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Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert

herausgegeben von Ulrich Herbert

Franz-Josef Brüggemeier

Geschichte
GROSSBRITANNIENS
im 20. Jahrhundert

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Um 1900 war Großbritannien auf dem Höhepunkt seiner Macht und besaß ein riesiges Empire. Kein anderes Land hatte damals einen ähnlich hohen Grad an Urbanisierung und Industrialisierung erreicht. Auch Konsumgesellschaft und Populärkultur waren deutlich weiter entwickelt. Nirgendwo sonst vollzogen sich aber auch der Rückgang der Industrie und der Aufstieg der Dienstleistungen so früh und so gründlich. Dieser zeitliche Vorsprung Großbritanniens hatte Vor- und Nachteile. Viele Entwicklungen dauerten länger als auf dem Kontinent, wo man auf britische Erfahrungen aufbauen konnte. Zugleich blieb den Briten aber mehr Zeit, sich auf die Veränderungen einzustellen. Das geschah nicht ohne Gewalt, insbesondere in den Kolonien. Doch die gesellschaftlichen Konflikte verliefen deutlich friedlicher als etwa in Deutschland, so dass George Orwell als wichtigste Eigenschaft der Briten hervorhob «einander nicht zu töten». Mit viel Sympathie für seinen Gegenstand porträtiert Franz-Josef Brüggemeier Großbritannien im 20. Jahrhundert und öffnet den Blick für die Vielfalt der britischen Geschichte.

Über den Autor

Franz-Josef Brüggemeier, geb. 1951, ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Freiburg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ERSTER TEIL
1900–1926

1.   Großbritannien um 1900

2.   Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg

3.   Der Große Krieg und seine Folgen, 1914–1926

ZWEITER TEIL
1926–1945

4.   Großbritannien um 1926

5.   Ruhe vor dem Sturm, 1926–1939

6.   Großbritannien um 1942: A People’s War?

DRITTER TEIL
1945–1979

7.   You never had it so good, 1945–1961

8.   Wind of Change, 1961–1979

9.   Großbritannien um 1965: Swinging Sixties?

VIERTER TEIL
1979–2010

10. Thatcher und Major, 1979–1997

11. New Labour, New Britain?, 1997–2010

12. Briten, Zuwanderer und Ausländer

13. Großbritannien 1900–2010: Rückblicke und Befunde

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Chronologie

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Tabellen

Personenregister

Karten

Vorwort

Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientierung und Alltagsvertrautheit beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt.

Aber offenkundig reicht der nationale Rahmen nicht aus, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, denn wichtige Entwicklungen erweisen sich schon beim zweiten Hinsehen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene. Wie soll man regionenübergreifende historische Erscheinungen – vom Imperialismus bis zur Europäischen Union, von den großen Diktaturen bis zur Ausbreitung des europäischen Modells der sozialen Demokratie, von den Klassenkonflikten der 1920er bis zur Jugendrebellion der 1960er Jahre und von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswunder der 1950er und zum Ölpreisschock der 1970er Jahre – in den Kategorien des Nationalstaats erklären können, wo es sich doch offenkundig eher um gemeinsame Grundprozesse und deren Varianten handelt?

Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Differenzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen.

Europa im 20. Jahrhundert hingegen a priori als Einheit zu betrachten und seine Geschichte auch so zu erzählen, ist nicht weniger problematisch. Denn dies transponierte die Vision einer gemeinsamen europäischen Gesellschaft gewissermaßen nach rückwärts, als sei der Nationalstaat lediglich eine Verirrung der vergangenen 150 Jahre gegenüber einer ansonsten im Wesentlichen gemeineuropäischen Erfahrung gewesen. Das vernachlässigte nicht allein die national so extrem unterschiedlichen Entwicklungen, wenn man nur an Jahre wie 1917, 1933 oder 1989 denkt. Es negierte auch die daraus erwachsenen Erfahrungsdifferenzen, die sich nicht nur nach den Kategorien Klasse und Geschlecht, sondern im 20. Jahrhundert in ganz besonderer Weise nach Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit ordnen. Tatsächlich sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar.

Um diesem Dilemma zu entkommen, versucht die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» einen anderen Weg: Die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften werden je für sich erzählt, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Verflechtungen. Um das zu verstärken, haben sich Herausgeber und Autoren auf eine gemeinsame Struktur geeinigt, die allen Bänden in stärkerer oder schwächerer Ausprägung zugrunde liegt: Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen werden in klassischer, diachroner Manier erzählt. An einigen, in allen Bänden etwa gleichen Zeitpunkten werden aber Querschnitte eingefügt, die es ermöglichen, Zustand und Zustände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen. Das betrifft die Zeiträume um 1900, Mitte der zwanziger Jahre, im Zweiten Weltkrieg, Mitte der sechziger Jahre und nach 1990. Abweichungen von diesem Raster ergeben sich aus spezifischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern.

Auf diese Weise sollen im Konzert der Bände dieser Reihe Differenzen und Ähnlichkeiten, Konvergenzen und Alternativen erkennbar und die Nationalgeschichten aus ihrer Selbstbezogenheit gelöst werden, ohne die Eigendynamik und die spezifischen Traditionen der einzelnen Länder zu vernachlässigen. Bei dem Versuch, nationale Geschichte und europäische Perspektive zu verbinden, wird vielen Lesern das eine oder das andere zu kurz kommen, wie überhaupt das Unterfangen, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, einen gewissen Mut erfordert. Aber nur in dieser relativ gedrängten Form ist es möglich, diachrone Entwicklungen zu schildern und Linien durch das Jahrhundert zu zeichnen, die bei erheblich umfangreicheren Bänden angesichts der Vielzahl der Themen und Aspekte nicht erkennbar würden.

Wenn wir vom 20. Jahrhundert sprechen, so in einer spezifischen Weise. Es hat sich vielfach eingebürgert, den Ersten Weltkrieg als Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten zu betrachten. Das hat Vorteile, weil dadurch die nachwirkenden Traditionen des «langen» 19. Jahrhunderts besser in Augenschein genommen werden können. Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ist es aber nötig, die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So wird, wer den Aufstieg der Weltanschauungsdiktaturen und die beiden Weltkriege, den Holocaust und die Dekolonialisierung darzustellen und zu erklären hat, vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen und die beiden Jahrzehnte vorher betrachten müssen, um die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate und den Aufstieg der großen radikalen politischen Massenbewegungen zu verfolgen, die im Laufe des Jahrhunderts eine so zerstörerische Wirkung entfalteten. Daher wird in diesen Bänden die Geschichte des «langen 20. Jahrhunderts» erzählt, die von den 1890er Jahren bis etwa 2000 reicht – wobei der Ausgangspunkt klarer ist als das Ende.

Schließlich hat Autoren und Herausgeber die Frage bewegt, wie man die so verschiedenen beiden Hälften des Jahrhunderts miteinander auf eine Weise verbinden kann, dass die Zusammenhänge zwischen beiden erkennbar werden, ohne den tiefen Einschnitt von 1945 zu relativieren. Hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften unübersehbar. Aber zugleich lässt sich doch angesichts der vielfältigen politischen Entwürfe und radikalen Alternativen über Jahrzehnte hinweg das Bemühen der Zeitgenossen erkennen, gesellschaftliche Ordnungssysteme zu finden, die den Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft angemessen sind. Das hat zu monströsen Gebilden und schrecklichen Opfern geführt.

Aber man kann doch auch erkennen, dass auf viele Herausforderungen, die sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg so scharf herausgebildet hatten, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich Antworten gefunden wurden, die sich bewährten und vermehrt auf Zustimmung stießen. Das betraf sowohl die Ausprägung der politischen Ordnung im Innern wie zwischen den europäischen Staaten, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit oder den Umgang mit der modernen Massenkultur. Dabei wurden die westeuropäischen Gesellschaften nach den 1960er Jahren einander immer ähnlicher, und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kulturellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens. Solche Tendenzen gab es in Ansätzen in den ostmitteleuropäischen Ländern auch schon während der kommunistischen Herrschaft, und nach 1990 begannen sie sich rasch durchzusetzen. Mit diesen Tendenzen der Konvergenz und Homogenisierung der gesellschaftlichen Ordnungen in Europa, deren Bedeutung in historischer Perspektive deutlicher zu erkennen ist als zeitgenössisch, wuchs aber vielfach auch das Bedürfnis nach Differenz und nach Orientierung an der nationalen Geschichte.

Zugleich aber wurde nach der «goldenen Ära» der 1950er und 1960er Jahre die Brüchigkeit des industriellen Fundaments dieser Gesellschaften sichtbar, und neue Herausforderungen kündigten sich an, die unsere Gegenwart und vermutlich in noch stärkerem Maße unsere Zukunft bestimmen: das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien, die ökologischen Krisen, die Ausprägung und Folgen der weltweiten Massenmigration, die neuen weltweiten ideologischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Bedeutung supranationaler Zusammenschlüsse und die globale Vernetzung wirtschaftlichen Handelns.

Soweit man es von heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.

Ulrich Herbert

Einleitung

Die britische Geschichte und die Entwicklungen in Großbritannien finden seit langem großes Interesse in Deutschland – und in anderen Ländern des europäischen Kontinents. Dabei galt das Inselreich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert sowohl als Vorbild wie als abschreckendes Beispiel und rief ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Als Vorbild galt es wegen der frühen Industrialisierung und der damit verbundenen wirtschaftlichen Überlegenheit, wegen des riesigen Empires oder auch der seit langem bestehenden Vorrangstellung des Parlaments. Abschreckend hingegen wirkten die immer wieder festgestellten großen Klassenunterschiede, der Triumph des Manchester-Kapitalismus oder die vermeintliche Vorherrschaft materieller Werte über kulturelle Ideale.

Auch jenseits solch grober Beurteilungen besaß und besitzt die britische Geschichte für Außenstehende eine besondere Bedeutung. Das gilt vor allem für das 20. Jahrhundert, wo tiefe Krisen die Länder des Kontinents erschütterten, bürgerkriegsähnliche Zustände oder selbst Bürgerkriege herrschten und Diktaturen eine Lösung versprachen, darunter mit besonders verheerenden Folgen der Nationalsozialismus. Großbritannien erschien demgegenüber als Hort der Ruhe und allmählicher Veränderungen. Entsprechend groß ist die Zahl der Veröffentlichungen, die sich mit den so unterschiedlichen Entwicklungen befassen und dafür Erklärungen suchen. In den letzten Jahren allerdings haben diese abgenommen, wofür es vor allem einen Grund gibt: Nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete der Kalte Krieg zwar eine konstante Bedrohung, doch davon abgesehen verliefen jetzt auch auf dem Kontinent die Entwicklungen friedlich und führten zu stabilen politischen und gesellschaftlichen Zuständen. In den letzten Jahren fanden zudem zahlreiche Prozesse der Angleichung statt, so dass heute bei einer Analyse der europäischen Länder vor allem die Gemeinsamkeiten hervorstechen.

Kennzeichnend für die britische Entwicklung im 20. Jahrhundert ist allerdings, dass zentrale Entwicklungen und Veränderungen hier oft eher vollzogen wurden als auf dem Kontinent. Diese Sichtweise ist nicht neu. Sie war vielmehr auch um 1900 verbreitet, wo diese Darstellung einsetzt. Gerade damals galt Großbritannien wegen seiner wirtschaftlichen Position, der Stärke des Empires oder der politischen Stabilität als Vorläufer von Entwicklungen, die für den Kontinent ebenfalls erwartet wurden. Dabei gab es bereits zahlreiche Hinweise darauf, dass der Vorsprung abnahm. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich, auch im Vereinten Königreich selbst, eine Sichtweise durch, die in Großbritannien in erster Linie Schwächen und Rückständigkeiten erkannte. Diese Wahrnehmung war nicht falsch, aber doch einseitig und übersah, dass in diesem Land weiterhin zahlreiche Entwicklungen besonders früh stattfanden. Welche das waren und welche Folgerungen sich hieraus ergaben, werden die folgenden Ausführungen zeigen, beginnend mit dem ersten Kapitel, das die hier nur skizzierten Überlegungen ausführlicher darstellt und zeigen wird, dass Großbritannien in vielfacher Hinsicht ein ausgesprochen modernes Land war und dies bis in die Gegenwart hinein blieb.

Dies gilt auch für die britischen Geschichtswissenschaften, wo über die etablierte Politik-, Ideen- oder Wirtschaftsgeschichte hinaus seit langem eine reichhaltige Tradition der Sozial-, Mentalitäts- oder Alltagsgeschichte besteht, auf der die vorliegende Untersuchung aufbaut. Die Darstellung versucht, einen Einblick in die Vielfalt der Fragestellungen und Aspekte zu geben, welche die Veröffentlichungen zur britischen Geschichte behandeln. Dazu werden immer wieder Themen des Alltags aufgegriffen, die zeigen, wie bis in diese Lebenswelt hinein zentrale Elemente der britischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ineinandergriffen, einander bedingten und immer wieder erfahrbar waren – auch und gerade in der populären Kultur. Darauf bezieht sich das Titelbild, das nicht nur ein Mitglied einer weltweit erfolgreichen Band zeigt, sondern auch auf die große und in Großbritannien schon früh erreichte Bedeutung der populären Kultur verweist.

Die vorliegende Darstellung hat eine lange Vorgeschichte. Von Oktober 1972 bis Sommer 1973 studierte ich in York, dort begann mein Interesse an britischer Geschichte. Fast vierzig Jahre später lag das Manuskript zu diesem Buch vor. Selbstverständlich (und glücklicherweise) habe ich nicht so lange daran gearbeitet. Doch zu diesem Buch trugen viele Erlebnisse und Erfahrungen bei, die ich in Großbritannien während dieser Zeit gemacht habe, und noch mehr Personen, die ich traf und die mich mit ganz unterschiedlichen Aspekten der britischen Geschichte und Gegenwart vertraut machten. Von diesen kann ich nur wenige nennen, darunter meine Mitarbeiter Peter Kramper, Peter Itzen, Jens Ivo Engels und Robert Neisen, deren Kenntnisse britischer und europäischer Geschichte eine große Hilfe bedeuteten; die Freiburger Kolleginnen und Kollegen Willi Oberkrome, Sylvia Paletschek, Heidrun Homburg, Jörn Leonhard und vor allem Barbara Korte, die viel Zeit aufbrachten, frühe Entwürfe und fertige Fassungen lasen, diese kommentierten und mit Rat und Tat zur Seite standen; Johanna Beil, Volker Köhler, Sebastian Schlund, Scott Krause, Gerlinde Schuwald und ganz besonders Franziska Pusch, die bei der Recherche und der Korrektur immer wieder große Unterstützung bot; Richard Bessel, der zahlreiche Hinweise gab und mehrmals sein Haus in York zur Verfügung stellte, und nicht zuletzt Dave Gamston und Jean Scott, die über viele Jahre wichtige Freunde und kundige Gesprächspartner waren.

Weitere Anregungen und Kritik erhielt ich durch das Kolloquium der Kollegen Werner Plumpe und Andreas Fahrmeir in Frankfurt, die Fellows der historischen Schule des FRIAS in Freiburg und die Zuhörer des GHI in London sowie bei Queen Mary, Universität London, wo ich meine Überlegungen vorstellen konnte. Geduldige und anregende Zuhörer waren zudem Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien, darunter Mark Roodhouse, Jim Walvin, Tony Nicholls, Holger Nehring, Pat Thane, Ewen Cameron, Adrian Bingham, Jill Stephenson, Martin Chick, Frank Trentmann, Peter Catterall, Christina von Hodenberg, Richard Rodger, John Stevenson und Ian Kershaw. Besonders hervorheben möchte ich die Treffen mit Ross McKibbin, der nicht nur im Gespräch, sondern auch durch seine Veröffentlichungen zahlreiche Impulse gab, ohne die ein anderes Buch entstanden wäre. Eigens zu nennen ist die DFG, die mir ein Forschungsfreisemester gewährte und den Freiraum bot, um die Niederschrift zu erstellen. Bei deren Endfassung halfen Dr. Sebastian Ullrich und Carola Samlowsky vom Beck-Verlag und deren freie Mitarbeiterin Maite Hagen, die bis hin zu Formulierungen und zahlreichen technischen Fragen eine sichere Orientierung boten.

Mein Freiburger Kollege Ulrich Herbert kennt seit langem mein Interesse an britischer Geschichte und fragte, ob ich für die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» den Band über Großbritannien verfassen möchte. Diese Aufgabe habe ich gerne übernommen und sehr profitiert von den konzeptionellen Überlegungen der Reihe und den Treffen mit anderen Autoren, unter denen ich Hans Woller, Gerhard Hirschfeld, Wlodzimierz Borodziej, Jakob Tanner und Dietmar Neutatz hervorheben möchte. Als Herausgeber hat Ulrich Herbert das Manuskript gelesen, zahlreiche Vorschläge gemacht und geholfen, den Blick auf Großbritannien zu schärfen.

Dieses Land ist mir in den letzten Jahren sehr vertraut geworden. Ob diese Nähe dem Buch geschadet hat oder ob es davon profitierte, müssen die Leser entscheiden. Für mich jedenfalls war und ist diese Vertrautheit wichtig und hat wesentlich dazu beigetragen, dass es – bei aller Mühsal und Arbeit – ein großes Vergnügen war, dieses Buch zu verfassen. Noch mehr dazu beigetragen hat jedoch meine Familie, schon deshalb weil meine Frau Joan aus Schottland kommt und eine ideale Gesprächspartnerin war. Das gilt auch für unsere Kinder Fiona, Kerstin und Colin, die in Deutschland groß wurden, sich aber oft in Großbritannien aufhielten und mir je andere Teile dieses Landes näherbrachten. Vor allem jedoch hat meine Familie Geduld gehabt und immer wieder Interesse an dem gezeigt, womit ich mich in den letzten Jahren befasste. Sie waren die ersten und besonders kritische Leser, zum Glück aber auch positiv voreingenommen. Das wünsche ich mir auch von denjenigen, die dieses Buch kaufen und es aus welchen Gründen auch immer lesen.

ERSTER TEIL
1900–1926

1. Großbritannien um 1900

Die Beerdigung von Königin Viktoria, 2. Februar 1901

Am 1. Februar 1901 eilte ein Mitarbeiter der Londoner Times zum Hyde Park, eine Oase der Stille in der hektischen Metropole. Dort wollte der Journalist sich jedoch nicht ausruhen, sondern den besten Platz für ein Ereignis erkunden, das am Tag darauf stattfinden sollte: die Beerdigung von Königin Viktoria. Diese war wenige Tage zuvor, am 22. Januar, auf der Isle of Wight verstorben, wurde dort erst aufgebahrt und dann nach Portsmouth überführt, durch ein Spalier von Kriegsschiffen, die für alle sichtbar die britische Weltmacht demonstrierten. Von Portsmouth ging es mit dem Zug zur Victoria Station in London, wo die Beerdigungsprozession durch die Stadt begann, vorbei an Buckingham Palace, Hyde Park und Marble Arch nach Paddington. Hier wartete erneut ein Zug, um den Sarg zu Schloss Windsor zu bringen und Viktoria im Frogmore Mausoleum zu bestatten, neben Prinz Albert, ihrem Gatten und der großen Liebe ihres Lebens.1

Zur Beerdigung wurde eine riesige Menschenmenge erwartet, und der Mitarbeiter der Times suchte im Hyde Park einen Platz, der eine gute Aussicht bot. Er wollte in aller Frühe zuhause aufbrechen, denn das Interesse würde riesig sein, und das Angebot an guten Plätzen war knapp. Entlang der Strecke entstanden deshalb Tribünen, die für hohe Summen eine gute Sicht boten. Besonders Wohlhabende konnten ganze Wohnungen mieten und mussten dafür umgerechnet mehr als 15.000 Image bezahlen. Diese Summen schienen gerechtfertigt, denn in London stand ein ungewöhnliches Ereignis bevor, an dem viele persönlich teilhaben wollten.

Das lag wesentlich an Viktoria selbst, die 1837 den Thron bestiegen und fast 64 Jahre regiert hatte, länger als jeder Monarch vor und nach ihr. Nur noch wenige Briten konnten sich an ihren Vorgänger, William IV., erinnern, alle anderen waren in ihrer Regierungszeit geboren. Sie verloren eine Königin, die sie ihr ganzes Leben begleitet und schon dadurch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt hatte. Vor allem aber war Großbritannien unter ihrer Herrschaft zur unbestrittenen Weltmacht aufgestiegen. Als Viktoria starb, gehörte ein Drittel der Weltbevölkerung zum britischen Empire, das die Meere beherrschte, auf allen Kontinenten vertreten war, mehr Kolonien kontrollierte als seine Rivalen und eine größere Ausdehnung besaß als jedes Weltreich davor – und danach. Beerdigt wurde somit nicht nur eine beeindruckende Person, sondern auch das Oberhaupt einer Weltmacht. Die Welt schaute deshalb gebannt auf das Vereinte Königreich, das – wie heute die USA – sowohl faszinierte wie auch heftige Kritik hervorrief.

Es fiel schwer, sich eine klare Meinung von diesem Land zu bilden. Dazu waren die Eindrücke zu verwirrend, beginnend in London, dessen Größe alle anderen europäischen Städte bei weitem übertraf. Die britische Hauptstadt zählte fast 6,6 Millionen Einwohner und damit etwa genauso viele wie Paris, Berlin, Petersburg, Madrid und Rom zusammen.2 Hier residierten reiche Adlige in luxuriösen Stadtpalästen, besaßen zusätzlich riesige Landsitze und prägten das gesellschaftliche Leben. London wimmelte von Fuhrwerken, Straßenbahnen und Bussen und besaß eine U-Bahn, die weltweit Bewunderung erregte. Über die Stadt verteilt fanden sich Wirtschaften, Restaurants und Vergnügungshallen, in denen Künstler aus allen Erdteilen auftraten; weitläufige Parks, prächtige Theater, Opernhäuser und beeindruckende Kirchen (deren Besuch allerdings zu wünschen ließ); eine Börse, die das Zentrum eines weltweiten Finanzsystems bildete; prosperierende Betriebe, prachtvolle Einkaufsstraßen und ein lebhafter Hafen, wo neben zahllosen Handelsschiffen auch die mächtigste Flotte der Welt ankerte.3

Doch daneben gab es bittere Armut, Kinder in Lumpen gekleidet und ohne Schuhe an den Füßen; überfüllte Stadtteile mit verschmutzten Straßen und Häusern, in denen fast 30 Prozent der Säuglinge das erste Jahr nicht überlebten; Personen, die von Geburt an oder durch einen Unfall körperlich entstellt oder verkrüppelt waren und denen die damalige Medizin nicht helfen konnte; verdreckte Abwässerkanäle, eine verschmutzte Themse und Gestank sowie Kohlestaub in der Luft, der im Winter die Sonne kaum durchließ. Frauen mussten ihren Körper mit (meist) schwarzer Kleidung bedecken, durften nicht wählen und besaßen weniger Rechte als Männer. Diese dominierten nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit mit ihren Clubs, Wirtschaften oder Sportplätzen, zu denen Frauen nur begrenzt Zugang hatten. Allerdings besaß selbst unter den Männern etwa ein Drittel kein Wahlrecht, während eine kleine, wohlhabende und selbstbewusste Oberschicht weiterhin den Ton angab. Doch daneben bestanden Gewerkschaften, deren Einfluss zunehmend wuchs; eine Frauenbewegung, die für mehr Rechte kämpfte; ein wachsendes Interesse an sozialen Fragen oder auch strenggläubige Freikirchen, die für rigide Moralvorschriften kämpften.4

Erklärungen

Es fällt schwer, diese verwirrenden Eindrücke zu ordnen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und ein klares Bild vom damaligen Großbritannien zu gewinnen. Das gilt umso mehr, wenn wir über London hinaus auch die anderen Teile des Landes betrachten, zusätzlich das riesige Empire berücksichtigen und schließlich entscheiden, welche der Eindrücke und Merkmale spezifisch britisch waren. Denn überall in Europa herrschten große Armut und enorme Klassenunterschiede; neueste Technik und ärmlichste Lebensbedingungen standen nebeneinander, Kirchen besaßen großen Einfluss, Frauen waren weit von einer Gleichberechtigung entfernt und Arbeiter kämpften um ihre Rechte. Hier und in vielen anderen Bereichen wiesen die europäischen Länder große Gemeinsamkeiten auf, wobei die einzelnen Elemente allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt waren. Verallgemeinerungen sind entsprechend schwierig, aber möglich und vor allem erforderlich, um Großbritannien um 1900 und die weitere Geschichte dieses Landes im 20. Jahrhundert zu beschreiben und zu verstehen. An Angeboten dafür besteht kein Mangel.

Eine verbreitete Sichtweise betont als besonderes Merkmal der Briten ihre Eigenschaft – so die Formulierung von George Orwell – «einander nicht zu töten». Abgesehen von kleineren Staaten sei England das einzige «europäische Land, wo die Innenpolitik in einer mehr oder minder humanen und anständigen Art und Weise ausgetragen wird».5 1947, als Orwell diese Feststellung traf, war der Zweite Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten gerade beendet, und für seine Aussage ließen sich gute Gründe anführen. Großbritannien hatte keinen der beiden Weltkriege ausgelöst; auch die Revolutionen und Bürgerkriege, die 1789 Frankreich und in den kommenden Jahrzehnten ganz Europa erschütterten, waren auf der Insel ausgeblieben. Hier fanden stattdessen allmählich Reformen statt, bei denen die Monarchie an Macht verlor, die Rechte des Parlamentes zunahmen und die Zahl derjenigen wuchs, die das Wahlrecht erhielten und sich an der Politik beteiligten. Außerdem hat Großbritannien die Industrielle Revolution hervorgebracht und ein Empire begründet, das Ende des 19. Jahrhunderts die Welt beherrschte. Mit anderen Worten: Hier erfolgten Veränderungen nicht durch Umstürze, sondern durch schrittweise Reformen.

Diese Sichtweise war um 1900 weit verbreitet, auch bei ausländischen Zeitungen, die über Viktorias Tod berichteten. In ihrer Regierungszeit, so das Neue Wiener Tagblatt, blieb England ein liberales Land, «während der Kontinent ein Schauplatz der Unterdrückung und andere Völker das Opfer willkürlicher und grausamer Missherrschaft waren». Die österreichische Neue Freie Presse lobte «den politischen und kommerziellen Fortschritt, seine liberalen Institutionen und die wissenschaftlichen Entdeckungen, (die) anderen Ländern als Vorbild» dienten.6 Es ist kein Zufall, dass die Londoner Times diese Beurteilungen abdruckte. Denn sie bestätigten eine in Großbritannien verbreitete (Selbst-)Wahrnehmung, die sich als Whig Interpretation of History7 seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte und die Bereitschaft zu friedlichen Reformen betont. Überreste davon finden sich noch heute, gerade in Überblicksdarstellungen. «Mehr als die meisten Europäer», so Kenneth Morgan noch vor wenigen Jahren, «waren die Briten am Ende des 20. Jahrhunderts weiterhin ein lebendiges, kreatives, besonderes Volk. … Sie hatten die Herausforderungen überlebt, die der Rückzug des Empire, der wirtschaftliche Niedergang und industrielle Konflikte verursachten, doch sie wahrten ihre Geschlossenheit und blieben unversehrt.»8

Diese Sichtweise ist verständlich, zeichnet aber ein zu einfaches Bild. So geht die zunehmende Macht des Parlamentes nicht nur auf Reformen, sondern auch auf den Bürgerkrieg von 1640 bis 1660 zurück, in dem immerhin der König hingerichtet wurde. Mehrfach wurden im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert Reformbewegungen gewaltsam unterdrückt, die Forderungen nach mehr Selbstbestimmung für Irland führten zu blutigen Unruhen, und Gewalt und Unterdrückung waren ein wichtiges Merkmal des Empire. Auch kämpften viele Gruppen lange vergeblich für Reformen und fühlten sich ausgegrenzt, darunter Frauen, Arme, Minderheiten oder Ausländer.

Einen Gegenpol zur Whig Interpretation bildet die These vom Niedergang Großbritanniens im 20. Jahrhundert. Auf den ersten Blick klingt diese überaus plausibel. Denn die Weltmacht, die um 1900 die anderen europäischen Staaten überragte, büßte ihre Vormacht spätestens nach 1945 ein, war schon zuvor auf die militärische Hilfe der USA angewiesen und verlor auch ökonomisch ihre einstmals führende Rolle, zuerst an Deutschland, dann an Japan und wurde schließlich sogar von Italien eingeholt. Sorgen über diesen Niedergang wurden bereits um 1900 geäußert, als der Aufstieg Deutschlands und der USA abzusehen war und Großbritannien im Burenkrieg überraschende Niederlagen erlitt. In den folgenden Jahren verloren die Klagen an Bedeutung, kamen jedoch immer wieder auf und erreichten ab den 1970er Jahren einen Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt war das Empire auf wenige Gebiete geschrumpft, das Militär erfuhr anhaltende Kürzungen, und das Wirtschaftswachstum blieb deutlich hinter dem anderer westeuropäischer Länder zurück. Hinzu kamen zahllose Streiks und heftige innenpolitische Konflikte, die 1978/79 im Winter of Discontent gipfelten. Das Land schien unregierbar und galt als «kranker Mann Europas».9

Zum Niedergang erschienen zahlreiche Veröffentlichungen, sei es von Historikern, Ökonomen, Politikern oder Journalisten, die nicht nur akademische Bücher und Aufsätze veröffentlichten, sondern auch in populären Artikeln und Beiträgen, im Radio und im Fernsehen darüber debattierten. Entsprechend vielfältig waren und sind die Erklärungen, die oft weit zurück reichen und im Ausland, zumal in Deutschland, bis heute das Bild von Großbritannien prägen.10 Dabei ist die Vorstellung eines langfristigen Niedergangs problematisch und erweckt vielfach geradezu einen falschen Eindruck. Das gilt schon für die Wirtschaft, die in Großbritannien in den letzten hundert Jahren schneller wuchs als im 19. Jahrhundert, das gemeinhin als Blütezeit gilt. Entsprechend stieg der Lebensstandard auf ein zuvor unbekanntes Niveau, während parallel dazu Bildung, Wissenschaft und zahlreiche andere Gebiete beeindruckende Fortschritte verzeichneten.

Als eindeutiger Niedergang ist allenfalls der Verlust des Empire zu verbuchen, doch es fällt schwer, diesen zu bedauern oder gar darüber zu klagen, dass London nicht mehr über Indien oder afrikanische Kolonien herrscht. So bleibt – im Vergleich zu anderen Ländern – allenfalls ein relativer Niedergang, der allerdings unvermeidbar war, da der um 1900 bestehende Vorsprung nicht aufrechterhalten werden konnte. Zudem ging dieser nicht überall zurück, sondern blieb in vielen Gebieten wie dem Finanzsektor bestehen oder hat sogar zugenommen. Und schließlich ist zu fragen, wer einen Niedergang erlebte. Fraglos nicht die unteren Schichten, deren Lebens- und Bildungsstandard heute bedeutend höher ist als um 1900; auch nicht die Frauen, die mehr Rechte besitzen, oder die Minderheiten, die einen größeren Schutz und mehr Toleranz erfahren. Dennoch: Die Debatte um einen Niedergang ist wichtig. Zum einen gab es im 20. Jahrhundert Phasen, in denen die Wirtschaft tatsächlich vergleichsweise langsam wuchs bzw. einen seit langem bestehenden Vorsprung verlor. Zum anderen – und dies ist mindestens genauso wichtig – haben Zeitgenossen immer wieder von einem Niedergang gesprochen, darüber erhitzt diskutiert und ganz unterschiedliche Forderungen gestellt, was dagegen zu unternehmen sei.

Neben den Auseinandersetzungen über die Whig History und den befürchteten Niedergang sind andere Themen zu nennen, die Großbritannien im 20. Jahrhundert stärker prägten als die Länder des europäischen Festlands, darunter vor allem das Empire. Kolonien besaßen auch Frankreich, Spanien, Belgien, Portugal, die Niederlande und in Ansätzen sogar Deutschland. Doch das britische Empire unterschied sich von diesen schon in seiner Größe und prägte nahezu alle Aspekte der britischen Geschichte, sei es durch Aus- und Einwanderung, Handel, Karrieremöglichkeiten, Missionierungen oder Kriege bis hin zu vielfältigen Formen des kulturellen Austausches. Lange Zeit galt dabei Großbritannien als zentraler Akteur, der die entscheidenden Impulse gab. Doch mittlerweile ist deutlich geworden, dass keine einseitigen Entwicklungen erfolgten, sondern vielfältige Rückwirkungen bestanden, die auch die britische Gesellschaft erheblich veränderten, nicht nur in Mode, Sport, Musik oder Kultur – allein die Beiträge von Salman Rushdie11 oder Vikram Seth12 zeigen dies –, sondern auch in Wirtschaft, Wissenschaft, Militär oder durch die Zuwanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. In London, um nur ein Beispiel herauszugreifen, waren 2001 mehr als 300 Sprachen zu hören, hier lebten mehr als fünfzig ethnische Gruppen, die jeweils mindestens 10.000 Personen zählten.

Zu diesen Gruppen gehören auch Iren, Waliser und Schotten. Dass deren Geschichte und Kultur weit zurück reichen, ist bekannt, wurde aber von Zeitgenossen wie späteren Historikern lange Zeit wenig beachtet, die Großbritannien und England oftmals gleichsetzten. Spätestens seit den 1970er Jahren ist das nicht mehr möglich, als in Irland (erneut) Konflikte ausbrachen und in Schottland sowie Wales die seit langem bestehenden nationalen Bewegungen wieder auflebten. Sie erinnerten daran, dass das Vereinigte Königreich – nach oft blutigen Kämpfen – aus drei Königreichen (England, Schottland, Irland) hervorgegangen war und vier Nationen (zusätzlich Wales) umfasst, die derzeit ihr Verhältnis zueinander neu bestimmen. Das ist mit zahlreichen Konflikten verbunden und wirft unter anderem die Frage auf, welche Stellung England neben den drei anderen Nationen einnehmen soll, ob weiterhin eine gemeinsame britishness besteht und was darunter zu verstehen ist.13

Die Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert verlief also überaus komplex, zumal zusätzlich zum Empire und den vier Nationen auch die unterschiedlichen Klassen und Schichten, Zuwanderer, Altersgruppen, Religionen und nicht zuletzt die jeweils spezifischen Erfahrungen von Männern und Frauen beachtet werden müssen. Es fällt schwer, diese so unterschiedlichen Aspekte miteinander zu verbinden und ein klares Bild oder gar eine «Meistererzählung» für die Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert zu entwickeln. Eine solche ist nach dem Ende der Whig Interpretation und der Niedergangsdebatte auch nicht zu erkennen und soll hier ebenfalls nicht versucht werden. Das bedeutet jedoch keinen Nachteil, sondern öffnet den Blick für die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Kontingenz der britischen Geschichte.

Die folgende Darstellung wird deshalb eine Vielzahl von Aspekten, Themen und Zugangsweisen berücksichtigen, sich aber auch bemühen, verbindende Elemente zu benennen, Zusammenhänge herzustellen und Erklärungen anzubieten. Dabei wird sie drei Themenbereiche besonders beachten, die im 20. Jahrhundert nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die anderen europäischen Staaten von großer Bedeutung waren (und es noch sind): erstens das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, das zahlreiche Änderungen erfuhr und aktuell erneut intensiv diskutiert wird; zweitens Ausprägungen von Gleichheit und Ungleichheit nicht nur sozialer Art, sondern auch als Folge von Geschlecht, Alter oder Ethnie; drittens das Streben nach Weltmacht und die Sicherung des Empire, die das Verhältnis zu den anderen europäischen Mächten entscheidend prägten, für die Kolonien gravierende Auswirkungen besaßen und auch die britische Gesellschaft erheblich beeinflussten.

Die folgenden Kapitel bieten also kein master narrative an, lassen sich aber von einer zentralen These leiten: Im 20. Jahrhundert fanden in Großbritannien in weiten Teilen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik wichtige Entwicklungen früher, oft deutlich früher statt als auf dem Kontinent. Dieses Land war um 1900 bereits erheblich stärker urbanisiert, besaß einen deutlich größeren tertiären Sektor und eine weit entwickelte Konsumgesellschaft, während die Landwirtschaft und damit verbundene gesellschaftliche Gruppen oder Vorstellungen an den Rand gedrängt waren. Diese und andere Unterschiede blieben in den folgenden Jahrzehnten bestehen, so dass es berechtigt ist, Großbritannien für das 20. Jahrhundert in wichtigen Bereichen als das modernste Land Europas zu bezeichnen.

Diese Aussage mag überraschen, denn sie widerspricht dem vertrauten Bild eines Landes, das sich nur langsam ändert, Traditionen bewahrt und seine Eigenheiten pflegt. Hinzu kommt, dass es bekanntermaßen schwierig ist, die Begriffe «modern» oder gar «Modernisierung» genauer zu bestimmen. Das gilt umso mehr, als bei ihnen normative Vorstellungen mitschwingen, wonach moderne Elemente erstrebenswert, wenn nicht «besser» sind. Die Begriffe sind deshalb in die Kritik geraten, allerdings weiterhin im Gebrauch, nicht nur in der Alltagssprache, in der ganz selbstverständlich die jeweils neuen Ereignisse, Entwicklungen, Produkte oder Verhaltensweisen als modern bezeichnet werden. Das gilt auch für historische Arbeiten, deren Verfasser zwar grundsätzliche Bedenken äußern, zugleich aber das Adjektiv «modern» verwenden, um aktuelle Phänomene und Entwicklungen zu benennen.14

Der Begriff «modern» wirft also Schwierigkeiten auf, bietet aber auch Vorteile, wenn er hinreichend präzise definiert und seine Bedeutung eingeschränkt wird. In der folgenden Darstellung besitzt er vor allem eine zeitliche Komponente und besagt, dass in Großbritannien auf vielen Gebieten wichtige Entwicklungen früher stattfanden als auf dem Kontinent. Diese Feststellung gilt nicht generell. Vielmehr gab es auch Bereiche, in denen dieses Land zeitlich keinen Vorsprung aufwies oder gar zurückfiel, so in der Chemie oder der Elektrotechnik, wo Deutschland und vor allem die USA eine führende Rolle übernahmen. Wieder andere Gebiete sind schwer zu beurteilen, darunter die Stellung der Monarchie oder der anhaltende Einfluss aristokratischer Eliten, zu deren Beschreibung und Analyse die Begriffe «modern» oder «traditionell» wenig hilfreich sind.

Mit anderen Worten: Wie jede Gesellschaft war auch die britische von unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten und Mischungsverhältnissen geprägt. Wie diese jeweils aussahen und welche Folgen sich daraus ergaben, werden die folgenden Kapitel zeigen. Vorab sei lediglich allgemein darauf verwiesen, dass der zeitliche Vorsprung sowohl Vor- als auch Nachteile brachte. Ein Nachteil bestand darin, dass in Großbritannien zentrale Entwicklungen nicht nur früher einsetzten, sondern sich auch länger hinziehen konnten, da oft erst spät zu erkennen war, welche Bedeutung sie besaßen und wohin sie führen würden. Entsprechend konnten damit verbundene Konflikte länger andauern und als besonders schmerzhaft erlebt werden. Zugleich bot diese Langsamkeit auch Vorteile, da sie mehr Zeit ließ, sich an Veränderungen anzupassen und Reformen vorzunehmen. Und schließlich führte der zeitliche Vorsprung dazu, dass bestimmte Konflikte sich in Großbritannien weniger zuspitzten, wie der Blick auf die Landwirtschaft und die Weltwirtschaftskrise zeigen wird.

Nachrückenden Nationen hingegen boten die britischen Entwicklungen zwar keine eindeutige Handlungsanleitung, aber doch eine Orientierung. In wichtigen Bereichen, insbesondere in der Wirtschaft, konnten sie auf Großbritannien (und später vor allem auf die USA) schauen, künftige Entwicklungen besser einschätzen, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen und rasch aufholen. In anderen Bereichen hingegen, vor allem in der Politik, konnte der größere zeitliche Druck jedoch zu Nachteilen führen. Denn er ließ weniger Spielraum, um Anpassungen vorzunehmen und sich über diese zu verständigen, so dass Konflikte sich zuspitzten und Kompromisse schwerer zu finden waren – wie auf dem Kontinent immer wieder deutlich wurde.

In den folgenden Ausführungen steht Großbritannien im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt. Gleichzeitig schauen sie aber immer wieder über dessen Grenzen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Ländern des Kontinents besser erkennen zu können. Dazu gehören die zahlreichen Kriege des 20. Jahrhunderts. Damit sind nicht nur die beiden Weltkriege gemeint, die in Großbritannien bis heute – wohl mehr als in jedem anderen europäischen Land – als positiver Bestandteil der eigenen Geschichte gesehen werden. Hinzu kamen vielmehr zahlreiche andere kleinere oder größere militärische Konflikte, die dazu führten, dass dieses Land im 20. Jahrhundert (und schon im 19.) mehr Kriege führte als jeder andere Staat in Europa. Einer davon fand statt, als Viktoria verstarb: der Burenkrieg, dessen Erfolge anfangs Begeisterung auslösten. Als die britischen Truppen jedoch herbe Niederlagen erlitten, kam die Sorge auf, die britische Weltmacht und das Empire seien gefährdet.

Der Burenkrieg

Am 2. Februar 1901, dem Tag der Beerdigung von Viktoria, veröffentlichte die Times die Namen von mehr als vierzig Personen, die gerade im Burenkrieg in Südafrika verwundet oder gefallen waren. Die Verluste waren so groß, dass die Armee trotz der allgemeinen Trauer auch in diesen Tagen weitere Freiwillige rekrutierte. Dabei hatte der Krieg im Oktober 1899 so verheißungsvoll angefangen und schien bereits nach wenigen Wochen zugunsten der britischen Truppen entschieden zu sein.15

Der Krieg fand in einem Gebiet statt, wo Briten und Buren, die überwiegend aus den Niederlanden stammten, seit langem um die Vorherrschaft stritten. Als Folge dieser Konflikte zogen sich viele Buren ab den 1830er Jahren ins Landesinnere zurück und gründeten zwei Burenrepubliken – allerdings auf Kosten der einheimischen Zulu, Xhosa, Swasi und anderer Gruppen, die vertrieben bzw. unterworfen wurden. Auch die Konflikte mit der britischen Kolonialverwaltung bestanden fort und führten 1880/81 zum ersten Krieg gegen die Buren, die ihre Unabhängigkeit verteidigten. Allerdings war dieser Erfolg bald gefährdet, da ausgerechnet auf ihrem Gebiet große Gold- und Diamantenvorkommen gefunden wurden, die zahllose Firmen und Abenteurer anlockten. So entstanden neue Konflikte, die schließlich zum zweiten Burenkrieg führten, angestachelt durch Alfred Milner, der als britischer Hochkommissar ganz Südafrika kontrollieren und vom Kap bis Kairo ein einheitliches Kolonialgebiet etablieren wollte. Hinzu kamen weitere Faktoren: die strategische Bedeutung Südafrikas für den Seeweg nach Indien; die Weigerung der Buren, den anderen Weißen in ihren Republiken die politische Gleichberechtigung zu gewähren; und britische Beschwerden über die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung – wenngleich dies ein eher vorgeschobenes Argument war. Tatsächlich, so Lord Selborne, Staatssekretär im Colonial Office, müsse Großbritannien Südafrika zeigen, «that we, not the Dutch, are Boss».16

Derartige Konflikte um Gebiete und Herrschaft kamen seit den Anfängen des Empire häufig vor und fanden um 1900 meist ein schnelles Ende, da das britische Militär weit überlegen war. Das erwartete Milner auch dieses Mal, doch seine Truppen waren schlecht vorbereitet und erlitten herbe Niederlagen, die in London Entsetzen auslösten. Die Regierung entsandte deshalb zusätzliche Soldaten und ernannte neue Kommandeure, zuerst Frederick Roberts und später Herbert Kitchener, der nach Siegen in anderen kolonialen Kriegen den Status eines Helden genoss. Bald stand eine Übermacht von fast 500.000 britischen Soldaten lediglich etwa 80.000 Buren gegenüber. Im Sommer 1900 schien der Krieg gewonnen. Roberts kehrte nach England zurück und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, die jedoch voreilig erfolgten. Denn die Buren gaben sich nicht geschlagen, sondern gingen zu einer Guerilla-Taktik über und fügten den britischen Truppen schwere Verluste bei.

Kitchener änderte daraufhin ebenfalls seine Taktik und betrieb eine Politik der verbrannten Erde: Um den kämpfenden Buren Unterstützung und Fluchtmöglichkeiten zu nehmen, ließ er Häuser, Dörfer und Felder zerstören und Frauen und Kinder in besonderen Lagern (concentration camps) einsperren. Doch für diese Lager waren keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, so dass dort bald unerträgliche sanitäre Zustände herrschten, nicht genügend Nahrung und Wasser zur Verfügung standen, und etwa 28.000 Frauen und Kinder sowie – in separaten Lagern – weitere 14.000 Schwarze starben.17 Angesichts dieser Opfer ließ der Widerstand der Buren allmählich nach, wenngleich beim Tod Viktorias ein Ende der Kämpfe noch nicht abzusehen war. Die Zeitungen mussten vielmehr hohe Verluste melden, selbst am Tage der Beisetzung. Auch danach dauerte der Krieg noch weitere sechzehn Monate an, bis die Buren erschöpft und demoralisiert aufgaben.

Kitchener errang also einen Sieg, doch mit hohen Verlusten und großem Schaden für das Ansehen des Königreichs. Auf dessen Seite waren etwa 22.000 Soldaten gefallen, mehr als bei jedem anderen Konflikt in den Jahrzehnten zuvor. Die Buren beklagten fast 4000 tote Soldaten und die 28.000 Opfer der Konzentrationslager. Hinzu kam die Zerstörung von etwa 30.000 Farmen und 40 Städten, während die Zahl der Verwundeten und Gefallen unter der schwarzen Bevölkerung nicht genau zu ermitteln ist, vermutlich aber etwa 20.000 betrug.18

Diese Zahlen lösten große Empörung aus, auch in Großbritannien, wo Henry Campbell-Bannerman, der Führer der liberalen Opposition, die Regierung beschuldigte, den Krieg mit «barbarischen Mitteln» zu führen.19 Nicht minder heftig fiel die Kritik in Deutschland und Frankreich aus, wo Paul Krüger, der Präsident der Burenrepublik Transvaal, in großen Versammlungen stürmisch gefeiert wurde, als er 1900 vor britischen Truppen nach Europa floh. Hier war eine gewisse Schadenfreude zu spüren, da die britische Weltmacht unerwartete Schwächen offenbarte.

Koloniale Kriege und ‹Civilising Mission›

Die militärischen Probleme im Burenkrieg kamen überraschend, weil britische Truppen ansonsten in kolonialen Konflikten weit überlegen waren und dies kurz zuvor, im September 1898, im Sudan nachdrücklich bewiesen hatten. Dort wollten sie Charles G. Gordon rächen, den 1885 Aufständische im Sudan unter der Führung von Muhammad Ahmad besiegt und getötet hatten. Gordon war daran nicht unschuldig, denn die Regierung hatte ihn lediglich beauftragt, belagerte Truppen aus Khartum zurückzuführen. Doch er setzte sich über die Anweisungen hinweg und ließ sich auf einen Kampf ein, der ihn das Leben kostete. In der Öffentlichkeit waren diese Vorgänge nicht bekannt. Die Berichte über den Tod lösten vielmehr große Empörung aus, Gordon erschien als Held, und die Regierung geriet unter so großen Druck, dass noch Jahre später (1896) der bereits erwähnte Kitchener den Auftrag erhielt, ihn zu rächen und die Kontrolle über den Sudan zurückzuerlangen. Dazu setzte dieser ganz auf moderne westliche Waffen und Ausrüstung, wenngleich deren Einsatz einen enormen Aufwand erforderte. Kitchener zog etwa 8000 britische und 17.000 ägyptische und sudanesische Soldaten zusammen, ließ ein Eisenbahngleis bis in den Sudan hinein bauen, um Transport und Nachschub zu sichern, verfügte zusätzlich über Kanonenboote und rückte gut gerüstet in den Sudan vor.20

Als es schließlich in Omdurman zum Kampf kam, richteten seine weit überlegenen Truppen ein Gemetzel an. Sie verzeichneten lediglich 50 Gefallene, während etwa 10.000 Aufständische umkamen und weitere 15.000 verletzt wurden. Diese hatten die Feuerkraft der westlichen Waffen unterschätzt und in offener Feldschlacht angegriffen, ausgerüstet mit Schwertern, Lanzen und veralteten Gewehren. So waren sie ohne Chance, und ihre Kampfesweise erinnerte den anwesenden Winston Churchill an mittelalterliche Kreuzzüge. Geradezu entsetzt war er über das Vorgehen von Kitchener, der sich nach den Kämpfen an Plünderungen beteiligte, die verwundeten Rebellen töten und das Grab von Muhammad Ahmad zerstören ließ, der Jahre zuvor die Rebellion gegen Gordon angeführt hatte. Ahmads Schädel schließlich behielt er als Trophäe.21

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