Über das Buch:
Marburg in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges:
Georg Kammann hätte sich nie träumen lassen, dass ausgerechnet er einmal Theologie studieren würde. Doch ein Überfall auf sein Heimatdorf, ein erhörtes Gebet und die Großzügigkeit seiner adeligen Patentante führen ihn in die Universitätsstadt Marburg. Hier eröffnen sich dem einfachen Lehrerssohn ungeahnte Möglichkeiten. Doch dann wird Marburg immer mehr zum Spielball der Mächtigen. Der Streit zwischen den Hessen-Kasselischen und den Hessen-Darmstädtischen entflammt neu und wird schonungslos auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen. Während die Kanonen donnern, muss Georg plötzlich selbst kämpfen: um seine Zukunft, seine Berufung, seinen Glauben und um das Mädchen, das er liebt.
Über die Autorin:
Birthe zur Nieden hat in Marburg Geschichte studiert, weil sie die Geschichten hinter den Jahreszahlen faszinieren. Danach blieb sie einfach dort und lebt und arbeitet bis heute in ihrer Wahlheimat. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Schreiben, Lesen, Träumen oder im Pferdestall.
6. Kapitel
1642/1643
Auf einen heißen, trockenen Sommer folgte ein kühler, nasser Herbst. Jeden Abend kroch Georg mit dem unangenehmen Wissen ins duftende Heu, dass sein herrlicher Schlafplatz nicht mehr lange ausreichen würde, um ihn vor der beginnenden Kälte zu schützen. Trotzdem schob er den Bittgang durch die Straßen von Tag zu Tag auf. Noch ging es ja im Kantorsschuppen, noch war genug Heu da, um sich hineinzuwühlen, und noch war auch die Kälte nicht so groß, dass man sie nicht ertragen konnte.
Er nutzte jede Möglichkeit, außerhalb des Unterrichtes Zeit in der Bibliothek zu verbringen, die im Collegium Pomerii untergebracht war, das den westlichen Eckpunkt der Stadtmauer bildete. An zwei Tagen in der Woche öffnete der als Bibliothekar wirkende Universitätsprofessor den großen Raum im ehemaligen Franziskanerkloster für Studenten und auch die wenigen Schüler des Pädagogiums, die darum baten. Man musste ihn durch dessen Wohnung betreten und er wachte mit Argusaugen darüber, wer hinein- und wer herausging. Als Georg zum ersten Mal etwas verschüchtert den eigentlichen Bibliotheksraum betreten hatte, war er für einen Augenblick überwältigt stehen geblieben. Es war genauso wie in seinen Träumen: Ein Raum voller Bücher, die in Regalen dicht an dicht an allen Wänden standen. Im Grunde war der Raum nicht ideal, es war fast zu dunkel, um in dieser Jahreszeit dort zu arbeiten, aber für Georg war er das Paradies. Es war trocken und warm und er konnte lernen und vertiefen, was er im Unterricht gehört hatte. Jedenfalls, solange seine Augen mitmachten und nicht mit Kopfschmerzen auf allzu langes konzentriertes Starren auf Buchseiten reagierten.
So wie heute. Wieder einmal wünschte sich Georg Augen, die nicht schielten, um noch ein Stündchen hierbleiben und lesen zu können. Seufzend klappte er das Buch zu und rieb sich über die schmerzenden Augen. Sein Magen war ebenfalls ein dumpf ziehendes Loch, aber das war er gewöhnt und achtete meistens einfach nicht darauf. Ein kleines Stück Brot würde er sich von dem Geld, das er für sein Mitsingen bei der letzten Beerdigung bekommen hatte, allerdings noch kaufen können.
Mit dem Kanten Brot in der Hand machte er sich auf zum Schuppen. Draußen herumlaufen wollte er nicht mehr, dazu war der Nieselregen zu ungemütlich.
»Georg!«
Der Kantor winkte ihm von einem der unteren Fenster aus zu. Georg trat heran. »Gut, dass ich dich abfangen konnte. Es ist ein Brief für dich im Pädagogium abgegeben worden und ich habe mir erlaubt, ihn gleich mit hierherzunehmen. Ich dachte mir, dass du ihn sicher nicht unter den neugierigen Blicken der anderen Jungs lesen wolltest. Hier!«
Georg nahm das mehrfach gefaltete Schreiben wie einen Schatz entgegen. Nachrichten von zu Hause! »Danke!«, brachte er heraus, dann beeilte er sich, in den Schuppen zu kommen und, eingegraben in den letzten größeren Haufen Heu, der dort noch lag, den Brief zu öffnen.
Mein lieber Sohn, las er und ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals, weil er in seinem Kopf die Stimme seines Vaters hören konnte. Es ergibt sich eine Gelegenheit, einen Brief nach Marburg mitzugeben, und die wollen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ich bin sehr froh und stolz, dass Du die Aufnahme ins Pädagogium so gut gemeistert hast und sicher derzeit fleißig lernst. Ich weiß, dass Du die segensreiche Möglichkeit, die Du bekommen hast, nutzen wirst und zur Ehre Gottes studieren. Wir werden alles tun, was wir können, um Dich nicht doch noch zurückholen zu müssen.
Uns geht es so weit gut. Wir konnten ein wenig aussäen und sind derzeit dabei, die Ernte einzubringen. So Gott will, werden wir damit über den Winter kommen.
Georg schaute auf, weil die schmalen, steilen Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Das sowieso schon gedämpfte Licht des Regentages sickerte nur spärlich durch die Tür, die er zu diesem Zweck offen stehen gelassen hatte, und seine sowieso schon angestrengten Augen schmerzten noch mehr. Trotzdem wischte er sich rasch die Tränen weg und las weiter. Sein Vater schrieb von Georgs Geschwistern, davon, dass ein weiteres Kind unterwegs war, vom nunmehr ganz abgeschlossenen Wiederaufbau des Dorfes. Wir beten jeden Tag für Dich, dass Du genug zu essen hast, das Lernen Dir Freude macht und Du Dein Leben mit Gottes Führung meisterst. Was für eine Unterkunft hast Du gefunden? Wenn Du kannst, schreibe uns doch bitte bald wieder. Dein Dich liebender Vater.
Georg las den Brief zweimal und ließ ihn dann sinken. Sein Vater war stolz auf ihn, das half über das Heimweh hinweg. Er würde es schaffen, schon für seinen Vater.
Und der erste Schritt dazu war, dass er sich endlich darum bemühte, eine winterfeste Unterkunft zu finden. Am besten sofort. Er atmete noch einmal tief durch, dann steckte er den Brief zu seinen wenigen Habseligkeiten, die er an der hinteren Wand des Schuppens aufbewahrte, sprang vom niedrigen Boden hinunter, der das Heu trocken hielt, und klopfte sich gründlich Halme und Samen von der Kleidung. Dann machte er sich auf, um noch einmal durch die Gassen von Marburg zu gehen und um ein Obdach zu bitten. Diesmal würde er keine Tür auslassen und erst dann aufgeben, wenn wirklich jeder Nein gesagt hatte, den er fragen konnte.
Er klopfte an viele Türen und wurde an vielen Türen abgewiesen. Entmutigt, aber entschlossen, es wirklich überall zu versuchen, stand er schließlich wieder vor einer Tür. Sie gehörte zu einem heruntergekommen wirkenden Haus am Steinweg, außerhalb der Stadtmauer. Allenthalben war der Putz von den Gefachen abgefallen und ließ Flechtwerk und Lehm sehen und von den Balken blätterte die Farbe ab. Ein vierschrötiger Mann in einer ledernen Schürze öffnete ihm schließlich. Die Ahle in seiner Hand bestätigte das Schild über der Tür, das ihn als Schuster auswies. »Was willst du?«
»Ich bin Schüler des Pädagogiums und suche nach einer Unterkunft. Ich kann nichts zahlen, aber ich kann arbeiten.«
Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Hm«, machte er mit zusammengekniffenen Augen und das klang schon einmal besser als die direkten Ablehnungen, die Georg bisher gehört hatte. Er hielt die Luft an und bat in Gedanken Gott um Hilfe.
Schließlich nickte der Schuster mit dem Kopf einigermaßen einladend ins Haus hinein. »Gut. Kannst bei den Jungs in der Kammer schlafen. Ernähren musst du dich aber selber, denk nicht, dass du unser sauer verdientes Brot schnorren kannst! Kriegst höchstens ein bisschen Zugemüse ab und zu und dafür bringst du meinen Bälgern was bei. Dann kann ich mir die Schule sparen. Außerdem hilfst du im Haus und in der Werkstatt, wenn ich dich da brauche. Verstanden?«
»Ja«, sagte Georg und lächelte erleichtert. Die Bedingungen erschienen ihm fair. »Wann kann ich kommen?«
»Na, gleich! Kannst sofort mit anpacken!«
»Ich hole nur eben meine Sachen.«
Der Schuster rümpfte die Nase. »Was wirst du schon besitzen? Mach wenigstens schnell.«
Georg nickte und beeilte sich, zum Heuschuppen zurückzukommen, sein Bündel zu holen und dem Kantor und seiner Frau zu sagen, dass er ein winterfestes Quartier gefunden hatte. Freude und ein mulmiges Gefühl angesichts der offenbar mehr als rauen Umgangsformen seines zukünftigen Gastgebers hielten sich dabei die Waage. Aber wenigstens würde er nicht erfrieren.
* * *
Wilhelm Hermann war ein harter Mann. Er war hart zu sich selbst und ebenso hart zu seiner Familie und jedem anderen Menschen, von dem er nicht direkt abhängig war. Georg brauchte nicht lange, um das herauszufinden. Als er am ersten Abend zurückkam, ließ ihm der Schuster gerade einmal die Zeit, seine wenigen Habseligkeiten in der ungeheizten Dachkammer abzulegen, in der er zusammen mit den drei Söhnen Hermanns schlafen sollte, dann musste er sofort mit anpacken, die Werkstatt und gleich auch noch den Hof fegen. Danach wurde er zum Wasserholen an den Mönchbrunnen geschickt, der sich am Fuß des Steinwegs befand. Als er sich später auf dem durchgelegenen Strohsack unter die fadenscheinige Decke zu kuscheln versuchte, taten ihm die Schultern und Arme weh und sein Magen knurrte. Aber er hatte ein Dach über dem Kopf – der Winter mochte nun kommen.
Die Tage im Haushalt des Schusters begannen früh und endeten spät und es gab immer irgendetwas zu tun. Georg lernte bald, selbst Ausschau nach Arbeit zu halten, schon, um der drückenden Atmosphäre im Haus zu entgehen, die sich schwerer als ein Sack Mehl oder zwei Eimer Wasser auf ihn zu legen schienen, sobald er Zeit genug hatte, sie in den Blicken, im Atmen, in den verkrampften Schultern und vorsichtigen Bewegungen der Familie wahrzunehmen.
Ganz abgesehen davon, dass er immer Gefahr lief, selbst eine Ohrfeige zu kassieren, wenn Hermann ihn beim Müßiggang erwischte – oder auch nur dabei, nicht schnell oder hart genug zu arbeiten.
Beim ersten Mal war er noch entsetzt gewesen, hatte sich die schmerzende Wange gehalten und den Schuster so ungläubig angestarrt, dass der sich gereizt fühlte und noch einmal ausholte. Der Mann hatte kein Recht, ihn zu schlagen – aber Georg war auf sein Wohlwollen angewiesen und schluckte den Zorn und die Demütigung hinunter. Inzwischen zuckte er kaum noch zusammen, wenn der Schlag ihn traf, senkte nur den Kopf und machte weiter mit seiner Arbeit, genauso wie die drei Söhne des Schusters, die selbstverständlich auch schon mithelfen mussten. Wenn sie ihren Vater sahen, wurde ihr Blick stumpf und sie duckten sich weg, um nur ja nicht bemerkt zu werden.
Georg hatte sich eigentlich darauf gefreut, die drei Hermann’schen Jungen zu unterrichten. Sie waren zehn, neun und sieben Jahre alt und nur der älteste konnte schon ein wenig schreiben und rechnen. Aber es blieb nicht viel Zeit für den Unterricht und die drei waren so anders, als Georg es von seinen Geschwistern und auch von den anderen Kindern des Dorfes kannte, dass er sich schon bald nicht mehr mit voller Kraft einsetzte. Die beiden kleineren Jungen saßen wie leblose Puppen auf ihren Stühlen, wenn er versuchte, ihnen Buchstaben und Zahlen nahezubringen, und ließen alles nur über sich ergehen. Der zehnjährige Fritz dagegen schien sich zu einer zweiten Ausgabe seines Vaters zu entwickeln und tyrannisierte seine jüngeren Geschwister. Wenn Georg versuchte einzuschreiten, wandte Fritz sich an seinen Vater, der daraufhin Georg das Leben zur Hölle machte. Nach dem dritten Mal schaute Georg genauso weg wie die Mutter der drei und schluckte die ohnmächtige Wut und die Scham, nichts gegen die Ungerechtigkeit tun zu können, herunter.
Außer für den Unterricht und diverse Arbeiten rund um das Haus wie Fegen oder Holzhacken war Georg auch noch für die beiden Schweine zuständig, die der Schuster in einem Verschlag im Hof hielt und mit Abfällen mästete. Der Geruch der Jauche, die er in regelmäßigen Abständen aus dem Koben holen musste, blieb jeweils die ganze Nacht durch an ihm hängen und führte dazu, dass sich seine Mitschüler naserümpfend von ihm abwandten, wenn er am Morgen ins Pädagogium kam.
Er hatte kaum Zeit zu lernen, aber sein Vater hatte ihn so gut vorbereitet, dass er trotzdem immer noch problemlos mitkam. Nur die Freude am Lernen kam ihm in dieser Zeit abhanden. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er die Unterrichtsstunden im Pädagogium ähnlich absaß wie die beiden jüngeren Söhne des Schusters die seinen und währenddessen mit einem dumpfen Furchtgefühl an die Arbeit dachte, die ihn nach dem Unterricht erwartete. Es gab immer wieder Augenblicke, in denen er sich fragte, ob es das alles wirklich wert war, ob er nicht einfach gehen und sich eine Lehrstelle suchen sollte. Aber dann erinnerte er sich an das Leuchten in den Augen seines Vaters, während er ihn auf die Schule vorbereitet hatte, biss die Zähne zusammen und machte weiter.
Die einzigen Momente, in denen er sich geborgen und wohlfühlte, waren die Stunden, die er mit Singen in der Kirche verbrachte. Die Musik und die Worte, die er sang, waren wie eine zärtliche, tröstliche Berührung Gottes, die ihn gestärkt und mit dem Bewusstsein wieder in den schrecklichen Alltag zurückkehren ließ, dass er nicht allein war.
Die Gottesdienste in der Pfarrkirche waren überhaupt die Momente, in denen er sich immer wieder neu erinnerte, warum er zur Schule ging: Eines Tages würde er selbst auf der Kanzel stehen und Gottes Wort weitersagen. Er hatte es Gott versprochen und Gott würde ihm durch alle Schwierigkeiten hindurch beistehen.
Wenn der Segen gesprochen war, die letzten Töne des Orgelnachspiels wie ein Duft noch in der Luft hingen und die Marburger die Kirche verließen, blieb Georg oft noch dort, solange er konnte. Am liebsten wäre er gar nicht zurückgegangen in den Hermann’schen Haushalt, der auch am Sonntag nichts von dem hatte, was Gottes Wille für diesen Tag der Woche war. Arbeit, ängstliches Ducken und Gewalt bewohnten das Haus auch am geheiligten siebten Tag von der Werkstatt bis zur Dachkammer.
Aber es war nicht nur ein Mangel an Alternativen, der Georg auch an diesem dritten Sonntag im Januar in der Kirche hielt – es war das Gefühl, Gott hier ein wenig näher zu sein, in seinem Haus zu bleiben, weil er hier so etwas wie das Zuhause fand, das er gerade so heftig vermisste. Das Wissen, dass an diesem Tag, im gleichen Moment, auch seine Familie in Günsendorf in der Kirche war und sie so über die Entfernung hinweg gemeinsam vor Gott standen, war etwas so Tröstliches, dass er das Gefühl so lange wie möglich beibehalten wollte.
Trotz des heftigen Frostes, der draußen wie ein böses Tier in die Nase und die Haut biss und auch in der Kirche in Wänden und Boden lauerte, an den Beinen hochstieg und von allen Seiten auf ihn eindrang, lehnte sich Georg unten im Kirchenschiff an eine der eisigen Säulen und versuchte, die Kälte mit ineinander verschränkten Armen von sich abzuwehren, um noch ein paar Minuten bleiben zu können.
Er war nicht der Letzte. Ein paar Kirchenbesucher standen noch beisammen und sprachen gedämpft miteinander. Eine ärmlich gekleidete Frau hielt sich auf der anderen Seite des Kirchenschiffs zwischen den Säulen auf und schien mit gesenktem Kopf zu beten. Ganz in Georgs Nähe blätterte Kantor Schmidtborn in einigen Notenblättern, bis jemand ihn mit einem Räuspern aufblicken ließ, das auch Georgs Aufmerksamkeit auf sich zog. Einer der Kirchenältesten stand vor dem Kantor, ein großer, dünner Mann mit grauem, schulterlangem Haar, einem spitzen Kinnbart und einem scharf geschnittenen Gesicht, das Georg bisher nie anders als finster umwölkt gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern, welcher der Ältesten das war – Henckel? Chemlin? Christiani?
»Herr Kantor, auf ein Wort«, sagte der Älteste jetzt. Der dunkle, kratzige Klang seiner Stimme passte wie maßgeschneidert zu seinem Gesichtsausdruck.
Schmidtborn lächelte höflich und legte die Noten beiseite.
»Es geht um Eure Schüler. Den sogenannten Chor. Ich will Euch keineswegs zu nahetreten, aber es ist mir unerträglich, das länger mit anzusehen. Diese Bengel singen mit einer so offensichtlichen Gleichgültigkeit, schauen dabei im ganzen Kirchenschiff herum, zwinkern Mädchen zu und bemühen sich nicht einmal, den Mund richtig aufzumachen. Genauso wenig halten es die meisten für nötig, sich für den Gottesdienst das Gesicht zu waschen oder ihre Jacken ordentlich zu knöpfen. Das zeugt für mich von einer derart mangelnden Ehrfurcht vor Gottes Haus und seinem Lob, dass es mich schüttelt, wenn ich sie sehe.«
Der Kantor machte ein bekümmertes Gesicht und hob in einer hilflosen Geste die Hände, sagte aber nichts.
Der Älteste war noch nicht fertig. »Ihr seid zu freundlich zu ihnen, Schmidtborn. Das sind kleine Kakerlaken, die sich jetzt schon für etwas Besseres halten. Sie bräuchten viel stärkere Erziehung, Disziplin und Strafen. Stattdessen sind sie jetzt schon kleine Studenten.« Aus dem Mund des Mannes klang das Wort ›Student‹ wie ein Schimpfname. »In Kürze werden sie sich ihre Degen besorgen und völlig außer Rand und Band geraten. Ihr solltet sie wenigstens etwas strenger in die Zucht nehmen, Schmidtborn.«
Der Kantor schüttelte leicht den Kopf. »Ihr habt wohl recht, Herr Chemlin – aber Ihr wisst auch sehr gut, dass ich das nicht kann. Zum einen bin ich nicht der Mann dafür, zum anderen aber können wir alle im Pädagogium nicht mehr das nachholen, was die Eltern versäumt haben mögen. Es sind Pädagogienschüler und zukünftige Studenten, so wie Ihr schon sagtet. Und das heißt, dass wir von ihnen abhängig sind, die ganze Stadt. Wenn sie die Universität wechseln, stehen wir im Regen. Die Universität ist seit dem Ende Marburgs als Residenzstadt das, was uns noch eine gewisse Stellung verleiht. Das, weshalb wir in diesem Krieg bisher von Schlimmerem verschont worden sind, möge Gott geben, dass es dabei bleibt. Wir können die Studenten nicht verprellen.«
Georg schaute ihn aus dem Schatten seiner Säule heraus an und begriff, dass Schmidtborn recht hatte. Ohne die Universität wäre Marburg nichts als eine kleine Stadt in der Provinz mit einem nur noch selten von der landgräflichen Familie besuchten Schloss.
Der Älteste schien das ebenso zu wissen und es machte ihn sichtlich noch wütender. Sein Blick flog in der Kirche herum wie ein fehlgeleitetes Geschoss, traf schließlich auf Georg und blieb auch dort, während er weiter zu Kantor Schmidtborn sprach. »Trotzdem geht es nicht an, dass diese unverschämten, schmutzigen Schüler sich im Gotteshaus danebenbenehmen und dann auch noch nach dem Gottesdienst unnötig lange in der Kirche herumdrücken, als wäre dies eine Art Gasthaus oder sonstiger Aufenthaltsort und nicht der Ort, an dem Gott die Ehre gegeben werden soll. – Einen gesegneten Sonntag Euch noch, Schmidtborn.« Damit drehte er sich um und verließ die Kirche, nicht ohne noch einmal einen bösen Blick auf Georg zu schleudern, als er an ihm vorbeiging.
Georg atmete tief durch und schaute ins Gewölbe hinauf. Vielleicht war er schmutzig, ja. Es war nicht möglich, seine Kleider so oft zu waschen, wie sie es wegen der harten Arbeit im Schusterhaushalt nötig hätten, und der Geruch nach Jauche hielt sich trotz Auslüftens erschreckend lange in ihnen fest. Aber er war nicht unverschämt und es war nicht die Ehrfurcht vor Gott, an der es ihm mangelte. Innere Wärme war es, Freundlichkeit, das Gefühl, irgendwo zu Hause und geliebt zu sein, was ihn in der Kirche hielt. Er wusste das und Gott wusste es auch, egal, was dieser verbitterte alte Mann sagte.
* * *
Georg wartete nicht länger als bis zu dem Tag, als er die ersten Narzissen aus der engen, dunklen Erde hervorkommen sah, um sich selbst aus dem engen, dunklen Haus des Schusters zu befreien. Sobald er die dolchartigen grünen Blätter entdeckte, die sich wie im Triumph gegen den Winter dem Licht entgegenreckten, änderte er sofort seinen Weg in Richtung Oberstadt, um den Kantor zu bitten, wieder in dessen Schuppen schlafen zu dürfen. Die Herzlichkeit, mit der Georg dort empfangen wurde, wärmte ihn mehr als die Frühlingssonne.
Er musste nicht ein einziges Mal auf das Angebot von Schmidtborns Frau zurückgreifen, in der Küche zu schlafen, falls es noch einmal kalt werden sollte, denn der Frühling ließ sich vom Tag des Umzugs an nicht wieder vertreiben, sondern arbeitete mit aller Kraft daran, zum Sommer zu werden. Georg lernte fleißig, wobei er sich im Unterricht oft eher langweilte, sang in der Kurrende und blieb ansonsten für sich. Die anderen Pädagogienschüler hatten sich längst damit abgefunden, dass er ein seltsamer Vogel war, der sich nicht für ihre Streiche und Spiele interessierte, und kümmerten sich nicht weiter um ihn.
Der Sommer verging schnell, schon kündigte sich der Herbst an und brachte wieder kühlere Nächte, in denen sich Georg tiefer in das neu aufgefüllte Heu in des Kantors Schuppen wühlte, um warm zu bleiben. Als der September sich mit Nebel und Regen von seiner unfreundlichsten Seite zeigte, verbrachte er an den Dienstagen und Donnerstagen wieder jede Minute, die nicht durch Unterricht ausgefüllt war, in der Bibliothek im Collegium Pomerii. Im Sommer war er stattdessen oft gelaufen, manchmal auch außerhalb der Stadt über die sogenannte »Philosophie«, einen Weg, der sich durch schöne Natur bis zur Kreuzkapelle hin erstreckte. Aber nun, da das Wetter diese Ausflüge nicht länger erstrebenswert erschienen ließ, hielt ihn nichts mehr davon ab, jede freie Stunde zum Lernen zu nutzen.
Er vertiefte sich in Werke, die längst noch nicht zum Lehrplan gehörten, las römische Dichter und scheiterte an griechischen Philosophen, schmökerte in Chroniken und versuchte sich an theologischen, medizinischen und juristischen Disputationen, las Leichenpredigten und andere Predigten und verschlang sämtliche Schriften Luthers, die er finden konnte. Ehrfurchtsvoll blätterte er durch einen Erstdruck der »Freiheit eines Christenmenschen« und las zum ersten Mal in seinem Leben die Bibel wirklich vom Anfang bis zum Ende durch.
Er war gerade in die ersten Kapitel der Offenbarung des Johannes vertieft, als jemand vor seinen Tisch trat. Georg schaute auf und erkannte Johann Heinrich Tonsor. Hastig sprang er von seinem Stuhl auf.
Der Pädagogiarch knetete den langen Bart an seinem fleischigen Kinn. »Nun, du bist ja schon wieder hier. Willst wohl möglichst schnell fertig werden, arm wie du bist, was? Aber lass dir eins gesagt sein: Ein Studium ist nicht in zwei Jahren getan, da wirst du schon mehr Geduld haben müssen. Und Geld. Wo auch immer du das hernehmen willst. Und es nutzt gar nichts, sich jetzt schon den Kopf mit zu viel Wissen vollzustopfen, das du gar nicht alles behalten kannst, bis du es brauchst. Du bist kein dummer Bursche, aber auch kein Wunderwesen. Halte dich bloß nicht für den nächsten Salomo.« Einen Augenblick lang musterte er Georg mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck, dann fügte er wie beiläufig hinzu: »Am nächsten Dienstag ist deine Aufnahmeprüfung an der Artistenfakultät. Nachmittags, Schlag vier Uhr.«
Damit drehte er sich um und ging. Georg stand vor seinem Tisch und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Am Dienstag würde er auf die Universität wechseln? Nach weniger als anderthalb Jahren würde er Student werden? Beflissener der freien Künste zunächst und dann irgendwann der Theologie. Sein Vater wäre so stolz, wenn er das wüsste. Er musste unbedingt versuchen, so schnell wie möglich einen Brief nach Günsendorf zu senden, auf welchen Umwegen auch immer er dort ankommen würde.
Die Apokalypse hatte ihren Reiz für heute verloren. Georg starrte auf die Buchstaben nieder und konnte doch nur eine Reihe von Wörtern vor seinem inneren Auge sehen, die nicht dort geschrieben stand:
Georg Nicolaus Kammann, Studiosus artium liberalium an der Alma Mater Marburgensis.
2. Teil
Alma Mater