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Holger Afflerbach

AUF
MESSERS
SCHNEIDE

Wie das Deutsche Reich
den Ersten Weltkrieg verlor

C.H.Beck

Zum Buch

War die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg unvermeidbar? Holger Afflerbach zeigt, dass der Krieg auch anders hätte ausgehen können und sehr viel länger auf Messers Schneide stand als gemeinhin angenommen. Ein deutscher Sieg war schon nach dem Scheitern der Westoffensive im Herbst 1914 in weite Ferne gerückt. Doch gibt es nicht nur Sieg oder Niederlage. In seinem auf zahlreichen neuen Archivrecherchen basierenden Buch zeigt Afflerbach, dass ein Unentschieden das logische Ergebnis des Ersten Weltkriegs gewesen wäre – wenn die deutsche Führung nicht schwere Fehler begangen und die USA in den Krieg gezwungen hätte. Doch auch die Politik der Alliierten muss sehr viel kritischer gesehen werden, als es heute geschieht. Die deutsche Führung war nicht so eindeutig auf umfassende Eroberungen festgelegt, wie es dem allgemeinen Urteil entspricht, und die Friedensvorstöße der Mittelmächte hätten die Möglichkeit geboten, den Krieg zu beenden, bevor er Europa in den Abgrund riss. Doch die Alliierten gingen nicht auf sie ein, weil sie auf den Sieg gegen Deutschland fixiert waren und an ihren eigenen imperialistischen Plänen festhielten.

Über den Autor

Holger Afflerbach ist Professor für Europäische Geschichte an der Universität Leeds. Er ist Autor zahlreicher Studien zum Ersten Weltkrieg und zieht nun die Summe seiner jahrzehntelangen Forschungen. Bei C.H.Beck liegt von ihm vor: Die Kunst der Niederlage (2013).

Inhalt

Einleitung

I: HYBRIS: IM BEWUSSTSEIN DER STÄRKE

1: Der Weg in den Krieg

2: «Es kann kaum noch schief gehen»: Der Schlieffen-Plan und sein Scheitern

3: Tannenberg und der Aufstieg Hindenburgs

4: Das europäische Patt

5: Eine Strategie des Durchwurschtelns? Das Kriegsjahr 1915

6: «Eine barbarische Rohheit ohne Gleichen»: Blockade, U-Boot-Krieg und der Kampf um die amerikanische Neutralität

7: Der «Potatobread-Spirit»: Die «Heimatfront» in den ersten zwei Kriegsjahren

8: Die Quadratur des Kreises: Falkenhayn und Verdun 1916

9: Von allen Seiten: Der alliierte Allfrontenangriff im Sommer 1916 und sein Scheitern

II.: KLIMAX: IM SCHEITELPUNKT DES KRIEGES

10: «Eigentlich kann nur ein Wunder uns retten»: Die deutsche Führung und die Kriegsaussichten im Herbst 1916

11: Panischer Aktivismus: Die Radikalisierung der Kriegführung unter der dritten Obersten Heeresleitung

12: «Ein meisterhafter Coup»: Die Friedensfühler des Dezember 1916

13: Das verspielte Remis: Der unbeschränkte U-Boot-Krieg und der Kriegseintritt der USA

III.: NEMESIS: DIE NIEDERLAGE DER MITTELMÄCHTE UND DIE ZERSTÖRUNG DES ALTEN EUROPA

14: Die militärischen Entwicklungen im ersten Halbjahr 1917

15: Die erste russische Revolution und die Chancen auf Frieden mit der russischen Demokratie

16: «Kriegspsychose»? Das Friedensangebot des Deutschen Reichstags und die Ablösung Bethmann Hollwegs

17: «Die Entlarvung der Mittelmächte»? Sieg und Friedensschluss im Osten

18: «Glänzend, aber hoffnungslos»: Die Lage des Deutschen Reiches um die Jahreswende 1917/18

19: «Ludendorffs Hammer»: Der Angriff im Westen 1918

20: «Jetzt war der Krieg verloren»: Der militärische Zusammenbruch der Mittelmächte

21: «Als Sieger brutal, als Besiegte verächtlich»: Deutschlands Weg aus dem Krieg

Eine schreckliche Rechnung ist aufgelaufen und muss bezahlt werden

ANHANG

Danksagung

Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung

1: Der Weg in den Krieg

2: «Es kann kaum noch schief gehen.» Der Schlieffen-Plan und sein Scheitern

3: Tannenberg und der Aufstieg Hindenburgs

4: Das europäische Patt

5: Eine Strategie des Durchwurschtelns? Das Kriegsjahr 1915

6: «Eine barbarische Rohheit ohne Gleichen»: Blockade, U-Boot-Krieg und der Kampf um die amerikanische Neutralität

7: Der «Potatobread-Spirit»: Die «Heimatfront»in den ersten zwei Kriegsjahren

8: Die Quadratur des Kreises: Falkenhayn und Verdun 1916

9: Von allen Seiten: Der alliierte Allfrontenangriff im Sommer 1916 und sein Scheitern

10: «Eigentlich kann nur ein Wunder uns retten»: Die deutsche Führung und die Kriegsaussichten im Herbst 1916

11: Panischer Aktivismus: Die Radikalisierung der Kriegführung unter der dritten Obersten Heeresleitung

12: «Ein meisterhafter Coup»: Die Friedensfühler des Dezember 1916

13: Das verspielte Remis: Der unbeschränkte U-Boot-Krieg und der Kriegseintritt der USA

14: Die militärischen Entwicklungen im ersten Halbjahr 1917

15: Die erste russische Revolution und die Chancen auf Frieden mit der russischen Demokratie

16: «Kriegspsychose»? Das Friedensangebot des Deutschen Reichstags und die Ablösung Bethmann Hollwegs

17: «Die Entlarvung der Mittelmächte»? Sieg und Friedensschluss im Osten

18: «Glänzend, aber hoffnungslos»: Die Lage des Deutschen Reiches um die Jahreswende 1917/18

19: «Ludendorffs Hammer»: Der Angriff im Westen 1918

20: «Jetzt war der Krieg verloren»: Der militärische Zusammenbruch der Mittelmächte

21: «Als Sieger brutal, als Besiegte verächtlich»: Deutschlands Weg aus dem Krieg

Eine schreckliche Rechnung ist aufgelaufen und muss bezahlt werden

Bibliographie

Kartenverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Ortsregister

Gewidmet meinem Großvater, Dott. Antonio Saviano (19001943),
Arzt, Autofreund, Bonvivant. Er war zu jung, um sich als Freiwilliger
melden zu können, fälschte daher seine Geburtsurkunde, angeblich,
um einem Priesterseminar zu entkommen, und kämpfte dann während
des Ersten Weltkriegs in der italienischen Armee.

Einleitung

Am 26. Oktober 1918 meldete sich der schwedische Militärattaché, Oberst Nils Adlercreutz, beim Chef des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, Oberstleutnant Nicolai, der, wie viele andere Europäer in diesen Monaten, grippekrank im Bett lag. Adlercreutz entschuldigte sich bei Nicolai, der für die Betreuung der ausländischen Militärattachés zuständig war, für sein ungewöhnliches, aber dringendes Anliegen. Das, «was er jetzt tue, entspräche zwar nicht seinen Pflichten als neutraler Militärattaché, nachdem er aber vier Jahre lang unseren militärischen Kampf miterlebt habe, fühle er sich als Soldat und Kamerad verpflichtet zu sprechen. Er beschwöre mich, dass wir die Waffen nicht niederlegen, er kenne die Berichte seiner Kameraden aus Paris und London. Ich frage nicht nach Einzelheiten, entnehme aber aus seinen Andeutungen, dass in beiden Hauptstädten und Regierungen dieselben inneren Schwierigkeiten gegen die Fortsetzung des Krieges beständen, wie bei uns und der feindliche Kampfwille vor dem Zusammenbrechen gegenüber der auch ihnen drohenden bolschewistischen Gefahr stehe, wenn Deutschland festbliebe.» Nicolai dankte dem schwedischen Obristen für seine Intervention, doch sie käme zu spät, «da Ludendorff heute Vormittag entlassen sei».[1]

Sicherlich war Ende Oktober 1918 ein später und exzentrischer Moment, die deutsche Führung zu weiterem Widerstand aufzufordern. Doch Adlercreutz war nicht der einzige, der meinte, Deutschland müsse und dürfe noch nicht aufgeben. Walther Rathenau, Chef der AEG, zeitweise Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium und später Außenminister der Weimarer Republik, träumte in diesen Tagen von einer «levée en masse», von einem Wiederaufflammen des deutschen Widerstandsgeists.[2] Regierung und Oberste Heeresleitung diskutierten in sich jagenden Sitzungen die Möglichkeit zu weiterem Widerstand. Selbst in diesem dramatischen Augenblick, in dem Reiche und Millionenheere zerfielen und die kriegführenden Gesellschaften vor der Revolution standen, gab es bei vielen intelligenten und kritischen Zeitgenossen Zweifel, ob das Deutsche Reich militärisch besiegt sei, ob die deutsche Führung nicht zu früh die Nerven verloren habe und alle Mittel zum erfolgreichen Widerstand tatsächlich erschöpft waren. Diese Zweifel sollten, in Form der Dolchstoßlegende, später noch geschichtsmächtig werden und viel Schaden anrichten.[3]

Der Unglaube des Herbstes 1918, dass Deutschland den Krieg verloren habe, spiegelt die Tatsache wider, dass die Zeitgenossen einen anderen Ausgang erwartet hatten. Selbst jene, die als Pessimisten oder Realisten galten, wurden von der Heftigkeit und Plötzlichkeit des Zusammenbruchs überrascht. Die Gegner hatten sich noch einige Monate zuvor «mit dem Rücken zur Wand» gesehen,[4] und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, dessen Name das Synonym für einen Verständigungsfrieden war, hatte Anfang 1917 seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass Deutschland bis Kriegsende seine militärische Überlegenheit werde behaupten können.[5]

Die historische Perspektive veränderte das Urteil. Die Niederlage der Zentralmächte im Herbst 1918 wirkt in der Rückschau wie das hochwahrscheinliche Resultat des Krieges, als Sieg der bei weitem stärkeren Partei. Die wahre Frage des Ersten Weltkriegs laute, wie der amerikanische Historiker Jay Winter urteilte, warum Deutschland und seine Verbündeten überhaupt so lange durchhalten konnten.[6] Aus der Erfahrung zweier verlorener Weltkriege heraus wirkt die Idee, dass Deutschland über Jahre hinweg für praktisch unbesiegbar gehalten wurde, fast lächerlich. Die Kritik an diesem Glauben ist auch durchaus berechtigt; wir blicken auf ein katastrophales Scheitern der deutschen Politik und nichts kann und darf diese Erkenntnis verwässern. Und doch ist unsere Sicht unausweichlich durch die Erfahrung der Weltkriege geprägt. Die Idee, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verlieren musste und dass dies sehr früh feststand, ist unhistorisch und lenkt von dem Faktum ab, dass der Krieg sehr lange «auf Messers Schneide» stand und auch anders hätte ausgehen können. In welchem Umfang dies der Fall war, ist eine zentrale Frage dieses Buches. Hier sollen zwar nicht mit «was wäre, wenn»-Argumenten unfruchtbare Gedankenspiele getrieben werden, etwa in dem Stil von Schriften der Zwischenkriegszeit wie dem Buch des Generals Max Hoffmann mit dem bezeichnenden Titel «Der Krieg der versäumten Gelegenheiten». Sein sehr lange offenes Ergebnis – so meinte beispielsweise der britische Premierminister David Lloyd George in seinen Memoiren, dass der Krieg leicht anders hätte ausgehen können[7] – ist aber unverzichtbar, um die Radikalisierung des Krieges zu verstehen und die faktische Unmöglichkeit eines akzeptablen Friedens; die Härte der Sieger und gleichzeitig die fehlende Bereitschaft des Verlierers, das Ergebnis zu akzeptieren.

Daran knüpfen sich eine ganze Reihe von weiteren Fragen, nämlich die nach den militärischen Operationen, die nach den Kriegszielen und die nach einem Kompromissfrieden. Standen die deutschen Kriegsziele einem politischen Kriegsende im Weg, als sich zeigte, dass der Krieg militärisch nicht schnell zu entscheiden war? Was wollte die deutsche Gesellschaft durch den Krieg politisch erreichen? Hierauf kann es keine einzelne Antwort geben, nur Antworten, die sowohl die sich oft widersprechenden Entscheidungszentren des kaiserlichen Deutschland in den Blick nehmen als auch die sich wandelnden militärischen und politischen Umstände dieser viereinhalb Jahre Krieg berücksichtigen müssen, um Brüche, Entwicklungslinien und auch Kontinuitäten aufzeigen zu können. Um die deutsche Gesellschaft besser fassen zu können, habe ich auf Hans-Ulrich Wehlers Modell der «Herrschaftszentren» zurückgegriffen, also Kaiser und Hof, Reichskanzler und Diplomatie, den Reichstag, auch als Spiegel der deutschen Öffentlichkeit, und das Militär, vor allem die OHL und die Marineführung.[8] Auch Wehlers Vorstellung vom «polykratischen Chaos» erwies sich als hilfreich.

Natürlich spielt das militärische Geschehen bei der Frage, wie und warum das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, eine zentrale Rolle. In diesem Buch geht es daher auch um Schlachten und ihre Folgen, es geht um strategische Weichenstellungen und ihre Gründe, ihre Befürworter und Gegner; es geht darum, wie die Beurteilung militärischer Möglichkeiten durch die verschiedenen Herrschaftszentren die politischen Ziele beeinflusste und umgekehrt, und auch, wie sich die politischen und militärischen Strukturen des Deutschen Reiches und die individuellen Besonderheiten einzelner Hauptakteure auf diese Strategie auswirkten.

Ich glaube, ein Buch über einen kriegführenden Staat, das mit der nationalen notwendigerweise nur einer Teilperspektive auf das fast globale Geschehen folgt, rechtfertigen zu können, obwohl ich keinesfalls bestreite, dass Krieg grundsätzlich hochgradig interaktiv ist und daher nach einem inter- oder transnationalen Ansatz verlangt, wie ihn beispielsweise Jay Winter, Hew Strachan, David Stevenson, Adam Tooze oder Jörn Leonhard in ihren Geschichten des Ersten Weltkriegs umgesetzt haben.[9] Und doch halte ich eine «nationale» Perspektive für legitim und erkenntnisbringend. Sie war schließlich die der damals Handelnden und erlaubt uns daher die Rekonstruktion und damit das Verstehen ihrer Entscheidungen. Verstehen bedeutet selbstverständlich nicht Billigung und darf auch nicht mit dem Versuch der Entlastung gleichgesetzt werden.

Die Beschränkung auf das Deutsche Reich erlaubt außerdem einigermaßen detaillierte Antworten auf die Frage nach den Kriegszielen. Den politischen Willen «der» deutschen Gesellschaft des Ersten Weltkriegs zu ermitteln, ist unmöglich. Das Deutsche Reich hatte 1914 etwa 65 Millionen Einwohner und hob während des Krieges über 13 Millionen Soldaten aus. Die Zahlen allein machen deutlich, dass es letztlich nur darum gehen kann, Eindrücke aus den Quellen zu verdichten und Plausibilitäten anzubieten. Es geht darum zu zeigen, wie bestimmte Ansichten entstanden, sich durchsetzten und im politischen und militärischen Handeln niederschlugen. Oder, wie Thomas Nipperdey gesagt hätte, es geht auch darum, die «Nebenstimmen» und die «Hauptstimmen» zu unterscheiden, und das in einem gewaltigen Chor, der eine solche Unterscheidung unterschiedlicher Stimmen ungeheuer erschwert.[10] Hier könnte eine endlose theoretische Literatur, angefangen bei Jürgen Habermas, herangezogen werden, um der Frage nach dem politischen Wollen und dem kommunikativen Handeln intellektuellen Glanz zu verleihen.[11] Letztlich wird in diesem Buch aber mit dem Werkzeug des Historikers operiert, der versucht, aus möglichst vielen unterschiedlichen Quellen wie Tagebüchern, Briefen, Parlamentsreden, amtlichen Schreiben militärischer und ziviler Herkunft, Autobiographien und bisweilen auch Photographien eine möglichst dichte Beschreibung der damaligen Vorgänge und ein möglichst plausibles Bild der Entscheidungsvorgänge und des «Willens» der Mehrheit, oder der sich durchsetzenden Minderheit, zu rekonstruieren.[12]

Das wissenschaftliche Motiv für dieses Buch ist, dass die Standardinterpretation der deutschen Politik und Strategie im Ersten Weltkrieg meines Erachtens in die Irre geht und einer Korrektur bedarf; einer Korrektur, die übrigens schon mehrfach von hochkompetenten Wissenschaftlern wie etwa Georges-Henri Soutou versucht wurde, ohne dauerhafte Erfolge gegen den Mainstream zu erzielen.[13] Dieser Konsens geht in die Richtung, in der Nachfolge Fritz Fischers dem Deutschen Reich weitausgreifende imperiale Pläne zuzuschreiben, die es in diesem Krieg habe verwirklichen wollen, und an denen es, vor allem unter der praktisch diktatorischen Führung der Militärs, allzu lange festhielt. Vor allem in der angelsächsischen Literatur scheint mir diese Sicht der Dinge fest verankert und hat die Funktion eines dominanten Narrativs und auch einer Sinnstiftung des Ersten Weltkriegs. Wenn das Deutsche Reich abenteuerliche Eroberungspläne hatte, dann war es im Interesse der Freiheit und der Menschheit unbedingt notwendig, diese zurückzuschlagen.

Abb. 1   Wilhelm II. – das Symbol des deutschen Imperialismus

Diese Fragen wurden vor Jahrzehnten erregt diskutiert, vor allem im Umfeld der Fischer-Kontroverse.[14] Diese brachte auch die Bücher hervor, die bis heute die Standardwerke zum Thema sind. Es handelt sich um Fritz Fischers «Griff nach der Weltmacht», das zentrale Buch über deutsche Kriegsziele, und Gerhard Ritters «Staatskunst und Kriegshandwerk». In vier Bänden untersuchte Ritter das Verhältnis von Politik und Militär in Deutschland; zweieinviertel der Bände beschäftigen sich, als Gegenwerk zu Fischer konzipiert, mit dem Ersten Weltkrieg. Beide Bücher sind exzellente Forschungsleistungen, aber zeitgebunden; Ritters Werk wird von Historikern sogar als «weitgehend vergessen» bezeichnet.[15] Die dichte und auch feindselige Debatte führte selbst bei den Protagonisten zu Ermüdungserscheinungen. Gerhard Ritter klagte kurz vor seinem Tod, ihm hänge «das Herumstreiten mit Fischer zum Halse heraus».[16] Und spätestens ab Mitte der 1970er Jahre geriet das so heißdiskutierte Thema der deutschen Kriegsziele und politischen und militärischen Strategie zunehmend außer Sicht. Vielleicht galt es nach den jahrzehntelangen kolossalen Forschungsanstrengungen als ausgeforscht. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass die erwähnten Werke bereits auf ungewöhnlich dichten Studien und Quelleneditionen basierten, von denen Teile schon in der Zwischenkriegszeit publiziert worden waren. Damit schienen Forschungen zu grundsätzlich anderen Fragen, wie etwa der Sozialgeschichte des Krieges, dringender als weitere Studien zu den Themen Strategie, Kriegsziele und Politik. Von dort entwickelte sich das Interesse an der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, an der Kulturgeschichte, der Geschichte der Heimat und der Frauen im Ersten Weltkrieg, der Minderheiten und Deserteure und schließlich am Konzept der «Gewaltgeschichte».[17]

Diese Forschungen haben eine Reihe interessanter und innovativer Studien hervorgebracht und viele neue Sichtweisen auf das Geschehen eröffnet. Doch sie liefern in zunehmender Ausschließlichkeit die Geschichte von «Opfern» des Krieges. Was die «Verantwortlichen» angeht, die politischen und militärischen Entscheidungsträger, leben wir von Forschungen, die inzwischen fast sechzig Jahre alt sind. Ihr Alter allein wäre ein unzureichender Grund, sich diesem Thema wieder zuzuwenden. Doch stehen uns heute auch eine Reihe zusätzlicher Quellen zur Verfügung, die ergänzende Einblicke ermöglichen. Ich möchte hier beispielsweise die Lyncker-Kriegsbriefe hervorheben, die ein ganz ausgezeichneter Seismograph für die Stimmungen und Hoffnungen in der deutschen Führung sind, sowie die bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen von Oberstleutnant Nicolai, dem Chef des militärischen Geheimdienstes.

Hinzu kommen aber auch neue Sichtweisen und Deutungen der politischen und strategischen Weichenstellungen Deutschlands im Ersten Weltkrieg, die nicht mehr vom «irae et studio» der Zeitgenossen geprägt sind. Der Erste Weltkrieg ist inzwischen Geschichte; eine sehr unglückliche, aber eine vergangene; und es geht nicht mehr um Schuldzuweisungen oder deren Abwehr, sondern um das Verstehen, wie es dazu kommen konnte und warum sich der Krieg so entwickelte, wie er es tat.

Dieser Konflikt hätte als Remis enden können und, wie ich hier darlegen werde, fast müssen, und die deutsche Führung musste schwere Fehler begehen, um ihn zu verlieren. Diese Fehler, und ihr Kontext, werden hier analysiert. Dabei sollen die Zusammenhänge zwischen politischen und strategischen Entscheidungen und den Überzeugungen der deutschen Gesellschaft herausgearbeitet werden. Dies wird deutlich machen, wie zentral der knappe Ausgang des Krieges für die weitere Entwicklung des 20. Jahrhunderts war.

I

HYBRIS: IM BEWUSSTSEIN DER STÄRKE