So dachte sich das spätere 19. Jahrhundert Napoleons letzten Kampf: “Die Schlacht von Waterloo”. Gemälde, 1874, von Felix Philippoteaux (1815–84).

Klaus-Jürgen Bremm

DIE SCHLACHT

Waterloo 1815

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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INHALT

Waterloo – der vereinnahmte Sieg

VORGESCHICHTE

  1. Waterloo – Die letzte Schlacht des Ancien Régime

  2. Belgien – Grenz- und Kriegsregion im Zentrum Europas

  3. Von Elba nach Paris

  4. Die Soldaten, ihre Bewaffnung, Organisation und Taktik

  5. Drei Wege nach Waterloo. Die Feldherren Napoleon, Blücher und Wellington im Zeitalter der Revolutionskriege

DIE SCHLACHT

  6. Der Feldzug von 1815 und seine ersten Schlachten – Quatre Bras und Ligny

  7. Napoleons verpasste Chance – Wellington entkommt in letzter Minute

  8. Letzte Bastion vor Brüssel – Wellington positioniert sich auf den Höhen südlich von Mont St. Jean

  9. Mit dem Kopf durch die Wand – Napoleon will den Durchbruch

10. Neys große Kavallerieattacken

11. Die Preußen sind wieder da – Wo bleibt Grouchy?

12. Der Kaiser setzt alles auf eine Karte – Die Garde zieht in ihre letzte Schlacht

13. Zusammenbruch

14. Zurück über die Grenze

15. Nach der Schlacht – Die Toten, die Verwundeten und die Geplünderten

ANALYSE

16. Das Patt der Fehler und Versäumnisse

17. Biografische Epiloge

18. Vier Dekaden ohne Großmachtkonflikte – Die neue europäische Ordnung 1815–1854

19. Waterloo in der Geschichte – Der Weg zu einem europäischen Erinnerungsort

20. Die Irrfahrt des Fabricio del Dongo über das Schlachtfeld von Waterloo

Karten und Schemata

Anmerkungen

Literatur

Register

Waterloo – der vereinnahmte Sieg

„Um Mitternacht in Waterloo, von der Verfolgung zurückkommend, die ich mit der preußischen Armee bis vor Genappe fortgesetzt hatte, sagte ich dem Herzog (von Wellington, KJB), der Feldmarschall (von Blücher, KJB) werde die Schlacht „Belle Alliance“ benennen. Er gab mir keine Antwort darauf und ich bemerkte sogleich, dass er nicht die Absicht hatte, ihr diesen Namen zu geben. Ob er nun fürchtete, sich selbst oder seiner Armee etwas dadurch zu vergeben, ich weiß es nicht…“

Friedrich Karl Freiherr v. Müffling genannt Weiß, Aus meinem Leben1

Den Namen des Ortes kenne er zwar nicht, schrieb Fähnrich Charles Short von den Coldstream Guards am 19. Juni 1815 aus dem belgischen Nivelles an seine Mutter in England, „aber Du wirst ihn sicherlich aus der Zeitung erfahren und Europa wird sich an ihn erinnern, solange Europa Europa ist.“2

Wenn auch geografisch alles andere als korrekt, trägt inzwischen das Schlachtfeld, auf dem der Herzog von Wellington und der preußische Feldmarschall Fürst Blücher von Wahlstatt gemeinsam ihren korsischen Widersacher bezwangen, den Namen „Waterloo“.

Wie die meisten Überlebenden des zehnstündigen mörderischen Schlagabtausches zweifelte der junge Short keinen Augenblick daran, dass er und seine Kameraden am Vortag an einem weltgeschichtlichen Ereignis teilgenommen hatten. Nicht nur der Großteil der französischen Armee war an diesem Sonntagabend untergegangen, auch die wohl herausragende Persönlichkeit ihrer Epoche, Napoleon Bonaparte, war für immer von der Bühne der Geschichte abgetreten.

Mehr als acht Stunden hatte eine britisch-niederländisch-deutsche Armee unter dem Befehl des Herzogs von Wellington den nur wenig koordinierten, aber wuchtigen Schlägen der kaiserlichen Streitmacht standgehalten, hatte das endlose Bombardement aus mehr als 200 französischen Geschützen ertragen, ehe am frühen Abend das Erscheinen von 40.000 Preußen in der rechten Flanke der Franzosen die Schlacht entschied.

Auch wenn die zu Tode erschöpften Soldaten der beiden siegreichen Armeen, betäubt vom stundenlangen Geschützlärm und durstig von dem Geschmack des Schwarzpulvers in ihren Mündern, für die nächsten Stunden zunächst damit beschäftigt waren, auf dem von mehr als 40.000 Toten und Verwundeten bedeckten Schlachtfeld Trinkwasser, Verpflegung und wohl auch Beute zu finden, so stand für die meisten doch zweifelsfrei fest, dass sie sich nunmehr auf historischem Boden bewegten.

Keiner der beteiligten Soldaten konnte in dieser Nacht oder an den noch folgenden Tagen überblicken, dass mit „Waterloo“ unwiderruflich die lange Epoche der Revolutionskriege zu Ende gegangen war, die Europa ein Vierteljahrhundert lang bis in die Weiten Russlands in Flammen gesetzt hatten. Wenige ahnten vielleicht, dass nunmehr Großbritanniens hundertjährige Weltherrschaft beginnen würde. Wohl aber hatte sie alle die unmittelbare Erfahrung der so plötzlichen und vollkommenen Wende des Schicksals erschüttert. Schien das militärische Genie Napoleon noch kurz vor 19 Uhr unmittelbar vor dem erhofften Sieg gestanden zu haben, so strömte seine Armee nur wenige Minuten später bereits in voller Auflösung zurück auf ihre Ausgangsposition bei Belle Alliance und sogar noch weiter nach Genappe. In einer gewaltigen Arena von etwa anderthalb Kilometern Breite und vier Kilometern Länge hatte sich in den Abendstunden des 18. Juni 1815 in bestürzender Schnelligkeit ein Drama vollendet, das die Ereignisse der großen Schlacht von Leipzig nur 21 Monate zuvor weit in den Schatten stellte.

Obwohl von den etwa 180.000 Kämpfern bei Waterloo beinahe die Hälfte Deutsche aus Preußen, Braunschweig, Nassau und dem Königreich Hannover waren, spielte die Schlacht im nationalen Erinnerungskanon nie eine herausragende Rolle. Es mag damit zu tun haben, dass sich einzig in Preußen Blüchers redlich gemeinter Vorschlag durchsetzen konnte, die Schlacht nach dem Farmhaus „La Belle Alliance“ zu benennen, wo er am Abend mit Wellington zusammengetroffen war. Selbst in den anderen beteiligten deutschen Staaten war auf zahlreichen Denkmälern und Erinnerungsmedaillen von Anfang an der Name jener Ortschaft etwa sechs Kilometer nördlich des Schlachtfeldes vermerkt, wo Wellington jeweils in der Nacht davor und danach sein Quartier genommen hatte.

Mit dem Namen Waterloo aber war die große Schlacht vor den Toren Brüssels unwiderruflich zu einem Sieg Wellingtons und seiner britischen Soldaten gestempelt. Kein Brite des heraufziehenden Viktorianischen Zeitalters zweifelte denn auch daran, dass der Herzog die Schlacht nur mit einem kleinen Kern von entschlossenen „Rotröcken“ gewonnen hatte, assistiert lediglich von seinen niederländischen und deutschen Hilfstruppen. Die preußischen Veteranen konnten es verschmerzen, hatten sie doch mit Leipzig einen eigenen Gedenkort, der nicht der Willkür der Belgier, Briten oder Franzosen unterlag.3 Nach den Einigungskriegen 1864–1871 verdrängten dann endgültig neue spektakuläre Siege wie der von Sedan das Gedenken an Waterloo. Im prosperierenden Wilhelminischen Reich hatte schließlich das einst verbündete England anstelle von Frankreich die Rolle des großen Rivalen übernommen. Da passte es durchaus ins Bild, dass die „perfiden Vettern“ jenseits des Ärmelkanals die Leistungen der Preußen und der anderen deutschen Kontingente gegen Napoleon immer noch herunterzuspielen pflegten.

Kupferstich von 1816: „Vue de la ferme de la Belle Alliance. Dessinée deuxjours après la Bataille de Watterloo ou du Mont St. Jean“ (aus: François-Thomas Delbare, Brüssel 1816).

In Großbritannien war der Name der Schlacht und die Erinnerung an die darin erbrachten Opfer sogleich so allgegenwärtig, dass 1819 ein Aufsehen erregendes Massaker an Demonstranten für eine Wahlrechtsreform auf dem St. Peters Field bei Manchester im ganzen Land bald nur noch unter dem Namen „Peterloo“ kursierte. Zwei Jahre früher war in London bereits die Waterloo-Brücke eröffnet worden und Dutzende von Straßen und Plätzen im gesamten Königreich wurden nach Wellingtons größtem Sieg umbenannt. Aus britischer Sicht hatte der Herzog bei Waterloo nur vollendet, was Admiral Nelson ein Jahrzehnt zuvor bei Trafalgar begonnen hatte.4 Über den französischen Furor und das militärische Genie des Korsen hatten britische Disziplin, Ausdauer und Beharrungsvermögen die Oberhand behalten. Es waren zugleich auch schon die Tugenden des neuen Industriezeitalters.

An der entscheidenden Rolle Wellingtons in der Schlacht hat im Kern auch die neuere Historiografie festgehalten, obwohl der Herzog selbst sich stets geweigert hatte, in die schon bald geführte Debatte über die Ursachen des Sieges einzugreifen. Aus seiner Feder existiert lediglich der noch am späten Abend des 18. Juni verfasste Bericht an den britischen Kriegsminister, den Earl of Bathurst. Zwar werden inzwischen von fast allen Autoren die Versäumnisse des Herzogs eingeräumt. Selbst ein Hagiograf wie Jac Weller lässt seiner Analyse der Führungsleistung Wellingtons bei Waterloo immerhin ein Kapitel über Wellington’s Mistakes folgen, aber nur, um darin jeden jemals erhobenen Vorwurf gegen seinen Helden zu widerlegen.5

Sogar bei deutschen Autoren wie dem Napoleon-Biografen Johannes Willms hat sich die Auffassung gehalten, dass Waterloo der Sieg Wellingtons gewesen sei.6

Es erstaunt, dass trotz des Cultural Turn in der Militärgeschichte auch in jüngeren Publikationen zur Schlacht das Geschehen immer noch gern im Lichte der großen Entschlüsse betrachtet wird. Das gilt auch für die ansonsten wohl lesenswerteste Darstellung der Schlacht aus der Feder des Belgiers Jacques Logie. Dabei hatte spätestens in den 1970er-Jahren John Keegans bahnbrechende Studie The Face of Battle (dt. „Die Schlacht“) das Erleben der einfachen Soldaten bei Waterloo in den Blick gerückt und nebenher die schon von Stendhal in der „Kartause von Parma“ gestellte Frage aufgeworfen, ob sich aus der begrenzten Perspektive der Beteiligten überhaupt jemals ein konsistentes Bild der Abläufe des 18. Juni rekonstruieren lässt. Keegan schöpfte dabei aus einem großen Fundes von Erlebnisberichten von Offizieren aller Dienstgrade und auch der einfachen Soldaten. Schließlich war Waterloo auch die erste Schlacht in der europäischen Geschichte, die zum Objekt eines aufwendigen Oral-History-Projekts wurde. Nur zwei Dekaden nach dem Sturz Napoleons hatte der britische Hauptmann William Siborne, der selbst nicht an der Schlacht teilgenommen hatte, Hunderte von Überlebenden nach ihren Erfahrungen von Waterloo befragt und einen Korpus von etwa 500 Erlebnisberichten und Beiträgen zusammengebracht.7

Spätestens seit der Veröffentlichung eines Teils dieser Sammlung als Waterloo-Letters im Jahre 1891 durch Sibornes Sohn, Generalmajor Herbert Siborne, haben die meisten Autoren, die seither über Waterloo schrieben, auf den eindrucksvollen Bestand zurückgegriffen und damit fraglos ihren Darstellungen größere Anschaulichkeit und Lebendigkeit verliehen.

Doch nach wie vor geht es in allen Büchern über Waterloo um die großen Entscheidungen. Das Kämpfen und Leiden der Soldaten bleiben schmückendes Beiwerk. Darüber stehen turmhoch weiterhin das „strategische Genie“ und das Charisma Napoleons oder auf der Gegenseite Wellingtons taktisches Geschick und seine außergewöhnliche Kaltblütigkeit.8 Auch Sergej Bondartschuks Film „Waterloo“ aus dem Jahre 1970 schildert die große Schlacht konsequent als Duell der beiden Feldherren, während Blüchers Preußen darin lediglich als Fußnote in Erscheinung treten.9

Gewiss prägten die großen Entschlüsse und Irrtümer den Feldzug von 1815, lenkten die Kämpfe in bestimmte Räume, zersplitterten Truppen oder massierten sie. Versäumnisse und Missgriffe scheint es aber auf beiden Seiten gegeben zu haben. Wellington etwa verschlief praktisch den ersten Tag des Feldzuges und hätte die wichtige Kreuzung von Quatre Bras am Abend des 15. Juni beinahe unbesetzt gelassen, während Blücher einen Tag später nicht in der Lage war, mit 80.000 Preußen das Schlachtfeld von Ligny gegen 60.000 Franzosen zu behaupten. Napoleon wiederum verpasste am Vormittag des 17. Juni die einmalige Gelegenheit, Wellingtons noch unvollständige Armee isoliert bei Quatre Bras zu schlagen. Man könnte am Ende einer langen Aufrechnung vielleicht sogar von einem Patt der Fehler und Versäumnisse sprechen.

Allen zuvor versäumten Chancen zum Trotz hatte Napoleon am Mittag des 18. Juni immerhin fünf Stunden Zeit, um mit seiner vergleichsweise erfahrenen, homogenen und gut ausgebildeten Armee, unterstützt von fast 250 Geschützen, Wellingtons bunt gemischte Truppe zu schlagen, ehe nur ein einziger Preuße einen Schuss abgeben konnte. Strategisch hatte er den Feldzug zu diesem Zeitpunkt gewonnen, um ihn in den folgenden acht Stunden taktisch zu verlieren. Warum aber misslang der Angriff des Korps d’Erlon mit fast 20.000 Mann gegen Wellingtons nur halb so starken linken Flügel? Warum blieb Gut Goumont in englischer Hand und weshalb dauert es mehr als sechs Stunden, bis das schwach besetzte Farmhaus La Haye Sainte endlich von den Franzosen erobert wurde? Und schließlich: Weshalb scheiterte ausgerechnet Napoleons Elite am Ende der Schlacht, geführt von den besten Generalen der Armee, in beinahe kläglichster Form?

Nicht der scheinbar verblassende Genius des Korsen oder die angeblichen oder echten Fehler seiner Marschälle haben offenbar Frankreich 1815 in die Niederlage gestürzt. Es waren eher die zahllosen blutigen Duelle auf Kompanie- und Bataillonsebene, die vielen kleinen Entscheidungen, wie sie John Keegan in seinem Buch so exzellent beschrieben hat, die sich schließlich zum großen Untergang einer ganzen Armee aufsummierten.10 Das scheint wohl die wahre Geschichte von Waterloo zu sein.

VORGESCHICHTE

1.   Waterloo — Die letzte Schlacht des Ancien Régime

Am 9. September 1709 kämpften in der Nähe des kleinen belgischen Weilers Malplaquet, südlich der Festung Mons, die verbündeten Armeen Englands, Österreichs, der Niederlande – die damals noch Generalstaaten hießen – sowie andere deutsche Kontingente in einer der größten und blutigsten Schlachten des 18. Jahrhunderts gegen das Aufgebot Frankreichs. An der Spitze dieser Truppen standen die renommiertesten Feldherrn ihrer Zeit, darunter John Churchill, der 1. Herzog von Marlborough, und Prinz Eugen von Savoyen, der Sieger von Zenta, Höchstädt und Turin. Auf der Gegenseite führte der Marschall Claude Louis de Villars den Oberbefehl über 100.000 Franzosen, das letzte Aufgebot einer längst ausgebluteten Großmacht am Ende eines halben Jahrhunderts voller Feldzüge und Belagerungen. Gemeinsam hatten Villars Gegner an diesem Tag etwa dieselbe Zahl von Soldaten aufgebracht.1

Die Infanterie beider Streitmächte kämpfte in dieser letzten großen Schlacht des Krieges um die spanische Erbfolge mit Steinschlossmusketen, an deren Mündungen erst seit Kurzem Bajonette befestigt waren. Unterstützt wurde sie von glattläufigen Feldgeschützen aus Bronze, die wie schon in den Schlachten des Dreißigjährigen Krieges vier-, sechs- oder achtpfündige Eisenkugeln auf bis zu 800 Meter Distanz verschießen konnten oder mit Blei- und Eisenteilen gefüllte Kanister, sogenannte Kartätschen, auf kurze Entfernungen ausspien. In beiden Fällen waren die Wirkungen für die in dichten Linien agierende Infanterie verheerend. Bei einer Mündungsgeschwindigkeit von 500 Meter je Sekunde rissen die Eisenkugeln blutige Schneisen in die Kolonnen des Gegners und der Kartätschenbeschuss hatte die Wirkung moderner Streubomben. Im richtigen Moment eingesetzt, konnte eine einzige Batterie von vier oder sechs Geschützen ein Bataillon von 800 Mann in Minuten auslöschen. Am Ende des Tages hatte der Zusammenprall bei Malplaquet beide Armeen mehr als 40.000 Tote und Verwundete gekostet. Eine militärische Entscheidung war jedoch nicht gefallen. Die Franzosen zogen sich halbwegs geordnet zurück.

Wenig mehr als ein Jahrhundert später traten am Nachmittag des 18. Juni 1815 südlich der Ortschaft Mont Saint Jean, nur einige Dutzend Kilometer von dem alten Kampfplatz des Erbfolgekrieges entfernt, erneut drei große Armeen gegeneinander an. Weder in ihrer Bewaffnung noch in ihrer Uniformierung unterschieden sich die Soldaten dieser Schlacht, für die sich außer in Preußen der Name Waterloo durchgesetzt hat, wesentlich von ihren Vorgängern. Immer noch prägten bunte Uniformen das Gefechtsfeld, das sich, eingehüllt in dichte Schwaden von Pulverdampf, den Soldaten und ihren Offizieren nur schemenhaft präsentierte. Wie in den Schlachten des Erbfolgekrieges griff die Infanterie hinter lockeren Schwärmen leichter Schützen in tiefen Kolonnen an oder verteidigte sich in langen Schützenlinien zu drei oder vier Gliedern. Generationen von Taktikern wie etwa der französische Baron François de Guibert hatten sich während des 18. Jahrhunderts über die Evolution der Gefechtsformationen den Kopf zerbrochen und komplexe Lösungen ersonnen. Doch im Prinzip blieb alles beim Alten.2

Auch bei Waterloo dominierte immer noch der Bajonettangriff der Infanteriekolonnen, in deren Lücken die Artillerie eingeschoben war. Mit ihrem Feuer sollte sie den Gegner an den Einbruchstellen dezimieren. Allein das entschlossene und gleichförmige Vordringen einer dichten Masse von Männern mit gefälltem Bajonett, idealerweise flankiert von der eigenen Kavallerie, die den Gegner zwang, sich in sogenannten Karrees einzuigeln, garantierte auch noch zu Zeiten Napoleons den militärischen Erfolg. Der grimmige Angriff mit der blanken Waffe verbreitete nach wie vor unter den Gegnern das größte Entsetzen und ließ deren Reihen oft noch vor dem tödlichen Anprall, dem sogenannten Schock, auseinanderbrechen. Als etwa Marschall Michael Ney in der Schlacht von Montmirail am 11. Februar 1814 seine Soldaten sogar die Feuersteine von ihren Musketen entfernen ließ, war dies vielleicht im Detail eine Übertreibung, vom Grundsatz her aber gängige Praxis und auch an diesem Tag von Erfolg gekrönt. Vor den Bajonetten ihrer Gegner ergriffen die verbündeten Russen und Preußen schleunigst die Flucht.3 Für die größte Wirkung auf den Schlachtfeldern des frühen 19. Jahrhunderts sorgte somit immer noch der kalte Stahl, nicht die heiße Kugel.

Wie schon bei Malplaquet standen an der Spitze der Armeen von 1815 Europas bedeutendste Befehlshaber, der Herzog von Wellington, der Sieger in Spanien, oder der preußische Marschall Fürst Blücher von Wahlstatt, dessen legendärer Elan angeblich ein ganzes Armeekorps ersetzte. Als unbestrittener Primus auf dem militärischen Olymp aber galt trotz seiner Niederlagen in Russland und Sachsen noch immer Napoleon Bonaparte. Schon im zehnten Jahr kämpfte er, wie Ludwig XIV. und seine Marschälle ein Jahrhundert zuvor, einmal mehr gegen eine feindliche Koalition aus Briten, Preußen, Niederländern und anderen deutschen Kontingenten. Es war genau jene Konstellation der Allianzen, die seit Englands Glorious Revolution im Jahre 1688 für mehr als ein Jahrhundert die Kriegführung des Ancien Régime geprägt hatte und während der Revolutionszeit noch einmal entschieden erneuert worden war. Im kurzen Feldzug von 1815 aber hatte sie zum letzten Mal in der europäischen Geschichte Gestalt angenommen. Vier Dekaden später kämpften Briten und Franzosen bereits gemeinsam auf der entlegenen Krim gegen die Armee des Zaren, und dem britischen Oberbefehlshaber General Fitzroy Somerset, den Zeitgenossen besser bekannt als Lord Raglan, dürfte das Vive l’Empereur seiner nunmehrigen Verbündeten noch einmal eine schaurige Erinnerung an seinen bei Waterloo verlorenen Arm verschafft haben.

Obwohl im Jahre 1815 schon die industrielle Revolution das Vereinigte Königreich sichtbar zu verwandeln begonnen hatte, von der Dampfkraft angetriebene Lokomotiven in den zahlreichen Zechen Englands keine Seltenheit mehr waren und neue Verfahren der Verhüttung sowie des Walzens den Ausstoß an Schmiedeeisen auf bisher nicht für möglich gehaltene Mengen steigen ließen, galten für die drei Armeen auf den regenfeuchten Feldern südlich von Brüssel noch annähernd die gleichen technischen Bedingungen wie zu Zeiten König Gustav Adolfs von Schweden. Zwar war die Zahl der Söldner, die das Erscheinungsbild sämtlicher Streitmächte des Ancien Régime so lange geprägt hatten, inzwischen deutlich zurückgegangen, doch hinsichtlich der Parameter Feuerkraft, Beweglichkeit und Kommunikation herrschte seit annähernd zwei Jahrhunderten ein bemerkenswerter Stillstand. Immer noch betrug die mittlere Feuergeschwindigkeit der Infanterie zwei bis drei Schuss pro Minute, wobei Zielgenauigkeit und Wirksamkeit der Geschosse schon nach 100 Metern rapide abnahmen. Immer noch marschierten die Armeen über oft Hunderte von Kilometern zu Fuß, wobei eine Strecke von 50 Kilometern pro Tag das erreichbare Maximum darstellte. Immer noch zogen Pferde die Geschütze oder Proviantkarren und immer noch überbrachten sogenannte Aide de Champs (Feldherrngehilfen) Befehle und Meldungen, die oft schon von den Ereignissen überholt waren, wenn sie denn überhaupt eintrafen.

Lange vor der industriellen Revolution hatten die Armeen Europas zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits eine Phase tiefer Umbrüche erlebt, für die britische Autoren den Begriff der „Militärischen Revolution“ geprägt haben.4 Aus den nur schwer zu kontrollierenden Söldnerheeren der Renaissance waren innerhalb eines halben Jahrhunderts die stehenden Heere des Ancien Régime hervorgegangen, die ständiger Drill und brutale Disziplin zu gefügigen Werkzeugen ihrer absolutistischen Souveräne geformt hatten. Kontinuierlich waren seither die Truppenstärken gestiegen. Militärische Operationen stützten sich nunmehr auf ein verzweigtes System von Magazinen. Vor allem aber verbesserte sich in diesem Zeitraum die Ausbildung der Offiziere, da fast sämtliche Großmächte im Laufe des 18. Jahrhunderts zentrale Militärakademien oder Kriegsschulen errichteten. Kenntnisse im Festungsbau, des Artilleriewesens, der Logistik und der Kriegsgeschichte zählten bald zum Handwerkszeug der militärischen Führer, auch wenn Adel und Anciennität weiterhin das innere Gefüge der Armeen prägten.

Doch alle organisatorischen Fortschritte wie auch die Verbesserungen der Schusswaffentechnik vollzogen sich noch innerhalb der seit zwei Jahrhunderten unverrückbar erscheinenden technischen Grenzen.5 So ließ sich zwar durch verbesserte Munition oder leichtere Lafetten das Gewicht von Musketen und Geschützen zum Teil deutlich verringern, doch eine ballistische Leistungssteigerung ergab sich daraus nicht.6 Optische Telegrafen und gepflasterte Chausseen lieferten die besten Beispiele für diese Optimierungsversuche der Militärs innerhalb des Systems. Dagegen war die schon in die Zukunft weisende Zugmaschine des französischen Hauptmanns Cugnot wieder im Arsenal von Vincennes verschwunden, nachdem sein durch Dampfkraft angetriebenes Gefährt 1775 auf einer Probefahrt eine Kasernenmauer gerammt hatte.7

Es war bezeichnend für Waterloo, diese Schlacht exakt am Vorabend des Maschinenzeitalters, dass der Bericht des Herzogs von Wellington über ihren Ausgang erst am 22. Juni 1815 in der Londoner Times erscheinen konnte. Major Henry Percy vom 14. Leichten Dragonerregiment war zwar schon am Mittag des 19. Juni mit der Siegesmeldung seines Oberbefehlshabers von Brüssel nach England aufgebrochen, doch eine Flaute im Ärmelkanal zwang ihn bald, in ein Ruderboot umzusteigen, mit dem er am 21. Juni nachmittags um 15 Uhr die englische Küste bei Brodstairs erreichte. Von dort benötigte er mit der Postkutsche noch weitere sechs Stunden, um schließlich am Abend in London einzutreffen. Somit erfuhren die hauptstädtischen Leser erst nach vier Tagen in einem Artikel der Times die ersten Details eines Ereignisses, das nur 300 Kilometer entfernt stattgefunden hatte.8 Kaum ein Jahr später hätte Major Percy schon mit einem Dampfschiff den Ärmelkanal überqueren können. Die erste Passage von New Haven nach Le Havre glückte einem auf den Namen Élise umgetauften Flussdampfer aus dem schottischen Dumbarton am 17. März 1816. Die Weiterfahrt des Schiffes auf der Seine nach Paris geriet schließlich zu einem Triumphzug. Das Maschinenzeitalter hatte damit unwiderruflich begonnen.

Als eine Generation später der nächste Krieg der Großmächte auf der fernen Krim ausgetragen wurde, waren die Flotten aller Großmächte zwar immer noch mit Segeln ausgestattet, doch verfügten die meisten alliierten Schiffe vor Sewastopol bereits über Dampfmaschinen als Hilfsantriebe und die Armeen des Zweiten Kaiserreiches waren auf den brandneuen Eisenbahnlinien zu ihren Einschiffungshäfen in Toulon und Marseille gelangt.

Trotz der erheblichen Distanzen waren das exotische „Kriegstheater“ am Schwarzen Meer und die heimischen Metropolen bereits durch Telegrafen enger miteinander verknüpft als noch vier Jahrzehnte zuvor Belgien mit dem benachbarten Inselreich. Vom Scheitern des gemeinsamen Angriffs der britischen und französischen Regimenter auf das Fort Malakow bei Sewastopol am 18. Juni 1855, auf den Tag genau 40 Jahre nach der Schlacht von Waterloo, erfuhr das nachrichtenhungrige Publikum in London und Paris schon am nächsten Tag aus den telegrafischen Depeschen der zahllosen Kriegskorrespondenten auf der Schwarzmeerhalbinsel.

Auch wenn die Revolution in Frankreich seit 1789 in raschen und drakonischen Schritten den alten Feudalstaat mit allen Privilegien abgeschafft hatte und später Napoleon mit seinem Zivilgesetzbuch sogar bereits der modernen Wettbewerbswirtschaft den Weg ebnete, war Waterloo 1815 nicht nur die letzte Schlacht des Ancien Régime. Sie war zugleich auch der letzte militärische Schlagabtausch, in dem die Innovationen der immerhin schon 30 Jahre währenden industriellen Revolution so gut wie keine Rolle gespielt hatten. So schenkte Napoleon den neuartigen Raketengeschossen des Briten William Congreve ebenso wenig Beachtung wie dem Heißluftballon der Brüder Montgolfier, obwohl Letzterer seinen militärischen Nutzen in der Schlacht von Fleurus 1794 eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte.9 Darin unterscheid sich der Korse kaum von seinem Widersacher Wellington, der Congreves Raketen trotz ihrer viel beachteten Erfolge bei Leipzig als blanke Terrorwaffen betrachtete, mit denen sich höchstens Städte und Ortschaften in Brand schießen ließen.10 Obwohl es technisch auch bereits möglich war, die unzuverlässige Steinschlosszündung durch das Perkussionsprinzip zu ersetzen, blieb der Einsatz von Zündhütchen auf Basis von Chlorkalisalz in den ersten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts noch auf Jagdwaffen beschränkt. Erst in den 1830er-Jahren setzten sie sich nach umfangreichen Erprobungen auch bei den Militärwaffen durch.11

Während das blutige Vierteljahrhundert der Revolutionskriege noch einen militärischen Innovationsstau bewirkt zu haben schien, da den Kriegsherren kaum Zeit blieb, sich mit unerprobten Innovationen zu befassen, explodierte die Zahl der Neuerungen in der Militärtechnik nach 1815, obwohl die vier Dekaden nach dem Sturz Napoleons vergleichsweise friedlich verlaufen waren. Erst auf der Krim kämpften 1854 wieder drei der fünf europäischen Großmächte gegeneinander und in der Schlacht an der Alma dezimierte die britische Garde die dunkelgrünen Kolonnen ihres ehemaligen russischen Verbündeten mit dem weitreichenden Miniégewehr.12 Bereits ein Jahr zuvor hatte der russische Admiral Paul Nachimov die türkische Flotte im Schwarzmeerhafen von Sinope mithilfe der Sprenggeschosse des französischen Generals Henri Paixhans versenkt. Zehn Jahre später wiederum sicherte Nikolaus Dreyses revolutionäres Hinterladergewehr mit seinem Zündnadelsystem Preußens Sieg über den Erzrivalen Österreich und Henry Bessemers spektakuläre Methode der kostengünstigen Stahlerzeugung erlaubte endlich die massenhafte Herstellung weit reichender Geschütze.

Als Großbritannien fast genau 100 Jahre nach Waterloo wieder eine Armee nach Belgien schickte, gab es zwar noch wie bei Malplaquet die drei klassischen Truppengattungen der Infanterie, der Kavallerie und der Artillerie, doch während John Churchills Rotröcke sich durchaus noch in den Soldaten Wellingtons hätten wiedererkennen können, wären Letzteren wiederum wohl Herbert Kitcheners neue Armeen mit ihren erdgrauen Felduniformen, ihren Tellerhelmen und Gasmasken bereits wie eine Expedition von einem anderen Stern erschienen.

2.   Belgien – Grenz- und Kriegsregion im Zentrum Europas

Von der Schelde im Westen zieht sich entlang der Nordgrenze Frankreichs auf einer Breite von nicht mehr als 80 Kilometern ein fast ebener Landstreifen bis nach Lüttich und Namur im Osten. Seit 1830 bildet dieser dicht besiedelte Raum mit seinen sanften Erhöhungen den Kern des Königreiches Belgien. Zuvor war es fast ein Vierteljahrtausend lang das prominenteste Schlachtfeld Europas. Dutzende von Festungen wie Charleroi, Namur, Lüttich, Tournai oder Lille hatten Spanier, Niederländer und schließlich Franzosen im Laufe dieser Zeit angelegt oder ausgebaut. Selbst Alexander, Scipio oder Cäsar hätten niemals so leicht andere Länder erobern können, schrieb der englische Söldner Sir Roger Williams im Jahre 1590, wenn diese so befestigt gewesen wären wie die Niederlande.13

Auch wenn die Rebellion ihrer nördlichen Provinzen gegen das habsburgische Spanien 1648 zur völkerrechtlichen Unabhängigkeit der Generalstaaten geführt hatte, galten die Niederlande mit ihren insgesamt 17 Provinzen noch in den 1660er-Jahren Verfassern wie dem Franzosen Adam Bossingault als eine geografische Einheit. Der Autor eines ausführlichen Reisehandbuches bezeichnete die gesamte Region wahlweise als „Gaule Belgique“ oder „Pays Bas“, in das er auch die Stadt Lüttich einbezog, obwohl das gleichnamige Erzbistum bis zu seiner Eroberung durch französische Revolutionstruppen im Jahre 1794 staatsrechtlich eigenständig war.

Die beispiellos lange Kette von Belagerungen und Schlachten auf dem Boden des zukünftigen Belgiens begann 1568 mit der Revolte des calvinistischen Nordens gegen Spanien und endete erst mit Napoleons Feldzug von 1815 und der Schlacht von Waterloo. Allein von 1702 bis 1712 führte der britische Feldherr John Churchill zwischen Schelde und Rhein zehn Feldzüge, belagerte etwa 30 Festungen und schlug immerhin vier größere Schlachten gegen die Armeen Ludwigs XIV. In der Nähe des Städtchens Fleurus wiederum kam es zwischen 1622 und 1815 zu vier größeren Schlachten, die letzte davon am 16. Juni 1815 bei Ligny.

Eine ähnliche Häufung von Kriegshandlungen erlebten im selben Zeitraum nur noch das spätere Königreich Sachsen und Norditalien. Wie in Sachsen erlaubte vor allem die hohe Bevölkerungsdichte der südlichen Niederlande den Einsatz größerer Armeen, die trotz eines verbesserten Systems von Magazinen darauf angewiesen waren, sich aus dem Lande zu ernähren.14 In einer seit Jahrhunderten von Handel, Gewerbe und reichen Städten geprägten Region begünstigte ein vergleichsweise dichtes Netz von Straßen und schiffbaren Flussläufen die Bewegungen sämtlicher Heere.

In den so lange umkämpften 17 Provinzen der Niederlande lag auch das Zentrum der Militärischen Revolution, die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in wenigen Jahrzehnten aus den ungelenken Heerhaufen des Feudalismus die schlagkräftigen Heere des Absolutismus geformt hatte.

Den Anfang machten in den 1590er-Jahren in den nördlichen Generalstaaten die Grafen Moritz und Wilhelm Ludwig von Nassau, indem sie unter Rückgriff auf altrömische Traditionen Schützenregimenter aufstellten und drillten. Ihre neuen Infanterieformationen waren kleiner und damit flexibler als die klassischen spanischen Tercios. Disziplin und Gehorsam sollten die Kardinaltugenden ihrer neuen Soldaten sein, die nach besonderen Exerzierhandbüchern dazu ausgebildet wurden, in einem komplexen Bewegungsablauf ein kontinuierliches Musketenfeuer abzugeben.15 Rasch übernahmen aufstrebende Mächte wie Schweden, Frankreich oder Brandenburg die revolutionären Methoden der beiden oranischen Reformer. Die spektakulären Erfolge Gustav Adolfs im Deutschen Reich wären ohne ihre Vorarbeit undenkbar gewesen.16

Die Westfälischen Verträge von 1648 schufen erstmals ein System souveräner Territorialherren, die nach der konsequenten Gleichschaltung der opponierenden Landstände ihre Heeresstärken kontinuierlich steigern konnten. Die Muskete – zunächst noch in ihrer Luntenschlossversion – stieg zur wichtigsten Waffe auf den Schlachtfeldern Europas auf. Spätestens seit dem Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges 1701–1713 war sie, inzwischen auf Steinschlosszündung umgestellt, zur Standardausrüstung der Infanterieregimenter geworden. Mit ihrem aufsetzbaren Bajonett hatte sie auch bald die Pike endgültig verdrängt.

Die Dekaden nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges waren alles andere als friedlich verlaufen. Kaum hatten die Generalstaaten nach 80-jährigem Kampf ihre in Münster feierlich besiegelte Unabhängigkeit erkämpft, betrat Frankreich anstelle Spaniens als neue Hegemonialmacht die europäische Bühne. Die südlichen Niederlande, die nach dem sogenannten Pyrenäenfrieden von 1659 im Besitz der spanischen Universalmonarchie verblieben waren, schienen nunmehr das natürliche Ziel der Expansionsbestrebungen des jugendlichen Sonnenkönigs. Der ehrgeizige Monarch, ein höchst disziplinierter Arbeiter, profitierte von einem stetig anwachsenden Heer, das sein langjähriger Kriegsminister François le Tellier, Marquis de Louvois, zuletzt auf fast 300.000 Mann vergrößert hatte.

Nach dem Tod des spanischen Königs Philipp IV. im September 1665 kämpften die westeuropäischen Mächte in wechselnden Koalitionen um die Kontrolle seines niederländischen Erbes. Dem sogenannten Devolutionskrieg gegen Spanien, hauptsächlich eine Kette von Belagerungskämpfen zur Begradigung der französischen Nordgrenze, folgte 1672 der Holländische Krieg, der allerdings auch noch auf anderen Kriegsschauplätzen und vor allem zur See ausgetragen wurde.

Mit der Inthronisierung Wilhelms III. von Oranien zum englischen König im Jahre 1688 hatten die europäischen Mächte bereits jene Frontstellung eingenommen, die auch in den Revolutionskriegen ein Jahrhundert später noch Bestand haben sollte. Das England der Glorious Revolution bekämpfte fortan beharrlich an der Seite der Generalstaaten und des „Reiches“ den Hegemonieanspruch Ludwigs XIV., der sich im 1688 begonnenen Pfälzischen Erbfolgekrieg bereits die Rheingrenze als Ziel gesetzt hatte.

Erstmals wendeten die Franzosen in den zeitweilig besetzten Gebieten der Rheinpfalz die Strategie der verbrannten Erde an. Konnte man die Entsetzlichkeiten des Dreißigjährigen Krieges noch als Kollateralschäden einer entmenschlichten Soldateska bewerten, so stand hinter den nunmehrigen Verwüstungen der französischen Armeen ein klares Kalkül des Kriegsministers Louvois.

In seiner Spätphase verlagerte sich der Krieg von Südwestdeutschland wieder in die spanischen Niederlande, wo die Franzosen bereits die Festungen Mons und Namur in ihre Hand gebracht hatten und damit zwei wichtige Straßen nach Brüssel kontrollierten. Inzwischen hatte Wilhelm III. am 1. Juli 1690 die in Irland gelandeten katholischen Jakobiten in der Schlacht von Boyne entscheidend geschlagen und konnte sich nunmehr verstärkt wieder auf dem Kontinent engagieren. Nach anfänglichen Rückschlägen in den Schlachten von Steenkerke (3. August 1692) und Neerwinden (29. Juli 1693) wendete sich allmählich das Blatt zugunsten der antifranzösischen Koalition. Die wichtige Festung Namur am Zusammenfluss von Maas und Sambre fiel im September 1695 nach einmonatiger Blockade in die Hände der Alliierten. Der Versuch der Franzosen, durch die Belagerung von Brüssel die Armee Wilhelms III. abzulenken, blieb militärisch ohne Resultat. Für die barocke Residenzstadt bedeutete die dreitägige Bombardierung mit Mörsergeschossen jedoch eine Katastrophe. Etwa 4000 Gebäude vor allem im Stadtkern fielen dem französischen Terrorbeschuss zum Opfer.

Es war die letzte Kraftentfaltung der Armeen Ludwigs XIV., dessen drei bedeutendste Befehlshaber, der Graf Turenne, der Prinz von Condè und François Henri de Montmorency-Bouteville, der „Marschall von Luxemburg“, inzwischen verstorben waren. Seit 1695 ebbten die Kampfhandlungen auf allen Kriegsschauplätzen merklich ab. Der Friede von Rijswijk beendete 1697 vorerst den neunjährigen Konflikt, der nach dem Willen Ludwigs XIV. nur ein kurzer Feldzug hätte sein sollen. Frankreich musste am Verhandlungstisch zwar Luxemburg, Lothringen und die verwüstete Rheinpfalz wieder räumen, durfte aber wichtige Grenzfestungen wie etwa Strassburg, Saarlouis und Landau endgültig behalten.

Noch war die Tinte unter den feierlich beschworenen Verträgen nicht getrocknet, da zeichnete sich bereits der nächste kontinentale Waffengang ab. Kein Thema beschäftigte die europäische Diplomatie in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts so sehr wie die spanische Erbfolge. Die österreichischen Habsburger wie auch Frankreichs bourbonisches Herrscherhaus erhoben Anspruch auf die gewaltige Hinterlassenschaft des Weltreiches. Zugleich verprellte der französische Monarch den alternden Wilhelm III., indem er weiterhin die Ansprüche der Jakobiten auf den englischen Thron unterstützte. Nur ein Jahr nach dem Tod des kinderlosen Karl II. formierte sich im September 1701 die Haager Große Allianz zwischen England, den Generalstaaten und Österreich. Erneut waren die südlichen Niederlande das Hauptkampfgebiet dieses nunmehr globalen Krieges, der erst nach 13 Jahren mit einem Patt endete. Die prägenden Persönlichkeiten dieser vorerst letzten Auseinandersetzung mit der französischen Hegemonialmacht waren John Churchill, der 1. Herzog von Marlborough, Markgraf Ludwig von Baden und Prinz Eugen von Savoyen, der mit seinem Sieg bei Senta 1697 den Großen Türkenkrieg beenden konnte. Damit hatte er erstmals seit einem Vierteljahrhundert den österreichischen Habsburgern einen freien Rücken im Kampf gegen Ludwig XIV. verschafft.

Es war eine seltene Ausnahme, dass zwei Militärs, die zugleich die bedeutendsten Heerführer ihrer Epoche waren, über einen Zeitraum von fast zehn Jahren fast reibungslos zusammenarbeiteten. Auch wenn es in diesem letzten Krieg des Sonnenkönigs zu mehr großen Feldschlachten als in den vorhergehenden Konflikten kam, davon allein drei in den südlichen Niederlanden, war das Geschehen doch immer noch von Belagerungskämpfen geprägt. Der Sieg von Ramillies im Mai 1706, etwa 20 Kilometer nördlich der Festung Namur, brachte die Verbündeten in den Besitz fast ganz Belgiens. Zwei Jahre später folgte die Einnahme von Lille, nachdem nahe der flandrischen Festung Oudenaarde Malborough und Eugen mit 80.000 Mann die numerisch etwas stärkere Armee der französischen Marschälle Vendôme und Bourgogne besiegen konnten. Der Vormarsch der alliierten Heere scheiterte jedoch an der nordfranzösischen Festungskette. Sämtliche Hoffnungen, den Krieg in Paris beenden zu können, waren damit zerplatzt. Zum letzten großen Kräftemessen des Krieges kam es am 9. September 1709 bei Malplaquet südlich der Festung Mons. Frankreich brach nicht zusammen und profitierte schließlich vom Zerfall der gegnerischen Koalition. In Utrecht und Rastatt wurde das spanische Riesenreich geteilt. Die südlichen Niederlande fielen für fast ein Jahrhundert an die Österreichischen Habsburger. Für die Bewohner des zukünftigen Belgiens war es eine vergleichsweise friedliche Phase, denn es sollten immerhin drei Dekaden vergehen, ehe wieder eine französische Armee die Grenze nach Norden überschritt. Die Bourbonenmonarchie unter Ludwig XV., einem Enkel des Sonnenkönigs, kämpfte im sogenannten Österreichischen Erbfolgekrieg an der Seite Preußens gegen Habsburg. An der Spitze der Armee stand Frankreichs damals renommiertester Heerführer, der Prinz Moritz von Sachsen, ein illegitimer Sohn des sächsischen Kurfürsten und Königs von Polen, August II. Der Marschall, der bereits in vielen Armeen gedient hatte, ehe er in französische Dienste getreten war, eröffnete seinen Feldzug im April 1745 mit der Belagerung der flandrischen Grenzfestung Tournai am Westufer der Schelde. Eine alliierte Armee aus britischen, niederländischen und österreichischen Truppen unter dem Kommando des Herzogs von Cumberland, einem Sohn Königs Georg II., versuchte die Stadt zu entsetzen. Die Franzosen hatten mit etwa 50.000 Mann bis zum Abend des 10. Mai auf einem Plateau am östlichen Ufer der Schelde Stellung bezogen. Der Weiler Fontenoy im Zentrum der französischen Position gab der Schlacht den Namen, die sich am nächsten Morgen in voller Härte entwickelte. Höhepunkt der Kämpfe war ein massiver Angriff von etwa 15.000 Engländern, Schotten und Hannoveranern auf das Zentrum der Franzosen, den der Marschall von Sachsen nur mit seinen letzten Reserven aufhalten konnte. Am Ende hatten beide Parteien mehr als zehn Prozent ihrer Soldaten verloren. Fontenoy war somit alles andere als ein Beispiel für die im 18. Jahrhundert typische Manöverkriegführung. Der ebenfalls auf dem Schlachtfeld anwesende Ludwig XV. soll beim Anblick des mit Toten und Verwundeten übersäten Schlachtfeldes seinen ältesten Sohn ermahnt haben, sich dieses Bild genau einzuprägen, damit er später nicht leichtfertig mit dem Leben seiner Untertanen umgehe.17

Doch der Dauphin sollte nie den Thron besteigen, und als der nächste Konflikt um Belgien ausbrach, war das Herrscherhaus der Bourbonen schon fast Geschichte.

Im April 1792 erklärte Ludwig XVI., längst nicht mehr Herr seiner Entschlüsse, dem österreichischen Kaiser den Krieg und löste damit den ersten von insgesamt sieben Koalitionskriegen aus, in denen sich Frankreich stets gegen mehrere Gegner behaupten musste. Anfangs mit großem Erfolg. Der sogenannten Kanonade von Valmy am 20. September 1792 folgte der Gegenstoß General Charles François Dumouriez’ und der erste Sieg der Revolutionsarmee bei Jemappes, einige Kilometer westlich von Mons, am 6. November 1792.

Die geschlagenen Österreicher zogen sich bis ins Rheinland zurück und warteten auf Verstärkung, während die siegreichen Franzosen ganz Belgien besetzten. Das folgende Jahr brachte jedoch empfindliche Rückschläge für die Aufgebote der Republik. An der Spitze der habsburgischen Armeen stand inzwischen der bewährte Prinz Josias von Sachsen-Coburg, mehr noch aber half der Kriegseintritt Großbritanniens, das Blatt vorläufig gegen Frankreich zu wenden. Die Briten zahlten nicht nur Subsidien, sondern schickten sogar ein eigenes Expeditionskorps unter dem Kommando des Herzogs von York nach Flandern. Am 18. März 1793 wurden Dumoriez’ bewaffnete Horden bei Neerwinden in die Flucht geschlagen, der General selbst lief einen Monat später zu den Österreichern über. Ein letztes Mal fiel Belgien unter habsburgische Kontrolle. Die Festungen Condé und Le Quesnoy in Nordfrankreich ergaben sich jetzt. Im September fiel schließlich Valenciennes nach einem Beschuss von insgesamt 150.000 Granaten und Kanonenkugeln. Der Weg in das Herz der Revolution schien frei. Nun griff das Terrorregime in Paris zu einem naheliegenden und letzten Mittel. Es befahl die Bewaffnung aller unverheirateten Männer zwischen 20 und 24 Jahren. Die neuen französischen Armeen profitierten allerdings auch von der wenig klugen Entscheidung des Herzogs von York, sich von den Österreichern zu trennen, um Dünkirchen zu belagern. Trotz zweier weiterer alliierter Siege bei Tandrecy und Tournay im folgenden Frühjahr brachte das Jahr 1794 den endgültigen Umschwung zugunsten Frankreichs. Zu lange waren Coburgs Forderungen nach Verstärkung und besserer Versorgung seiner Truppen ignoriert worden. Am 20. Juni ging die Schlacht von Fleurus gegen General Jean Baptiste Jourdan verloren, nachdem unmittelbar zuvor Charleroi gefallen war. Am 9. Juli fiel Brüssel in französische Hand. Die Räumung der Niederlande, im fernen Wien von dem leitenden Minister Johann Amadeus v. Thugut entschieden, war in den Augen Coburgs eine verfrühte Maßnahme.18 Sie sollte sich aber als endgültig erweisen. Die umkämpfte Provinz wurde Teil Frankreichs und die folgenden 20 Jahre kämpften seine Soldaten unter der Tricolore in ganz Europa, ehe der Krieg 1815 vorläufig ein letztes Mal nach Belgien zurückkehrte.

Das Schlachtfeld heute mit dem Löwenhügel, dem zwischen 1824 und 1826 errichteten Hauptmonument zum Gedenken an die Schlacht von Waterloo bei Braine-l’Alleud.

3.   Von Elba nach Paris

„MONSIEUR, MEIN BRUDER,

Sie werden im Laufe des vergangenen Monats von meiner Landung in Frankreich und meiner Ankunft in Paris sowie der Flucht der Bourbonen erfahren haben. Ihre Majestät sollte sich daher über die wahre Natur dieser Ereignisse völlig im Klaren sein. Sie sind das Werk einer unwiderstehlichen Macht des einmütigen Willens einer großen Nation, die sich ihrer Pflichten und Rechte bewusst ist. Eine ihm aufgezwungene Dynastie konnte das französische Volk nicht länger akzeptieren. Die Bourbonen lehnten die nationalen Gefühle und Gewohnheiten ab, so dass Frankreich gezwungen war, die Bourbonen abzuschaffen. Die Öffentlichkeit rief nach einem Befreier. Die Hoffnung, mich zum größten Opfer machen zu können, war vergeblich. Ich bin zurückgekehrt und von der Stelle, wo mein Fuß zuerst das Land berührt hat, wurde ich von der Zuneigung meiner Untertanen in das Herz meiner Hauptstadt getragen.

Diese große Zuneigung durch die Wahrung eines ehrenvollen Friedens zu belohnen, ist meine erste und tiefste Sorge. Die Wiederherstellung des kaiserlichen Throns war für das Glück Frankreichs unabdingbar und ich hoffe zuversichtlich, dass dies auch den Frieden für ganz Europa bedeutet.“

Napoleon am 4. April 1815 an Kaiser Franz I. von Österreich.19

Am 7. März 1815 erreichte den Vertreter Großbritanniens am Wiener Kongress, Arthur Wellesley, eine dringliche Nachricht des britischen Konsuls in Genua. Napoleon Bonaparte habe vor zehn Tagen die Insel Elba mit seinem gesamten Gefolge verlassen und nehme voraussichtlich Kurs auf die französische Küste. Für den seit knapp einem Jahr in den Herzogstand erhobenen Heerführer und Diplomaten war die Flucht des gestürzten Kaisers aus seinem Exil keine wirkliche Überraschung. Als britischer Botschafter in Paris hatte er im zurückliegenden Winter selbst erlebt, wie wenig Anhänglichkeit sich das restituierte Bourbonenregime in Frankreich erworben hatte. Die meisten Franzosen sahen in dem fettleibigen König und dem alten Lilienbanner über den Tuilerien nur die Symbole ihrer nationalen Demütigung. Sie waren der bittere Preis, den Frankreich für den Frieden und das rasche Ende der militärischen Besetzung ihres Landes hatte zahlen müssen. Da beide Ziele inzwischen erreicht waren, begann in der Erinnerung vieler der Glanz des napoleonischen Imperiums, das doch angeblich nur durch Verrat gefallen war, umso heller zu erstrahlen.

Dabei verfolgte Ludwig XVIII., der Bruder des 1793 guillotinierten Königs, durchaus nicht das Ziel, das Ancien Régime mit seinen verhassten Adelsprivilegien zurückzubringen. Von seiner berüchtigten „Veroner Erklärung“ von 1795 und der darin angekündigten Verfolgung der Königsmörder war jetzt keine Rede mehr. In seinen ersten Entscheidungen zeigte der Monarch, der fast 20 Jahre im britischen Exil zubringen musste, ein erstaunliches Fingerspitzengefühl. Sogar die politische Charta hatte er akzeptiert, die noch vor seiner Ankunft in Paris von einem provisorischen Senat unter Federführung des neuen Außenministers Charles Maurice Talleyrand erlassen worden war. Damit war Frankreich offiziell zu einer konstitutionellen Monarchie geworden.20

In der Praxis setzte sich die erste Kammer allerdings allein aus dem engen Kreis der Pairs zusammen, die der Monarch selbst bestimmen konnte, während das Deputiertenhaus wegen des hohen Zensus nur dem wohlhabenden Bürgertum zugänglich war. Der politisch eher desinteressierte König hatte die Staatsgeschäfte bald seinen Ministern überlassen und schien auch gegenüber den Vertretern der auswärtigen Mächte viel zu nachgiebig gewesen zu sein. Ein arbeitsfähiges Kabinett, das eine gemeinsame Politik formulieren konnte, existierte nicht. Die Bevölkerung schien angesichts der neuen Verhältnisse längst resigniert zu haben, doch den rasch wachsenden Einfluss der verhassten Exilanten und Kleriker am Hof registrierte man überall mit hilfloser Wut. Die Armee wiederum stand schmollend im Abseits und wartete insgeheim auf das Signal zum großen Umsturz.21

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