS Bremen» rissen. Die Randalierer wurden festgenommen, aber von einem jüdischen Richter namens Louis Brodsky wieder auf freien Fuß gesetzt. Als Reaktion auf Brodskys Entscheidung verkündeten die Nazis das erste der drei Nürnberger Gesetze, nämlich das Reichsflaggengesetz, das die Hakenkreuzfahne zum ausschließlichen Nationalsymbol Deutschlands erklärte. Man könnte also sagen: Der Triumph des Hakenkreuzes in Deutschland stand in gewisser Weise sinnbildlich für die nationalsozialistische Ablehnung der liberalen Strömungen im amerikanischen Leben und der Stellung der Juden in der amerikanischen Gesellschaft.
Die beiden anderen Nürnberger Gesetze jedoch, diejenigen, die deutschen Juden das Recht auf die volle Staatsbürgerschaft und auf Mischehen absprachen und an die wir uns heute vor allem erinnern, waren gänzlich anderer Natur. Sie wurden der Welt nicht als Ablehnung Amerikas präsentiert. Als Hitler und Göring die beiden antijüdischen Gesetze in Nürnberg verkündeten, taten sie das in Reden, die mit Freundschaftsbekundungen gegenüber der Regierung Roosevelt und den Vereinigten Staaten garniert waren. Und die unbequeme Wahrheit ist, dass die beiden antijüdischen Maßnahmen, die wir heute als Nürnberger Gesetze bezeichnen, keineswegs eine klare deutsche Ablehnung aller amerikanischen Werte markierten, sondern in einer Atmosphäre konzipiert worden waren, die von beträchtlichem Interesse an und Respekt gegenüber dem «Vorbild» der amerikanischen Rassengesetze geprägt war. Sie näherten das deutsche Recht dem amerikanischen deutlicher an, als das früher der Fall gewesen war.
Wenn wir heute von den Nürnberger Gesetzen sprechen, meinen wir (genauso wie die Deutschen der NS-Zeit)[3] nur das zweite und das dritte dieser Gesetze: das Reichsbürgergesetz, das die Juden einer Form von Staatsbürgerschaft zweiter Klasse unterwarf, und das «Blutschutzgesetz», das die Ehe und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und «Ariern» unter Strafe stellte. Tatsächlich wurden am 15. September 1935 auf dem «Parteitag der Freiheit» in Nürnberg, wie die Nazis ihn nannten, drei Gesetze verkündet. Und wenn wir die Politik von Nürnberg und Amerikas Bedeutung für das nationalsozialistische Rechtsdenken der frühen 1930er Jahre beschreiben wollen, sollten wir ebenfalls mit dem beginnen, womit die amerikanischen Zeitungen aufmachten: mit dem ersten Gesetz, dem Reichsflaggengesetz, und dem «Bremen»-Zwischenfall, der es provozierte. Die Geschichte des Reichsflaggengesetzes ermöglicht uns einen Einblick in die finsteren Strömungen und Gegenströmungen von Feindseligkeit und zaghafter Freundschaft, welche die nationalsozialistische Haltung gegenüber Amerika Anfang der 1930er Jahre bestimmten.
Der Zwischenfall auf der «Bremen» ereignete sich am 26. Juli 1935 in New York, in einem heißen Sommer, der von diplomatischen Konflikten und Straßenkämpfen zwischen New Yorker Hitler-Gegnern und pro-deutschen Demonstranten geprägt war.[4] An diesem Abend stürmten rund 1000 Protestierende, zu denen laut Polizeiberichten auch «kommunistische Sympathisanten» gehörten, die «SS Bremen», eines der schnellsten Schiffe auf der Transatlantikroute und der Stolz deutscher Ingenieurskunst.[5] Fünf Demonstranten gelang es, an Bord zu klettern, die Hakenkreuzflagge abzureißen und sie in den Hudson zu werfen.
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