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Sabine Appel

HEINRICH VIII.

Der König und sein Gewissen

Eine Biographie

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Heinrich VIII. mit seinen sechs Frauen, von denen er zwei aufs Schafott brachte, wird gern als Wüstling und blutrünstiger Gewaltherrscher porträtiert. Sabine Appel betrachtet ihn in ihrer Biographie in ungewohnterem Licht: als humanistisch gebildeten, vielfach talentierten, theologisch versierten und religiösen Mann, dessen Gewissensnöte, oftmals Zeichen eines erstaunlichen Selbstbetrugs, indessen zu weitreichenden Umstürzen mit beträchtlichen Kollateralschäden führten. Die charismatische, aber auch verhängnisvolle Figur dieses Monarchen wird vor dem Hintergrund seiner Zeit und der speziellen Geschichte der Tudor-Dynastie gezeichnet, deren größtes Problem der Selbsterhalt und die Nachfolge war. Die Lebenserzählung ist intensiv mit der Geistesgeschichte verwoben. Werk und Entwicklung von Thomas More, Erasmus oder dem frühen Luther kommen ebenso zur Sprache wie Heinrichs eigene theologische Ambitionen und Beiträge.

Über die Autorin

Sabine Appel ist promovierte Germanistin und freie Autorin. Von ihr erschienen unter anderem Biographien Goethes und Schopenhauers. Bei C.H.Beck sind lieferbar: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist (2011); Madame de Staël. Kaiserin des Geistes (2011).

INHALT

UTOPIA
Präludium zur Biographie eines Königs

KLEINE VORGESCHICHTE
Die Tudors

DER ZWEITE SOHN
Henrys Jugend und die Spuren des Vaters
 (1491–1509)

«PASTIME WITH GOOD COMPANY…»
Die ersten Regierungsjahre
 (1509–1513)

DAS GÜLDENE FELD
 (1513–1520)

VERTEIDIGER DES GLAUBENS
 (1521–1526)

DAS GEWISSEN EINES KÖNIGS
 (1525–1529)

EINE SONDERBARE REFORMATION
 (1530–1536)

KÖNIGLICHES EHEKARUSSELL
oder: England in Isolation
 (1536–1540)

«DER ENGLISCHE NERO»
Henrys letzte Jahre und sein Vermächtnis
 (1541–1547)

Zeittafel

Anmerkungen

Abbildungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

UTOPIA

Präludium zur Biographie eines Königs

Wenn er im vertrauten Gespräch mit ihm durch seinen Garten spazierte – die königlichen Gärten waren ein symmetrieverliebtes und zugleich die Mysterien zelebrierendes Abbild der kosmischen Ordnung –, dann legte der König seinem Gelehrten und Freund Thomas More schon einmal den Arm um die Schulter, um die Zusammenkünfte noch aufgeräumter zu machen und die weltlich-göttliche Hierarchie aufzuheben. Er liebte es informell, Englands vitaler König, wann immer ihm danach war. Und auf der breiten Spur eines Königs war dem dafür Empfänglichen auch der Geist ein verführerischer Begleiter, mitunter ein Widerpart (aber im sportlichen Sinn). Morus war ein Komet. Nichts glich der subtilen Geistigkeit dieses Mannes, die Henry kurzweilig fand und die zugleich seine eigene Herrscherweisheit verbriefte. Einen so tiefsinnigen, redlichen und unbestechlichen Mann unter seinen Beratern zu haben, musste schließlich auch seinem Staatswesen förderlich sein. Das war mehr als ein «jeu d’esprit»; das war Politik.

Thomas More, Humanist, Freund und Geistesgenosse des großen Erasmus, hatte bereits in sehr jungen Jahren die Flüchtigkeit und die Absurdität des menschlichen Daseins erkannt. Er wollte Mönch werden und schaffte es nicht. Er wurde Jurist, Unterhändler, Politiker, Schriftsteller nur noch in den abgerungenen, ganz frühen Stunden des Tages, Staatsmann am Ende – denn außerhalb des Machtzentrums konnte man auf säkulare Weise nicht wirken, das hatte er schon als Zwölfjähriger am Hofe des Lordkanzlers John Morton, Erzbischof von Canterbury, gelernt. Man musste den Großen schmeicheln und sich um sie verdient machen, um das Beste in ihnen zur Entfaltung zu bringen. Das und anderes war Morus’ Kompromiss mit der Welt. Er hat einen Vernunftstaat erfunden, ein ideales Staatswesen namens «Utopia». In Utopia herrscht ewiger Friede, denn es gibt keine Herrscherwillkür und keine sozialen Abstufungen, keine Ruhmsucht und keine Kriege, kein Privateigentum und kein Geld. Aber es ist glücklicherweise ein «Nicht-Ort», ein «Nirgend-Land», Morus’ vernunftgesteuerter Staat, geschrieben für Englands «unbesiegbare[n] König» Heinrich VIII.

Jahre später: Nachdem Heinrich VIII., Englands unbesiegbarer König, sich vom Papst losgesagt hat, weil dieser ihm sein Gesuch auf eine Scheidung von Katharina von Aragón nicht gewährte, verweigert ihm sein Lordkanzler Thomas More die Gefolgschaft, indem er den Suprematseid auf Heinrich verweigert. Nach einem Hochverratsprozess stirbt Thomas More am 9. Juli 1535 auf dem Schafott. Er hat im Tower noch schöne Schriften verfasst. Da ging es darum, seinem Glauben an die göttliche Providenz seine Treue zu wahren und sich zugleich von der Welt loszusagen, deren Flüchtigkeit und Absurdität er bereits in seiner Jugend erkannt hatte – vor seinem großen Kompromiss mit ihr, mit der Welt, und seinem Bündnis mit der bisweilen bestialisch kalten Vernunft.

Beinahe zeitgleich mit Morus’ «Utopia» war Jahre zuvor Niccolò Machiavellis Hauptwerk entstanden: «Der Fürst», «Il principe». Das war kein «jeu d’esprit», das war Politik.

KLEINE VORGESCHICHTE

Die Tudors

In der Tudor-Geschichtsschreibung, die gewissermaßen mit Shakespeares Historiendramen ihren Höhepunkt feiert, begann alles mit einer eigentlich sträflichen Unterbrechung der gottgewollten dynastischen Serie englischer Könige, als Richard II., der letzte Monarch aus dem Hause Plantagenet, 1399 von Adelsrebellen abgesetzt wurde. Der König war friedliebend und kultiviert, benutzte beim Essen Messer und Gabel, besaß Badezimmer mit fließend warmem und kaltem Wasser, förderte die Kunst und die Literatur und führte in England das Taschentuch ein. In krisenhaften Zeiten erwies er sich aber als handlungsunfähig, jedenfalls als nicht stark genug, um die divergierenden Kräfte des Landes zu bündeln, sein Königtum zwischen den erstarkenden Magnaten, der Gentry, der Kirche und der religiösen Erneuerungsbewegung der Lollarden durchzulavieren. Er arrangierte sich nicht mit dem Adel, trieb eine Günstlingswirtschaft, erlitt militärische Niederlagen und schloss einen dazumal unpopulären Frieden mit Frankreich. Nach einem ersten Absetzungsverfahren durchs Parlament gab sich Richard, wieder zur Macht gelangt und autokratisch bei aller Führungsschwäche, zuletzt noch den Nimbus eines römischen Imperators – mit großen imperatorischen Gesten und einer besonderen Vorliebe für splendide Begräbnisse. Sein von ihm verbannter Cousin Henry Bolingbroke, Sohn des Herzogs von Lancaster, ließ ihn stürzen und bestieg als Henry IV. aus dem Haus Lancaster den englischen Thron. Richard II. starb im Jahr darauf unter ungeklärten Umständen; der neue Herrscher ließ ihn aller Wahrscheinlichkeit nach, um keine Spuren zu hinterlassen, verhungern.

Die Rechtmäßigkeit der Königswürde schien damit zur Disposition gestellt – nicht zum ersten Mal, aber mit stärkerem Nachhall im Bewusstsein der kommenden Generationen. Es war ein Tabubruch, ein Präzedenzfall. Erstmals seit der Eroberung durch die normannischen Invasoren 1066 war die Kontinuität der Erbfolge unterbrochen, in einem usurpatorischen Seitwärtsakt außer Kraft gesetzt. Demzufolge blieben gewichtige offene Fragen: Was zeichnete einen gottbegnadeten König aus? War es rechtens, einen unfähigen Herrscher abzusetzen, ihn gar zu eliminieren? Wie entfaltete sich der göttliche Richtspruch für eine Herrscherwürde? Als Henry V., der Sohn des ersten Lancaster-Königs und Führers der Adelsrebellion gegen Richard II., in der glorreichen Schlacht von Azincourt 1415 die Franzosen besiegte, schien der Makel getilgt, die Zweifel an seiner Königswürde über die Tat seines Vaters zum Verstummen gebracht, denn Gott hatte sein Urteil gesprochen, indem er den begnadeten Herrscher in der Entscheidungsschlacht am Ende zum Sieg führte. Henry Tudor, der Gründer der gleichnamigen Dynastie, sollte das später genauso sehen, und er hatte eigentlich auch keine andere Wahl, um seine Herrschaft zu legitimieren.

Schwache Könige waren in der Tat gemeinhin der Auftakt zu Adelsquerelen mit allen fatalen Folgen für die Geschicke des Landes. Der Fall Edwards II., ein ebenfalls abgesetzter und ermordeter König hundert Jahre vor Richard Plantagenet, hatte das bereits hinreichend dokumentiert. Im Falle Richards II. waren die Folgen jedoch noch verheerender, denn à la longue führte die Absetzung Richards und der Aufstieg der ersten Nebenlinie des Hauses Plantagenet zu dem blutigen Bürgerkrieg zweier rivalisierender Adelsgeschlechter, der im Rückblick beschaulich die «Rosenkriege» genannt wurde, weil das Haus Lancaster eine rote Rose in seinem Wappen trug und das Haus York eine weiße. Dieser Bürgerkrieg sollte die Engländer noch mehrere Generationen lang daran erinnern, wie wichtig ein starkes und unangefochtenes Königtum war. Die Tudors jedenfalls würden ganz fest darauf bauen. Shakespeares Historiendramen spielen sich vor diesem Hintergrund ab. Unter Beibehaltung der Tudor-Ideologie, die die Rosenkriege als Gottesstrafe für die Ursünde der Absetzung und Ermordung des gesalbten Monarchen betrachtet, die erst mit den Tudors ihre providentielle Erlösung und Auflösung findet, werden die aufgeworfenen Fragen mit großer Vielschichtigkeit diskutiert: Tyrannenmord (ein altes antikes Thema), der Umgang mit unfähigen Herrschern, die Legitimität politischer Macht, der Primat des geordneten Staatswesens, den ein Usurpator gegebenenfalls zumindest vorübergehend wiederherstellen kann, Volksgemeinschaft und Staatsordnung, Anspruch und Wirklichkeit. In Anlehnung an eine ganze Reihe von Repräsentanten der Tudor-Geschichtsschreibung, die ihre Chroniken im Laufe der Zeit immer stärker moralisch und theologisch akzentuierten, bis hin zur Vorstellung einer heilsgeschichtlichen Sendung der Dynastie, werden die dreißig Jahre währenden blutigen Bürgerkriegswirren um die Lancasters und die Yorks, Nebenlinien des Hauses Plantagenet, als Folge der Initialschuld von Henry Bolingbroke interpretiert. Shakespeare, der Dichter, zog die wichtigsten späten Vertreter heran: Polydore Vergil, der unter Heinrich VIII. und Edward Hall, der unter Elizabeth schrieb. Bei beiden Autoren wird die Geschichte Englands von Richards Absetzung bis zur Thronbesteigung des ersten Tudor quasi als Parallele zur Christus-Legende gedeutet: Nach dem Sündenfall folgt die Vertreibung aus dem Paradies der harmonischen Volksgemeinschaft, und auf die Gottesstrafe in Form der Bürgerkriegswirren folgt die Erlöserfigur Henry Tudor, die auf dem Schlachtfeld von Bosworth Field für einen Neuanfang steht, für den Zielpunkt, wenn man so will, der Geschichte des Landes nach der unseligen Epoche Lancaster/York. Die König Artus-Legende mit ebenfalls großer Nähe zur Christus-Legende spielt in dieses Deutungsmuster natürlich gleichfalls hinein.

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RICHARD III.
Unbekannter Künstler, spätes 16./frühes 17. Jh.

Der Legende nach haben die Tudors die Rosenkriege beendet. Richtiger wäre, zu sagen: Henry Tudor, Graf Richmond, verdankte seine Chance, den englischen Thron zu besteigen, seinem berüchtigten Vorgänger Richard III., dessen vermeintliche und tatsächliche Untaten die politische Stabilität, die sein Bruder Edward IV. von York schließlich nach manchen Wirren, auch während der ersten Jahre seiner Regentschaft, in England erreicht hatte, im eigenen Hause zunichte machte, worauf der Konflikt neu entfacht wurde.

Juni 1483. König Edward ist überraschend gestorben und hinterlässt einen erst zwölfjährigen Nachfolger, vier Töchter sowie einen weiteren, zwei Jahre jüngeren Sohn. Seinen Bruder Richard, Herzog von Gloucester, hat er zum Protektor des Reiches und Vormund seines minderjährigen Erben bestimmt, doch gegen dieses Protektorat und den angeblichen letzten Willen des Königs (der nicht erhalten ist) gibt es im Adel eine starke Opposition, vor allem in Gestalt der Königswitwe Elizabeth Woodville und ihres Clans. Richard York, Herzog von Gloucester, hat nicht nur das Problem, seinen Einfluss unter den gegebenen Umständen möglicherweise nicht halten zu können. Sein Protektorat wird angefochten, die Woodville-Partei, die er ebenso hasst wie sie ihn, schiebt ihn beiseite, und im Augenblick der Krönung des jungen Königs, zu der die Woodvilles drängen, wäre sein Protektorat sowieso hinfällig. Die Situation einer Minderjährigkeitsregierung war zudem immer unbefriedigend und endete erfahrungsgemäß in den Zerreißproben ehrgeiziger Aristokraten. In all diesen Ungewissheiten und seiner eigenen angefochtenen Macht tut Richard eines: Er nimmt sich die Krone. Was auch immer er außerdem tat – und die Nachwelt, das heißt die Historienschreiber der Tudorzeit von John Rous über Bernard André, Philippe de Commynes, Thomas More, Polydore Vergil, Edward Hall, Richard Crafton und Raphael Holinshed bis hin zu Shakespeare im zeitlosen Dichtergewand, macht Richard III. zum Scheusal, zur Deformation alles Menschlichen, Sinnbild des Bösen schlechthin – sicher ist, dass er vor seiner Usurpation seinen verstorbenen Bruder, den König, und folglich auch dessen Kinder mit zweigleisigen Argumenten bastardisierte, wonach er ohnedies der einzige legitime Thronerbe wäre.

Der gängigen Lesart nach bestieg Richard den Thron, nachdem er sich vorher seiner sämtlichen thronberechtigten York-Verwandten entledigt hatte, unter anderem seiner beiden zehn- und zwölfjährigen Neffen, die unter seiner Obhut standen und auf sein Geheiß in den Tower gebracht wurden; damals aber unter anderem eine fürstliche Residenz und noch nicht das Symbol für Kerkerhaft und Hinrichtungen, das er dann wurde. Zweihundert Jahre später hat man zwei Kinderleichen auf dem Towergelände gefunden, die man für die verschwundenen Prinzen hielt, was aber auch nie endgültig geklärt werden konnte. Die Sache bleibt strittig und vieldiskutiert, aber einige angelsächsische Historiker unserer Tage[1] halten es nach wie vor für wahrscheinlich, dass Richard die Kinder, darunter den minderjährigen König, für den er die Vormundschaft hatte, aus dem Weg räumen ließ. Niemand außer ihm hätte einen so offenkundigen Vorteil davon gehabt, und bei anderen Tatverdächtigen passten auch zum Teil die Daten und Aufenthaltsorte nicht. Dieser Kindermord, den man ihm attestiert, macht ihn zum Unmenschen, denn das ging deutlich über alles hinaus, was in der Epoche zum Erhalt oder zum Erringen der Macht üblich war, eingeschlossen das Über-Leichen-Gehen, aber doch nicht über die Leichen von Kindern. Ob die zeitgenössische Opposition gegen Richard allerdings auf seinen tatsächlichen oder vermeintlichen Untaten aufgebaut war, bleibt wohl dahingestellt. Es ist einiges unstimmig am Überlieferungsbild des grässlichen Richard, einem letzten furchtbaren Höhepunkt, so soll es der Nachwelt vorgeführt werden, in den sündigen Abwegen dieser schuldhaften Volksgemeinschaft, so dass die Lichtgestalt Henry Tudor, der «weiße Ritter», den schwarzen ablösen musste. Beispielsweise war Richard demnach ein großartiger Soldat und Heerführer, aber gleichzeitig körperlich schwer behindert, ein Krüppel – undenkbar angesichts der Gefechtsarten seiner Zeit. Auf dem zeitgenössischen Porträt, das von Richard erhalten ist, wirkt der Berüchtigte entgegen seinem Nachruf weder hässlich noch missgebildet, doch nach der Auffassung der Epoche wohnten in gesunden Körpern gesunde Geister und umgekehrt. Am Tod anderer prominenter und/oder thronberechtigter Familienmitglieder, seines Bruders George, Herzog von Clarence, seiner Frau Anne, Tochter des Grafen von Warwick, seines Bruders Edward IV. sowie zwölf Jahre zuvor des siebzehnjährigen Lancaster-Prinzen Edward war Richard jedenfalls, entgegen anderweitigen Darstellungen, mit hoher Sicherheit nicht beteiligt. Möglicherweise hatte er 1471 den letzten Lancaster-König Henry VI. vor der Thronbesteigung Edwards zu Tode gebracht – was seiner Sippe zur Krone verhalf, aber nicht ihm.

Nach dem Verschwinden der beiden Knaben, das Schlimmstes befürchten ließ, wandte sich Elizabeth Woodville, die Mutter der Kinder, die im Kirchenasyl Zuflucht gefunden hatte, in ihrer Not an den seit zwölf Jahren im französischen Exil lebenden Henry Tudor, in dessen Adern einige Tropfen Lancaster-Blut flossen. Henrys Mutter, die einflussreiche und umtriebige Lady Margaret Beaufort, hatte ihn 1471 aus dem Land schaffen lassen, als der letzte direkte Lancaster-Erbe Prinz Edward bei den Adelskämpfen den Soldatentod starb und der Boden in England zu heiß wurde für einen noch so entfernten Lancaster-Spross. Auch jetzt setzte Lady Beaufort ihre Netzwerke ein und verständigte sich auch mit der Königswitwe – am Ende mit folgendem Ansinnen: Die York-Partei würde Henry als Thronnachfolger Richards nach einem erfolgreichen Coup unterstützen, sofern er bereit wäre, die York-Erbin Elizabeth, Tocher Edwards IV. und Schwester der beiden verschwundenen Knaben, zu heiraten. Lady Beaufort und ihre Leute, die bereits Streitkräfte eruierten sowie beträchtliche Geldmittel bereitstellen konnten, machten das alles innerhalb weniger Tage konkret, doch Henrys erster Versuch, im Oktober 1483 nach Englands Krone zu greifen, misslang: schlechtes Wetter, eine zu gut bewachte englische Küste und daraufhin möglicherweise die Entscheidung zum Rückzug, ein nicht rechtzeitig eingetroffener Nachschub an Schiffen… – jedenfalls landeten Henrys Truppen wieder unverrichteter Dinge an der Küste der Normandie. Aber er gab nicht auf und stärkte in den kommenden Monaten noch seine Anhängerschaft. Der Herzog der Bretagne, sein langjähriger Gastgeber, unterstützte das Unternehmen mit Truppen und Geld, doch er wurde von Richard III. unter Androhung einer englischen Invasion zur Auslieferung Henrys aufgefordert, so dass Tudor nach Frankreich, ins Königreich flüchtete. Von da aus, großzügig unterstützt vom französischen König, wagte es Henry Tudor im Sommer 1485 noch einmal.

Sein Thronanspruch war etwas dürftig fundiert. Mütterlicherseits ging er zurück auf die unehelichen Kinder John of Gaunts, Herzog von Lancaster, die eigentlich von der Thronfolge ausgeschlossen waren. Aber vonseiten des Vaters besaß Henry Tudor eine weitere, durchaus schillernde Vorgeschichte und Thronnähe, denn der walisische Soldat Owen Tudor, sein Großvater (walisisch: «Owain ap Maredudd ap Tudur» und «Tudur» = «Theodor»), der an den Hof des zweiten Lancaster-Königs Henry V. gekommen war, hatte nach dem frühen Tod Henrys die Königswitwe geheiratet. Das war Catherine de Valois; Henry hatte sie sich auf dem Schlachtfeld erworben, auf dem ruhmreichen Felde von Azincourt. Da die Staatsräte des minderjährigen Königs nichts von der Heirat und der Existenz von mindestens vier gemeinsamen Kindern gewusst hatten, und zwar bis kurz vor Catherines Tod 1437, bekam Owen Tudor noch gewisse Probleme, aber dass er später unter dem Henkersbeil starb, hatte damit nichts mehr zu tun und hing mit den Machtwechseln während der Rosenkriege zusammen. Interessant am Rande mag sein, dass Catherine de Valois mütterlicherseits eine Wittelsbach war – in den Tudors, die dann den Thron Englands bestiegen, floss also auch bayerisches Blut. Owen Tudor, Soldat aus Wales, machte sich einst am Hofe des jungen Königs verdient, stieg durch Felddienste auf und umwarb schließlich erfolgreich die junge Witwe des Königs. Wie es hieß, verfügte er über gewisse optische und intellektuelle Qualitäten und Anmutigkeiten («Er war geschmückt mit wundervollen Gaben des Körpers wie auch des Geistes»), und offenbar verfügte er über einen ebenso dezidierten Willen zum Aufstieg. Der alte englische Adel würde die Tudors immer als Parvenüs ansehen. Man habe es als anmaßend von Owen Tudor empfunden, befand ein Historiker drei Generationen danach, «sein Blut mit der edlen Linie der Könige zu vermischen». Sein Enkel fand das aber keineswegs anmaßend, und sein Urenkel wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen. Jede Linie, die mit Gottes Hilfe und Segen nach oben gelangt, hat ihre Zeit.

Henry Tudor, Graf Richmond, landete am 7. August 1485 in Milford Haven in Wales, nur wenige Meilen von seinem Geburtsort Pembroke entfernt. Er führte eine kleine Truppe Verbündeter mit sich und eine deutlich größere Zahl teils hervorragend ausgebildeter französischer Söldner, doch das Hauptkontingent seiner Streitmacht fand er vor Ort über die Familienverbindungen seiner Mutter und unter den Vasallen des verblichenen Herzogs von Buckingham. Dieser hatte bereits seinen ersten Invasionsversuch unterstützt, worauf er von Richard exekutiert worden war. In Shrewsbury vereinigte Henry seine Truppen (Walliser, Franzosen und einige Engländer), und nach einem Marsch durch die Midlands traf er nahe Market Bosworth in Leicestershire auf Richards zahlenmäßig überlegenes Heer. Der englische Hochadel hatte seine Erfahrungen während der Rosenkriege gemacht, was es bedeuten konnte, sich auf eine der beiden einander bekämpfenden Seiten zu schlagen, und so weigerte er sich fast geschlossen, sich zu beteiligen. Aber zwei Heerführer aus Richards Reihen wechselten während der Kämpfe die Fronten – der eine war Lord Thomas Stanley, der dritte Ehemann von Lady Beaufort, also Henrys Stiefvater, der andere Henry Percy, Graf von Northumberland –, und das gab dem Ganzen die entscheidende Wende. Richard und seine Truppen wurden von hinten angegriffen, und zwar von seinen eigenen, abtrünnig gewordenen Leuten. Sein Ausruf: «Verrat! Verrat!» vor seinem Ende entspricht also ohne Zweifel in der Bedeutung den Tatsachen. Shakespeare führt die Entscheidungsschlacht in seinem Drama «Richard III.» zu der berühmten Szene, als Richard die vorgesehenen Reihen durchbricht und kopflos auf Tudor, seinen Rivalen, zureitet, mit dem er nur noch einen Kampf, Mann gegen Mann, führen will. Da man ihm dabei sein Pferd unterm Hintern wegschießt, irrt er schließlich per pedes durchs Dickicht und ruft verzweifelt: «Ein Pferd! Ein Pferd! Mein ganzes Königreich für ein Pferd!», bis er, von hinten niedergemacht, fällt. Man könnte seinen (historisch verbrieften) tollkühnen Kampfritt angesichts der Lage der Dinge auch als besonders mutig und ehrenhaft auffassen. Leichtsinnig war er bestimmt. Er kostete den Usurpator das Leben und machte den Thron frei für einen anderen Usurpator, der aber im großen Stil aufgefordert und unterstützt worden war bei seiner Usurpation. Denn eines ist klar: Ohne Richard und seine Kaltstellung der Linie York (er war selbst ein York, aber die Reihe war noch nicht an ihm) hätte Henry Tudor mit seinen drei Tropfen Lancaster-Blut und der halb-legalen Ehe seines Großvaters mit der Witwe des Königs diese einmalige Chance auf Englands Thron niemals bekommen. Er ergriff sie, er handelte – und hier war er: Henry Tudor, Graf Richmond, England kaum kennend, weil er seine Kindheit in Wales und die letzten zwölf Jahre in Frankreich verbracht hatte, mit achtundzwanzig Jahren ein junger Mann, aber durch seine Erfahrungen in konditioniertem Misstrauen mit der Welt lebend, immer ein wenig älter wirkend, als er in Wirklichkeit war, ein berechnender, kühler Typ; Charme und Warmherzigkeit oder auch fürstliche Großmut gingen von diesem neuen König nicht aus. Er war möglicherweise mittelblond, jedenfalls nach einigen Aussagen seiner Zeitgenossen sowie in der Dichtung, wo er in Kontrast gesetzt wurde zum schwarzhaarigen Richard. Auf dem Porträt von Michiel Sittow, das in späteren Jahren entstand, ist seine Haarfarbe dunkler, ungefähr haselnussbraun (offenbar eine Modefarbe der Maler), aber die übrigen Charakteristika seiner Physiognomie stimmen mit allem überein, was man über ihn weiß. Das Bild ist ein Meisterwerk, so wie es die Individualität der Person übermittelt. Man sieht ein hageres Gesicht mit dünnen Lippen, die fest verschlossen sind, hellen Augenbrauen und einem misstrauischen Blick – eigentlich nur aus einem Augenwinkel heraus. Der verschlossene Mund deutet ein Lächeln an, aber es ist ein lauerndes Lächeln, so wie die grauen Augen des Porträtierten seinen möglichen Gegner fest im Visier haben. Die Physiognomie ist markant, wenn nicht beeindruckend. Für jemanden, der sich den Thron auf dem Schlachtfeld erkämpft hat, wirkt der Ausdruck jedoch deutlich zu reserviert. Henry war die verkörperte kalkulierende Vorsicht, und er regierte mit dem Bewusstsein – in späteren Jahren, kann man wohl sagen, der Angst –, dass er sich doppelt und dreifach absichern musste, um seinen Platz zu behalten. Schon seine ersten Amtshandlungen legen beredtes Zeugnis ab für diese Einstellung. Er zog nach London, berief das Parlament ein und datierte den Beginn seiner Herrschaft einen Tag vor der Schlacht von Bosworth zurück, so dass er mit einem darauf aufgebauten Gesetz, dem Act of Attainder, die Anhänger Richards zu Hochverrätern erklären und somit ausschalten konnte. Gleichzeitig konfiszierte er ihre Güter und ihren Besitz.

Das Versprechen, Elizabeth von York zu heiraten, löste er erst drei Monate nach seiner feierlichen Krönung am 30. Oktober sowie der Bestätigung seiner Herrschaft durchs Parlament ein. Um es deutlich zu sagen: Elizabeth York war die eigentlich rechtmäßige nächste Thronerbin. Aber es scheint für niemanden eine Option gewesen zu sein, dass die Tochter Edwards IV. als Regentin ihr Erbe antreten könnte. So heiratete sie Henry Tudor, der als Henry VII. (unabhängig vom Thronanspruch seiner Frau) gekrönt worden war, und erfüllte alsdann ihre Pflicht, die Dynastie abzusichern durch die Produktion tragfähiger und möglichst zahlreicher Nachkommenschaft. Der politische Akzent, auf den Henry mit seiner neugegründeten Dynastie nachhaltig und immer wieder verwies, war die Tatsache, dass durch diese Eheschließung die weiße Rose von York und die rote Rose von Lancaster – in der «Tudor Rose» symbolträchtig integriert – friedlich vereinigt waren. Der kriegerische Konflikt Lancaster/York war bereits seit vierzehn Jahren beigelegt, aber: Die Tudors haben die Rosenkriege beendet und sind Garanten des Friedens – das sollte die Botschaft sein.

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HEINRICH VII.
Michiel Sittow, 1505

Die ersten Jahre seiner Regierung und auch noch weit darüber hinaus war Henry VII. allerdings reichlich damit beschäftigt, Rebellionen niederzuschlagen und Thronrivalen zu stoppen, die einerseits aus der thronberechtigten York-Linie stammten, deren Ansprüche kaum geringer waren als seine, andererseits im Zusammenhang diverser Komplotte den einen oder anderen Hochstapler hervorbrachten, der sich für einen der York-Erben ausgab und mit diesem Ansinnen mehr oder weniger erfolgreich an den ausländischen Höfen hausieren ging.

Den Earl of Warwick, Edward Plantagenet, hielt Henry schon prophylaktisch in strengem Gewahrsam, doch auch im Gefängnis ging eine unablässige Gefahr von ihm aus, und es dauerte viele Jahre, bis er zu Fall gebracht war, wahrscheinlich am Ende mit Hilfe von Agents Provocateurs. John de la Pole, Earl of Lincoln, der älteste Sohn einer Schwester Edwards IV. und des Herzogs von Suffolk, schloss sich 1487 einem Rebellen namens Lambert Simnel an, welcher wiederum behauptete, der Earl of Warwick zu sein (der im Tower saß). Der König ließ den echten Warwick ostentativ durch Londons Straßen marschieren, aber Lincoln und seine Marionette Simnel machten gemeinsame Sache mit Rebellen in Irland. Die Iren unterstützten prinzipiell Tudors Feinde, weil sie sich von den Yorks eine unabhängige Regierung versprachen. Simnel wurde in Dublin feierlich als Edward VI. gekrönt, dann führte Lincoln seine Streitmacht des Hauses York nach England, um sich in Stoke den Truppen des Königs zu stellen. Lincoln starb bei der Schlacht, die die königlichen Truppen für sich entschieden, und Lambert Simnel wurde von Henry begnadigt, mit der für einige Belustigung sorgenden Auflage, fortan in der königlichen Küche zu arbeiten – dieser eigentlich so verkniffene König hatte also doch reichlich Humor! Doch das Ganze war sehr prekär, Zeichen eines wankenden Thrones, und es hörte bis wenige Jahre vor Henrys Tod auch nicht auf. Solange das Schicksal der verschwundenen Prinzen unbekannt war, nahmen zudem die Spekulationen kein Ende, dass diese noch lebten und ihr unbestreitbares Thronrecht beanspruchten.

Ein weiterer Hochstapler hielt fast die gesamten neunziger Jahre hindurch den Geheimdienst und halb Europa in Atem. Der aus Flandern stammende «Perkin» Warbeck, der mit einem Textilkaufmann umherzog und seine Tuchwaren vorführte, wurde dank seines guten Aussehens auf die Rolle des Prinzen Richard, des jüngeren der beiden Tower-Prinzen, getrimmt, und er erhielt nicht nur die Unterstützung der Iren, sondern zeitweise des französischen Königs, des Kaisers des Heiligen Römischen Reichs Maximilian, James’ IV. von Schottland, vor allem aber der Herzogin von Burgund, einer Schwester Edwards IV., die ihn sogar als ihren Neffen erkannt haben will. Nach dem vergeblichen Versuch, im Juli 1495 mit seinen Truppen in Deal in Kent anzulanden, flüchtete Warbeck an den Hof des schottischen Königs, der ihn nicht nur mit allen Ehren empfing, sondern ihm schließlich noch die Eheschließung mit einer schottischen Aristokratin ermöglichte. Im Namen Warbecks startete James eine Invasion Englands. Auch seine Truppen wurden geschlagen und «Perkin» nach einer abenteuerlichen Dekade gefangengenommen. Der letzte Prätendent, Edmund de la Pole, Earl of Suffolk, stammte dagegen buchstäblich aus Henrys eigenen Reihen. Den Thron zu behalten, erwies sich alles in allem als deutlich schwieriger, als ihn zu erobern.

Der vorsichtig, klug und besonnen, vor allem aber nachhaltig kalkulierende König, über den sich auch der Ausdruck «Kingship of distance» eingeprägt hat, einschließlich einer unverkennbaren Vornehmheit in seinem Ausdruck auf allen überlieferten Bildern, verfolgte von Anfang an folgenden großen Gedanken zu seiner und seiner Linie Unsterblichkeit – und man kann ohne weiteres sagen, dass sein Vorgänger Richard III. ihm da schon einiges vorgelebt hatte: Das Königtum war am Boden. Die dynastischen Kämpfe, Rivalitäten und schnellen Machtwechsel der Vergangenheit hatten es nahezu ad absurdum geführt. In weniger als hundert Jahren waren drei Könige abgesetzt worden: Richard II. (denn der war führungsschwach), Henry VI. (denn der war geisteskrank) und zuletzt Richard III. (skrupellos in besonderem Maße, ein Usurpator). Die Idee des Gottesgnadentums der Monarchen, der Kontinuität, der natürlichen Erbfolge und der möglichen heilsgeschichtlichen Sendung musste mit dieser neuen Dynastie ein Revival erleben und wieder zu ihren Wurzeln zurückfinden. Henry VII. war fest davon überzeugt, die Erfüllung des Traumes des letzten Keltenkönigs Cadwallader vor beinahe achthundert Jahren zu sein. In diesem Traum hatte ein Engel dem König geweissagt, die Engländer würden einst ihre Macht verlieren, doch die Linie der frühen keltischen Briten, die in den Wallisern bewahrt sei, würde durch sie wieder zur Krone gelangen. Henry glaubte sogar, seine Linie führe auf direktem Wege zu König Arthur zurück. Seinen erstgeborenen Sohn, den Elizabeth, etwas zu früh, acht Monate nach der Eheschließung zur Welt brachte, und zwar in Winchester, der alten Hauptstadt aus angelsächsischer Zeit, nannte er – wie auch sonst?! – Arthur. Das sollte ein Zeichen sein. Aber die Unruhen im eigenen Hause nahmen kein Ende. Henry verdächtigte mit der Zeit sogar seine Schwiegermutter Elizabeth Woodville, mit deren Hilfe er schließlich seine erfolgreiche Invasion hatte starten können, an der York-Rebellion um Simnel beteiligt gewesen zu sein, und er schickte sie bis zu ihrem Tod in ein Kloster. Auch Stanley, der seinen Sieg in Bosworth möglich gemacht hatte, zog er umgehend aus dem Verkehr, als er Anlass hatte, einen Verrat zu vermuten. Seine eigene Mutter Margaret Beaufort, die ihm durch die Exilierung sein Leben gerettet und ihm am Ende die Krone gebracht hatte, spielte eine einflussreiche Rolle bei ihm am Hof – zum Leidwesen Elizabeths, seiner Frau. Henry hatte Elizabeth zwar im Jahr nach der Hochzeit zur Königin krönen lassen (vermutlich auch, um eventuell abtrünnigen Yorks den Wind aus den Segeln zu nehmen), doch ihre Rolle beschränkte sich weitgehend auf interfamiliäre Diplomatie. Sie war eine York, aber ihre Loyalität gehörte unter Umständen auch auf Kosten der Preisgabe ihrer Familie dem König. Die Eheverbindung mit Henry war für sie eine selbstverständliche Pflicht, denn sie wusste, sie war dafür geboren, dem Hause, also letztlich dem Land durch Heirat eine politische Union einzubringen. Sie hatte ein wenig Latein und Französisch gelernt, das Leben der Heiligen studiert, und sie spielte Laute und Chlavichord. Ihre Mutter hatte ihr die Geschichten Chaucers vorgelesen und die Chroniken von Froissart. Ihr angenehmes Wesen wurde von allen Zeitgenossen gerühmt. Sie war rothaarig und weißhäutig und, wie es heißt, eine wirkliche Schönheit. Henry hatte keine außerehelichen Geliebten, soweit man weiß, und diese Frau war vermutlich ein Segen, um den misstrauischen und zurückgenommenen, an Gefühlen und Ressourcen geizenden Mann durch ein Gegengewicht zu ergänzen.

Henry war tatsächlich ein Friedenskönig, sofern es in seiner Macht stand. Er verspürte überhaupt keine Lust, Englands Ressourcen zu vergeuden, indem er das Land in kostenträchtige Kriege stürzte – zum Beispiel, um die verlorengegangenen Gebiete in Frankreich zurückzuerobern, von denen nur noch Calais übrig war. Er hatte Unruhen genug vor der eigenen Haustür, die seine Handlungsspielräume vorgaben für seine auswärtige Politik. Außerdem hatte ihm Frankreich in der Zeit seines Exils gastfreundlich die Tore geöffnet, und diese durchaus berechnende Freundlichkeit durch die Gunst glücklicher Umstände wollte er nicht verraten. Seine Außenpolitik war auf Ausgleich bedacht, eine Mächtebalance im Sinne seiner eigenen Position, die erst noch dabei war, sich zu konsolidieren. König Henry war aber vor allem ein wahres Finanzgenie, wenn auch zum Teil mit fragwürdigen Mitteln. Der Monarch brauchte Geld – viel eigenes Geld, um eine stabile Zentralmacht zu haben, unabhängig vom Parlament, vor allem aber, um gegen Aufstände aller Art gewappnet zu sein, jeden Angriff aus eigener Kraft, wenn es sein musste, niederschlagen zu können.

Es spricht viel dafür, dass dies Henrys ursprüngliche Motivation für seine Geldanhäufungen war, die sich aber in seinen letzten Lebensjahren, als seine Raffgier ganz skrupellos wurde, verselbständigten. Seither wurde viel spekuliert, welche Geldsummen er in seinen geheimen Schatzkammern wohl angehäuft hatte. Eine zuletzt genannte Schätzung besagt: eine Million 250.000 Pfund, nach heutiger Währung etwa 375 Millionen.[2] Infolge der Rosenkriege war der Adel Englands erheblich ausgedünnt; viele hatten zum Beispiel ihre Titel verloren. Da Henry von diesem Umstand enorm profitierte, machte er keinerlei Anstalten, den Adel neu aufzubauen und wieder in die Nähe seiner früheren Dimensionen zu bringen. Er setzte nur wenige wieder in ihre verlorenen Rechte ein und schuf keine neuen Titel. Er traute dem Adel nicht und schon gar nicht dem Hochadel, sah sie alle als potentielle Rivalen an und kaum als Stütze seiner monarchischen Macht, wie es ursprünglich einmal die Idee war. Henry hatte seine Schlussfolgerungen aus dem hundertjährigen Chaos gezogen. Ein starkes Königtum, dachte sich Tudor, musste auf anderen Garantien aufgebaut sein als auf dem Blutrecht der Erbfolge, denn das war bei ihm ohnehin schlecht untermauert. Gott hatte gesprochen, indem er ihn in Bosworth Field siegen ließ. Aber das reichte nicht; es verbriefte noch keinen Erfolg. Das Zauberwort lautete: Effizienz, jedenfalls unter anderem.

Während er seiner Dynastie einen mythischen Überbau gab, den seine Nachfolger ausbauten bis zur Apotheose, trieb der König eine verblüffend ertragreiche Realpolitik. Er wollte den Adel klein halten und am liebsten komplett kontrollieren, damit dieser sich nicht gegen ihn auflehnen konnte. Da diese Haltung und die daraus hervorgehenden Maßnahmen seine Staatskasse füllten, und zwar auf wundersame Weise, wie sich herausstellen sollte, war sie ein volles Erfolgsrezept. Unter der Anwendung seiner königlichen Prärogative (Feudalabgaben etc.) legte der König den Adeligen und Großgrundbesitzern – anderen auch, aber da lohnte es sich nicht so sehr – einen Strafkatalog und damit verbundene Sanktionen in Form von Bußgeldern und Schuldverschreibungen auf, der äußerst erfindungsreich war. Offenbar ging es da auch um Vergehen, die, wenn nicht frei erfunden, doch die Tendenz hatten, unvermeidbar zu sein, wenn der strafende Monarch seinen Delinquenten nicht geradezu in die «Vergehen» hineintrieb. Vieles diente der Ausrottung von Korruption. Henry versuchte sein fiskalisches System effizient zu organisieren. Aber die Reichen wurden dabei reichlich schamlos geschröpft. Da der König der Meinung war, Reichtum mache seine Untertanen nur hochmütig, passte das gut. Vielleicht wurde mit Henry Tudor der berühmte englische Pragmatismus fundiert. Er begnadigte sogar seine Hochverräter, sofern sie von sich aus bereit waren, ihm ihr Vermögen zu übertragen. Er erhob Steuern für Kriege, die dann nicht zustande kamen, und die Friedensschlüsse, die er aushandelte, bereicherten ihn nicht nur durch die Zahlungsverpflichtungen seiner vorherigen Feinde, sondern er behielt auch die Kriegssteuern ein. Er verlieh Geld – über die Zinssätze wird man nur einschlägig spekulieren –, und er vermietete seine Schiffe an Kaufleute. In gewissem Sinne betrieb er sein Königtum wie die erfolgreiche Leitung eines Großunternehmens.

Henry hatte auch seine Zuarbeiter und karrierebewussten Berater um sich herum, die ihm dabei halfen, immer mehr Geld aus diversen Kanälen in die königliche Staatskasse zu leiten – darunter die berüchtigten Beamten Richard Empson und Edmund Dudley. Der Name Dudley wird bei den Tudors noch häufiger eine Rolle spielen und ihren rasanten Aufstieg mit Parallelbiographien, phönixhaften Aufstiegen, gefolgt von drastischen Abstürzen und einem Neuanfang unter dem neuen Herrscher, generationenübergreifend begleiten.

Die Krongüter wuchsen, die königlichen Ländereien – mehr und mehr Land wurde als direkte Lehen des Königs von findigen Gutachtern eingestuft –, die Zolleinnahmen und die Feudalabgaben. Auch die Steuern, die Henry erhob, überstiegen jedes vergleichbare Maß. Hinzu kamen die beträchtlichen Gewinne aus Bußgeldern. Der nachfolgende Herzog von Buckingham musste dem König 2000 Pfund zahlen (nach heutiger Währung etwa das Dreihundertfache), weil seine verwitwete Mutter versäumt hatte, vor ihrer Wiederverheiratung um die Erlaubnis des Königs zu bitten. Andere zahlten enorme Summen nach Verstößen gegen das Gesetz des «Retaining» (Indienstnahme von Beratern, Vollstreckern und Unterhändlern; bei Landadeligen, die ständig am Hof waren, mehr oder weniger eine Notwendigkeit). Außerdem behielt der König die Einkünfte minderjähriger Erben, für die er eine lukrative Vormundschaft übernahm, sowie unverheirateter und verwitweter Erbinnen, die er wohl auch nicht gerne schnell wieder unter der Haube sah. Den Klerus nahm Henry ebenfalls aus. Er versetzte gelegentlich Bischöfe von einer Diözese in eine andere, weil beim Amtsantritt eines Bischofs eine hohe Abgabe an die Krone gezahlt werden musste und vakante Bischofssitze jedesmal an die Krone zurückfielen.

Aber so gut er den königlichen Haushalt in die Gewinnzone brachte, so eifrig war Henry auch darum bemüht, die Wirtschaft in seinem Land insgesamt auf Erfolgskurs zu bringen. Er förderte die später enorm florierende Tuchindustrie und ermöglichte Absatzmärkte für den Wollhandel in den Niederlanden und in Italien. Auch versuchte er, die Monopole der Hanse zu brechen, zum Beispiel in den baltischen Ländern, aber das gelang erst unter Elizabeth, seiner Enkelin, die die Politik ihres Großvaters in mindestens dreierlei Hinsicht fortgesetzt hat. Auch hatte sie eine ähnliche, vorsichtig taktierende Mentalität. Auf ihre Weise übertraf sie ihn aber noch an Verstiegenheit, die angesichts knapper Ressourcen und gewaltiger Anfechtungen vor allem auch außenpolitisch in ihrer Zeit überaus notwendig wurde. Die Letzte der Tudors wurde zur ganz großen Staatsfrau, die auch von Gegnerseite (und deren gab’s viele) Anerkennung erhielt. Aber der Dynastiegründer setzte die Maßstäbe, wenn er auch im historischen Rückblick ein wenig verblasst, vor allem neben seinem imposanten, gleichnamigen Sohn, der sich sehr viel stärker der Nachwelt eingeprägt hat.

Der große Gewinner der Tudor-Epoche wurde der Mittelstand, die Gentry, also der niedere Adel und das gehobene Bürgertum, die ihre Chance ergriffen und später zu Wohlstand gelangten, auch mehr und mehr politische Ämter besetzten. Auch das ist ein Zug, den schon Richard III. in Ermangelung ausreichender Unterstützung in seinem eigenen Haus und in den Reihen des Adels vorgeprägt hat. Henry VII. stellte den Adel weitgehend kalt. Der war moralisch und kräftemäßig am Boden und leistete wohl schon aufgrund seiner empfindlich gelichteten Reihen trotz all der Schröpfungen durch seinen König, mit Ausnahme der plottenden Thronprätendenten, keinen sichtbaren Widerstand. Auf die eine oder andere Art lief es bei allen Tudors darauf hinaus, die einstige Macht des alten Adels zu brechen und die mit ihnen aufstrebende Mittelschicht, die sie eigentlich trug, auf ihre Seite zu bringen. Unter Henry dem Jüngeren gelangten zumindest Einzelne von ganz unten nach oben, in seinen Dunstkreis, fielen aber dann seinem Despotismus zum Opfer. Da er da allerdings niemanden ausnahm, schon gar nicht die Aristokraten, herrschte in dieser Hinsicht bei ihm nahezu eine Gleichheit des Rechts. Die Tudors trafen eine gewisse Tabula rasa-Situation an, als sie nach all den Kriegen und Rebellionen die Umwandlung des mittelalterlichen Feudalstaates mit dem Zusammenspiel von Krone und Parlament, das ein angelsächsisches Erbe war und unter den Normannen und den mittelalterlichen Plantagenet-Königen ausgebaut wurde, dem Machtstreben des Adels schließlich, das einen wenig segensreichen Höhepunkt fand, vorantrieben in Richtung auf einen halb-absolutistischen Flächenstaat mit neuen Rollenverteilungen, in dem sich alles auf den Souverän konzentrierte. Diese Veränderungen, die in der Luft lagen, griffen sie auf, und sie haben damit das Land in die Moderne geführt.

Der englische Renaissancehumanismus fällt mit der Tudor-Herrschaft zusammen. Das mag eine Koinzidenz sein, aber es spielt produktiv ineinander und führte zu einer Blütezeit der Kultur. Heinrich VII. hat die erstarkte Monarchie aus der Taufe gehoben, unter Heinrich VIII. löste sich England von Rom, und unter Elizabeth wurde das Land wirkungsvoll gegen seine Feinde verteidigt, und es breitete sich ein Nationalgefühl aus, das nach der wechselvollen Geschichte der Insel vollkommen neuartig war und die insularische Identität initiierte. Noch heute steht die «Tudor Rose» in den Symbolen der Commonwealth-Länder des Königreichs Großbritannien für England. Die Tudors haben Epoche gemacht, gelten als Krisenmanager in einer Zeit, als die Monarchie nach einem neuen Selbstverständnis verlangte. Sie überlebten – was für die Zeit an sich schon bemerkenswert ist –, aber sie sicherten sich ihre Unsterblichkeit auf dem englischen Thron nicht zuletzt, weil ihre Selbstdarstellung, die PR-Maschinerie, die sie in Gang setzten, bis zum heutigen Tag funktioniert. Die späteren Tudors identifizierten sich mit dem englischen Volk. Auch das war neuartig. Sie kamen, wenn man so will, selbst aus der Mitte des britischen Volkes – in einem Land schließlich, das (A. F. Pollard, 1905) mit der Schlacht von Hastings scheinbar das Recht auf einheimische Könige eingebüßt hatte. Obwohl sie ein konservatives Welt-, Gesellschafts- und Geschichtsbild vermittelten, das später sogar, ungeachtet der kopernikanische Wende, gewissermaßen dem ptolemäischen Weltbild verhaftet blieb, war ihre Dynastie Garant für den Aufstieg und damit für ausgefallene Korrekturmöglichkeiten der «Kette des Seins». Ein Paradoxon, aber erstaunlich auch das.

Die Dynastie abzusichern und die Nachfolgefrage zu regeln – ein neuralgischer Punkt bei allen Tudors –, war nun auch Henrys nächste und dringlichste Sorge. Elizabeth of York brachte sieben Kinder zur Welt, von denen vier überlebten: Arthur, Prince of Wales, Margaret, Henry und Mary, und der König begann früh damit, gewinnbringende Heiraten seiner Kinder in die Wege zu leiten. Arthur, der Thronfolger, war für die spanische Königstochter Katharina von Aragón vorgesehen, Margaret wurde zu günstiger Stunde die Gattin des Königs von Schottland, um der traditionellen englisch-schottischen Feindschaft sowie weiteren Perkin Warbeck-Aktionen den Stachel zu nehmen, Henry wollte der König aus ähnlichen Gründen nach Frankreich verheiraten, und Mary, die Jüngste, wurde bereits als Kleinkind mit dem Enkel des österreichischen Kaisers verlobt. Henry visierte also die Verbindung mit den drei führenden Mächten Europas an: Spanien, Österreich-Habsburg und Frankreich. Durch ihre Heirat hatten Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón, die «katholischen Könige», die beiden größten Königreiche der iberischen Halbinsel vereinigt. Spanien war aufgestiegen zur Großmacht. Zwischen den katholischen Königen und der neu gegründeten Dynastie Henry Tudors gab es durchaus Parallelen: Auch sie hatten sich nach einer tumultösen Epoche der Bürgerkriege und Machtwirren eine neue Zentralmacht gesichert, auch sie spürten in sich eine nationale Mission; neue Bündnispartner sollten dieses große nationale Unternehmen befestigen. Doch bevor dieses Königspaar seine Tochter Katharina an den ewig knausernden und zaudernden englischen König verkaufte, wollte es sichergehen, dass dieser auch fest im Sattel saß. Die ständigen Rebellionen und Ansprüche von Thronrivalen, mit denen der König zu kämpfen hatte, fanden sie besorgniserregend. Man verhandelte also noch einige Jahre hin und her. Das gab Henry auch Zeit, eine möglichst hohe Mitgift der spanischen Braut auszuhandeln – für den künftigen Schwiegervater wohl kaum eine Nebensache. Arthur wurde also auf die Thronfolge vorbereitet. Er war Henrys wertvollstes Pfand, das die Zukunft seiner jungen Dynastie garantierte. Henry hatte den roten Drachen von Wales auf seiner Standarte getragen, als er gen Bosworth zog, um auf dem Schlachtfeld die englische Krone zu erobern. Dann machte er sich daran, Cadwalladers Traum zu erfüllen, vielleicht sogar die Prophezeihungen Merlins, er und seine Nachfolger-Könige. Doch die Art und Weise, wie sie das taten, dürfte den Staatstheoretikern ihrer Tage mehr zum Vorbild gereichen als den Legendenerzählern.

DER ZWEITE SOHN

Henrys Jugend und die Spuren des Vaters

(1491–1509)

Henry Tudors Sohn Henry, geboren am 28. Juni 1491 in Greenwich, dem ursprünglich «Palace of Placentia» (= «Pleasure», «Vergnügen») genannten Palast an der Themse, war das dritte Kind seiner Eltern und der zweitgeborene Sohn. Mit drei Jahren wurde er Herzog von York, mit vier Jahren erhielt er den Hosenbandorden. Aber er war nur der zweite in der englischen Thronfolge, und sein Vater dachte wohl kaum daran, dass es Henrys Schicksal sein könnte, an Arthurs Stelle zu treten; wenigstens stellte er sich nicht darauf ein. Einer der Biographen Henrys des Jüngeren aus dem 17. Jahrhundert, Lord Herbert of Cherbury, der Zugang hatte zu heute verlorenen Quellen, behauptet, der König habe seinen Sohn Henry zu einer geistlichen Laufbahn bestimmt – eine Behauptung, die von seinen Nachfolger-Biographen ziemlich einvernehmlich bestritten wurde und bis heute wird, und zwar schon mit dem Argument, eine geistliche Laufbahn sei ganz ungewöhnlich für einen Königssohn, und noch dazu für den zweiten, der dem Thron also keineswegs fernstand. «Seit der Eroberung durch die Normannen war kein englischer Prinz je zum Priester geweiht worden.» (Richard Rex 2002) Für einen sparsamen König mit manchmal recht abwegigen Ideen aber doch eine sparsame Lösung, die, auch politisch gesehen, so abwegig gar nicht erscheint. Henry, der spätere Heinrich VIII., besaß eine beachtliche theologische Bildung sowie ein lebenslanges Interesse an theologischen Fragen – ein akademisches Interesse, aber durchsetzt von tiefen und ernsthaften Prüfungen seines Gewissens. Das war dann schließlich so eine Sache mit Henrys Gewissen, das sich als erstaunlich elastisch erwies. Die Affinität zur Theologie aber war da, in gewissem Sinn das Bewusstsein, da etwas einlösen zu müssen, Maßstäbe zu setzen, und zwar über den Horizont eines weltlichen Herrschers hinaus. Es ist nicht auszuschließen, dass Lord Herbert mit Henrys vorgesehener theologischer Laufbahn, die sich ihm einprägte in seinem Selbstverständnis, Recht haben könnte.