Einführung in
eine neue Wissenschaft
C.H.Beck
In früheren Zeiten befassten sich nahezu alle Menschen mit ihrer Landschaft, indem sie jagten und Pflanzen sammelten, später Ackerbau betrieben, Vieh hielten und Wälder bewirtschafteten. Diesen unmittelbaren Zugang haben heute nur noch wenige Menschen. Den anderen muss ein Zugang zu Landschaft über ein Lehrgebäude vermittelt werden, in dem naturwissenschaftliche Untersuchungen und Bestandsaufnahmen genauso Platz haben wie die Auswertung von historischen Dokumenten, die Analyse von Landschaftsmetaphern und Aspekte des Denkmalschutzes.
Wenn darüber entschieden werden soll, welche «Natur» zu schützen ist, um etwa notwendige Eingriffe des Landwirtes oder des Ingenieurs zu verstehen, benötigen wir ein realistisches Bild von heutiger Landschaft als Resultat einer jahrtausendealten Geschichte. Dieses Bild zu entwickeln sowie die damit zusammenhängenden Methoden und Werkzeuge vorzustellen, ist das Ziel dieses Buches. Es richtet sich an Wissenschaftler und Studierende sowie allgemein Interessierte aus den Bereichen: Landschaftswissenschaft, Geographie, Ökologie, Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur, Raumplanung, Architektur, Geschichte, Vor- und Frühgeschichte, Landwirtschaft und Forstwissenschaften.
Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover. Bei C.H.Beck sind u.a. von ihm lieferbar: Die Elbe. Landschaft und Geschichte (2007), Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart (42010) sowie Das Gartenreich Dessau-Wörlitz. Landschaft und Geschichte (2010, zus. mit Ansgar Hoppe).
1 Einführung: Menschen und ihre Landschaft
2 Was ist Landschaft?
3 Methoden
4 Natur
5 Ökosysteme
6 Dynamik von Ökosystemen
7 Menschlicher Einfluss auf Ökosysteme
8 Metaphern zur interpretierenden Bezeichnung von Landschaften
9 Landschaftswissenschaft als Zusammenschau
10 Landschaft in Raum und Zeit
11 Landschaften der Jäger und Sammler
12 Landnutzung außerhalb staatlicher Strukturen
13 Landnutzung innerhalb von Staaten
14 Landschaften des Reformzeitalters
15 Typische Verteilungen von Nutzungsbereichen in der Landschaft
16 Landnutzungssysteme und Landschaft: generelle Konsequenzen
17 Aufgaben der Landschaftswissenschaft
Dank
Anmerkungen
Hinweise auf grundlegende Literatur
Bildnachweis
Register
Eine Umgebung kann zur Landschaft werden, wenn man sie bewusst wahrnimmt. Der Blick mag an einigen ihrer Teile länger haften bleiben als an anderen: am Land oder Wasser oder dem Himmel darüber, Berg oder Tal, Bach, Fluss oder See, Fels, Düne oder Ebene, an Pflanzen und Tieren, Wäldern, Wüsten, Feldern oder Wiesen. Es kann darin Häuser und Straßen, Städte und Dörfer, Industrieanlagen oder Abraumhalden geben. Alle diese Bestandteile können zu einer Landschaft gehören, wenn ihr Betrachter sie dazu zählen möchte (Abb. 1–1).
Menschen verändern ihre Umwelt seit ungefähr zehn Jahrtausenden. Sie machten sich die Erde untertan, wie es in der Bibel heißt. Dabei wurden Landschaften kulturell geprägt. Parallel dazu reflektierten Menschen über Landschaften und deren Wandel. Sie gingen dabei stets davon aus, dass es einst eine Welt ohne Menschen gegeben hatte. Diese Welt wurde später von Bauern in Besitz genommen und immer weiter umgestaltet. Dadurch bildeten sich immer wieder anders geprägte Landschaften heraus. Sie wurden interpretiert und bewertet; einige hielt man für besonders interessant oder spektakulär, andere wurden mit einem Paradies gleichgesetzt, angesichts als negativ bewerteter Veränderungen beklagte man den Verlust des einstmals Schönen. Menschen hielten bestimmte Landschaften für natürlich, andere für kulturell geprägt und wieder andere für zerstört. Als Natur sollte das gelten, was bereits vor der menschlichen Prägung bestanden hatte, als Kultur aber das Menschenwerk. Doch im Verlauf der lange währenden Umgestaltung von Landschaft entstand immer aufs Neue das Problem, zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden.
Abb. 1-1 Hochgebirgslandschaft bei Grindelwald. Man erkennt Grünland im Tal und auf der Hochebene, Wälder, einen Wildfluss, Siedlungen, Straßen, ein Kieswerk. Alles gehört zur Landschaft.
So machte man sich oft keine genauen Gedanken darüber, ob der Zustand «vor den Menschen», den man für einen Naturzustand von Landschaft hielt, vor ihrer individuellen Lebenszeit, vor einem bestimmten Zeitalter oder vor der Entwicklung der Menschheit insgesamt bestanden haben sollte.
Damit war ein zweites Problem verbunden: Landschaften standen immer wieder unter anderen kulturellen Einflüssen und veränderten sich dadurch. Ein früherer Zustand von Landschaft wurde oft für «natürlich», «natürlicher» oder «naturnäher» gehalten, ein anderer, neuerer als «unnatürlich» oder «naturfern» bezeichnet. Eine solche Unterscheidung fußt aber nicht auf wissenschaftlichen Fakten, sondern war (und ist) von Ideen und Emotionen geprägt.
Daraus kann ein drittes Problem abgeleitet werden: Wandel ging nach Ansicht der Betrachter einer Landschaft offensichtlich vor allem von Menschen aus. Natur hielt man dagegen für das Beständige, das durch den Eingriff des Menschen, den Wandel der Kultur verändert oder zerstört wurde. Auch diese Ansicht beruht auf Emotionen und nicht auf kritischer Reflexion.
Mit all dem hängt ein viertes Problem zusammen: Die Interpretationen und Ideen, die die Menschheit zu Landschaften, zu deren möglicher Zerstörung, zu Natur und Kultur entwickelte, wurden von Jahrtausend zu Jahrtausend kulturell tradiert. Dabei verfestigten sich Vorstellungen und Ideen zu Natur und Kultur, die nicht auf einer wissenschaftlichen, sondern einer emotionalen Grundlage fußen.
An allen diesen Problemen kann eine wissenschaftliche Betrachtung von Landschaft ansetzen. Es geht darum zu klären, was eine Landschaft ist, wie sie von Natur und Kultur geprägt wurde und wird, welche Interpretationen und Ideen dazu entwickelt wurden und wie diese Gedanken in der Folgezeit auf das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt einwirkten. Stets darf nicht nur der heutige Zustand von Landschaft betrachtet werden, sondern Bedeutung hat auch ihr Wandel in der Vergangenheit, also ihre Geschichte. Nur dieser Teil des Wandels einer Landschaft kann klar dargestellt werden. Über ihren zukünftigen Wandel lässt sich dagegen trotz aller für objektiv gehaltenen Berechnungen, Simulationen und Modelle nur spekulieren.
Bei der Betrachtung von Landschaft sind stets die drei Aspekte Natur, Kultur und Interpretation zu bedenken. Sieht man Landschaft als Ergebnis eines raumzeitlichen Kontinuums, bleiben Widersprüche zu landläufigen Ansichten über Natur und Kultur nicht aus. Jede Landschaft steht unter einem natürlichen Einfluss, aber Natur erweist sich in diesem Zusammenhang gerade nicht als beständig: Berge werden abgetragen und entstehen neu, Wasserläufe werden verlagert, Seen verlanden, Pflanzen wachsen und sterben ab, neue Tier- und Pflanzenarten tauchen auf, andere verschwinden.
Fast alle Landschaften sind auch von Kultur – oder, genauer, von materieller Kultur – geprägt, von Siedlungen, Landwirtschaft, Bergbau und Industrie oder Verkehrswegen. Flüsse wurden reguliert, man rang dem Meer Neuland ab und legte Stauseen an. Kultiviertes Land ist ebenfalls dem Wandel unterworfen, aber die Menschen, die Landschaften mit ihren kulturellen Einflüssen prägten, wollten damit immer etwas Dauerhaftes schaffen. Sie strebten Beständigkeit für ihre Siedlungen und Wirtschaftsflächen an, weil sie sich davon ein sicheres Leben und Überleben versprachen.
Keine Landschaft besteht nur aus diesen materiellen Elementen von Natur oder Kultur, sondern sie wird auch interpretiert oder bewertet, und zwar seit Jahrtausenden. Ergebnis dieses immer wieder unter anderen Einflüssen stehenden Reflexionsprozesses sind immaterielle Aspekte von Landschaft: Interpretationen, Ideen, Bilder oder Metaphern. Sie wurden von Generation zu Generation überliefert und beeinflussten das Denken in nachfolgenden Zeitaltern.
Natur in der Umwelt des Menschen lässt sich durch Kultur nie vollständig zurückdrängen: Auf einem (durch Kultur angelegten und bewirtschafteten) Acker lässt man Pflanzen wachsen, also einen natürlichen Prozess ablaufen, den man schließlich abbricht, um das Erntegut zur Nahrungsgewinnung zu nutzen. Gemeinsam mit Kulturpflanzen kommt Unkraut in die Höhe, Tiere können über angebautes Korn herfallen und die Ernte zerstören. All dieses sind natürliche Prozesse, die allerdings ohne den vorangegangenen Akt der Kultur, also das Anlegen des Feldes und das Ausbringen von Saat, nicht oder jedenfalls nicht so ablaufen können. Kultur in der Landschaft ist also immer im Zusammenhang mit Natur zu sehen.
Menschlicher Einfluss umfasst die Selektion von Kulturpflanzen und Haustieren, die künstliche Bewässerung, Rodung von Wald und die Anlage von Feldern. All das sind kulturelle Leistungen, mit denen natürliche Prozesse ausgenutzt wurden und werden, vor allem das Wachstum von Pflanzen und Tieren. Zunächst entstanden allein durch natürliche Prinzipien, die auch ohne den Menschen wirkten, diejenigen Pflanzen und Tiere, die sich für eine Züchtung eigneten. Das Gedeihen von Pflanzen und Tieren blieb stets ein natürlicher Vorgang, ebenso wie das Wachstum von Unkraut, die Ausbreitung von Parasiten oder das erneute Aufkommen von Wald nach der Aufgabe einer Siedlung. Weitere natürliche Mechanismen, die auch nach einer Inkulturnahme von Land einwirkten, sind Erosion und Sedimentation, Bodenversalzung, Austrocknung von Böden, der Zerfall von Bauwerken der Menschen.
Abb. 1-2 Lüneburger Heide am Wilseder Berg: Eine Waldregion wurde durch Nutzung zur Heide, die viele Menschen für «schöne Natur» halten.
Manche Formen von Landnutzung, die stets eine kulturelle Leistung ist, werden für konform mit der Natur gehalten. Dabei stellt sich nicht nur das Problem einer begrifflichen Abgrenzung, sondern es kann daraus Unklarheit darüber erwachsen, was beim Umgang mit Umwelt erlaubt ist und was nicht. Das gilt zum Beispiel dann, wenn die eine landwirtschaftliche Produktion für «natürlich», «biologisch» oder «ökologisch» gehalten wird, eine andere hingegen nicht. Dann kann es passieren, dass Gebiete unter «Naturschutz» gestellt werden, deren schützenswertes Bild eigentlich das Ergebnis von kulturellen Einflüssen ist; prominentes Beispiel dafür ist die Lüneburger Heide (Abb. 1–2).
Bei diesem wenig differenzierten Umgang mit unserer landschaftlichen Umwelt ist es kaum möglich, gute Strategien für deren Zukunft zu entwickeln. Ohne klare Grundlage verschiebt sich die Entscheidungsgrundlage dazu nach Belieben. Wer legt fest, was in und mit Landschaft getan werden darf? Bei derartigen Entscheidungen kann es zu Willkür kommen: Dann wird auf undemokratischem Weg festgelegt, welcher Eingriff erlaubt ist, weil man ihn für «natürlich» oder «naturkonform» hält; anderes dagegen wird abgelehnt, weil es angeblich «der Natur» widerspricht oder schadet. Etwas zu tun, was «der Natur» dient, wird allgemein für ein Argument gehalten, mit dem man andere Ansichten übertrumpfen möchte. Dieses Handeln ist aber oft nicht rational zu begründen, Das, was wir als «Naturschutz» bezeichnen, schließt oft ein Eingreifen des Menschen ein, etwa durch Pflegemaßnahmen. Sie haben mit Natur nichts oder nicht viel zu tun, sondern sind Bestandteile der vom Menschen ausgehenden Kultur.
Der Begriff «Natur» – als Bezeichnung unserer Umwelt oder von deren Elementen – umfasst also eine doppelte Bedeutung. Natur ist einerseits das natürliche Prinzip, das hinter allen Entwicklungsprozessen der Erde, auch dem Leben steht. Andererseits gibt es eine «schöne Natur», für deren Stabilität sich Menschen einsetzen. Beide Ansichten über Natur widersprechen sich. Das natürliche Prinzip schließt das Werden und Vergehen von unbelebten Strukturen und des Lebens ein, die «schöne Natur» indessen soll sich gerade nicht wandeln, sondern gewissermaßen eine stabile Kulisse für das Leben der Menschen sein. Dies ist ein Widerspruch, mit dem ein Naturwissenschaftler nicht umgehen kann. Er kann nicht einerseits den natürlichen Wandel beschreiben oder erklären und sich andererseits für die Bewahrung von «schöner Natur» einsetzen. Aus wissenschaftlicher Sicht muss man vom Wandel der Natur, vom Werden und Vergehen ausgehen. Die Bewahrung von «schöner Natur» ist immer nur dann möglich, wenn man aus ästhetischen oder ethischen Gründen mit geeigneten (kulturellen) Mitteln gegen natürliche Entwicklungen vorgeht. Es stellt sich heraus, dass die Ansicht, etwas sei «schöne Natur», eine Interpretation einer bestimmten Landschaft ist: eine Metapher oder ein bildlicher Begriff, der auf der Grundlage einer Interpretation gewählt wurde.
Daraus lassen sich zunächst vier wichtige wissenschaftliche Aufgaben ableiten:
1) Es ist herauszufinden, wie sich Natur oder natürliche Einflüsse auf Strukturen der Umwelt auswirken, also auf den Raum, der die Menschen umgibt.
2) Der menschliche Einfluss ist zu charakterisieren, ganz gleich, ob er sich allein auf die Auswahl und den Anbau von Pflanzen und Tieren, die Umgestaltung von Räumen für die (land-)wirtschaftliche Nutzung oder die künstlerische Gestaltung von Gebieten bezieht.
3) Eigenschaften und Entstehung von Metaphern, die auf Interpretationen oder Ideen des im Raum Gesehenen basieren, sind als solche aufzudecken und zu charakterisieren.
4) Schließlich muss das Zusammenwirken dieser verschiedenen Faktoren dargestellt werden, wie es dem interpretierenden Betrachter des ihn umgebenden Raumes ins Auge fällt. Alle drei Komponenten, also das Wirken der Natur, der Eingriff des Menschen und die Interpretationen oder Ideen, die Menschen beim Betrachten ihrer Umwelt entwickelt haben, bestimmen Landschaft. Die beiden zuletzt genannten Komponenten, der Eingriff sowie die Interpretation, die mit Landschaft in Verbindung gebracht wird, sind unterschiedliche Aspekte von Kultur.
Was viele Menschen eigentlich schützen wollen, wenn sie für «Naturschutz» eintreten, ist eine Landschaft in ihrer konkreten, oft einmaligen Ausbildung und nicht die Natur. Dies muss verdeutlicht werden. Denn der Begriff «Landschaft» wird in unterschiedlicher Weise und häufig ebenso unscharf wie «Natur» gebraucht.
Landschaft als ein von Menschen erkannter Raum wird von einem Zentrum aus überblickt, dem Standpunkt des Menschen. Von dort reicht die Landschaft bis an den Horizont. Wo ihre Grenzen liegen, ist viel weniger wichtig, als von wo aus sie betrachtet wird. Landschaft als Raum, dessen man sich bewusst geworden ist, kann überall bestehen, im Gebirge und in der Ebene, auf dem Land oder auf dem Meer. Über Landschaft werden sich zunächst einzelne Menschen bewusst, also die Betrachter, die in ihrer Mitte stehen.
In einem nächsten Schritt lassen sich daraus Ansichten ableiten, die von einer Gruppe von Menschen akzeptiert werden. Dabei sind Kompromisse zwischen einzelnen Menschen notwendig, etwa denen, die Landschaft nutzen, und anderen, die sie «nur» betrachten wollen oder sie als Heimat auffassen. Ein intersubjektiver Kompromiss zwischen diesen Menschen kann zu einem Konsens über eine Landschaft führen. An diesem Referenzzustand für die landschaftliche Umwelt des Menschen sollten sich Planungen für die Zukunft eher orientieren als an «der Natur», an einem Naturzustand oder einer «Potentiellen Natürlichen Vegetation». In Landschaft sollte nicht nur Natur bewahrt werden. Auch die Kulturleistungen, die zur Herausbildung von Landschaften führten und führen, verdienen Schutz. Stets sind natürliche Prozesse, kulturelle Eingriffe sowie die entsprechenden Interpretationen und Ideen zu bedenken, wenn es um den Schutz von Landschaft geht, nie nur deren «Natur».
Die intersubjektive Einigung über einen Referenzzustand von Landschaft ist keineswegs einfach. Vielleicht ist es sogar eine Utopie, dies als die Basis für die Entwicklung einer Zukunft von Landschaften anzusehen. Doch es gibt keine Alternative dazu. Als Konsequenz daraus bewahrt man den immateriellen Teil von Landschaft: Man bringt Menschen dazu, ihre Ansichten von Landschaften einander mitzuteilen. Dies ist ein wichtiger Teil von alltäglicher Kommunikation: Treffpunkte für gemeinsame Wege werden vereinbart, Erinnerungen, Sagen, Märchen ausgetauscht oder die besonderen Stimmungen kommuniziert, die man mit einzelnen Landschaften verbindet.
Landschaft ist zwar eine besonders charakterisierte Umwelt außerhalb der Menschen, entsteht aber in ihnen, «im Kopf», als das, was nicht nur in der Umgebung gesehen, sondern auf dessen Grundlage erkannt und geistig konstruiert wird. Das kann die Gestalt eines Bildes, einer Landkarte, einer Erzählung oder Beschreibung oder auch lediglich einer Vorstellung annehmen, die Grundlage für eine neue Interpretation wird.
In allen ihren drei Dimensionen – Natur, Kultur und Idee –betrachtet, kann Landschaft zum Thema einer Wissenschaft werden, der Landschaftswissenschaft.
Die Analyse einzelner Elemente ist der eine wichtige Bestandteil der Landschaftswissenschaft. Mindestens ebenso wichtig ist die Synthese, die Aufdeckung von Zusammenhängen, die sich aus der Interpretation der Einzelheiten ergibt. Nur mit der Absicht, zu einer Synthese zu kommen, kann man – einer bekannten Definition von Landschaft durch Alexander von Humboldt[1] folgend –den «Totaleindruck einer Gegend» in sich aufnehmen.
Bei der landschaftswissenschaftlichen Synthese steht das, was bereits geschehen ist, und das, was im Moment abläuft oder zu erkennen ist, im Zentrum; denn nur dafür gibt es klare Evidenzen. Konkrete Einzelheiten werden betrachtet, aber nicht simuliert. Auch die Modellierung zukünftiger Entwicklungen von Landschaft ist zunächst nicht das zentrale Anliegen von Landschaftswissenschaft. Das Modellieren oder Planen von Landschaften sollte stets auf einem vorausgegangenen Prozess des Erfassens oder Analysierens von Strukturen und des Aufdeckens von Zusammenhängen aufbauen, die zwischen ihnen evident werden.
Landschaft stand und steht immer in einem sich mit der Zeit wandelnden systemischen Zusammenhang mit der Landnutzung, auf die politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Gegebenheiten einwirken (vgl. Abb. 10–1). Modellierungen führen lediglich zu Vermutungen, wie sich Landschaften unter derzeitigen systemischen Bedingungen weiterentwickeln würden, nicht aber zu Aussagen darüber, wie dies unter dem Einfluss sich wandelnder Komponenten von Systemen vor sich gehen könnte. Diese hängen von neuen, auch unerwarteten Entwicklungen von Natur, aber auch von Veränderungen der Kultur, von technischen und gesellschaftlichen Innovationen in der Zukunft ab, deren Charakter man in der Gegenwart noch nicht kennen kann. Allerdings lassen sich auf einer Argumentationsbasis, wie sie die Landschaftwissenschaft bereitstellt, Anforderungen an ein künftiges System von Landschaft formulieren.
Die Beschäftigung mit Landschaftswissenschaft steht als logischer Schritt vor jeglicher Landschaftsplanung. Prognosen zur Landschaftentwicklung und -planung können auf Erkenntnissen der Landschaftswissenschaft aufbauen. Landschaftswissenschaft ist dabei aber von der Landschafts- und Raumplanung[2] und deren Theorien abzugrenzen. Während in der Landschaftswissenschaft derzeit bestehende Evidenzen und Zusammenhänge sowie deren historisches Werden untersucht und in eine logische Folge oder eine Kausalkette im Sinne einer Geschichte, einer «Story», gebracht werden, geht es in der Landschaftsplanung um Ideen für die Zukunft, die vor allem aus gesellschaftlichen Bedürfnissen und dem derzeitigen Zustand der Landschaft, weniger aus deren Geschichte abgeleitet werden.
Insbesondere der ihrem derzeitigen Zustand vorausgegangenen Entwicklung wurde bei Planung von Landschaft immer wieder zu wenig Beachtung geschenkt. Man machte sich nur selten klar, was in einer Landschaft dauerhaft besteht und was einem steten Wandel unterworfen ist, also (gegen das Prinzip von Werden und Vergehen der Natur!) gepflegt werden müsste, wenn man dessen dauerhaften Bestand anstreben möchte. Negiert man dies, plant man womöglich Strukturen, die anschließend nicht erhalten bleiben oder nicht erhalten bleiben können. Gute Planung sollte also konsekutiv auf einer detaillierten Erfassung des Werdens und des Zustandes von Landschaften aufbauen, wie sie von der Landschaftswissenschaft geleistet wird.
Abb. 1-3 Stellung der Landschaftswissenschaft zwischen ihren Nachbarfächern. Sie ist Grundlage für die (Landschafts-)Planung.
Hier liegt eine große Bedeutung der Landschaftwissenschaft. Sie braucht eine eigene disziplinäre Stellung separat von den Planungsfächern; die Tätigkeit des Landschaftswissenschaftlers muss der Planung vorausgehen. Landschaftswissenschaft steht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Sie berührt Fächer, die traditionell voneinander separiert in diesen beiden «Reichen» der Wissenschaften angesiedelt sind: Geographie, Geologie und Biologie bzw. Ökologie, die historischen Disziplinen, Philosophie und philologische Fächer (Abb. 1–3).
Beim Übergang von einem landschaftlichen System zu einem anderen können einzelne Strukturen umgenutzt werden; beispielsweise kann ein Handelsweg des Mittelalters zum Wanderweg von heute werden. Andere Strukturen aber erhalten keine neue Funktion. Wenn man sich entschließt, sie zu erhalten, obwohl sie im neuen System keinen unmittelbaren Nutzen haben, werden sie zum Denkmal und damit zum Pflegefall. Das gilt ebenso für eine orchideenreiche Viehweide, die man im Systemzusammenhang der intensiven Viehhaltung nicht braucht, wie für die mittelalterliche Burg, von der aus kein Handelsweg mehr überwacht wird. Für alle diese Pflegefälle benötigt man klare Bekenntnisse, sie erhalten zu wollen; die Institutionen, die sich für Denkmalpflege und Naturschutz einsetzen, brauchen dafür landschaftswissenschaftliches Grundlagenwissen. Inhaltliche Zusammenhänge sind deutlich zu machen, in die schützenswerte Strukturen einmal eingebunden waren. Das ist eine wichtige Basis für deren Zukunft: Eine orchideenreiche Viehweide lässt sich am besten dadurch vor dem natürlichen Wandel bewahren, dass man die Art und Weise der Nutzung aus einem überkommenen System fortsetzt oder künftig simuliert.
Auf diese und weitere Anwendungen der Landschaftswissenschaft wird am Ende des Buches zurückzukommen sein. Zunächst sollen Definitionen und Methoden des Faches präsentiert werden. Anschließend geht es um die Darstellung von einzelnen Komponenten, die Landschaft entstehen lassen, vor allem aus den Bereichen der Natur und deren Nutzung durch Menschen bzw. der Kultur. In weiteren Kapiteln werden Systeme von Natur und Kultur dargestellt, in denen Landschaften in typischer Weise geprägt wurden. Sie bestanden nacheinander und eine Zeitlang auch nebeneinander, ohne miteinander kompatibel gewesen zu sein. Letzteres ist für die Entwicklung der Systeme und die Auseinandersetzungen zwischen Menschen, die in sie eingebunden waren, sogar noch entscheidender. Aus Missverständnissen entwickelten sich wichtige Metaphern. Sie nahmen Einfluss auf das Handeln von Menschen, und zwar auch in späterer Zeit, über den Zeitraum des Bestehens eines systemischen Gegensatzes hinaus. Sie sind bis heute im Bewusstsein der Bevölkerung präsent geblieben. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Ansichten, die sich an die Konflikte zwischen Römern und Germanen im Zusammenhang mit der sogenannten Varusschlacht knüpfen: In Germanien soll es ausgedehnte Wälder gegeben haben, in denen ein Volk lebte, das die Römer besiegte. Lag das aber an den Wäldern? Gab es überhaupt landschaftliche Ursachen dafür, warum die Römer in der Zeit um Christi Geburt das Land nordöstlich des Rheins nicht erobern konnten?
Es kommt darauf an, Interpretationen wie diese als solche zu erkennen und sie von «harten» wissenschaftlichen Fakten zu unterscheiden. Auch dazu ist wissenschaftliche Anstrengung notwendig.
Das Buch richtet sich nicht nur an Landschaftswissenschaftler, die einer noch sehr jungen Disziplin angehören, welche zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Fächern steht (Abb. 1–3). Landschaftswissenschaft gehört zwar in den Kontext von Kulturwissenschaften, weil Landschaft – als Ergebnis einer Reflexion, die zur Interpretation führen kann – immer ein Teil von Kultur ist. Aber sie kann nur von Experten betrieben werden, die (auch) naturwissenschaftlich ausgebildet sind. Diese Grundlage schafft das Verständnis für die Prozesse und die Vielfalt von Natur. Landschaftswissenschaftler sollten Tier- und vor allem Pflanzenarten identifizieren können und mit Grundlagen der Bodenkunde vertraut sein.
Jede Zielgruppe wird in diesem Buch möglicherweise nach anderen Inhalten suchen. Vor allem geht es um die Herstellung der Zusammenhänge von Landschaft, und zwar in Raum und Zeit (Abb. 1–4).
Für Geographen ist es wichtig, ihre Untersuchungsergebnisse im Raum mit historischen Evidenzen in Beziehung zu setzen; Gleiches gilt für Ökologen oder Biologen. Historiker und Vertreter anderer historischer Fächer wie zum Beispiel der Vor- und Frühgeschichte müssen die zeitlichen Entwicklungen, die sie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen, um den räumlichen Bezug ergänzen, um ihre Disziplin zu einer Landschaftswissenschaft werden zu lassen. Für Land- und Forstwirte, auch für Vertreter des Faches Volkswirtschaftslehre sind landschaftswissenschaftliche Resultate deshalb wichtig, weil sie auf die Grundlagen des Wirtschaftens im Raum verweisen und außerdem aufzeigen können, wie es sich im Lauf der Zeit entwickelte und veränderte. Dabei ist zu bedenken, dass das Wirtschaften in der heutigen Zeit und in der Zukunft durch frühere Tätigkeit im Raum erheblich beeinflusst sein kann, etwa durch zeitweilige Übernutzung, Umnutzung oder Aufgabe von Wirtschaftsräumen.
Landschaftswissenschaft kann noch eine weitere sehr wichtige Aufgabe für Land- und Forstwirtschaft erfüllen: Mit ihren Grundlagen lässt sich die Tätigkeit des in der Landschaft wirtschaftenden Menschen besser und klarer kommunizieren. Diese Aufgabe wird immer wichtiger in einer Zeit, in der nur noch sehr wenige Menschen einen unmittelbaren Bezug zu Land- und Forstwirtschaft haben und meinen, dass sich moderne Formen der Landnutzung immer weiter «von der Natur» entfernen, obwohl Land- und Forstwirte weiterhin davon überzeugt sind, dass sie «mit der Natur» produzieren. Ohne begriffliche Klärungen kann es auf dieser Basis nicht zu einem Dialog zwischen Landnutzern, deren Kunden und deren Gegnern kommen; denn alle Beteiligten gehen von unterschiedlichen Natur- und Landschaftsbegriffen aus. Die Landschaftswissenschaft kann hier entscheidend zur begrifflichen Klärung beitragen.
Abb. 1-4 In der Landschaft werden räumliche und zeitliche Komponenten deutlich, die miteinander zu verknüpfen sind.
Für Philologen, und darunter wohl vor allem Kunsthistoriker, mag von Interesse sein, wie die Realität im Bild, das der Künstler auf der Leinwand entstehen lässt, gespiegelt wird. Landschaftswissenschaft ist eine Basis für Architektur, Raumplanung, Landschaftsplanung und -architektur. Planer sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie in einem Raum agieren, der durch zahlreiche natürliche Gegebenheiten und sehr lange währende Gestaltung des Menschen geprägt ist. Sie dürfen nicht nur auf andere planerische Größen (z.B. Bevölkerungsentwicklung) oder auf künstlerische Aspekte ihrer Tätigkeit Rücksicht nehmen, sondern sollten auch die besonderen Gegebenheiten eines Raumes kennen, wie sie von der Landschaftswissenschaft erschlossen werden.
Denkbar sind zahlreiche weitere Fächer, die an Landschaftswissenschaft interessiert sein könnten, etwa Soziologie, Philosophie oder Politikwissenschaften. Denn die Landschaftswissenschaft eröffnet einen neuen Blick auf das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt. Diese ist nicht nur als Natur zu verstehen, sondern als Landschaft, die von mannigfaltigen Zusammenhängen zwischen Natur und Kultur sowie dazu gehörenden Reflexionen und Interpretationen geprägt ist.
Landschaftswissenschaft ist ein junges und daher noch wenig entwickeltes Fachgebiet. Sie entspricht nicht genau einem der bislang bekannten Fächer, etwa der Geographie, der Ökologie oder der Kunstgeschichte, sondern es geht bei ihr immer um die Synthese, auch um die Kombination von Wissen aus verschiedenen Fächern.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Landschaft, wie sie in diesem Buch vorgestellt wird, beginnt in einer Zeit, in der die Zahl der Menschen abnimmt, die unmittelbar etwas mit der Entstehung von Strukturen in der Landschaft zu tun hat. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Situation völlig anders: Damals arbeiteten die meisten Menschen direkt mit und innerhalb der Landschaft, wie wir heute im Rückblick sagen würden, und zwar in der Land- oder Forstwirtschaft. Dabei standen stets ihre Tätigkeit und Arbeit im Mittelpunkt, vor allem die Produktion von Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern. Heute braucht man einen anderen, neuen Zugang zu Landschaft, der eher von Ästhetik oder auch einer wissenschaftlichen Analyse und Synthese geprägt ist, auf deren Grundlage man Landschaft erklären kann. Dabei lässt sich Verständnis für das Handeln einzelner Akteure im Raum wecken, unter anderem für das der Land- und Forstwirte sowie der Planer von Siedlungen, Fabrikanlagen und Verkehrswegen. Immer mehr Menschen wollen bei solchen Planungen mitreden. Das setzt aber voraus, dass sie darüber informiert sind, was in «ihrer» Landschaft geschieht.
Der Begriff «Landschaft» hatte – ebenso wie «Natur» – im Lauf der Jahrhunderte unterschiedliche Bedeutungen.[3] Schon in früher Zeit gab es in China einen Begriff, der «Landschaft» bezeichnete: «Shanshui» setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen, dem für Berg, das drei Bergrücken anzeigt, und einem anderen für fließendes Wasser.[4] Der gleiche Begriff kann auch die traditionelle chinesische Landschaftsmalerei bezeichnen.[5]
Eine genaue Entsprechung zu einem solchen Landschaftsbegriff gab es in der abendländischen Antike nicht. Man sprach damals von Territorien, Gebieten oder Regionen, wenn man ein Stück Land bezeichnen wollte. Aber man hielt bereits das peloponnesische Hirtenland Arkadien mit dem Fluss Eurotas für eine ideale Landschaft; Vergil übertrug in seinen «Bucolica»-Gedichten den Namen dieser Gegend auf ein bukolisches Süditalien.[6] Im Mittelalter verwendete man «Landschaft» zunächst gelegentlich als Synonym zu Begriffen, die in der Antike bereits geographische Räume bezeichnet hatten. Territorien, Gebiete oder Regionen sind von ihren äußeren Grenzen her definiert; oft entsprachen sie Herrschafts- oder Besitzbereichen, die vor allem von ihren Umgrenzungen her gesehen wurden. Das Gebiet war das Land, über das ein Herrscher gebot; daher besteht eine sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Substantiv «Gebiet» und dem Verb «gebieten». Dass der Begriff Landschaft mit ähnlicher Bedeutung verwendet wurde, zeigt die Definition «Landtschaft, als weit ein Statt oder Herr zu regieren und ze bieten hat» aus dem 16. Jahrhundert.[7] Es gibt auch die alte Vorstellung, die Landschaft umgäbe die Stadt und sei ein Gegensatz zu ihr; in Basel wird noch heute zwischen den Halbkantonen Basel Stadt und Basel Land oder Basel Landschaft unterschieden. Damit verwies man auf einen Gegensatz zwischen Stadt und Landschaft. Die Vorstellung von diesem Gegensatzpaar hat sich bis heute latent gehalten, und sie wird daher auch heute noch gelegentlich mit dem Landschaftsbegriff verbunden. Dies ist aber nicht konsequent, denn Städte werden schon seit langer Zeit in Landschaften einbezogen, etwa auf Ansichten von Florenz oder Dresden, dem «Elbflorenz» (Abb. 2–1).
Landschaft bezeichnete im Mittelalter nicht nur einen Raum, sondern auch dessen Bewohner, die vielerorts in Landständen oder Landschaften organisiert waren. Zu den Landständen gehörten Adlige oder Ritter, Bürger und Bauern.
All diesem steht ein anderer Landschaftsbegriff gegenüber, der sich seit der Renaissance entwickelte und im Lauf der Zeit immer größere Bedeutung gewann. Mit diesem Landschaftsbegriff wurde aber offensichtlich kein Wissen aus der Antike wiederentdeckt, was ja eigentlich mit dem Begriff «Renaissance» umschrieben wird, sondern eine neue Geisteshaltung entwickelt; sie lässt sich jedenfalls nicht aus antikem Gedankengut ableiten. Vielleicht aber wirkte die eingangs genannte Vorstellung von Landschaft aus dem alten China über die Vermittlung von Entdeckungsreisenden wie Marco Polo auf das Abendland ein. Marco Polo war zu Ende des 13. Jahrhunderts aus China nach Italien zurückgekehrt, und seine Reiseberichte wurden bald sehr populär: «Am dritten Tag gelangt man zum wichtigen Flusse Caramoran [...]. Merkt euch: der Strom ist eine Meile breit und sehr tief, so daß er von schweren Schiffen befahren werden kann. Viele und große Fische schwimmen in seinem Wasser [...]. Von unserem jetzigen Standpunkt aus beträgt die Entfernung zur Küste einen Tag. Auf der ganzen Strecke gibt es beidseitig befestigte Ufersiedlungen.»[8] Marco Polo erwähnte hier Charakteristika von Natur, er ging auf deren Gestaltung durch den Menschen ein, und er reflektierte über die Landschaft, indem er die Entfernung zur Küste mitteilte. Dies könnte als eine im Mittelalter neuartige Sicht auf Landschaft aufgefasst werden. Europa erfuhr aus Marco Polos Berichten auch etwas über chinesische Gärten, aber seine Beschreibungen waren vermutlich zu allgemein, als dass von ihnen ein wichtiger Impuls für die Gartengestaltung und damit verbunden das Landschaftsverständnis ausgegangen sein sollte.[9]
Abb. 2-1 Caspare Vanvitelli (Caspar von Wittel; 1653–1736): «Ansicht der Stadt Florenz von den Cascinen». – Die Stadt wird als Teil von Landschaft dargestellt.
Der Dichter Francesco Petrarca bestieg wenige Jahrzehnte später, im Jahr 1336, den Mont Ventoux in den französischen Alpen; seine Schilderung dieses Ausflugs gilt als älteste Darstellung einer Landschaft im modernen Sinn. Petrarca blickte vom Berggipfel, von einem zentralen Punkt aus, auf Erscheinungen der Natur und darauf, was Menschen aus ihrer Umwelt gemacht hatten. Von seinem Standpunkt aus konstruierte er Zusammenhänge zwischen den gesehenen Einzelheiten und stellte seine Person und vor allem sein Bewusstsein in Beziehung zu dem, was er sah. Petrarca reflektierte über den Raum und ließ in seinem Kopf Landschaft entstehen: «Der Grenzwall der gallischen Lande und Hispaniens, der Grat des Pyrenäengebirges, ist von dort nicht zu sehen, nicht daß meines Wissens irgendein Hindernis dazwischenträte – nein, nur infolge der Gebrechlichkeit des menschlichen Sehvermögens. Hingegen sah ich sehr klar zu Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhone lag mir geradezu vor Augen. Dieweil ich dieses eins ums andere bestaunte und jetzt Irdisches genoß, dann nach dem Beispiel des Leibes auch die Seele zum Höheren erhob, schien mir gut, in das Buch der Bekenntnisse des Augustin hineinzusehen.»[10] Die Reflexion ist dabei die Voraussetzung für das Erkennen und die anschließend mögliche Darstellung von Landschaft in Wort oder Bild.[11]
Im Zeitalter der Renaissance wurden in Italien Gärten auf eine Weise gestaltet, die ebenfalls eine Reflexion über Landschaft ermöglichte. Ein wichtiger Teil des Italienischen Gartens war ein Aussichtspunkt, das Belvedere (Abb. 2–2), von dem aus man die mehr oder weniger weitläufigen Parkanlagen überblickte. Doch man sah von dort aus nicht nur auf gestaltetes Gartengelände, sondern auch auf die Umgebung des Gartens; man blickte also genauso wie Petrarca auf den gesamten Raum von einem erhöhten Standpunkt aus und hatte die Möglichkeit, durch Reflexion daraus eine Landschaft zu konstruieren.[12]
Jeder Garten weist ein Charakteristikum auf, das oft versteckt werden soll: Er hat eine Grenze und wird von ihr aus definiert, ebenso wie die Stadt oder das Gebiet. Die Grenze wird gebraucht; denn demjenigen, der einen Garten anlegt, muss klar sein, bis zu welcher Grenze er gestalterisch tätig sein soll, kann oder darf. Doch geht es auch darum, einen Landschaftseindruck vom Garten aus auf das Umland zu ermöglichen, und das wird deutlich, wenn man das Belvedere als zentralen Aussichtspunkt des Gartens oder Parks versteht. Der Blick des Betrachters reicht über die Grenzen des Gartens hinaus, auch wenn er darüber im Unklaren gelassen wird, wo genau diese Grenzen liegen. Es soll möglichst der Eindruck eines unbegrenzten Raumes entstehen. Der Garten ermöglicht damit das Erkennen von Landschaft, unterscheidet sich aber von ihr. Denn für Landschaft ist primär der Standpunkt des Betrachters entscheidend, für die Anlage des Gartens – genauso wie für die Region oder das Gebiet – aber darüber hinaus der Zaun als äußere Begrenzung (Abb. 2–3).
Abb. 2-2 Vom Garten der Villa Carlotta am Comer See blickt man auch auf die spektakuläre Umgebung. Wo der Garten endet, spielt für den Betrachter keine Rolle.
Abb. 2-3 Landschaft und die in ihr bestehenden Zusammenhänge werden von einem Zentrum aus erkannt. Region, Territorium, Gebiet und Garten definiert man dagegen von ihren Grenzen her.
Zunächst war derjenige, der eine Landschaft erkannte und darstellte, vor allem der Maler. Er bannte das Gesehene nach gedanklicher Durchdringung auf eine Leinwand. In der Diktion des 18. Jahrhunderts, als Landschaft erstmals als Kategorie von Malerei genannt wurde, war ein solcher Künstler ein «Landschafter», und die Landschaft war das, was auf seiner Leinwand entstand.[13] Landschaft wird daher als die «künstlerische, bildliche Darstellung einer [...] Gegend» im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm erklärt.[14] Die Landschaft als Bild ist stets das Resultat der Reflexion über Natur und menschliche Gestaltung des Raumes. Darin gehen Interpretationen oder Erfahrungen, kulturelle Konstruktionen, Vorstellungen oder Metaphern ein, beispielsweise über das Paradies, Arkadien und die Natur.
Abb. 2-4 Oland, eine Hallig an der Nordsee, liegt in einer spektakulären Landschaft, die jederzeit von Meeresüberflutung bedroht ist.
Vielleicht weil das Malen eines Landschaftsbildes einen erheblichen Aufwand bedeutete, kam es für einen «Landschafter» zunächst nicht in Frage, jeden beliebigen Raum zu skizzieren, und er konnte nicht jede Skizze zu einem Gemälde werden lassen. Vor allem in der Anfangszeit der Landschaftsmalerei wählte er seine Motive mit Bedacht aus. Das Spektakuläre oder Erhabene faszinierte ihn besonders. Deswegen machte er es zum Objekt seiner Kunst: den Fels oder Berg, einen Wasserfall, eine Schlucht, den Glut speienden Vulkan, die unermessliche Weite einer Ebene (Abb. 2–4).
Texte des 18. Jahrhunderts, in denen Landschaft dargestellt wird und die man als frühe Grundlagen der modernen Geographie betrachten kann, sind Reflexionen über Strukturen von Natur und Kultur im Raum, die zu Interpretationen führen können. Ihre Verfasser sahen diese Strukturen von bestimmten Standpunkten aus und verknüpften das Gesehene mit Grundlagen ihres Erfahrungsschatzes. Jede schriftliche Darstellung von Landschaften lässt sich mit einem Landschaftsbild vergleichen. Schriftliche Landschaftsbilder oder «Naturgemälde» verfassten unter anderem Albrecht von Haller[15] und Alexander von Humboldt.[16] Ebenso wie Landschaftsmaler beschrieben sie Landschaften mit ihrer Natur sowie das in Landschaft erkennbare Menschenwerk, reflektierten darüber und wählten auf Grundlagen von Ideen interpretierende Metaphern, um Landschaft darzustellen.
Albrecht von Haller und anderen fiel auf, dass sich in Abhängigkeit von der Höhenlage in den Schweizer Bergen unterschiedliche Typen von Landschaft und Vegetation finden ließen, die ihre Entsprechung in den verschiedenen Landschaftsgürteln von Europa zwischen dem Mittelmeer und der Polarregion hatten.[17] Man sah diverse Naturerscheinungen und Formen von Nutzung durch den Menschen in Abhängigkeit von physischen Faktoren; man erkannte bestimmte Typen von Landschaft und Vegetation, und anschließend bemühte man sich herauszufinden, bis zu welcher Höhenlage oder bis zu welcher geographischen Breite die Landschaft und deren Vegetation dem festgelegten Typ zugeordnet werden konnte. Alexander von Humboldt befasste sich sehr intensiv mit dieser Idee. Die Verbreitungsgebiete von Landschaftstypen sollten auf Landkarten voneinander abgegrenzt werden. Humboldt kündigte in seinen «Ideen zu einer Geographie der Pflanzen»[18] an mehreren Stellen an, dass er demnächst eine Landkarte zu einem bestimmten Thema veröffentlichen wolle – was aber nicht geschah. Vielleicht beließ er es bei der schriftlichen Form der Abgrenzung von Vegetations- oder Landschaftstypen, weil er sah, dass Abgrenzungen auf Landkarten viel strikter empfunden werden konnten als in der schriftlichen Darstellung. Auf seinem berühmten Profil des Chimborazo, der seinem Werk beigelegt ist, sind die einzelnen Landschaftstypen nicht immer scharf voneinander abgegrenzt; dies entsprach sicher den Verhältnissen vor Ort. Die Abgrenzungen waren ursprünglich wohl nicht als materielle Grenzlinien zu verstehen, die im Raum tatsächlich existierten. Aber man brauchte sie, um den Raum insgesamt und dessen einzelne Teile beschreiben zu können. Derartige Grenzen, die man in Landkarten eintrug, sind Ausdruck einer immateriellen Idee. Materiell werden sie nur auf der Landkarte.
Eine Landkarte kann man – im Sinne Humboldts – ebenfalls als ein Landschaftsbild oder Naturgemälde auffassen, das von einem bestimmten Standpunkt aus entworfen wurde; die Karte enthält Grenzen, die aus der Interpretation des Gesehenen abgeleitet werden, aber nicht materiell bestehen. Der Standpunkt des Zeichners einer Landkarte ist nicht mit dem Ort gleichzusetzen, von dem aus man die konkrete Landschaft überblickt, und das gesamte Gebiet, das man auf einer Landkarte als Landschaft beschreibt, muss ebenfalls nicht in konkreter Weise überblickt werden können. Der Standpunkt, von dem aus eine Landkarte entwickelt wird, ist hier in einem abstrakteren Sinn als der Ort aufzufassen, von dem aus man wissenschaftlich argumentiert und Landschaften kategorisiert sowie deren Grenzen festlegt; dies ist eher der Schreibtisch des Wissenschaftlers oder der Zeichentisch des Kartographen. Auf einer solchen Landkarte ist mithin auch nur dargestellt, was man als eine erschlossene oder abstrakte Landschaft bezeichnen kann. Landkarten können einem bestimmten Thema gewidmet sein, das man besonders herausstellen möchte. Humboldt wählte bei vielen Darstellungen die schriftliche Form, zeichnete aber selbst keine Landkarten dazu; den Atlas zu seinem «Kosmos» gab er nicht selbst heraus.[19]
Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurden zahlreiche auch im heutigen Sinne genaue Topographische Karten gezeichnet. Angaben auf ihnen wurden exakt in ein geometrisches Netz von Triangulationspunkten einbezogen; Höhen wurden nach verschiedenen Methoden genau bestimmt. Auf diesen Karten sind Angaben zu Uferlinien, Flüssen und Seen sowie zu den Grenzen zwischen Wald und Offenland vermerkt, die man als detailgetreu erachtete. Landschaften wurden auf diesen Karten wieder zu Territorien, die klar begrenzt waren – wie der alte Begriff aus dem Mittelalter besagt. Innerhalb der Geographie ging man mehr und mehr dazu über, Landschaften von ihren Grenzen her zu definieren. Solche Landschaften bestehen aber weder materiell in unserer Umwelt noch konkret auf einem Landschaftsgemälde. Sie sind vielmehr abstrakt erschlossene Gebilde. Klar unterschieden werden muss hier zwischen den in unserer Umwelt existierenden Elementen und den auf Ideen beruhenden abstrahierenden Interpretationen, die auf einer Landkarte zu sehen sind. Diesen Unterschied verstand man aber in der Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts immer weniger: Mehr und mehr wurde die Landschaft auf der Landkarte für eine objektiv bestehende Größe gehalten, und dem Anschein nach entwickelten sich verschiedene Landschaftsbegriffe auseinander.[20]
Dies ist aber ein Missverständnis. Landschaft ist immer mit einer Interpretation verbunden, ganz gleich, ob sie auf dem Bild eines Malers oder auf einer Landkarte dargestellt wird. An einem Beispiel wird das klar: Die Grenze zwischen Land und Meer kann auf dem Landschaftsgemälde eines Malers genauso dargestellt sein, wie er sie im Moment des Erfassens der Landschaft wahrgenommen hat. Er kann aber, wenn dies seinen Intentionen nicht entspricht, den Spülsaum des Wassers auch verlegen; diese Freiheit hat er, und er wird ihr folgen, wenn diese Interpretation das, was er mit seinem Bild ausdrücken möchte, deutlicher macht. Die Küsten- oder Uferlinie auf einer Landkarte ist damit nicht vergleichbar. Sie ist keine Linie, die in einem bestimmten Augenblick bestanden hat, sondern eine Konvention, die sogenannte «Normalnull-Linie», und somit ebenfalls eine Interpretation. Küsten- und Uferlinien sind von Natur aus nicht stabil, sondern verändern sich erheblich, schon unter dem Einfluss von Ebbe und Flut, dazu durch Wind und Witterung. Der ständige Wandel der physischen Grenze zwischen Land und Meer kann auf einer Landkarte nicht eingetragen werden; das kann nur die abstrahierte und daher interpretierte Linie. Es wird deutlich: Das Bild und die Landkarte werden beide von Interpretationen beeinflusst. Die jeweiligen Intentionen unterscheiden sich zwar, aber auch nicht grundsätzlich.
Alle Landschaftsgrenzen auf Landkarten beruhen auf Interpretationen und Konventionen. Konventionen sind Veränderungen unterworfen. Daher können sich auch die interpretierten Grenzlinien auf Landkarten verändern. Dies kann zur Folge haben, dass sich die Flächengrößen bestimmter durch Konvention definierter Landschaften der Landkarte im Lauf der Zeit verändern. Das Gebiet der Alpen ist so groß wie alles, was man für die Alpen hält.
Ein Fluss wie die Elbe ist so lang wie die Strecke von derjenigen Quelle, die man als den Beginn des Flusslaufs ansieht, bis zur Mündung des Flusses ins Meer. In der Antike fasste man wohl die Moldau als den Oberlauf der Elbe auf; die Elbe mit diesem Oberlauf wäre um einiges länger als der heute so genannte Fluss mit einer Quelle, die im Riesengebirge liegt. Besonders problematisch ist es, das Ende eines Flusses objektiv festlegen zu wollen, der in ein von Gezeiten beeinflusstes Meer wie die Nordsee mündet. Das Ende des Flusses könnte dort liegen, wo die Flutströmung und die Flussströmung aufeinandertreffen; in Abhängigkeit vom konkreten Wasserstand des Meeres ist dies aber an immer wieder anderen Orten der Fall. Das Ende des Flusses kann auch an den Punkt gelegt werden, wo sich der Tidenhub am weitesten flussaufwärts bemerkbar macht, obwohl dort in der Regel kein salziges Meerwasser angetroffen wird, sondern abfließendes oder aufgestautes Süßwasser. Ein weiterer möglicher Endpunkt eines Flusses liegt weit draußen im Meer, etwa an der Stelle, wo sich die Strömung des Flusses gerade nicht mehr nachweisen lässt. All dieses könnte aus naturwissenschaftlicher bzw. ökologischer Sicht sinnvoll sein.[21] Doch man geht in der geographischen Statistik von einem festen Punkt aus, an dem ein Fluss endet, der sich allein aus einer Konvention ergibt. Eine solche Festlegung ist die Voraussetzung dafür, dass man eine Aussage zur Länge eines Flusses machen kann, obwohl diese aus ökologischer Sicht nicht korrekt ist und dem konkreten Befund in der Landschaft nicht entspricht. Angaben zu Flusslängen sind in zahlreichen Handbüchern, Lexika und Atlanten zu finden. Sie werden zwar für konkret gehalten, sind aber abstrakte Größen, die auf der Grundlage von Interpretationen normativ festgelegt wurden.