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Thomas Piketty

DIE
SCHLACHT
UM DEN
EURO

Interventionen

Aus dem Französischen übersetzt von
Stefan Lorenzer

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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ZUM BUCH

Seit 2008 ist die schöne neue Welt des Finanzkapitalismus Geschichte. Thomas Piketty analysiert in diesem Buch die Finanz- und Eurokrise und führt dabei zugleich in die großen Themen seines internationalen Bestsellers «Das Kapital im 21. Jahrhundert» ein. Kann die Europäische Union der zentrale Gegenspieler eines außer Kontrolle geratenen Finanzkapitalismus werden oder kapituliert sie vor der Macht der Märkte? Wie lässt sich die Eurozone nachhaltig stabilisieren, nachdem die Zentralbank das Schlimmste vorerst abgewendet hat? Die Schlacht um den Euro ist letztlich nur dann zu gewinnen, wenn sich die EU zur politischen Union vertieft und nach der Währung auch die Staatsschulden europäisiert, so zeigt Piketty eindrucksvoll und hält ein mitreißendes Plädoyer für ein demokratisches, soziales und starkes Europa.

ÜBER DEN AUTOR

Thomas Piketty, geb. 1971, ist Professor an der Pariser École d’Économie. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014).

INHALT

Vorwort

Teil 1: Tausend Milliarden Dollar (2008–2009)

Soll man die Banker retten?

Tausend Milliarden Dollar

Soll man die Mehrwertsteuer senken?

Obama-Roosevelt – eine trügerische Analogie

Gewinne, Löhne und Ungleichheiten

Das irische Desaster

Zentralbanken bei der Arbeit

Vergessene Ungleichheiten

Fiskalische Lehren aus der Affäre Bettencourt

Wer wird von der Krise profitieren?

Teil 2: Europa gegen die Märkte (2010–2011)

Rekordgewinne der Banken – ein politischer Skandal

Nein, die Griechen sind nicht faul

Europa gegen die Märkte

Die Rolle der Zentralbanken überdenken

Zahlt Liliane Bettencourt Steuern?

Bausteine einer unaufgeregten Debatte über die Vermögenssteuer

Muss man Angst vor der Fed haben?

Der Skandal der irischen Bankenrettung

Japan: Privater Reichtum, öffentliche Schulden

Griechenland: Für eine europäische Bankenabgabe

Wenn das Finanzministerium die Presse manipuliert

Arm wie Jobs

Für eine (schnelle) Neubestimmung des europäischen Projekts

Der Protektionismus: Eine Notlösung

Teil 3: An die Urnen, Bürger! (2012–2015)

Französisch-deutsche Divergenzen

François Hollande – ein neuer Roosevelt für Europa?

Die einzige Lösung: Der Föderalismus

Welcher Föderalismus – und wozu?

Jetzt handeln!

Merkollande und die Eurozone – ein kurzsichtiger Egoismus

Italienische Wahlen: Die Verantwortung Europas

Für eine europäische Vermögenssteuer

Die Krise überwinden – in einem anderen Europa

Kann Wachstum uns retten?

IWF: Nur noch ein kleiner Schritt!

Oligarchie in Amerika

An die Urnen, Bürger!

Ungleichheit von Ägypten bis zum Golf – ein Pulverfass

Was es kostet, ein kleines Land zu sein

Was muss noch passieren, damit sich Europa bewegt?

VORWORT[1]

Dieses Buch vereint Interventionen, die in der Zeitung Libération veröffentlicht wurden. Keine von ihnen ist nachträglich korrigiert oder überarbeitet worden. Einige Texte haben inzwischen etwas Patina angesetzt, andere sind noch aktuell. Sie zeugen sämtlich vom Versuch eines Sozialwissenschaftlers, das Tagesgeschehen zu analysieren, sich in die öffentliche Auseinandersetzung einzumischen und die Verantwortung des Forschers mit der des Bürgers in Einklang zu bringen.

Das prägende Ereignis der letzten Jahre war die globale Finanzkrise, die 2007/08 ausbrach und bis heute nicht beendet ist. Ihr sind die hier versammelten Interventionen gewidmet. Sie untersuchen die neue Rolle, die von den Zentralbanken übernommen wurde, um den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, ebenso wie etwa die Unterschiede zwischen der irischen und der griechischen Krise. Dabei tritt vor allem eine Frage in den Vordergrund: Wird die Europäische Union den Hoffnungen gerecht werden, die so viele von uns in sie gesetzt haben? Wird es ihr gelingen, zu jener Macht und zu jenem Raum demokratischer Souveränität zu werden, die es braucht, um die Kontrolle über einen außer Rand und Band geratenen Kapitalismus zurückzugewinnen? Oder wird sie einmal mehr nur das technokratische Instrument der Deregulierung sein, des verallgemeinerten Wettbewerbs und des Kniefalls der Staaten vor den Märkten?

Die Finanzkrise, die mit dem Platzen der Subprime-Blase im Sommer 2007 und der Lehman-Pleite im September 2008 ihren Anfang nahm, lässt sich als erste Krise des globalisierten Patrimonialkapitalismus des 21. Jahrhunderts verstehen.

Blicken wir zurück. Zu Beginn der 1980er Jahre brach eine neue Welle der Deregulierung und des ungebrochenen Glaubens an die Märkte über die Welt herein. Die Erinnerung an die Depression der 1930er Jahre und an die Verwerfungen in ihrem Gefolge war verblasst. Die «Stagflation» der 1970er Jahre, die Verbindung von wirtschaftlicher Stagnation mit Inflation, ließ die Grenzen des Keynesianischen Konsenses hervortreten, der sich in der besonderen Lage der Nachkriegszeit herausgebildet hatte. Nach dem Ende des scheinbar unbegrenzten Wirtschaftswachstums der 1950er und 1960er Jahre wurde die mit ihm verbundene immer weitere Ausdehnung des staatlichen Sektors und der Abgabenlast zunehmend in Frage gestellt.[2]

Der Deregulierungsschub beginnt 1979/80 in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo man es immer weniger erträgt, von Japan, Deutschland und Frankreich eingeholt, ja im Fall Großbritanniens überholt worden zu sein. Ronald Reagan und Margaret Thatcher lassen sich von dieser Welle der Unzufriedenheit tragen und verkünden die neue Botschaft: Der Staat sei das Problem und nicht die Lösung. Man müsse sich aus den Fängen eines Vorsorgestaats befreien, der die angelsächsischen Unternehmer verweichlicht habe, und zu einem reinen Kapitalismus zurückkehren, wie es ihn vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Nach 1990 nimmt der Prozess an Fahrt auf und greift auf Kontinentaleuropa über. Der Zusammenbruch der Sowjetunion beraubt den Kapitalismus seines alten Rivalen und läutet eine Phase ein, in der man sich, beflügelt durch eine anhaltende Börseneuphorie, dem Glauben an das «Ende der Geschichte» und ein «neues Wachstum» hingibt.

Zu Beginn der 2000er Jahre erreichen die Börsen- und Immobilienwerte wieder die historischen Rekordmarken von 1913, um sie schließlich noch zu übertreffen. Das Gesamtvolumen (nach Abzug der Schulden) der Finanz- und Immobilienvermögen im Besitz der französischen Haushalte beträgt 2007, am Vorabend der Krise, 9500 Milliarden Euro. Der Reichtum der Franzosen ist 2008/09 leicht zurückgegangen, seit 2010 aber wieder gestiegen und derzeit liegt er bei über 10.000 Milliarden. Betrachtet man diese Zahlen im historischen Kontext, so fällt auf, dass es den Vermögen seit einem Jahrhundert nicht mehr so gut ging wie heute.[3] Das private Nettovermögen entspricht aktuell dem Gegenwert von sechs Jahren des Nationaleinkommens, während es in den 1980er Jahren bei weniger als dem Vierfachen und in den 1950er Jahren nicht einmal beim Dreifachen des jährlichen Nationaleinkommens lag. Um eine solche Blüte der französischen Vermögen wiederzufinden, mit Kapital-Einkommen-Verhältnissen von 6 bis 7, muss man bis zur Belle Époque (1900–1910) zurückgehen.

Die gegenwärtige Blüte der Vermögen ist denn auch nicht einfach eine Konsequenz der Deregulierung. Vielmehr ist sie zum einen zurückzuführen auf einen Prozess der langfristigen Erholung des Kapitals nach den gewaltigen Schocks der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zum anderen ist sie eine Folge des schwachen Wachstums der letzten Jahrzehnte, das automatisch zu sehr hohen Kapital-Einkommen-Verhältnissen führt. Wir leben, und das ist auf lange Sicht entscheidend, in einer historischen Phase, in der es um die Vermögen in den reichen Ländern sehr gut bestellt ist, Produktion und Einkommen jedoch sehr schwache Wachstumsraten verzeichnen. Während der Trente Glorieuses in Frankreich oder des «Wirtschaftswunders» in Deutschland hatte man sich zu Unrecht eingebildet, in einem anderen Stadium des Kapitalismus, gleichsam einem Kapitalismus ohne Kapital, angekommen zu sein. In Wahrheit handelte es sich nur um die vorübergehende Phase eines Kapitalismus des Wiederaufbaus. Langfristig kann es keinen anderen Kapitalismus geben als einen patrimonialen, der vom Vermögen und seiner Vererbung bestimmt ist.

Die seit den 1980er Jahren betriebene Deregulierung hat allerdings eine zusätzliche Schwierigkeit geschaffen. Sie hat das Finanzsystem und den globalisierten Patrimonialkapitalismus dieses beginnenden Jahrhunderts extrem anfällig, volatil und unvorhersehbar werden lassen. Ganze Sektoren der Finanzwirtschaft haben sich ohne jede Kontrolle entwickelt, bar aller Aufsichtsregeln und ohne jede Rechnungslegung, die des Namens würdig wäre. Selbst die elementarsten internationalen Finanzstatistiken sind mit systematischen Unstimmigkeiten behaftet. So weisen sie zum Beispiel auf globaler Ebene die Nettovermögenspositionen insgesamt als negativ aus, was logisch unmöglich ist, es sei denn, man wollte annehmen, wir befänden uns zu einem Gutteil im Besitz des Planeten Mars. Wie Gabriel Zucman jüngst gezeigt hat, geht diese Unstimmigkeit darauf zurück, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der finanziellen Vermögenswerte, die in Steueroasen versteckt sind, nicht korrekt erfasst werden.[4] Davon ist insbesondere die Nettoauslandsposition der Eurozone betroffen, die sehr viel positiver ist, als die amtlichen Statistiken es erkennen lassen. Infolge einer ganz einfachen Tatsache: Vermögende Europäer haben allen Grund, einen Teil ihrer Aktiva zu verbergen, und die Europäische Union tut derzeit nicht das, was sie tun sollte und tun könnte, um sie daran zu hindern.

Unser Kontinent steht, allgemeiner formuliert, aufgrund der politischen Zerstückelung Europas und seiner Unfähigkeit, sich zu vereinigen, der Instabilität und Undurchsichtigkeit des Finanzsystems besonders hilflos gegenüber. Um Steuerregelungen und aufsichtsrechtliche Vorschriften durchzusetzen, die den globalisierten Märkten und Finanzinstituten gewachsen sind, ist der europäische Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ganz offenbar nicht mehr das Maß aller Dinge.

Europa hat mit einer weiteren Schwierigkeit zu kämpfen. Seine Währung, der Euro, und seine Zentralbank, die Europäische Zentralbank (EZB), sind das Werk der ausgehenden 1980er und beginnenden 1990er Jahre (die ersten Eurobanknoten wurden erst 2002 in Umlauf gebracht, aber die Maastrichter Verträge wurden 1992 ratifiziert), zu einem Zeitpunkt, da man dachte, die einzige Funktion der Zentralbanken sei es, sich in Untätigkeit zu üben und ein Auge darauf zu haben, dass die Inflation schwach bleibt und die Geldmenge mehr oder weniger mit der gleichen Geschwindigkeit wächst wie die Wirtschaftstätigkeit. Nach der «Stagflation» der 1970er Jahre waren Regierungen und öffentliche Meinung zu der Überzeugung gelangt, Zentralbanken sollten vor allem unabhängig von der Politik sein und sich auf das eine und einzige Ziel einer niedrigen Inflation konzentrieren. In diesem Klima fiel die Entscheidung, zum ersten Mal in der Geschichte eine Währung ohne Staat und eine Zentralbank ohne Regierung ins Leben zu rufen.

Über alledem hatte man vergessen, dass Zentralbanken in schweren Wirtschafts- und Finanzkrisen ein Werkzeug sind, um Finanzmärkte zu stabilisieren und eine Welle von Bankenpleiten ebenso zu verhindern wie eine allgemeine Wirtschaftsdepression. Wie unverzichtbar diese Rolle der Zentralbanken tatsächlich ist – das ist die große Lehre, die uns die Finanzkrise der letzten Jahre erteilt hat. Hätten die beiden größten Zentralbanken der Welt, die amerikanische Federal Reserve (Fed) und die EZB, nicht beträchtliche Mengen von Banknoten gedruckt, um sie zu niedrigen Zinssätzen von 0–1 % den Banken zu leihen, dann wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer ähnlich umfassenden Depression wie in den 1930er Jahren gekommen, mit Arbeitslosenquoten von über 20 %. Zum Glück konnten Fed und EZB das Schlimmste verhindern und haben die Irrtümer der 1930er Jahre vermieden, als man eine Bank nach der anderen Bankrott gehen ließ. Das unbegrenzte Vermögen der Geldschöpfung, über das Zentralbanken verfügen, muss gewiss sorgfältig eingehegt werden. Aber im Angesicht schwerer Krisen wäre es selbstmörderisch, ein solches Werkzeug aus der Hand zu geben und auf die Zentralbanken als Kreditgeber letzter Instanz zu verzichten.

Unglücklicherweise hat dieser geldpolitische Pragmatismus nicht nur geholfen, 2008/09 das Schlimmste zu verhindern und den Flächenbrand fürs erste einzudämmen. Er hat auch dazu geführt, dass man nicht gründlich genug nach den strukturellen Ursachen des Desasters gesucht hat. Die Finanzaufsicht hat seit 2008 nur sehr bescheidene Fortschritte gemacht, und man hat so getan, als ob man nicht wüsste, wie sehr die Krise auch Folge der Ungleichheit war. Die Stagnation der Einkommen in der Unterschicht wie der Mittelschicht und die wachsende Ungleichheit insbesondere in den Vereinigten Staaten (wo fast 60 % des Wachstums zwischen 1977 und 2007 von den reichsten 1 % abgeschöpft worden ist) haben zum explosionsartigen Anstieg privater Verschuldung ganz offenbar beigetragen.[5]

Vor allem hat die Rettung der Privatbanken durch die Zentralbanken die Krise nicht daran gehindert, 2010/11 mit der Staatsschuldenkrise der Eurozone in eine neue Phase einzutreten. Entscheidend ist aber in diesem Zusammenhang, dass dieses zweite Kapitel der Krise nur in der Eurozone spielt. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Japan haben eine höhere (oder gleiche) Staatsschuld als wir (mit Schulden in Höhe von 100 %, 80 % und 200 % des BIP gegenüber etwa 95 % in der Eurozone). Aber sie haben keine Schuldenkrise – und das aus einem einfachen Grund: Die amerikanische Federal Reserve, die Bank von England und die Bank von Japan leihen ihren jeweiligen Regierungen Geld zu niedrigen Zinsen – weniger als 2 % –, was die Märkte beruhigt und die Zinssätze stabilisiert. Verglichen damit hat die EZB den Staaten der Eurozone bislang noch eher wenig geliehen – daher die gegenwärtige Krise.

Um dieses Sonderverhalten der EZB zu erklären, verweist man gemeinhin auf alte deutsche Traumata. Deutschland habe Angst, in die Hyperinflation der 1920er Jahre zurückzufallen. Diese Erklärung scheint mir nicht sonderlich überzeugend. Niemand glaubt im Ernst, die Welt sei auf dem Weg in die Hyperinflation. Was uns heute droht, ist vielmehr eine lange deflationäre Rezession mit einem Sinken oder einer Stagnation der Preise, der Löhne und der Produktion. Tatsächlich hat die enorme Geldschöpfung von 2008/09 keinerlei nennenswerte Inflation hervorgerufen. Und das wissen auch die Deutschen.

Eine weitere mögliche Erklärung lautet, dass man nach jahrzehntelanger Staatsschelte inzwischen so weit sei, Hilfe für Banken weniger anstößig zu finden als Hilfe für Staaten. In den beiden Ländern, in denen die Verunglimpfung des Staates ihren Zenit schon erreicht hatte, in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, waren die Zentralbanken freilich am Ende pragmatisch genug, um ohne zu zögern massiv Staatsanleihen zu kaufen.

In Wahrheit liegt das Problem, mit dem wir es zu tun haben, der Hauptgrund unserer Schwierigkeiten, ganz einfach darin, dass die Eurozone und die EZB von Anfang an schlecht durchdachte Konstruktionen waren. Und es ist natürlich schwierig, wiewohl nicht unmöglich, die erforderlichen Regeln erst aufzustellen, wenn man schon mitten in der Krise steckt. Der Grundirrtum lag darin, sich einzubilden, man könne eine Währung ohne Staat, eine Zentralbank ohne Regierung und eine gemeinsame Geldpolitik ohne gemeinsame Haushaltspolitik haben. Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Schuld kann nicht funktionieren. In ruhigen Zeiten mag dies gerade noch gutgehen, aber in Krisenzeiten kann es direkt in die Katastrophe führen.

Durch die gemeinsame Währung konnte man der Spekulation auf die 17 verschiedenen Wechselkurse der Eurozone ein Ende setzen. Niemand kann mehr darauf wetten, dass die Drachme gegenüber dem Franc, oder der Franc gegenüber der Mark fällt. Man hatte allerdings nicht vorausgesehen, dass an die Stelle der Spekulation auf Wechselkurse eine Spekulation auf die 17 Zinssätze der Staatsschulden in der Eurozone treten würde. Und diese zweite Form der Spekulation ist in mancher Hinsicht noch schlimmer als die erste. Wenn man über seinen Wechselkurs angegriffen wird, kann man sich stets entschließen, die Flucht nach vorne anzutreten und die eigene Währung abzuwerten, um sein Land zumindest wieder wettbewerbsfähiger zu machen. Seitdem sie eine einzige Währung haben, ist den Ländern der Eurozone diese Möglichkeit jedoch verwehrt. Theoretisch hätten sie im Austausch finanzielle Stabilität gewinnen müssen – was ganz offenbar nicht der Fall ist.

Die Zinsspekulation, mit der wir es heute zu tun haben, ist deshalb besonders tückisch, weil sie es uns unmöglich macht, unsere öffentlichen Haushalte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Summen, um die es geht, sind in der Tat beträchtlich. Auf Staatsschulden in Höhe von 100 % des BIP Zinsen von 5 % statt 2 % zu zahlen, erhöht die jährliche Zinslast von 2 % des BIP auf 5 %. Die Differenz aber, 3 % des BIP (das sind in Frankreich 60 Milliarden Euro), entspricht den vereinten Budgets für Hochschulbildung, Forschung, Justiz und Arbeit! Wenn man nicht weiß, ob sich der Zinssatz im nächsten Jahr auf 2 % oder aber auf 5 % beläuft, ist es unmöglich, über Ausgaben, die gesenkt, und Abgaben, die erhöht werden müssen, eine ruhige demokratische Debatte zu führen.

Das ist umso bedauerlicher, als die europäischen Vorsorgestaaten erkennbar reformiert, modernisiert und rationalisiert werden müssen. Und das nicht nur, um das Haushaltsgleichgewicht wiederherzustellen und finanzielle Nachhaltigkeit zu schaffen, sondern zunächst und vor allem, um für einen besseren öffentlichen Dienst, eine höhere Reaktionsfähigkeit auf individuelle Situationen und besser verbürgte Rechte zu sorgen. Die Linke muss in diesen Fragen wieder die Initiative ergreifen, ob es nun um die Modernisierung unseres Steuerwesens geht,[6] um die Neufassung unseres Rentensystems[7] oder um die Autonomie unserer Universitäten.

Aber wie sollen solche Debatten besonnen geführt werden, solange wir auf Gedeih und Verderb von solchen gewaltigen Zinsspekulationen abhängig sind? Und machen wir uns nichts vor: Was in Spanien und Italien geschehen ist – mit Zinssätzen, die über 5–6 % liegen – kann durchaus auch Frankreich widerfahren. Falls es dahin kommt, und wir Zinsen in dieser Höhe oder auch nur von 4 % zahlen müssen, während Großbritannien bei gleicher Ausgangsverschuldung dank seiner Zentralbank nur 2 % zahlt, dann wird es sehr schnell sehr schwierig werden, den Euro in Frankreich zu verteidigen. Und wenn eine solche Situation andauert, und sei es auch nur für ein oder zwei Jahre, dann wird es nicht lange dauern, bis die gemeinsame Währung extrem unbeliebt ist.

Was tun? Die einzig nachhaltige Lösung, um der Spekulation auf die 17 Zinssätze der Eurozone nachhaltig Einhalt zu gebieten, besteht darin, unsere Schuld zu vergemeinschaften, eine gemeinsame Schuld zu schaffen (die «Eurobonds»). Und diese Lösung ist zugleich die einzige Strukturreform, die es der Europäischen Zentralbank erlauben wird, ihrer Rolle als Kreditgeber letzter Instanz wirklich gerecht zu werden. Gewiss, die EZB kann jetzt schon mehr Staatsschulden von Euroländern auf den Märkten kaufen, und diese Notlösung wird wahrscheinlich auch in Zukunft eine Schlüsselrolle spielen. Aber solange die EZB es mit den Schulden von 17 souveränen Staaten zu tun hat, steht sie vor einem unlösbaren Problem. Welche Schuld soll sie kaufen, und zu welchem Zinssatz? Müsste die Fed sich jeden Morgen zwischen der Schuld von Wyoming, Kalifornien und New York entscheiden, würde auch sie sich schwertun, mit ruhiger Hand Geldpolitik zu betreiben.

Wenn es gemeinsame Schuldtitel geben soll, muss jedoch zugleich eine starke und demokratisch legitimierte europäische Instanz entstehen. Man kann keine Eurobonds schaffen, um dann jeder nationalen Regierung die Entscheidung darüber zu überlassen, wie viel sie von dieser gemeinsamen Schuld aufnimmt. Und diese Instanz kann nicht der Europäische Rat oder der EU-Finanzministerrat sein. Wir müssen auf dem Weg zu einer politischen Union und den Vereinigten Staaten von Europa einen gewaltigen Schritt nach vorn tun. Andernfalls wird man früher oder später mit einem gewaltigen Schritt zurück liebäugeln, nämlich mit der Abschaffung des Euro. Die einfachste Lösung wäre es, dem Europäischen Parlament endlich wirkliche Haushaltsbefugnisse einzuräumen. Dieses Parlament hat freilich den Nachteil, dass 28 EU-Staaten in ihm vertreten sind, von denen viele der Eurozone nicht angehören. Eine andere Lösung, die ich in meiner Intervention vom 22. November 2011 genannt habe, bestünde darin, eine Art «Europäischen Haushaltssenat» zu schaffen, in dem Abgeordnete der Finanz- und Sozialausschüsse derjenigen nationalen Parlamente vertreten sein müssten, deren Länder zu einer Vergemeinschaftung ihrer Schulden bereit wären. Dieser Senat wäre federführend bei den Entscheidungen über die Emission gemeinsamer Schulden (was die einzelnen Länder nicht darin hindern würde, nationale Schuldtitel auszugeben, für die es dann allerdings keine Gemeinschaftshaftung gäbe). Der zentrale Punkt ist, dass dieser Senat wie alle Parlamente seine Beschlüsse durch Mehrheitsentscheidung träfe – in öffentlichen, transparenten und demokratischen Debatten.

Darin liegt die große Differenz zum Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, das zur Erhaltung des Status quo und zur Tatenlosigkeit neigt, weil es auf dem Prinzip einstimmiger (oder quasi-einstimmiger) Entscheidungen beruht. Zumeist wird gar kein Beschluss gefasst – und falls es einmal wie durch ein Wunder zu einer einstimmigen Entscheidung kommt, ist es fast unmöglich herauszufinden, warum sie getroffen wurde. Das ist das genaue Gegenteil einer demokratischen Debatte in einem parlamentarischen Forum. Heute abermals über einen neuen EU-Vertrag zu verhandeln, der völlig einer intergouvernementalen Logik verpflichtet bleibt (von der er nur darin abweicht, dass er nicht mehr die Zustimmung von 100 %, sondern nur noch von 85 % erfordert), wird den drängenden Herausforderungen nicht gerecht. Und so wird es auch nicht möglich sein, Eurobonds zu schaffen, was entschieden mehr Mut in Sachen politischer Union erfordert, einen Mut, zu dem die Deutschen allem Anschein nach sogar eher bereit sind als die Franzosen.

 

 

1   Dieses Vorwort wurde ursprünglich für die französische Ausgabe von 2012 geschrieben, in der die bis dahin erschienenen Interventionen Thomas Pikettys enthalten sind. Für die deutsche Ausgabe, die bis Anfang 2015 reicht und eine thematische Auswahl bietet, wurde es leicht aktualisiert.

2   In Frankreich sinkt die reale Wachstumsrate des Nationaleinkommens von durchschnittlich 5,2 % jährlich zwischen 1949 und 1979 auf durchschnittlich 1,7 % zwischen 1979 und 2009, also auf ein Drittel.

3   Vgl. T. Piketty: «On the Long-Run Evolution of Inheritance: France 1820–2050», in: École d’économie de Paris, Working Paper, 2010 bzw. Quarterly Journal of Economics 126 (2011), S. 1071—1131. Die Texte sind online verfügbar auf www.piketty.pse.ens.fr.

4   Gabriel Zucman: «The missing wealth of Nations: are Europe and the U.S. net debtors or net creditors?», in: Quarterly Journal of Economics 128 (2013), S. 1321—64. Online verfagbar auf www.parisschoolofeconomics.eu/zucman-gabriel/.

5   Vgl. die World Top Incomes Database. Online verfügbar auf .