Thierry Paquot
IVAN ILLICH
Denker und Rebell
aus dem Französischen übertragen von
Henriette Cejpek und Barbara Duden
Verlag C.H.Beck
Fest in der europäischen Vergangenheit verwurzelt, hinterfragte Ivan Illich die Prämissen des modernen Lebens und warf einen kritischen Blick auf die Institutionen der Industriegesellschaft. In seinen vielbeachteten Büchern zeigte er, warum die heutigen Schulen das Lernen eher verhindern, Krankenhäuser krank machen, die Entwicklungshilfe der Dritten Welt schadet und die Moderne als Perversion des Christentums begriffen werden muss. Prägnant und anschaulich führt dieses Buch in Leben und Werk des Philosophen und Theologen Ivan Illich ein und ermöglicht es dem Leser, eine Ideenwelt neu zu entdecken, die auch heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Thierry Paquot ist Philosoph und Professor am Institut für Urbanismus an der Université Paris 12. Von Ivan Illich sind bei C.H.Beck lieferbar: Entschulung der Gesellschaft, Die Nemesis der Medizin, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Klarstellungen. Pamphlete und Polemiken sowie In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft.
Einleitung
Ein radikaler Aufrührer?
I: Wanderprofessor, biographische Notizen
Jugend, in großen Schritten
Ein ungewöhnlicher Priester
Cuernavaca
Ein wandernder Lehrer und Forscher
Ein Geschichtsforscher der Gegenwart?
II: Kampfansage an die kontraproduktiven Institutionen (1): Kirche, Schule und Transportwesen
Die Kirche, Wiege der Perversion der Dienstleistungen?
Entschulung der Gesellschaft
Energie und Ungerechtigkeit
III: Kampfansage an die kontraproduktiven Institutionen (2): Konvivialität und Megawerkzeuge, Krankenhaus und Gesundheit
Was ist Konvivialität?
Wenn das Krankenhaus krank macht
IV: Eine Trilogie für die Eroberung der Autonomie und die Verteidigung der Gemeinheit (commons)
Das Ende von Genus?
Autonomie und Gemeinheit
V: Der Verlust der Sinne – sprechen, lesen, schreiben, blicken
Das bedrohte ‹Gemeine›, die besitzergreifende Schriftlichkeit und die Genese des Textes
Vom monastischen Lesen – Hugo von St. Viktor
Ist Sehen Blicken?
Conclusio: Was dürfen wir hoffen?
Jenseits von Politik
Die Rezeption von Illich in Frankreich
Die Partei der Freundschaft
Zitatesammlung zu einigen Leitbegriffen
Armut, Armseligkeit
Aussteiger, Drop-outs
Entmündigende Experten
Entwicklung und Unterentwicklung
Das Fahrrad
Gemeinheit oder das Gemeine, Allmende
Genus
Gesundheit, Iatrogenesis, Heilung, Schmerz
Konsum, Verbrauch von Waren
Kontraproduktivität, Zweckwidrigkeit
Konvivialität, konviviale Gesellschaft, konviviales Werkzeug, konviviales Wissen
Schattenarbeit und Schatten-Ökonomie
Schule, Erziehung, erziehen
Selbstbegrenzung oder Selbstgenügsamkeit
Unwert, «disvalue»
Verkehr
Vernakulär
Literaturverzeichnis
Nachwort zur Übersetzung von Henriette Cejpek und Barbara Duden
Die Gedanken eines Autors gehören ihm nicht mehr, sobald sie in Umlauf sind. Es ist also nicht selten, dass er sich in dem nicht wiedererkennt, was man über ihn sagt oder ihn sagen lässt. Marx beteuerte, er wäre kein ‹Marxist›. Das gilt ebenso für Ivan Illich (1926–2002), der je nach den Zeitläuften als «Anarchist», als «Linker», als «sanfter Träumer», als «radikaler Kritiker» der Institutionen, als «Vordenker» der politischen Ökologie, als «Pionier der Degrowth Bewegung», als «Linkskatholik», als «Befürworter von Selbsttätigkeit», als «Utopist» und was auch immer bezeichnet wurde. Bisweilen wird sein Werk in zwei Phasen unterteilt. Man spricht vom frühen Illich, dem Autor der in viele Sprachen übersetzten Pamphlete, dessen Argumente unzählige Debatten auslösten, und von einem späteren, gereiften Illich, weniger medienstark, fast vergessen, zum wandernden Professor geworden, eine Art intellektueller Nomade für sperrige Essays und zielsichere Einmischungen. Er selbst hatte seine fünf ersten Bücher, erschienen zwischen 1971 und 1975, als «Pamphlete» bezeichnet (Almosen und Folter, Entschulung der Gesellschaft, Energie und Gerechtigkeit, Selbstbegrenzung, Die Nemesis der Medizin) und vertraute 1988 seinem Biographen an: «Es ist mir gelungen, mit spitzem Bleistift eine Menge von Dingen treffsicher zu sagen. Aber der Zusammenhang und meine Ausdrucksweise haben sich verändert. (…) Sie stellen Fragen an einen Mann, der nicht mehr existiert. Gewiss, es handelt sich um mich, und ich übernehme die volle Verantwortung für meine Schriften. Aber diese Texte wurden in der Form von Pamphleten verfasst, wie es der Epoche entsprach, in der ich sie geschrieben habe. Im Übrigen ist es erstaunlich, dass sie noch immer da sind und man über sie spricht. Das ist sehr schön, es schmeichelt mir. Aber es sind tote Texte, Schriften aus einer anderen Zeit» [Illich in Conversation, 119].
Ein unstrittiges Charisma
Ein durchdringender Blick, ein vergnügtes Lächeln, ein schönes, feines Gesicht – das auf der rechten Wange durch eine Art Schwellung verunstaltet wird, die im Lauf der Zeit immer größer wird. Hochgewachsen, schlank – um nicht zu sagen ‹mager› –, aufrecht beeindruckt Ivan Illich und erregt physisch Respekt und Neugierde. Er ist umgänglich, spricht mit jedem, reich oder arm, «bedeutend» oder irgendwer, kann sich aber auch herausfordernd, ironisch, unzufrieden und manchmal herablassend zeigen. Ich persönlich habe nur einen bezaubernden Mann und Charmeur kennengelernt, offen, achtsam und aufmerksam. Ich konnte ihn dank der Vermittlung von Maud Sissung treffen, seiner so sehr geschätzten Übersetzerin («Mit einer Finesse, die niemals aufhört, mich zu überraschen, hat Maud Sissung diese Aufsätze aus dem Englischen übersetzt», bemerkt er in seiner Einführung zur französischen Ausgabe von Schattenarbeit [OC2, 97]). Eines Tages, das war 1988, ließ sie mich wissen, Illich sei in Paris und sein Herausgeber zögere, ABC zu veröffentlichen, The Alphabetization of the Popular Mind, das eben in den USA erschienen war. Es stimmt, Illich erregte nicht mehr die leidenschaftlichen Debatten zur Zeit von Entschulung der Gesellschaft oder Selbstbegrenzung. Er sprühte vor Intelligenz, erzählte tausend Dinge, erwähnte zahlreiche Autoren, die er las oder regelmäßig besuchte. Sein Blick drückte Wohlwollen aus. Sein Lächeln wechselte zwischen Fröhlichkeit und einer gewissen Traurigkeit. Es war der Beginn einer Freundschaft und zahlreicher Begegnungen, anlässlich seiner regelmäßigen Besuche in Paris, und kurzer Telefonanrufe, egal von wo auch immer auf der Welt.
War diese Beule, die ihn entstellte, die Ursache für seine häufigen Kopfschmerzen und gelegentliche Schwindelanfälle? Rückblickend auf jenen Sommer 1996 in State College, wo er unterrichtete, erinnere ich mich, wie Ivan mich bat, mich nicht zu beunruhigen, falls er sich plötzlich auf dem Boden ausstreckt und die Augen schließt; er sah einfach ein Unwohlsein voraus und bekam es so in den Griff. Einige Tage später war ich Zeuge einer solchen Episode: Nachdem er sich direkt auf den Boden gelegt, und die Augen für einige Minuten geschlossen hatte, stand er auf, öffnete die Schublade seines Schreibtisches, nahm ein Blatt Aluminiumpapier heraus, eine Kerze und einen einfachen Kugelschreiber, dessen Mine herausgenommen war. Mit diesem bescheidenen Material brachte er ein Kügelchen Opium zum Schmelzen, das er in einem kleinen, hübschen Metallkästchen aufbewahrte, und benutzte das Blasrohr als Pfeife. Nur Opium linderte ihn und war Teil seiner Selbstverarztung. In dieser Campus-Stadt konnte ich mich mit der «Methode Illich» vertraut machen. Sein Seminar war dem Architektur-Department zugeordnet und fand am Spätnachmittag statt. Die Zuhörerschaft war bunt gemischt: zwei Hände voll Studierende aus vier Kontinenten (keiner aus Afrika) und zwei Hände voll Wissenschaftler und Universitätskollegen. Ich verstand, dass der große Bärtige im Overall, der sich als Tischler vorgestellt hatte, einen Doktortitel in Anthropologie besaß und sich auf seinem Gebiet regelmäßig ans andere Ende der Welt begab; dass der Neuseeländer, der so schnell wie ein Wasserfall sprach, sodass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen, einer der «aufsteigenden» Welt-Größen in der Geschichte der Geometrie war; dass der anglophobe kanadische Architekt in seinen Konstruktionen mit ökologischen Technologien experimentierte und der amerikanische Agrarwissenschaftler, der dort wohnte und arbeitete, gekommen war, um seinen Kopf auszulüften, etc. Kurzum, da waren «Schüler» von einer unglaublichen Vielfalt an Alter, Sprachen, Bildung und intellektuellen Erwartungen. «Schüler» ist das Wort, das Ivan liebevoll benutzte. Er sagte einfach «mein Schüler», auch zu einem langjährigen Freund, der beinahe sein Alter hatte, und dessen Renommee nicht mehr etabliert werden musste. Nach einem kurzen Exposé eines Teilnehmers schaltete sich jeder auf seine Weise und in seiner Sprache ein (Ivan diente spontan als Übersetzer). Jeder war für die anderen erstaunlich gegenwärtig. Die gemeinsame Diskussion ging weiter, auch wenn Ivan manchmal aufstand, hinausging, um sich einige Minuten auszuruhen. Jean Robert improvisierte als Chef d’Orchestre, sicherte den Zusammenhalt der Gruppe, erteilte das Wort, sammelte die verstreuten Ideen, rekapitulierte, was gesagt worden war. Die Ideen loderten. Scherze lockerten die Atmosphäre. Eine Dokumentensammlung war verteilt worden, die Texte von Autoren enthielt, die für die Thematik als wichtig erachtet wurden (in diesem Sommer war das Thema «das Blicken»), sowie die laufenden Arbeiten von Studierenden. Ich stellte die Idee des Bildes bei Bachelard vor (eines von Ivan bevorzugten Philosophen, und ein anderes Mal den Blick bei Levinas, einem großen Freund von Ivan). Neben diesen (wenig) akademischen Seminaren gab es andere – off –, die bei Privatpersonen stattfanden und sich während des Abendessens im Freien, im Garten oder auf der Terrasse fortsetzten. Bei diesen festlichen Versammlungen traf ich dieselben Leute wieder, die an den Kursen teilnahmen, manchmal mit ihrem Partner, ihren Kindern, Freunden, Nachbarn; es fanden sich Gruppen zusammen; die Diskussionen waren lebhaft, Ivan hatte die maßgebliche Rolle des Gastgebers. So stellte ich mir Cuernavaca vor, wo ich niemals gewesen war: Studien vermischt mit informellen Diskussionen, ohne irgendeine Hierarchie, ohne Diplom, ohne Karriereplan! Aber ich träumte nicht, denn ich beobachtete, dass der Campus dort wie jede beliebige Institution darin funktionierte, standardisierte Ausbildung abzuliefern; nur entwischt bei dieser Vereinheitlichung die Ausbreitung des Wissens. Illichs Seminar war eine Lichtung in einem so dunklen Wald. Ich wohnte mit Jean Robert in einem kleinen Haus ohne Charme, das wir uns mit fünf Mitbewohnern teilten, alle viel jünger als wir. Jean Robert (geboren 1934) gehört zum ersten Kreis von Ivans Freunden. Nach seinem Architekturstudium hatte er eine Bank entworfen, war gereist, und hatte sich 1972 mit seiner mexikanischen Frau, einer Feministin und Anthropologin, in Cuernavaca niedergelassen. Er unterrichtete an verschiedenen, sowohl mexikanischen wie US-amerikanischen, Universitäten, die meiste Zeit in Begleitung von Ivan, dessen naher Mitarbeiter er wurde. Gemeinsam mit Jean-Pierre Dupuy schrieb er La trahison de l’opulence (1976), dann verfasste er Le temps qu’on nous vole. Contre la société chronophage (1980) und, zusammen mit Majid Rahnema, La Puissance des Pauvres (2008).
Barbara Duden, eine seiner engsten Mitarbeiterinnen und beste Kennerin seiner Schriften, beschwört einen «Illich der zweiten Periode» herauf [Duden, 2003]. In ihrem Aufsatz zeigt sie die Kontinuität von Illichs Besorgnis, und wie er in den Jahren zwischen 1980 und 1990 von der «Archäologie moderner Selbstverständlichkeiten» zur «mentalen Topologie der Spätmoderne» kam. «Er verstand, dass nicht mehr die Techniken und die Institutionen, sondern die von ihnen generierten Vorstellungen und Wahrnehmungen bloßgelegt werden müssen» [Duden, 2003, 15]. Diese Unterscheidung, die durchaus etwas Richtiges hat, hat den Vorzug, dass sie den Einstieg in ein überbordendes und herausforderndes Werk erleichtert. Doch bilden seine dreizehn veröffentlichten Bücher und seine zahlreichen verstreuten Aufsätze ein ‹Werk› und gewiss kein ‹System›. Einen Leser, der chronologisch in die Lektüre eintaucht, erstaunt die unglaubliche Einheit dieses denkenden Denkens, das immer dieselben Besorgnisse in einen Denkrahmen zu spannen scheint, aber dabei die Angriffswinkel verschiebt, die Quellen anders ordnet, sie mit neuen Zugängen anreichert, erneut interpretiert und dabei Selbstkritik übt. Gewiss hat jedes der Werke ein Hauptthema (die Kirche, die Schule, die Arbeit, die Sprache, den Blick, den Körper, den Schmerz, den Tod), das Illich – und genau darin liegt seine Stärke – an andere Themen anknüpft, von denen das Hauptthema in der Tat abhängt. Er bettet sein Thema also in eine umspannende Zeitgeschichte ein, verbindet es mit einem geistigen Weg, den er unermüdlich neu ausrichtet. In diesem Sinne entwirft er keine «allgemeine Theorie der Dienstleistungen im Kontext der Knappheit», sondern kreiert eine Weise, in der Welt gegenwärtig zu sein.
Illich macht kein Hehl daraus, seine kritischen Analysen der Institutionen radikal zu präsentieren (Kirche und Klerus, Schule und Lehrkörper, Gesundheit, Mediziner und Krankenpfleger, Verkehr mit nicht erneuerbarer Energie, sowohl individuell als auch kollektiv etc.). Sie gehen auf den Grund der behandelten Probleme und sparen nichts und niemanden aus. Mehr als einmal verspottet er in seinen Schriften Ralph Nader (ohne Feindseligkeit), den US-amerikanischen Anwalt und Verteidiger der Konsumenten, sodass man diesen in seinen Kämpfen unterstützen möchte, oder die «Umweltschützer» im Allgemeinen, auch wenn viele ihrer Anhänger seine Thesen befürworten. Illich entlarvt den Kapitalismus; das tut er aber weder im Stil der Marxisten – denn er glaubt nicht daran, dass die Kollektivierung der Produktionsmittel etwas an der conditio humana änderte –, noch stimmt er mit gewissen Strömungen der «grünen Bewegung» überein, denn er macht sich keine Illusionen über die Möglichkeit, eine weniger umweltverschmutzende Technik gegen eine andere auszutauschen (z.B. das Elektroauto gegen das Benzinauto). Das technische System insgesamt und in seinen konkreten Anwendungen ermöglicht und unterhält diesen Kapitalismus, den Illich im Namen der unheilbaren und irreversiblen Verstümmelung verurteilt, die dieser der Autonomie der Menschen zufügt. «Kapitalismus» ist ein anderes Wort für «Entwicklung». Es bezeichnet sowohl die industrielle Produktion materieller Güter für den Massenkonsum als auch immaterielle Dienstleistungen, welche die Repräsentanten der «entmündigenden Experten» auf den Markt bringen. Beide beanspruchen, als «universal» missverstandene «Bedürfnisse» zu befriedigen (jeder Erdenbürger hätte demnach dieselben «Bedürfnisse», ungeachtet von Geschlecht, Alter, Kultur und Tätigkeit?). Illich entlarvt nicht nur die schädliche Wirkung von Schule, Krankenhaus oder ICE, die aufgrund der Kontrolle entsteht, die diese «Megawerkzeuge» (Lewis Mumford) über jeden ausüben (wer kontrolliert tatsächlich seine Beschulung, seine Gesundheit, seine Fortbewegung?). Sie negieren die Fülle jedes Einzelnen und vergrößern dessen Abhängigkeit. Diese Megawerkzeuge, diese Institutionen entpuppen sich klammheimlich von Erleichterungen für ein besseres Leben in ihr Gegenteil: Man hat nichts von ihnen zu erwarten. Die Einsicht in die Ohnmacht, irgendetwas zu reformieren, bewegt Illich dazu, seinem ebenso radikalen Freund Majid Rahnema mitzuteilen [Post-Development Reader, 108]: «Wir haben beide eine Lektion der Ohnmacht gelernt. Es gab eine Zeit, in der wir uns ohnmächtig fühlten zu handeln; jetzt erkennen wir, dass wir sogar ohnmächtig sind, einen Rat zu geben. Wir haben beide verstanden, dass die ‹soziale Verantwortung›, die uns einst motivierte, eine Folge des Glaubens in denselben Fortschritt war, der die Idee von Entwicklung vorantrieb.» Das führt er auch 1988 David Cayley gegenüber aus: «Was die Politik betrifft, verurteile ich niemanden, der weiterhin meint, dass demokratische Politik fortgesetzt werden kann. Aus der Tradition der westlichen Welt heraus, mit meinen Wurzeln, habe ich radikal die Politik der Ohnmacht gewählt. Ich bezeuge meine Ohnmacht, weil ich denke (…), dass uns nichts anderes übrig bleibt, und auch, weil ich zeigen könnte, dass es in diesem Augenblick das Richtige ist» [Illich in Conversation, 218]. Er unterzeichnet keine Petition, auch gehört er keiner politischen Partei an, dennoch ist er um das Gemeinwesen besorgt. Er mischt sich politisch ein, indem er seine Artikel und Bücher schreibt, Seminare abhält und durch Schweigen seine Ablehnung dieser oder jener Politik ausdrückt. Schweigen als Aufforderung zum kritischen Nachdenken.
Vom guten Gebrauch des Schweigens
Für das lateinische Verb silere, «ohne Geräusch», gibt es im Französischen nicht wirklich eine Entsprechung; es besagt so viel wie «ruhig bleiben», «untätig sein» und unterscheidet sich von tacere, was bedeutet «aufhören zu sprechen», «stillschweigend annehmen», «nicht erwähnen». Das lateinische tacere ergibt «taire» (verschweigen), «se taire» (verstummen), «tacite» (stillschweigend) und im Gefolge von tacitus «taciturne» (schweigsam, wortkarg) und «taciturnité» (Schweigsamkeit, Wortkargheit). Das Hauptwort «silence» (Schweigen und/oder Stille, Ruhe) kommt von silentium und enthält alle seine unterschiedlichen Bedeutungen: die Stille dessen, der schweigt, die Abwesenheit von Lärm, die Offenbarung des Geheimnisses. Der Heilige Benedikt wird die theologische Dimension des Schweigens bekräftigen. Wenn Gott das Wort ist, dann hat Er es nicht nötig, zu schweigen, um sich zu äußern. Jesus beginnt mit zwölf Jahren das Wort zu ergreifen, aber in sparsamer Weise. Sein Aufenthalt in der Wüste ist ein völliges «Eintauchen in Einsamkeit und Stille» [Père Bruno, 1954]. Jesus mahnt zum Schweigen über seine Heilung des Leprakranken, des Gelähmten oder des Blinden. Während seines Prozesses schweigt er und vor Pilatus sagt er nur sehr wenig. Der Heilige Benedikt ehrt mit der Askese des Schweigens die Verschwiegenheit. Der Benediktiner schweigt, um das, was Gott geschaffen hat, besser lieben und im Schweigen anbeten zu können. Bei den Griechen gab es einen Gott, Harpokrates, um die Stille heraufzubeschwören und bei den Römern die Göttin Tacita, die später zu Angeronia wurde, «die mit einem Finger auf dem Mund die Lippen schließt».
Illich ist weder Trappist, noch gehört er einem Mönchsorden an, der das Schweigen befürwortet, dennoch weiß er, dass es ausdrucksstark ist und dem auch etwas sagt, der es zu verstehen weiß. «Das Erlernen einer Sprache besteht eher im Erfahren ihres Schweigens als ihrer Laute. Nur der Christ glaubt an das Wort als ein gleichermaßen ewiges Schweigen. Unter den Menschen in der Zeit ist der Rhythmus ein Gesetz, durch das unser Gespräch ein yang/yin aus Schweigen und Laut wird» [Klarstellungen, 91].
«In unglücklichen Zeiten – so Paul Valéry – bleiben Einsamkeit und Schweigen Mittel der Freiheit». So in etwa macht Illich mehrmals Gebrauch davon: Schweigen als Ausdruck des Widerstands, der Ablehnung, des Protestes. Dieser Protest fällt in die Zeit der Friedensbewegung, die sich zur Verhinderung des NATO-Doppelbeschlusses und der Stationierung der Pershing-Mittelstreckenraketen formiert hatte. Ein ziviler Akt. «Das Schweigen, umrahmt vom Aufschrei des Entsetzens, transzendiert die Sprache. Menschen verschiedener Völker und verschiedenen Alters, die keine gemeinsamen Worte haben mögen, können unisono sprechen in ihrem schweigenden Aufschrei» [Würdiges Schweigen, 156]. Daher das würdige Schweigen: «Die Weigerung, bestimmte Erklärungen abzugeben, gewisse Wörter zu gebrauchen und gewisse Gefühle in mein Herz eindringen zu lassen, sind Folgen eines Beschlusses. Ich kann über die Atombombe nicht meditieren, ohne dass sie mich vernichtet» [Illich in Conversation, 127].
Um uns mit einem solchen Denken vertraut zu machen, das manchmal verstörend, immer gelehrt, ohne Unterlass aufrührend ist, werden wir zunächst in großen Schritten die intellektuelle Bildung Ivan Illichs skizzieren (Kapitel I). Danach werden wir Schritt für Schritt verfolgen, wie er seine These der Kontraproduktivität ausformuliert, die er auf die großen, die Entwicklung tragenden Institutionen anwendet (Kapitel II und III), und klären, was er unter «Autonomie» und Verteidigung der «Gemeinheit» versteht (Kapitel IV). Wir werden schildern, wie er den «Schwund der Sinne» begreift (Kapitel V), und schließlich sein Verständnis dessen untersuchen und wertschätzen, was Ivan Illich «Freundschaft», Philia nennt (Schluss). Eine «Illich-Zitatensammlung» vervollständigt unsere Einladung, diesen außergewöhnlichen und nicht einzuordnenden Denker, der Illich ist, zu lesen und wieder zu lesen. Mit Bedacht zieht diese Einführung in Ivan Illich das direkte Zitat der Paraphrase vor, ebenfalls ein Anstoß, ihn zu lesen.
I
Ivan Illich wird am 4. September 1926 in Wien geboren. Sein Vater Piero Illich (Ilic auf Serbokratisch) ist der Sohn eines dalmatinischen Grundbesitzers, dem auch Weinberge und Olivenhaine auf der Insel Brac gehören. Als Zivilingenieur mit einem Diplom des Politechnikums Zürich spricht er fließend Serbokroatisch, Deutsch, Französisch und Italienisch; er wird «diplomatische Aufgaben» ohne nähere Bestimmung ausüben. Ivans Mutter, Ellen Regenstreif, kommt aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie. Sein Großvater mütterlicherseits, Fritz Regenstreif, handelt mit Holz und besitzt mehrere Sägewerke. Als wohlhabender Holz-Industrieller beauftragt er Friedrich Ohmann (1858–1917), den Architekten des Palmenhauses der Hofburg und zahlreicher Wiener Gebäude, ihm eine Villa im Stil Palladios – versehen mit Jugendstil-Elementen – zu bauen. Sie wird nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland von der SS- und Nazigröße Reinhard Heydrich (1904–1942) konfisziert werden, und Ivan wird am Vorabend des Krieges unter großer Mühe seiner Mutter helfen, ihre Rechte und einen Teil des Erbes zurückzubekommen [Kaller-Dietrich, 2007]. 1925 konvertiert Ellen zum Katholizismus, um Piero zu heiraten. Drei Monate nach seiner Geburt wird Ivan in Begleitung einer Amme zu seinem Großvater väterlicherseits nach Dalmatien geschickt, wo er am 1. Dezember getauft wird.
«Während meiner Kindheit verbrachte ich einen Teil des Jahres in Dalmatien, einen Teil in Wien bei meinem anderen Großvater und den Rest der Zeit in Frankreich, oder dort, wo sich meine Eltern aufhielten» [Illich in Conversation, 79]. Die Vielfalt der Familienwohnsitze erlaubt ihm, in verschiedenen Sprachen zu verkehren, der junge Ivan trägt bereits den polyglotten Erwachsenen in sich, der sich in zahlreichen Idiomen äußern, unterhalten, unterrichten und debattieren kann: Deutsch, das er mit seinen Eltern spricht (mit vierzehn Jahren träumt er davon, Gedichte in der Art Rilkes zu schreiben, später begeistert er sich für Paul Celan), Serbokroatisch (mit acht Jahren erhält er Unterricht von Herrn Ivanovich, der mit seinem Schüler nicht ganz zufrieden ist), Italienisch, Französisch, Englisch, Spanisch (das er in seiner puertoricanischen Pfarre in New York erlernt), Portugiesisch (in Brasilien ist Paulo Freire, der berühmte Pädagoge der Unterdrückten, sein Lehrer), Hindi («mein indisches Abenteuer überraschte mich, weil es mir so leichtfiel, zu lesen und zu beginnen zu verstehen und mich in Indien zuhause zu fühlen» [Illich in Conversation, 122]), Tagalog (Philippinen), ein wenig Japanisch. Es ist ihm nicht gelungen, Chinesisch zu lernen, was er sich mit fünfzig Jahren – nach dem Beispiel des berühmten Sinologen Joseph Needham (1900–1995) – vornahm: «Needham hat diese Sprache erlernt, um chinesische Schriften zu studieren. Ich wollte es erlernen, um auf Chinesisch über Europa zu schreiben. Das war mir unmöglich. Wenige Male in meinem Leben musste ich ein Projekt aufgeben» [Illich in Conversation, 122]. Er las Altgriechisch und machte sich Notizen auf Latein («Zehn Jahre lang», so bekannte er 1988, «schrieb ich alle meine Notizen auf Latein, auf Küchenlatein natürlich, dem mittelalterlichen Latein» [Illich in Conversation, 123]). Auch behauptete er, keine Muttersprache zu haben («Ich gehöre zu denen, die keine Muttersprache hatten» [Illich in Conversation, 91]), womit er unterstrich, dass er und seine Familie zu Österreich-Ungarn gehörten, wo siebzehn Sprachen geläufig waren.
Für ihn war Vielsprachigkeit die Regel und Einsprachigkeit, welche im Wesentlichen durch das Schulsystem zustande kommt, die Ausnahme. Ein ungebildeter Bauer der Sahel-Zone verständigt sich in vier oder fünf Sprachen, während sein beschultes Kind nur mehr eine oder zwei kennt. Erklärt diese Sprachbegabung sein Interesse für deren Weltgeschichte und auch seine überbordenden etymologischen Studien? In den meisten seiner Schriften stellt er linguistische Überlegungen in der jeweiligen Sprache an, und im Mündlichen macht es ihm ein schelmisches Vergnügen, andere Übersetzungen eines Begriffes vorzuschlagen oder seine anderen Bedeutungen zu ersinnen. «Wenn ich Englisch spreche, drücke ich mich anders aus, als wenn ich Französisch spreche. Man sagt, sogar meine Gesten ändern sich, aber sicherlich mein Ausdruck, und ich meine nicht nur die Muskeln des Mundes, sondern sogar die Augen. Und weil Wörter Geschmack und Atmosphäre haben und mit ihnen etwas berührt werden kann, ist die sinnliche Wirklichkeit, in der ich in diesem Moment lebe, anders in Englisch, und in Französisch und auf Deutsch wäre sie wieder anders» [Illich in Conversation, 196].
Illich tummelt sich in einem kultivierten Milieu ohne irgendeine, beispielsweise durch die Religion, auferlegte Beschränkung. Sein Onkel mütterlicherseits war die rechte Hand Rudolf Steiners (1861–1925), des Begründers der Anthroposophie und pädagogisches Urgestein, durch ihn wurde dem Heranwachsenden eine andere Sicht auf Glaubensrichtungen … und auf Schule (!) eröffnet. 1932 verlässt seine Mutter das eheliche Heim in Split und kehrt mit Ivan und seinen jüngeren Brüdern (den Zwillingen) in das väterliche Haus nach Wien zurück. «Selbst in meiner Kindheit», so erinnert er sich 1993, «war das Zeichnen und Skizzieren noch ein Teil von Fähigkeiten, die man pflegen musste: sie übten das Auge, wie die Musik das Ohr einstimmte und der Tanz den Gang geschmeidig machte. Ich musste noch unter der Aufsicht einer Witwe aus Bremen Blumensträuße und Aussichten aquarellieren, um meine Aufmerksamkeit zu schulen. Jede Epoche, jedes Handwerk und Milieu hatte seine eigenen Forderungen an okulare Fertigkeiten» [Askese des Blicks, 208]. Er kann also zeichnen. Nach anderen Beteuerungen aber ist er kaum musikalisch und hört wenig Musik. Er ist kein «guter» Schüler, wie man vermuten könnte, ungeachtet seiner unglaublichen Auffassungsgabe und einer stets aufgeweckten Intelligenz. «Ich habe die Schule niemals ernst genommen. Praktisch alles, was ich lernte, passierte außerhalb der Schule» [Illich in Conversation, 60]. Ivan entdeckt sehr früh, dass die Institution Schule für das Lernen nutzlos ist, und er wird an dieser Einsicht festhalten, bis er ihr mehrere Bücher gewidmet hat. «Die Idee, in die Schule zu gehen, um dort eine Erziehung zu bekommen, hat sich nur sehr langsam entwickelt. Ich habe immer gedacht, dass sie mit Comenius begonnen hat, der sagt, dass man den Kindern alles perfekt beibringen müsse, damit sie nichts Schlechtes außerhalb der Schule lernen. (…) Ich habe nichts gegen Schulen! Ich bin gegen den Schulzwang» [Illich in Conversation, 68]. Er erzählt, wie er sich 1938, während eines Spazierganges im Wiener Wald, des bevorstehenden Einmarsches der Nazis bewusst wird, und dass er seitdem weiß, dass er niemals Kinder haben wird: «Meine Intuition sagt mir, dass eine der schlimmsten Taten in unserer modernen Gesellschaft ist, Kinder in diesem spezifisch modernen Sinn zu erzeugen. Als ich jung war, beschloss ich, dass ich das nicht tun würde. Das war der Grund, weshalb ich mit zwölf Jahren beschloss, niemals zu heiraten» [Illich in Conversation, 75].
Einen Monat nach den auch in Österreich erlassenen Nürnberger Gesetzen, im April 1938, führt sein Deutschlehrer der ganzen Klasse sein «jüdisches Profil» vor; der Antisemitismus wird alltäglich und durchdringt die letzten Winkel des täglichen Lebens. Es ist Zeit, fortzugehen [Kaller-Dietrich, 2007]. 1942 verwandelt die Nazigesetzgebung sie von «Halb-Ariern» in «Halbjuden» und zwingt sie, aus der österreichischen Hauptstadt zu flüchten. Sie gehen nach Florenz. Im selben Jahr war Piero an einem Herzinfarkt gestorben, ohne nach der Trennung von seiner Frau seine Söhne wiedergesehen zu haben. Aus administrativen Gründen schreibt sich Ivan an der Universität von Florenz in Chemie ein und bildet sich in Kristallographie aus (1942–1945), wobei er einen Identitätsausweis benützt, der es ihm während des faschistischen Regimes ermöglicht, unter einem falschen Namen in die Legalität einzutreten. «Ein kleines, sehr nützliches Werkzeug» [Illich in Conversation, 81]. Damals nimmt er in bescheidenem Maße am antifaschistischen Widerstand teil, wie er Douglas Lummis in einem unveröffentlichten Interview erzählt, das im Winter 1986–1987 in Japan stattfand: «Die Deutschen hatten entschieden, in Italien bei ihrem Rückzug eine Politik der verbrannten Erde anzuwenden und sie nahmen alles Vieh mit. Ich gelangte an Informationen aus dem deutschen Kommando, wo sie die Kühe requirieren würden, und ich trieb sie in die Berge, wo die Deutschen sie nicht finden konnten. Das war keine furchtbar heldenhafte Tat, aber damals (…) ist Widerstand für mich natürlich geworden» [Flüsse, FN 3, 260]. 1945 schreibt er sich am Collegium Capranica ein und studiert gleichzeitig Philosophie und Theologie an der Gregoriana in Rom.
Zur gleichen Zeit schreibt er in Salzburg seine Doktorarbeit in Geschichte – über 100 Schreibmaschinenseiten unter dem Titel: Die philosophischen Grundlagen der Geschichtsschreibung bei Arnold Toynbee –, die er 1951 unter der Leitung von Albert Auer verteidigt, einem Benediktiner und Gelehrten zur Leidenstheologie des zwölften Jahrhunderts. In Salzburg assistiert er bei den Lehrveranstaltungen von Michel Müchlin und erinnert sich besonders an jenes Semester, das den Verwandlungen des Bildes des Phoenix in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts gewidmet ist. Arnold Toynbee (1889–1975), Historiker, Altertumsforscher und Diplomat, legt in seiner vielbändigen A Study of History eine umfassende vergleichende Untersuchung aller menschlichen Gesellschaften quer durch die Menschheitsgeschichte dar. Er entwirft dieses Denkgebäude während des Ersten Weltkrieges, beginnt dessen Niederschrift 1921 und veröffentlicht die ersten sechs Bände zwischen 1933 und 1939. Das wichtigste Konzept, das seinem eindrucksvollen Fresko eine gewisse Einheitlichkeit sichert, ist das der «Kulturen». Er unterscheidet zweiundzwanzig: sechs «lebende», dreizehn «erloschene» und drei «untergegangene», die miteinander in Bezug stehen und sich durch die Herausforderungen verändern, auf die sie reagieren müssen, die Gewohnheiten, von denen sie sich mehr oder weniger schnell befreien, die Kriege und die Religionen etc. Die genaue Lektüre, die Illich diesem damals sehr berühmten Autor zukommen lässt, wird ihn tief beeindrucken, viel mehr als die parallele Lektüre von Oswald Spengler und dessen Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes (1918–1922). Es verwundert nicht, dass er den Gegenstand seiner Doktorarbeit in Entschulung der Gesellschaft 1971 erwähnt: «Arnold Toynbee hat dargelegt, dass der Verfall einer großen Kultur gewöhnlich vom Aufstieg einer neuen Weltkirche begleitet wird, die dem Proletariat Hoffnungen macht, aber nur einer neuen Kriegerklasse dient. Die Schule scheint vorzüglich geeignet, die Weltkirche unserer verfallenden Kultur zu sein» [Entschulung, 70]. Seit seinem Doktorat hält er an einer dynamischen Dimension fest, die nach Toynbee jedem Verfallsprozess eigen ist. Wie ist die methodologische These des damals 25-jährigen Illich einzuschätzen? Klar ist: Die Toynbee gewidmeten akademischen Schriften geben darauf keine Antwort – sicher, weil es sich um eine philosophische und nicht um eine ausgesprochen historiographische Arbeit handelt. Also wieder eine Frage der Klassifikation und der Fachgrenzen!