Auf der Suche nach
dem sagenhaften Großreich
der Hethiter
C.H.BECK
Am 28. Juli 1834 steht der französische Architekt und Archäologe Charles Texier in den monumentalen Ruinen einer längst untergegangenen Stadt in Zentralanatolien. Er vermutet, daß die gewaltigen Mauern zu dem von dem griechischen Historiker Herodot im 5. Jahrhundert erwähnten medischen Pteria gehören. Rufen Texiers Entdeckungen in Europa auch allseits Erstaunen hervor, so ahnt doch niemand die wahre Sensation: Der Franzose ist auf die Hauptstadt der Hethiter gestoßen – jenes uralten Volkes, von dem man bis dato nur aus versprengten Nachrichten im Alten Testament wußte. Erst die akkadischen Texte, die der Sprachwissenschaftler Hugo Winckler und der Archäologe Theodor Makridi in Hattuscha entdecken (1906), entschleiern das Jahrtausende alte Geheimnis der Ruinen. Im Jahr 1915 schließlich gelingt Friedrich Hrozny auch die Entschlüsselung der hethitischen Keilschrifttafeln – und damit der ältesten schriftlichen Dokumente einer indoeuropäischen Kultur.
Seit über 100 Jahren wird nun Hattuscha und das Reich der Hethiter unter maßgeblicher Beteiligung des Deutschen Archäologischen Instituts erforscht. Das Wissen, das dank dieser langen Grabungstradition über jene frühe Hochkultur und ihre Hauptstadt zusammengetragen werden konnte, stellt in dem vorliegenden Band der Vorderasiatische Archäologe und Grabungsleiter in Hattuscha, Andreas Schachner, vor. Er beschreibt in diesem mit über 150 Plänen und farbigen Abbildungen reich ausgestatteten Buch anschaulich und kompetent Geschichte, Gesellschaft, Architektur, Infrastruktur, Wirtschaft und Kultur der Hethiter und ihrer Hauptstadt.
Andreas Schachner ist Privatdozent für Vorderasiatische Archäologie und leitet im Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts seit 2006 die Ausgrabungen in Hattuscha-Bogazköy.
I. VORWORT
Danksagung
Hinweise zur Umschrift
Bemerkungen zum chronologischen System
II. VERSCHÜTTET UND VERGESSEN:
DIE ENTDECKUNG EINER HAUPTSTADT, IHRER KULTUR UND SPRACHE
III. EIN LEBEN AUF DES MESSERS SCHNEIDE: DIE NATURRÄUMLICHEN BEDINGUNGEN ZENTRALANATOLIENS
IV. VOM DORF ZUR STADT: VORGESCHICHTE EINER HOCHKULTUR
Das Chalkolithikum: Erste Weiler im 6. bis 4. Jahrtausend v. Chr
Die Frühbronzezeit: Dörfer und frühe Städte im 3. Jahrtausend v. Chr.
Die Karum-Zeit: Das Karum Hattusch und seine Stellung im internationalen Fernhandel zwischen Assyrien und Anatolien im frühen 2. Jahrtausend v. Chr
V. VON EINER ANATOLISCHEN STADT ZUR HAUPTSTADT EINES GROSSREICHS: ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG UND WANDEL HATTUSCHAS IN HETHITISCHER ZEIT
Die Altstadt: Büyükkale, die Unterstadt und Büyükkaya
Die Neustadt: Der Ausbau der Oberstadt
Das 16. bis 14. Jahrhundert v. Chr
Das 13. Jahrhundert v. Chr
Eine Besiedlung außerhalb der Stadtmauern
Das Ende der hethitischen Metropole
Hattuscha – eine Stadt wie jede andere?
VI. FUNKTIONEN EINER SPÄTBRONZEZEITLICHEN GROSSSTADT
Gestalterische Besonderheiten der hethitischen Hauptstadt
Gewachsene versus geplante Strukturen
Das Straßensystem
Stadt der Herrschaft
Der königliche Palast auf Büyükkale
Weitere repräsentative, staatliche Gebäude in Hattuscha
Land und Stadt der 1000 Götter: Religion und Kult der Hethiter
Form und Herkunft hethitischer Tempel
Der Große Tempel
Die Ausstattung der Tempel
Die Kulthandlungen
Die Lage der Heiligtümer
Stadt der Kunst
«Du wirst Brot essen und Wasser trinken»: Kommunale Versorgungseinrichtungen und ihre Funktion im Organismus der Stadt
Staudämme und hydrotechnische Bauten
Getreidespeicher
Leben und Arbeiten: Aspekte des Alltags in Hattuscha
Die Alltagsarchitektur
Handwerk und Produktion
«Intellektuelle» Berufe: Schreiber, Beamte, Auguren, Seher und Ärzte
Was haben die Hethiter gegessen?: Land- und Viehwirtschaft sowie die Jagd in der Spätbronzezeit
«Der Tag der Mutter»: Vom Sterben in der hethitischen Metropole
VII. HATTUSCHA UND DIE OSTMEDITERRANE STAATENWELT DER SPÄTBRONZEZEIT
VIII. DIE EISENZEIT: IN DIE STEINZEIT UND ZURÜCK ZUR STADTKULTUR IN WENIGEN HUNDERT JAHREN
IX. BRÜCHE UND KONTINUITÄTEN: VON DER ANTIKE BIS IN DIE FRÜHE NEUZEIT
X. NACHWORT: RÜCKBLICK AUF EIN JAHRHUNDERT ARCHÄOLOGISCHER FORSCHUNG
XI. ANHANG
Abbildungsnachweis
Weiterführende Literatur
Orts-, Namen- und Sachregister
Dieses Buch wurde im Anschluß an die 66. Ausgrabungskampagne des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) und die seit Beginn der wissenschaftlichen Erforschung im Jahre 1906 insgesamt 70. Kampagne in Boğazköy/Hattuscha abgeschlossen. Dieser Zeitpunkt folgt keiner Zäsur oder einem besonderen Ereignis, sondern ist mehr oder weniger zufällig gewählt. Die kontinuierlich fortschreitenden Arbeiten werden zwar in jährlichen Vorberichten in Fachzeitschriften, die abgeschlossenen Bereiche in zwei monographischen Publikationsreihen des DAI und darüber hinaus in weitgestreuten Fachpublikationen in verschiedensten Sprachen veröffentlicht. Dennoch dürfte es selbst für Spezialisten schwierig sein, all diese Veröffentlichungen zu überblicken. Dabei lassen gerade die Ergebnisse der letzten beiden Dekaden aufgrund der systematischen Anwendung naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden die Entwicklung der Stadt und damit der hethitischen Kultur als ganzer in völlig neuem Licht erscheinen. Deshalb steht der Wunsch einer Synthese der interdisziplinären Arbeiten in Hattuscha als Grundlage für die Interpretation der anatolischen und altorientalischen Kulturgeschichte im Mittelpunkt dieses Buchs. Es bietet so – aus der Sicht des Archäologen – einerseits eine Standortbestimmung, die erstmals viele der neuen Einsichten der letzten Jahrzehnte einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, andererseits soll es die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Archäologie bei der Rekonstruktion antiker Kulturen sowie neue Forschungsrichtungen aufzeigen. Deshalb wurde es nicht als Fachbuch geschrieben. Vielmehr soll es Studierenden, Wissenschaftlern und interessierten Laien gleichermaßen einen fundierten Überblick ermöglichen und die vielfältigen Forschungsergebnisse in kompakter Form vermitteln. Ich hoffe, mit diesem Buch den Ansprüchen beider Gruppen gerecht zu werden.
Die lange Dauer eines Ausgrabungsprojekts wie in Boğazköy/Hattuscha führte in über 100 Jahren zu einer einzigartigen Akkumulation von Wissen über eine altorientalische Kultur, die in dieser Dichte an kaum einem anderen Platz des alten Vorderasiens erzielt wurde. Die hier erarbeitete Menge an unterschiedlichsten Daten ermöglicht in einmaliger Tiefe die Annäherung an ein breites Spektrum komplexer Fragestellungen der modernen Kulturwissenschaften. Gleichzeitig bedingt die jährliche Fortführung der Arbeiten eine dauernde Auseinandersetzung und teilweise neue Beurteilung der älteren Ergebnisse. Ältere Forschungsmeinungen bleiben daher nicht wie im Falle manch anderer Grabungen ohne die Möglichkeit der Fortentwicklung bestehen. Sie werden vielmehr im Zuge der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methodik und im Lichte neuer Erkenntnisse stetig neu diskutiert. Dabei geben Unterschiede in der Ausbildung und den Interessen der jeweiligen Grabungsleiter den Arbeiten in unregelmäßigen Abständen neue Richtungen.
Das Fehlen von Anmerkungen ist nicht als Ignoranz gegenüber der Vielzahl von Arbeiten über Boğazköy zu verstehen, sondern entspricht dem Wunsch des Verlags nach einer möglichst guten Verständlichkeit. Dem Buch ist eine Literaturliste beigefügt, die auf einige der benutzten Schriften verweist und so den Einstieg in die Fachliteratur ermöglicht. Darüber hinaus wurden verschiedene der hier angeschnittenen Themen in unabhängigen Aufsätzen diskutiert, in denen die Referenzen in der wissenschaftlich notwendigen Art und Weise geboten werden. Einen ausführlichen Überblick über das einschlägige Schrifttum der Boğazköy-Expedition bietet mit Erscheinen dieses Buchs auch folgende Internetseite: www.hattuscha.de
Andreas Schachner |
Istanbul/Bogazkale im Januar 2011 |
Unser erster Dank gilt dem Ministerium für Kultur und Tourismus der Republik Türkei und der Generaldirektion für Kulturdenkmäler und Museen für das seit Jahrzehnten andauernde Vertrauen in die Arbeit des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Dem DAI – vertreten durch seine Präsidenten Hans-Joachim Gehrke und seit März 2011 Friederike Fless – gebührt großer Dank dafür, dieses Projekt seit Jahrzehnten nach besten Kräften zu fördern, ebenso wie für die Möglichkeit, institutseigene Dokumente, Fotos, Pläne und Zeichnungen in diesem Band verwenden zu können. Felix Pirson, Leiter der Abteilung Istanbul des DAI, hat dem Projekt durch das in Istanbul ideale Arbeitsumfeld eine Heimat geschaffen, die zu dessen positivem Gedeihen wesentlich beiträgt.
Mein besonderer Dank gilt Jürgen Seeher. Er hat seinem Nachfolger nicht nur ein wohlgeordnetes Projekt und eine funktionierende Infrastruktur übergeben, sondern begleitet die Entwicklung der Arbeiten mit seiner Erfahrung und positiven Einstellung, von der auch dieses Buch nachhaltig profitiert hat.
Neben dem DAI unterstützen zahlreiche Institutionen und Stiftungen, vor allem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (erneut seit 2009), aber auch die Gerda Henkel Stiftung (2008), die Brennan Foundation/American Friends of the DAI (2007–2009) und die GRHäcker-Stiftung (seit 2009), verschiedene Sponsoren (JapanTobacco-International (bis 2007), DS-Concept (2008 und 2011) und immer wieder auch Privatpersonen die Arbeiten in Boğazköy. Ohne ihrer aller Engagement wären die Erforschung und vor allem auch die langfristige Bewahrung dieses einzigartigen bronzezeitlichen Kulturdenkmals nicht möglich. Den Entscheidungsträgern und Gutachtern dieser Institutionen gebührt mein aufrichtiger Dank für diese Unterstützung.
Dieses Buch entstand in besonderer Anerkennung der persönlichen wie wissenschaftlichen Leistungen aller Gelehrten und Studenten, die in den zurückliegenden Jahrzehnten in Boğazköy/Hattuscha gearbeitet und durch ihren Enthusiasmus und Einsatz Einblicke in die faszinierende Welt der Bronzezeit und darüber hinaus eröffnet haben. Es ist mir darüber hinaus ein Anliegen, den ortsansässigen Arbeitern zu danken, die heute aus Bogazkale kommen – und früher auch aus den Dörfern der Umgebung kamen – und eine Hauptlast der Arbeiten tragen. Ohne ihren Fleiß wäre bisher nur ein kleiner Teil der Ruine freigelegt.
Stellvertretend für die zahlreichen Vertreter des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Republik Türkei, die unsere Arbeiten über all die Jahrzehnte stets wohlwollend und unterstützend begleitet haben, sei Halis Şahin (bis 2009) und Tahir Aksekili (seit 2009) vom Museum in Bogazkale sowie vor allem Önder İpek vom Museum in Çorum für ihre geduldige und stets durch eine vertrauensvolle und positive Einstellung geprägte Zusammenarbeit gedankt. Sie bildet eine der wesentlichen Grundlagen für die hier vorgestellten Ergebnisse.
Ein großes Dankeschön gilt all den Kollegen und Mitarbeitern, die sich um dieses Buch verdient gemacht haben. J. Klinger hat es in Gesprächen mit angeregt und den Kontakt zum Verlag C.H.Beck hergestellt. I. Dinkel, R. Dittmann, Th. van den Hout, R. Pasternak und B. Böhlendorf-Aslan haben das Manuskript ganz oder teilweise gelesen und durch ihre Kommentare wesentlich zu seiner heutigen Gestalt beigetragen, ohne daß jedoch die Verantwortung des Autors für etwaige Fehler damit aufgehoben wäre. M. Dürr gestattete die Nutzung einer Abbildung (Abb. 74) aus seiner noch unveröffentlichten Arbeit. Dem Verlag C.H.Beck und vor allem St. von der Lahr gilt mein besonderer Dank für die Bereitschaft, dieses Buch in sein Programm aufzunehmen, und für die intensive Betreuung während seiner Entstehung.
In diesem Buch wurde eine stark vereinfachte Form der wissenschaftlichen Umschrift für die altorientalischen Orts- und Personennamen verwendet, bei der lediglich der Buchstabe Š in Begriffen und Namen der altorientalischen Kulturen übernommen wurde. Aus den altorientalischen Sprachen übersetzte Phrasen und Termini sind durch eine kursive Setzung gekennzeichnet.
Die Schreibung der türkischen Orts- und Personennamen folgt dem türkischen Alphabet; dementsprechend ist das Ş/ş in türkischen Namen im Deutschen sch, der Buchstabe 1 als stimmloses e – etwa wie das zweite e in den deutschen Wörtern gehen oder sehen – und das ğ entsprechend einem Dehnungs-H – wiederum wie in den deutschen Wörtern gehen oder sehen – zu lesen.
Die moderne Siedlung am Fuß der Ruine der hethitischen Hauptstadt heißt heute offiziell Bogazkale. Da jedoch seit den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der Name Boğazköy mit dem Ruinengelände verbunden ist, wird dieser weiterhin verwendet. Er kommt in diesem Buch vor allem dann zum Einsatz, wenn nicht die hethitische Ruine, sondern Siedlungen anderer Zeitstufen besprochen werden, deren ursprüngliche Bezeichnungen unbekannt sind.
Die Chronologie der hethitischen Geschichte und deren Synchronisation mit der Entwicklung Hattuschas ist in vielen Punkten immer noch unklar. Konventionell wird die hethitische Epoche anhand der Textfunde in drei historische Stufen eingeteilt: alt-hethitisch, mittel-hethitisch und Großreichszeit. Diesem auf philologischen Kriterien beruhenden Schema haben Kurt Bittel und Peter Neve eine ebenfalls dreigliedrige Einteilung des archäologischen Materials gegenübergestellt: alt-hethitisch, ältere Großreichszeit und jüngere Großreichszeit.
Durch den konsequenten Einsatz naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden ist es nun möglich, zumindest die in den letzten Jahren ausgegrabenen archäologischen Befunde wesentlich genauer zu datieren. Dabei erlaubt die sogenannte C14 – Methode durch die Messung des radioaktiven Zerfalls des Kohlenstoff-Isotops in organischen Materialien (z.B. Holzkohle, verkohlte Getreidekörner oder auch Knochen) Aufschluß über das Alter eines Objekts und damit der archäologischen Zusammenhänge, in denen es gefunden wurde. Alternativ nutzt man die Dendrochronologie, mit deren Hilfe Baumringe – etwa in Bauhölzern – in lange Reihen von bereits untersuchten Hölzern eingeordnet werden und so das Alter eines hölzernen Objekts bestimmt werden kann.
Anhand dieser Untersuchungen zeichnet sich nun ab, daß die sogenannte kurze Chronologie (Hattuschili I. nach 1600 v. Chr.) auf die Befunde in Hattuscha nicht angewendet werden kann. Denn in diesem Falle würde die Errichtung wichtiger Großbauten – wie z.B. der Poternenmauer und des Silos auf dem Nordwesthang – vor die Gründung der hethitischen Stadt durch den genannten König fallen. Deshalb folge ich hier der sogenannten mittleren Chronologie (d.h. Hattuschili I. um/nach 1650 v. Chr.). Da aber nur für wenige Stadtbereiche naturwissenschaftlich gewonnene, absolute Daten vorliegen, müssen auch die herkömmlichen Einteilungen weiter genutzt werden: alt-hethitisch ~1650 bis ~1520/00 v. Chr. (Hattuschili I bis Telipinu), mittel-hethitisch (älteres Großreich) ~1520/00 bis ~1360/50 v. Chr. (Alluwamna bis Tuthalija II./III.), Großreichszeit ~1350 bis ~1180 v. Chr. (Schuppiluliuma I. bis Schuppiluliuma II.).
Kaum eines der Bauwerke in Hattuscha läßt sich auch nur halbwegs zuverlässig in dieses historische Schema einordnen, da datierende Bauinschriften völlig und die mit den oben genannten naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen Datierungen weitgehend fehlen. Denn große Bereiche der Stadt wurden zu einer Zeit ausgegraben, als diese Methoden noch nicht zur Verfügung standen oder noch nicht ausgereift waren. Ein wichtiges Hilfsmittel, die Bodenfunde in eine zeitliche Ordnung zu bringen, ist die sogenannte Stratigraphie. Damit wird die Folge von Bauschichten bezeichnet, in denen Funde angetroffen werden. Generell gilt, daß das, was in tieferen Schichten angetroffen wird, älter ist als das, was in höheren Schichten entdeckt wird. Hat man also eine Stratigraphie anhand sorgfältig ausgegrabener Befunde rekonstruiert, so kennt man zumindest das zeitliche Verhältnis der Funde zueinander; doch ist es kaum möglich, auf diese Weise ein Bauwerk konkret mit der Regierung eines Herrschers zu verbinden und gar auf seine Baupolitik zu schließen, auch wenn dies in der älteren Fachliteratur bisweilen angestrebt wurde. In Ermangelung naturwissenschaftlicher Datierungen in weiten Teilen der Stadt ist diese sogenannte relative Chronologie für das Verständnis Hattuschas immer noch von großer Bedeutung.
In Hattuscha macht es die zerklüftete Topographie und die Größe der Stadt jedoch unmöglich, eine über einzelne Bereiche hinausgehende, umfassende Stratigraphie zu erstellen, da die Bauschichten nicht zusammenhängen und die Keramik für tragfähige Vergleiche typologisch nicht genau genug datierbar ist. Wenn es nun in einzelnen Stadtvierteln gelingt, die dortige Stratigraphie mit absoluten Daten zu verknüpfen, so ist man in dem Wissen um die Geschichte der Stadt ein großes Stück vorangekommen.
Während die Reiche Ägyptens, Babyloniens, Assyriens oder der persischen Achämeniden aufgrund ihrer Erwähnung in der Bibel im Gedächtnis der Menschheit verankert waren, blieben die Hethiter und ihre Hauptstadt bis ins frühe 20. Jahrhundert unbekannt. Als Charles Texier als erster Europäer 1834 die Ruinen bei dem zentralanatolischen Dorf Boğazköy besuchte und 1839 Pläne und Abbildungen publizierte, rief er großes Staunen hervor (Abb. 1). Man konnte sich nicht vorstellen, daß ein unbekanntes Großreich ausgerechnet auf dem unwirtlichen anatolischen Plateau zu suchen sei. Gemäß den gültigen Paradigmen hielt man die Entstehung einer Hochkultur nur entlang der Flüsse Ägyptens und Mesopotamiens für möglich. Folgerichtig interpretierte man die Ruinen als das von Herodot, einem griechischen Historiker des 5. Jahrhunderts v. Chr., beschriebene Pteria. Alternativ wurde Tavium vorgeschlagen – eine Stadt, die in römischer Zeit als Hauptort der Region Galatien Bedeutung erlangte. Erst die Textfunde in akkadischer Sprache aus den Ausgrabungen von Theodor Makridi und Hugo Winckler erbrachten 1906 den Nachweis, daß es sich bei den Ruinen von Boğazköy um Hattuscha, die Hauptstadt des hethitischen Großreichs, handelte. Die Entdeckung einer unbekannten Hochkultur des Alten Orients war eine Sensation, die 1915 durch die Erkenntnis des tschechischen Sprachwissenschaftlers Friedrich Hrozny, daß deren Träger Indoeuropäer waren, noch gesteigert wurde.
Abb. 1: Der Große Tempel in einem Stich von Ch. Texier (1839)
Abb. 2: Das Sphingentor von Alaca Höyük während der Ausgrabungen durch Th. Makridi 1907
Ausländische wissenschaftliche Unternehmungen im osmanischen Reich dienten neben dem Erkenntnisgewinn häufig auch dazu, wirtschaftlich und politisch Einfluß zu nehmen oder diesen auszubauen. So verwundert es nicht, daß bis zum Beginn einer expansiven deutschen Außenpolitik in den 1880er Jahren deutsche wissenschaftliche Projekte im osmanischen Reich kaum eine Rolle spielten. Erst das deutsche Engagement beim Bau der Eisenbahnen lenkte das Interesse auf Zentralanatolien und damit auch auf Boğazköy.
Abb. 3: Die zwölf Götter in der Kammer B von Yazilikaya (ca. 1861)
Nach dem ersten Bericht von Charles Texier wurden Boğazköy und das nahegelegene Alaca Höyük beliebte Ziele auf den Routen der Kleinasienreisenden im 19. Jahrhundert (Abb. 2). Besuche westlicher Gelehrter führten schnell zu einer Verdichtung der Erkenntnisse insbesondere über die Ruinen von Boğazköy. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Andreas D. Mordtmann und Heinrich Barth, die 1855 erste Sondagen in Yazilikaya durchführten. 1861 besuchte Georges Perrot Boğazköy und Yazilikaya. Er publizierte in den Folgejahren erste Fotografien (Abb. 3. 45). Von Bedeutung war 1882 der Aufenthalt von Carl Humann, dem ersten Ausgräber Pergamons. Er fertigte nicht nur eine neue Planaufnahme des Stadtgebiets, sondern auch Gipsabgüsse der wichtigsten Reliefs in Yazilikaya an (Abb. 4), die heute im Vorderasiatischen Museum in Berlin aufbewahrt werden.
Diese Reliefs als Zeugnisse einer unbekannten Kunst und Kultur spielten für die Forschung eine entscheidende Rolle, da sie sich in ihrem Stil und ihrer Ikonographie von der damals bereits gut bekannten Kunst der klassischen Antike unterscheiden. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis trat die Erforschung der Ruine in den 1880er Jahren in eine neue Phase, die durch zwei Ereignisse beflügelt wurde.
Zunächst erkannte der englische Gelehrte Archibald H. Sayce Gemeinsamkeiten zwischen Zeichen, die in Inschriften in Boğazköy (Nişantepe, Abb. 53) und in Yazilikaya dokumentiert worden waren (Abb. 40. 42. 43. 137), und solchen auf beschrifteten Steinen, die in den 1870er Jahren in Hama im heutigen Syrien gefunden wurden. Auch wenn diese Schrift, die man heute als Hieroglyphen-Luwisch kennt, damals nicht lesbar war, erkannte er den großen geographischen Verbreitungsraum dieser Zeichen. Denn sie finden sich auch auf Felsreliefs, die im Laufe des 19. Jahrhunderts sowohl in der zentralen als auch in der westlichen Türkei entdeckt wurden. Im Lichte der in Syrien gefundenen Inschriften bezeichnete er diese Kultur in Anlehnung an die in den ägyptischen Quellen Cheta und im Alten Testament Hittim genannten Völker als hethitisch, deren Zentrum man damals jedoch gemeinhin in Syrien lokalisierte. Ausgehend von diesen Überlegungen rekonstruierte Archibald Sayce einen umfassenden Kulturraum, der seiner Meinung nach von Syrien bis Westanatolien reichte. Zur Klärung seiner Hypothese strebte er seit 1882 die Erforschung zentraler Fundorte in Anatolien, unter anderem auch von Boğazköy an, ohne jedoch die dafür erforderlichen Finanzmittel auftreiben zu können.
Abb. 4: Yazilikaya vor Beginn der ersten Ausgrabungen (ca. 1864)
Gleichzeitig wurden in Mittelägypten in Tell el-Amarna Teile der internationalen Korrespondenz des Pharaos Echnaton (Amenophis IV., nach 1350 v. Chr.) gefunden, die größtenteils in Akkadisch, der lingua franca des Alten Orients, geschrieben waren. Aus diesen diplomatischen Texten, die man problemlos lesen konnte, ging die Existenz eines bis dato unbekannten Konkurrenten Ägyptens nördlich des Mittelmeeres hervor. Einige wenige Texte – die sogenannten Arzawa-Tafeln – waren zwar auch in Keilschrift, aber in einer zu dieser Zeit noch unbekannten Sprache verfaßt, die sich später als hethitisch erweisen sollte.
In Boğazköy tauchten bei Schürfungen von Ernest Chantre 1893 und 1894 im Bereich des Großen Tempels in der Unterstadt (Abb. 1), in dem er noch einen Palast zu erkennen glaubte, auf Büyükkale und bei Besuchen verschiedener Reisender ebensolche Keilschrifttafeln auf. Diese Funde führten dazu, daß die Hypothese von einem anatolischen Großreich, die Archibald Sayce formuliert hatte, an Bedeutung gewann. Die Textfunde beseitigten letzte Zweifel an der Bedeutung des Ortes und vor allem seiner zeitlichen Stellung deutlich vor den Kulturen des klassischen Altertums.
Trotz der erkennbaren wissenschaftlichen Bedeutung scheiterten Bemühungen um eine Grabungslizenz, nicht zuletzt auch von deutscher Seite, mehrfach an der Finanzierung. Die Ausgrabungen in Ägypten und Mesopotamien wurden abgesehen von privaten Sponsoren hauptsächlich durch die großen europäischen Museen getragen, die im Gegenzug für ihre finanzielle Förderung aufsehenerregende Fundstücke für ihre Sammlungen erwarteten. Zwar versprachen die Tontafeln aus Boğazköy und die Reliefs von Yazilikaya ergiebige Funde, jedoch scheuten die Museen letztlich die Kosten. Gleichzeitig standen die seit den späten 1860er Jahren in der osmanischen Türkei geltenden Antikengesetze der Ausfuhr von Fundstücken entgegen, so daß Ausgrabungen zur Beschaffung von Ausstellungsstücken an Reiz verloren. In Deutschland stellte man die Planungen zugunsten der Grabungen in Babylon, Zincirli, Uruk/Warka und Assur zunächst zurück.
1901 bemühte sich der Chemiker Waldemar Belck um eine Lizenz. Nach Ausgrabungen im Kaukasus hatte er 1898 und 1899 zusammen mit Karl-Friedrich Lehmann-Haupt eine Expedition durch Transkaukasien, den heutigen Nordwestiran, Nordirak und die Ost- und Südosttürkei unternommen. In deren Verlauf wurde er am Van-See überfallen, was erhebliche diplomatische Verstrickungen zwischen Berlin und der Hohen Pforte nach sich zog. Seine Bemühungen um eine Ausgrabungslizenz für Boğazköy wurden nicht zuletzt deshalb von deutschen Stellen torpediert (S. Alaura). Zum einen sah man durch die eigens zum Zweck von Ausgrabungen in Boğazköy gegründete «Deutsche Gesellschaft für die wissenschaftliche Erforschung Anatoliens» die Interessen und Ziele der 1898 etablierten und seit 1901 unter der Schirmherrschaft Kaiser Wilhelms II. stehenden «Deutschen Orient-Gesellschaft» gefährdet. Gleichzeitig dürfte aber auch der schwierige Charakter Belcks und die politischen Verwerfungen während der früheren Expedition ausschlaggebend gewesen sein. Man wollte die strategisch wichtigen, guten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen nicht dem Risiko seines unkalkulierbaren Temperaments aussetzen.
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich die Beziehungen zwischen deutschen Archäologen und den türkischen Antikenbehörden vertreten durch Osman Hamdi Bey getrübt. Ein Grund war die durch den Sultan gestattete Ausfuhr der Fassade eines frühislamischen Wüstenschlosses aus Mschatta (im heutigen Jordanien) nach Berlin, die im Zuge des Baus der Hedschas-Bahn erfolgte. Osman Hamdi Bey hatte sich gemäß der bestehenden Gesetze zum Schutze der Antiken gegen diese Verbringung ausgesprochen. Zudem machte sich ein allgemeiner Wandel des politischen Klimas negativ bemerkbar. Die Auswirkungen dieser schwierigen Konstellation auf die deutsche Archäologie werden an der zeitweiligen Unterbrechung der Arbeiten in Assur – im heutigen Irak gelegen – deutlich.
Schließlich gelang es dem Altorientalisten Hugo Winkler 1906 dennoch, eine Ausgrabung in Boğazköy zu organisieren, indem er einen ungewöhnlichen Weg beschritt. Aufgrund seiner Freundschaft mit Theodor Makridi, der am Museum in Istanbul tätig war und mit dem er bereits in Sidon (heute Libanon) zusammengearbeitet hatte, erreichte Winkler, daß die Grabungen unter der Leitung seines Freundes als Unternehmen des Museums und unter seiner Beteiligung als Keilschriftspezialist durchgeführt wurden. Dank dieser Konstellation wurde 1906 keine Lizenz an eine ausländische Gruppe vergeben. Das Interesse Hugo Winklers an Boğazköy gründete auf seiner Beschäftigung mit den Amarna-Texten und seiner Kenntnis der Ideen von Archibald Sayce. Die Finanzierung des Unternehmens erfolgte durch private Spenden des Ehepaars Frida und Georg Hahn, durch Otto Strauss sowie durch weitere Zuwendungen seitens der Vorderasiatischen Gesellschaft und des Orient-Comitees (S. Alaura). Ob Archibald Sayce und John Garstang sich bereits 1905 oder 1906 um eine Grabungsgenehmigung für Boğazköy bemühten, wie dies für 1908 und 1911 belegt ist, ist aufgrund der bekannten Quellen unklar.
Nach einer Begehung 1905, bei der erneut Tontafeln zu Tage gekommen waren, begannen systematische Grabungen im Juli 1906 (Abb. 158). Bereits wenige Wochen nach deren Beginn konnte Hugo Winkler in den Tontafelfragmenten, die im später sogenannten Haus am Hang, auf der Büyükkale – der Königsburg – und in den Magazinen östlich des Großen Tempels gefunden wurden, den Namen der Stadt Hattuscha und Teile der Korrespondenz mit den Pharaonen Ägyptens identifizieren. Während Winkler jedoch nur die akkadisch geschriebenen Texte verstand, gelang dem tschechischen Philologen Friedrich Hrozny 1915 die Entzifferung des Hethitischen und so der Nachweis der ältesten bekannten indoeuropäischen Sprache.
Die reichen Textfunde und deren überragende historische Bedeutung schlugen in der Gelehrtenwelt Berlins im Spätherbst 1906 ein wie eine Bombe. Da die Grabungen Winklers und Makridis aber technisch nicht dem Stand der Archäologie der Zeit entsprachen, entschloß man sich, diesen erfahrene Archäologen und Architekten zur Seite zu stellen. 1907 arbeiteten im Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Otto Puchstein, Emil Puchstein, Heinrich Kohl, Daniel Krencker und Ludwig Curtius in Boğazköy (Abb. 2. 5a, b). Ihre Grabungen und die exakte topographische Vermessung tragen bis heute wesentlich zum Verständnis der Stadt bei. Hugo Winkler und Theodor Makridi arbeiteten nach 1907 nochmals 1911 und 1912 in Boğazköy. Wegen der Erkrankung und des frühen Todes von Hugo Winkler liegen indes über seine Arbeiten kaum Nachrichten vor.
Trotz handwerklicher Unzulänglichkeiten unterscheidet sich die Boğazköy-Expedition vor dem I. Weltkrieg wesentlich von dem damals sonst üblichen Vorgehen. Ziel der Grabungen war nicht die Beschaffung von Fundstücken für ein Museum, sondern die Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen. Dies führte zu einer Abgrenzung gegenüber den Museen und zum Verlust der Finanzierung aus diesen Quellen. Gleichzeitig stellt die Zusammenarbeit Hugo Winklers mit dem Kaiserlichen Osmanischen Museum vertreten durch Theodor Makridi die erste Kooperation zwischen deutschen und türkischen Wissenschaftlern dar, die 1907 durch das Deutsche Archäologische Institut unterstützt wurde. Diese internationale und interdisziplinäre Gesamtkonstellation des auf die Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen ausgerichteten Projekts war in dieser Zeit einzigartig und wegweisend.
Abb. 5 a, b: Das Löwentor (oben) und das Königstor (unten) nach den Ausgrabungen 1907
Abb. 6: Die Grabungen auf Büyükkale in den frühen 1950er Jahren
Von 1913 bis 1931 ruhten die Arbeiten, bis sie von Kurt Bittel im Namen des Deutschen Archäologischen Instituts und der Deutschen Orient-Gesellschaft – finanziert durch James Simon – wieder aufgenommen wurde. Nach einer erneuten Unterbrechung während der Kriegsjahre werden die Forschungen seit 1952 in alljährlichen Kampagnen bis heute während der Sommermonate fortgeführt (Abb. 6). Die Ausgrabung der Königsburg (Büyükkale), Arbeiten in der Unterstadt und am Großen Tempel sowie die detaillierte Erforschung von Yazilikaya bildeten einige der Schwerpunkte der Arbeiten des Prähistorikers Kurt Bittel, der auch die Umgebung der hethitischen Stadt in die Forschungen einbezog. So haben die Ausgrabungen in Yarikkaya (nördlich von Yazilikaya) die Anfänge der Siedlungstätigkeit in der Region während des Chalkolithikums (ca. 6. bis 4. Jahrtausend v. Chr.) erhellt. Gleichzeitig haben Beobachtungen entlang einer römischen Straße, die Aufnahme von antiken und byzantinischen Inschriften (Abb. 155) sowie eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Gegend in seldschukischer und osmanischer Zeit das Wissen über die Region Boğazköy auch in nach-hethitischer Zeit wesentlich vorangebracht. Im Stadtgebiet waren neben den Monumentalbauten der hethitischen Perioden auch die Frühe Bronzezeit und die Eisenzeit Ziel der Untersuchungen, so daß die Siedlungsgeschichte in ihrer gesamten Dauer erforscht und erstmals umfassend detailreich dargestellt wurde. Dabei ist besonders der Name Rudolf Naumann mit der Interpretation der hethitischen Architektur verbunden.
Die Publikation und die darauf basierende kulturgeschichtliche Erforschung der reichen Textfunde vor allem durch Hans Gustav Güterbock und den langjährigen Grabungsphilologen Heinrich Otten haben die hethitische Philologie als eigenständigen Zweig der Altorientalistik seit den 1920er Jahren etabliert. Die Einbindung von Wissenschaftlern verschiedenster naturwissenschaftlicher Fachrichtungen in die Boğazköy-Expedition unter Kurt Bittel führte in den 1950er und 1960er Jahren zur Anwendung unterschiedlicher, damals völlig neuer Methoden, die heute, viele Jahrzehnte später, zum Standardrepertoire der Archäologie gehören. Darüber hinaus ermöglichten die Grabungen in Boğazköy seit den 1950er Jahren, prähistorischen und vorderasiatischen Archäologen aus Deutschland und der Türkei eine fundierte Ausbildung in der Feldarchäologie. Sie trugen so wesentlich zur Entwicklung der archäologischen Wissenschaften in beiden Ländern bei.
Nachdem der Architekt Peter Neve bereits von 1954 bis 1977 zunächst als Student, dann seit 1963 als lokaler Grabungsleiter in Boğazköy tätig war, war er von 1978 bis 1993 verantwortlich für die Arbeiten. Die Freilegung eines Tempelviertels in der zentralen Oberstadt zählt neben dem Abschluß der Grabungen auf der Königsburg, der Untersuchung von Wohnvierteln in der Unterstadt, der Klärung der Struktur des Großen Tempels und der Erforschung der Südburg und Nişantaşi zu seinen wichtigsten Erfolgen. Neben der Tätigkeit als Ausgräber ist sein bleibendes Verdienst, die Ruine – in einer Zeit, als dies längst nicht überall geschah – durch den örtlichen Bedingungen ideal angepaßte Restaurierungs- und Rekonstruktionsmaßnahmen für den Besucher erleb- und verstehbar gemacht zu haben. In Anerkennung dieser Leistungen wurde Boğazköy/Hattuscha 1986 in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Seit 2001 werden zudem die Archive von Boğazköy, die in einer einmaligen Geschlossenheit die älteste bekannte indoeuropäische Sprache dokumentieren, als die bisher einzigen des Alten Orients in der UNESCO-Liste des Menschheitsgedächtnisses geführt.
Von 1994 bis 2005 führte der Prähistoriker Jürgen Seeher die Arbeiten fort. Er konzentrierte sich zunächst auf Büyükkaya, wo er unter anderem Siloanlagen zur unterirdischen Einlagerung von Getreide freilegen konnte. Gleichzeitig gelang ihm dort dank seiner genauen, stratigraphisch orientierten Grabungsweise der Nachweis, daß nach dem Ende der hethitischen Besiedlung unmittelbar eine Nutzung in der Eisenzeit einsetzte, die in Boğazköy ohne Unterbrechung bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. reichte. Die bis dato gültige Lehrmeinung, Boğazköy und Zentralanatolien seien 400 Jahre nicht besiedelt gewesen, war damit widerlegt. Auf dem Nordwesthang unterhalb der Büyükkale legte Seeher einen weiteren Getreidespeicher aus dem frühen 16. Jahrhundert v. Chr. und in der südwestlichen Oberstadt mehrere künstliche Wasserreservoire des 16. und 15. Jahrhunderts v. Chr. frei. Diese Befunde erlaubten Einblicke in die kommunale Versorgung der Stadt und die wirtschaftlichen Verteilungsmechanismen. Mit den Grabungen im Tal vor Sarikale hat er die Erforschung eines unbekannten Stadtbereichs in der westlichen Oberstadt eingeleitet, die einen lebensnahen Einblick in die Dynamik der Stadtentwicklung ermöglicht. Die Verknüpfung stratigraphischer Befunde mit den Ergebnissen modernster naturwissenschaftlicher Datierungsanalytik ist methodologisch wegweisend und hat wesentliche Fortschritte in der Datierung der strukturellen Entwicklung der Stadt ermöglicht.
Neben seinem Wirken als Ausgräber ist Jürgen Seeher in archäologischen Feldversuchen Fragen der hethitischen Bautechnik nachgegangen. Sein in dieser Hinsicht größtes Projekt, die Rekonstruktion eines 68 Meter langen Abschnitts der hethitischen Stadtmauer in der Unterstadt, hat Hattuscha ein neues Wahrzeichen gegeben und vermittelt einen realitätsnahen Eindruck von dem für die Errichtung und den Erhalt eines solchen Bauwerks notwendigen Aufwand (Abb. 8. 28).
In der nun seit mehr als 100 Jahren andauernden Erforschung der hethitischen Hauptstadt spiegelt sich die Entwicklung der Archäologie zu einer modernen interdisziplinären Wissenschaft an der Schnittstelle verschiedener Geistes- und Naturwissenschaften. Die einzigartige Kontinuität der Arbeiten, die durch die Trägerschaft des DAI gewährleistet wird, führt zu einer ungekannten Akkumulation von Erkenntnissen, die durch die fortschreitenden Grabungsergebnisse im Lichte der neuesten Forschungsansätze stets evaluiert, teilweise revidiert und weiterentwickelt werden.
Bis in die 1990er Jahre waren die Forschungen in Hattuscha, abgesehen von Ausgrabungen in Alaca Höyük und Maşat Höyük, die wichtigste Quelle für Informationen über die Kulturgeschichte der Hethiter. Die in vielen Zusammenhängen in Folge der Fokussierung auf die Hauptstadt einseitige Sichtweise wird seither durch neue Projekte in Alaca Höyük, Ortaköy/Schapinuwa, Kayalipinar und vor allem Kuşakli/Sarissa nicht nur ergänzt, sondern bisweilen auch wesentlich modifiziert. Dennoch erlaubt vor allem die durch die lange Forschungsdauer in Boğazköy geschaffene breite und historisch tiefe Materialbasis die Annäherung an komplexe Fragestellungen der modernen Kulturwissenschaften.
Nähert man sich heute Boğazköy – meist von Ankara kommend – durch das breite, leicht gewellte Tal des Budaközü von Norden, so gewinnt man besonders im Frühsommer den Eindruck einer fruchtbaren Landschaft (Abb. 7. 53. 82). Dieses Bild ist trügerisch, denn die Region um die hethitische Hauptstadt ist wie ganz Zentralanatolien im Hinblick auf ihr landwirtschaftliches Potential in keiner Weise mit Syrien, Mesopotamien oder dem Niltal vergleichbar.
Abb. 7: Blick von Hattuscha über das Budaközü Tal, im Bildvordergrund liegt Kizlarkayasi, auf der rechten Bildseite Kesikkaya und die rekonstruierte Mauer
Abb. 8: Die in der Unterstadt von Hattuscha auf einer Länge von 68 m rekonstruierte Stadtmauer im Winter 2008
Eingefaßt von den Bergketten des Taurus im Süden und des Pontus im Norden ist das Plateau Zentralanatoliens eine der niederschlagsärmsten Regionen der Türkei. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge pro Jahr variiert zwischen etwa 300 Millimetern südwestlich des großen Salzsees und bis zu 550/600 Millimetern im Norden und Osten Inneranatoliens. In Verbindung mit einer Höhe von durchschnittlich 900 bis 1200 Meter über dem Meeresspiegel sorgt dies für ein kontinentales Klima mit trockenen, heißen Sommern und kalten Wintern (Abb. 8). Das Land ist infolgedessen karg und es ermöglicht lediglich eine Ernte im Jahr. Die Niederschläge fallen in der Regel im Herbst und im Frühjahr, sie können aber um bis zu ± 50 % im langfristigen Jahresvergleich schwanken, so daß bereits wenige Jahre einer unterdurchschnittlichen Versorgung oder auch nur Schwankungen in der jahreszeitlichen Verteilung erhebliche, negative Auswirkungen auf Ernteerträge haben können. Entsprechende kurzfristige oder regionale Schwankungen der Niederschläge in der Antike sind mit den verfügbaren Analysemethoden zwar nicht nachweisbar, jedoch kann man vor dem Hintergrund der Untersuchungen zur Klimageschichte diese rezenten Beobachtungen als allgemeine Anhaltspunkte auch für die hethitische Zeit gelten lassen, um eine Vorstellung von der Unsicherheit der Erträge zu bekommen.
Darüber hinaus bieten das Wasserangebot und die Geländestruktur kaum die Möglichkeit großflächiger Bewässerung, so daß die Produktivität der Böden in vormoderner Zeit nicht beliebig zu steigern war. In Zentralanatolien steht deshalb im Gegensatz zu Mesopotamien oder dem Niltal nicht die Überproduktion, sondern die Selbstversorgung durch den Anbau von Getreide im Mittelpunkt der Landwirtschaft. Eine Steigerung der Produktion ist nur durch die Ausdehnung der bewirtschafteten Flächen zu erreichen, was aber zugleich einen Anstieg der Arbeitsleistung und damit der Bevölkerung voraussetzt. Auf dieser Grundlage sind dem landwirtschaftlichen Potential enge natürliche Grenzen gesetzt, die mit vorindustriellen Mitteln nur bedingt überwunden werden konnten.
Ein Ausgleich von Ernteausfällen, indem mit Wagen aus anderen Regionen Nahrungsmittel herangeführt wurden, war angesichts der unwegsamen Topographie unmöglich. Handelsgüter waren deshalb, soweit wir das für die vorindustriellen Gesellschaften Zentralanatoliens nachvollziehen können, immer wertvolle Gegenstände und Rohstoffe, die klein und leicht genug für den Transport mit Maultieren, Eseln, Pferden und – spätestens seit dem Mittelalter – auch mit Kamelen waren und gleichzeitig großen Gewinn versprachen.
Die Umweltbedingungen zur Zeit der Hethiter rekonstruieren zu wollen ist problematisch. Die durch Pollenanalysen und geologische Beobachtungen gewonnenen Daten lassen darauf schließen, daß sich die klimatischen Grundbedingungen und die Großwetterlagen seit dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren kaum verändert haben. Während das Klima in der Bronzezeit dem heutigen wohl grundsätzlich ähnlich war, hat die intensive Nutzung der Landschaft durch den Menschen – insbesondere im Zusammenhang der jahrtausendelangen Herstellung von Keramik und Metallprodukten – zu einem massiven quantitativen und qualitativen Rückgang der Wälder geführt. Diese im Laufe der Jahrhunderte zyklisch zunehmende Verschlechterung der Vegetation ist darauf zurückzuführen, daß sich die Wälder in dem trockenen Klima auch trotz längerer Schonphasen langsamer erholten, als sie abgeholzt wurden. Daß es jedoch im Umland von Boğazköy zu verschiedenen Zeiten ausgedehnte Wälder gegeben haben muß, ist nicht nur an der intensiven Nutzung von Holz als Baumaterial, sondern auch an Pollendiagrammen erkennbar, die durch Bohrungen in einem See in der Nähe der Stadt gewonnen wurden. Auch berichten hethitische Texte von großen Waldstücken, die wie Ackerland durch sogenannte Landschenkungsurkunden vom König an ausgewählte Personen vergeben wurden. Ein von Peter Neve in den frühen 1980er Jahren eingezäuntes und so vor dem Verbiß der Ziegen geschütztes Waldstück südlich von Yerkapi vermittelt eine Vorstellung von den einst vorhandenen winterharten Laubwäldern.
Nach außen ist das anatolische Hochland durch die Gebirgsketten des Taurus und des Pontus abgeschirmt; nach innen gliedern zahlreiche mittelhohe Gebirge das Land (Abb. 9), so daß zahllose kleine, in sich geschlossene Siedlungsräume entstehen – einer davon ist das Tal des Budaközü. Die topographische und klimatische Heterogenität bietet dem Menschen unterschiedlichste Nischen und kleinteilige Lebensräume, in denen allenthalben einfache Landwirtschaft möglich ist, die den Bauern ein bescheidenes Auskommen sichert. Diese Geländestruktur verhindert aber auch das Entstehen weitreichender Austauschsysteme für Massengüter, so daß die geographische und ökologische Vielfalt in fast allen Epochen eine topographisch bedingte, kleinräumige kulturelle Gliederung Anatoliens hervorbrachte.
Diese geographischen Voraussetzungen Zentralanatoliens hatten für die Landnutzung ebenso wie für die kulturelle und soziale Entwicklung weitreichende Konsequenzen. Im Gegensatz zu Mesopotamien, wo sich parallel zum Bau, zum Erhalt und zur Bewirtschaftung der Bewässerungssysteme eine sehr früh straff hierarchisch organisierte, gut kontrollierbare und örtlich gebundene Gesellschaft entwickelte, prägen Zentralanatolien bis heute kleinbäuerliche, auf Regenfeldbau ausgerichtete Wirtschaftsweisen. Diese haben sich über die Jahrtausende hinweg kaum verändert. Ein hethitischer Text, der den Haushalt des Tiwatapara beschreibt (H. Klengel), zeigt, daß das Land ähnlich wie in byzantinischer und osmanischer Zeit im wesentlichen von Kleinfamilien bestellt wurde, die über eine Ackerfläche in der Größe verfügten, die man mit einem Ochsengespann pflügen konnte. Der Wirtschaftlichkeit und dem Ertrag setzte nicht das Land oder die Dichte der Besiedlung Grenzen, sondern vor allem die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, so daß die Hethiter nach Möglichkeit Deportierte – sogenannte NAM.RA – den Bauern zuteilten. Denn nur durch deren Arbeitsleistung war es möglich, die Anbauflächen zu vergrößern und damit die Erträge zu steigern.
Abb. 9: Die Landschaft in der Region um Boğazköy; Gebirge unterteilen Zentralanatolien und behindern in der Bronzezeit das Fortkommen für Wagen erheblich.
Da die klimatischen Voraussetzungen in allen Bereichen Zentralanatoliens gleichermaßen Landwirtschaft erlauben und freies Land bis ins 19. Jahrhundert ausreichend vorhanden war, war die Bindung der Kleinfamilien an die Scholle gering. Dies hatte zur Folge, daß in den vorindustriellen Epochen die staatliche Kontrolle über das Individuum generell wesentlich schwächer war als in Mesopotamien oder dem Niltal, da man sich dem obrigkeitlichem Zugriff in Anatolien durch Ortswechsel entziehen konnte, ohne damit seine Lebensgrundlage zu verlieren. Beispiele entsprechender Entwicklungen sind für die osmanische Zeit gut belegt. Überträgt man diese Erfahrungen auf die Bronzezeit, so wird deutlich, daß der Herrschaft eines bronzezeitlichen Staates eigentlich enge topographische Grenzen gesetzt waren. Diese mit den damaligen Mitteln zu überwinden ist angesichts der Schwierigkeiten der Kommunikation über größere Entfernungen hinweg insbesondere in den langen Wintern nahezu unmöglich.
Die in der Geschichte Zentralanatoliens einzigartige kulturelle Leistung der Hethiter besteht nun gerade darin, ein Gesellschaftssystem entwickelt zu haben, das die ungünstigen natürlichen Faktoren austarierte, teilweise sogar überwand und über fast 450 Jahre relativ stabil blieb. Erreicht wurde dies durch ein straff organisiertes, jedoch dezentral auf die jeweiligen Provinzzentren ausgerichtetes Abgaben- und Verteilungssystem, das von den regionalen politischen Einheiten kontrolliert wurde. Die Überschüsse der Getreideernten wurden in Speichern gesammelt, die in den meisten hethitischen Siedlungen ausgegraben wurden. Während Abgaben und Steuern in Form von Naturalien oder Metallen in den Tempeln und wohl auch im Palast gesammelt und von dort im modernen Sinne als Bezahlung von Leistungen weiterverteilt wurden, diente das Korn in den zentralen Getreidegroßspeichern als langfristige Rücklage und somit zur Absicherung des angesichts der unkalkulierbaren klimatischen Bedingungen instabilen Wirtschaftskreislaufs.
Die in hethitischen Städten ebenfalls häufig nachgewiesenen hydrotechnischen Großbauten verdeutlichen die Anstrengungen, als zweite Stütze des Systems die Kontrolle über das Wasser zu erlangen, um es für kleinräumige Bewässerung und für die Versorgung während der Trockenmonate im Sommer zu nutzen.
Die Versorgungsbauten, die großen Tempelmagazine und die mit ihnen seit dem 16. Jahrhundert v. Chr. verbundenen sozialen Veränderungen waren grundlegende Neuerungen in der anatolischen Kulturgeschichte. Durch die Kontrolle über die Lebensgrundlagen – Land, Getreide und Wasser – gelang es den Hethitern, die in Zentralanatolien eigentlich traditionell schwache Bindung des einzelnen an seinen Grund und Boden bis zu einem gewissen Grad zu überwinden. In den Städten trat an die Stelle der Selbstversorgung durch eigene Landwirtschaft eine individuelle Abhängigkeit einzelner Berufsgruppen – z.B. von Priestern, Höflingen, Militärs – vom Staat, indem dieser bestimmte Tätigkeiten entlohnte. Dies hatte nicht nur eine enge Bindung beispielsweise der Beamten an den Staat zur Folge, sondern führte neben der deutlichen Vertiefung der sozialen, technischen und beruflichen Differenzierungen und sozialen Hierarchisierung der Gesellschaft zur Bildung einer eigenen Identität und Mentalität in den gesellschaftlichen Gruppen, die von diesem System besonders profitierten.
Die Erfolge der hethitischen Umgestaltung der Kulturlandschaft Zentralanatoliens seit dem 16. Jahrhundert v. Chr. spiegeln sich eindrucksvoll in der hethitischen Urbanisierung des Landes, die in der Entwicklung von Hattuscha – einer der größten Städte der Spätbronzezeit im Vorderen Orient – ihren Höhepunkt erreichte. Die im archäologischen Befund Zentralanatoliens in der hethitischen Großreichszeit wahrnehmbare Homogenität der materiellen Kultur (Stadtplanung, Architektur, Keramik, Waffen und Geräte, aber auch Schrift, Siegel und Kunst) läßt auf intensive staatliche Kontrolle und die Integration der einzelnen Gebiete in ein übergeordnetes soziokulturelles System schließen.
Ein zweiter wichtiger Faktor für die Errichtung und den Erhalt des Reichs war der Ausgriff auf Gebiete südlich des Taurus. Da die dortigen landwirtschaftlichen Ressourcen aufgrund der mangelhaften Wegeverhältnisse nicht nach Zentralanatolien transportiert werden konnten, schöpften die hethitischen Herrscher Teile des Überschusses in Form von Metallen und hochwertigen Fertigprodukten ab, um so die naturräumlichen Mängel Zentralanatoliens teilweise auszugleichen. Der enorme Einfluß dieser Region auf zentrale Aspekte der hethitischen Lebensweise ist nicht nur im wirtschaftlichen, sondern vor allem auch im kulturellen und religiösen Bereich spürbar. Die wirtschaftliche Stabilität und Bedeutung der südlichen Reichsteile zeigt sich besonders darin, daß nach dem Zusammenbruch des Reichs die zentralanatolischen Gebiete in vorhethitische Strukturen zurückfielen, während im Süden aus den einstigen Provinzen prosperierende Staaten (zum Beispiel Karkemis oder Halab/Aleppo) hervorgingen.