Karina Urbach
QUEEN
VICTORIA
Die unbeugsame Königin
Eine Biografie
C.H.Beck
Als Victoria 1837 im Alter von achtzehn Jahren den Thron bestieg, hätte niemand ihr zugetraut, eine erfolgreiche Königin zu werden – geschweige denn, ein ganzes Zeitalter zu prägen. Die Historikerin Karina Urbach erzählt in dieser glänzend geschriebenen Biografie, wie Victoria in ihrer 63-jährigen Regierungszeit allen politischen Stürmen und persönlichen Widrigkeiten standhielt und zur mächtigsten Frau des 19. Jahrhunderts wurde.
Ohne Queen Victoria (1819–1901) hätte die britische Monarchie kaum überlebt. Sie wurde zu einem moralischen Kompass für die aufsteigende Mittelschicht und inszenierte die Monarchie als wichtigstes Symbol des britischen Empires. Karina Urbach schildert Victoria als Monarchin und Mutter, als Strippenzieherin dynastischer Diplomatie wie als Zentralgestirn einer viktorianischen Fortschrittswelt. Sie zeigt sie in ihrem Egoismus und ihrer Großzügigkeit, ihren Wutausbrüchen, ihrem Mitgefühl – vor allem aber in ihrem enormen Charme. Diese Biografie entwickelt ein frisches, lebendiges Bild der großen Königin, die durch die Heiraten ihrer Kinder zur «Großmutter Europas» wurde und so auch die Geschicke des ganzen Kontinents prägte.
«Diese kluge und erhellende Biografie ist eine fesselnd geschriebene, souveräne Würdigung der Königin. Mit Witz und psychologischem Einfühlungsvermögen zeichnet Karina Urbach – gestützt auf eine Fülle auch persönlicher Dokumente – ein überzeugendes und plastisches Porträt dieser Frau.» Christopher Clark
Karina Urbach ist habilitierte Historikerin und eine der besten deutschen Expertinnen für die englische Monarchie seit dem 19. Jahrhundert. Sie unterrichtete an verschiedenen deutschen und britischen Universitäten und forscht seit 2015 am Institute for Advanced Study in Princeton. Als Fachberaterin war sie an zahlreichen historischen Dokumentationen der BBC und des ZDF beteiligt. Zuletzt erschien von ihr Hitlers heimliche Helfer. Der Adel im Dienst der Macht (2016).
Vorwort
KAPITEL 1: Eine Dickens’sche Kindheit
KAPITEL 2: Eine kindliche Königin?
KAPITEL 3: Auftritt Pygmalion
KAPITEL 4: Politische Herausforderungen
KAPITEL 5: Die Familienfirma: Gefühl und Kalkül
KAPITEL 6: Der Krimkrieg
KAPITEL 7: Victoriana
KAPITEL 8: Rasender Stillstand
KAPITEL 9: Im Alleingang: Ein Empire für die Fee
KAPITEL 10: Der perfekte Tod
KAPITEL 11: Die Vorbildfamilie zerbricht
Anhang
Zeittafel
Bibliografie
Quellen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Für Jonathan und Timothy
Königinnen haben Konjunktur. Davon profitiert seit einigen Jahren auch Queen Victoria. Ihr Leben wird in britischen Fernsehserien und opulenten Kinofilmen neu interpretiert. Eine Konkurrentin um Einschaltquoten ist nur noch ihre eigene Ururenkelin: Königin Elizabeth II. steht im Mittelpunkt der aufwendigen Netflix-Serie «The Crown», die auf sechzig Episoden angelegt ist. Diese Sendungen werden unser Bild von beiden Königinnen auf lange Zeit hinaus prägen. Aber wie nah sind sie an der historischen Realität? Was wissen wir tatsächlich über diese Frauen?
Schon Victorias Zeitgenossen waren der festen Überzeugung, sie genau zu kennen. Man hielt sie für eine Königin, die sich früh mit ihrem Machtverlust arrangierte, gütig über das Empire herrschte und eine vorbildliche Mutter für ihre Kinder war. Als nach Victorias Tod Auszüge aus ihren Briefen und Tagebucheinträgen bekannt wurden, veränderte sich diese Sicht radikal. Obwohl ihre Tochter Beatrice einen Großteil stark zensiert hatte, erzählten diese privaten Papiere eine neue Geschichte. Hier begegnete man der unbeugsamen Königin: einer parteiischen Frau, die um politischen Einfluss rang, ihre Familie kontrollierte und jeden Zentimeter ihres Empires verteidigt wissen wollte.
Auch bei ihrer Ururenkelin Elizabeth II. könnte es eines Tages zu Überraschungen kommen. Als ihre Zeitgenossen glauben auch wir, sie gut zu kennen, schließlich haben wir unzählige Berichte über sie in der Presse gelesen. Doch die Anekdoten über royale Ehekrisen und undankbare Kinder lenken unseren Blick von den entscheidenden Dingen ab. Wir wissen fast nichts über die Hintergrundgespräche Elizabeths mit hohen Militärs, Politikern und Mitarbeitern der Nachrichtendienste und können daher nicht einmal erahnen, welchen Einfluss sie hinter den Kulissen wirklich hat. Nach ihrem Tod wird ihr gesamter Nachlass für mindestens hundert Jahre gesperrt sein. Da die königlichen Archive keinen staatlichen Sperrfristen unterliegen, könnte die Wartezeit sich auch auf 200 Jahre verlängern. Erst dann werden unsere Nachkommen erfahren, welche Rolle Elizabeth II. für den Erhalt des Commonwealth spielte oder ob sie wirklich den Brexit befürwortete, wie eine BBC-Journalistin 2016 berichtete.
Auf den ersten Blick scheint der große zeitliche Abstand zu Queen Victoria uns also einen klaren Vorteil zu bieten. Doch auch wenn wir genügend Quellen über sie zur Verfügung haben, werden diese von Historikern immer wieder neu und anders bewertet. Victoria-Biografien scheinen einer ständigen Wellenbewegung zu unterliegen: Hagiografien und Hinrichtungen wechseln einander alle zwanzig Jahre ab. Neue Moden in der Geschichtswissenschaft, aber auch kulturelle Unterschiede spielen dabei eine Rolle. In Deutschland zum Beispiel sieht man Victoria als Sinnbild alles Britischen, in Großbritannien hingegen beurteilt man sie als ausgesprochen deutsch. Der britische Historiker A. N. Wilson hat sie in einem vielschichtigen Porträt sogar als eine Art ewige Einwanderin beschrieben, die mit all den Schwierigkeiten eines typischen Einwanderers kämpfen musste.
Unser Bild von Victoria sagt demnach immer auch viel über uns und unsere Zeit aus. Doch fragt sich, wie relevant die Königin wirklich für die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist? Natürlich kann man über das Viktorianische Zeitalter schreiben und seine Namensgeberin ignorieren. Doch den Faktor Victoria langfristig zu vernachlässigen gleicht dem Versuch, eine Party zu beschreiben, ohne die Gastgeberin zu erwähnen. Victoria war die integrative Klammer einer Gesellschaft, in der soziale Verunsicherung herrschte. In der ersten Hälfte ihrer Regierungszeit wurde sie zu einem moralischen Kompass für die aufsteigende Mittelschicht. In der zweiten Hälfte gelang es ihr, sich als Symbol des Empires zu inszenieren.
Anfangs hätte ihr niemand zugetraut, eine erfolgreiche Königin zu werden. Als sie achtzehnjährig den Thron bestieg, erinnerte sie eher an die Titelheldin aus «Alice im Wunderland»: ein kleines, unscheinbares Mädchen, das durch Zufall zum Mittelpunkt einer bizarren Welt wurde, in der es sich behaupten musste. Wie Alice sah sich auch Victoria ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die sie nicht immer bewältigen konnte. Sie lebte in einer Zeit, in der sich die britische Gesellschaft rasant veränderte. Die Industrialisierung brachte Großbritannien enormen Reichtum und enorme soziale Probleme. Das ständig wachsende Empire wurde zu einer Goldmine und zog gleichzeitig Unterdrückung und Kriege nach sich.
Wie bei Alice schwankte auch Victorias Status in dieser bizarren Welt beträchtlich. In ihrem Wunderland wird Alice von einer Minute auf die andere von einer Riesin zu einer Zwergin geschrumpft. Königin Victoria erlebte Phasen enormer Beliebtheit, auf die Rufe nach ihrer Absetzung folgten. Sie überstand Letztere stoisch. Wenn man Otto von Bismarcks Verdikt folgt, dass der Charakter eines Menschen sein Schicksal bestimmt, dann zeigt Victorias erfolgreiches Überleben im Viktorianischen Wunderland beeindruckende Charakterstärke.
In gewisser Weise dominiert die Persönlichkeit Victorias die Royal Family bis heute. Die Königin hinterließ ihrer Familie nicht nur ein großes finanzielles Erbe, sondern auch Traditionen, die immer noch funktionieren. Die Pracht royaler Ereignisse begeistert weiterhin Millionen und sorgt für Touristenscharen. Darüber hinaus ist es vor allem die Institution der Monarchie, die das Commonwealth bis heute zusammenhält.
Diese Biografie versucht zu zeigen, welch unterschiedliche Rollen Victoria im Laufe ihres Lebens zu spielen lernte: als Monarchin und Mutter, als Strippenzieherin dynastischer Diplomatie und als symbolischer Mittelpunkt einer viktorianischen Fortschrittswelt. Sie hatte Freiheiten, von denen ihre Zeitgenossinnen nur träumen konnten, und sie nutzte diese Chancen ausgiebig. Niemand schaffte es langfristig, Victoria zu brechen. Auch das macht sie für uns heute interessant: Die unbeugsame Königin ging keinem Kampf aus dem Weg.
Princeton, Institute for Advanced Study,
April 2018
KAPITEL 1
Das Mädchen «sieht aus wie George III. in einem Kleid». Lady Grenvilles Vergleich der dreijährigen Victoria mit deren Großvater war alles andere als schmeichelhaft. George III. galt seinen Zeitgenossen als ein ausgesprochen unattraktiver Mann, der nicht nur die amerikanischen Kolonien, sondern auch seinen Verstand verloren hatte. Seine Familienverhältnisse waren so zerrüttet wie seine Nerven. Bereits im luziden Zustand bekämpfte er die Mehrzahl seiner fünfzehn Kinder. Vor allem seine Söhne beschimpfte er regelmäßig als faule und amoralische Geschöpfe. Sie bestätigten seine Einschätzung, indem sie mit der Opposition kokettierten und Schulden anhäuften. Die Familie war bereits auseinandergefallen, als bei George III. erstmals die Stoffwechselkrankheit Porphyrie ausbrach. Seine Wutausbrüche verwandelten sich nun in schubartig auftretende Wahnattacken. In dem berühmt gewordenen Theaterstück «The Madness of George III» zeigt Alan Bennett, wie der König verzweifelt gegen seine Krankheit ankämpft, während seine Söhne auf das Erbe spekulieren. Bennett stellt George III. als eine Art King-Lear-Figur dar, die umgeben ist von einer undankbaren Brut. Nur seine deutsche Ehefrau hält Cordelia-gleich zu ihm. In Wirklichkeit gab auch die Königin ihren Mann mit der Zeit auf. Sie weigerte sich, mit ihm weiter zusammenzuleben, und konzentrierte sich auf Finanzgeschäfte – ihr Portfolio entwickelte sich ausgesprochen erfolgreich.
Victoria lernte früh, dass sie aus einer dysfunktionalen Familie kam. Zeit ihres Lebens war sie der festen Überzeugung, sie habe eine traumatische Kindheit erlebt. Ihrer ältesten Tochter beschrieb sie, wie unglücklich sie gewesen sei: «Keinen Auslauf für meine starken Gefühle und Zuneigungen, keine Brüder und Schwestern, mit denen ich leben konnte (…) kein intimes und vertrauensvolles Verhältnis mit meiner Mutter (ganz anders als zwischen Dir und mir), auch wenn ich sie jetzt liebe.»
Victoria wurde im Laufe ihres Lebens eine begeisterte Romanleserin. Auch wenn sie ihre frühen Jahre kaum mit dem harten Schicksal von Charles Dickens’ Figuren vergleichen konnte, so hätte sie doch zu Recht behaupten dürfen, dass ihre Kindheit ungewöhnlich melodramatisch verlaufen war. Ihren Vater Edward, Herzog von Kent, hatte sie nie bewusst kennengelernt. Kent war in seinem Leben selten etwas gelungen. Als vierter Sohn Georges III. hatte er von Anfang an einen geringen Status innerhalb seiner Familie gehabt. Er galt als das unbeliebteste Kind und wurde frühzeitig in die Armee abgeschoben. Als offensichtlich wurde, dass sein Vater nicht mehr regierungsfähig war, übernahm 1811 der älteste Bruder – der spätere George IV. – die Prinzregentschaft. Diese Zeit des «Regency» dauerte bis 1820 und leitete eine kulturelle Blüte in Großbritannien ein. Regency-Häuser und -Möbel sind bis heute an Eleganz nicht zu übertreffen. Von Zeitgenossen jedoch wurden der bauwütige Prinzregent und seine Brüderschar vor allem als Sinnbild des Lasters wahrgenommen. Die ganze englische Gesellschaft schien mit diesen Royals an der Spitze in einem Morast zu versinken. Und der Herzog von Kent war aktiver Bestandteil dieses Morasts. Zwar scheinen seine vielen Mitgliedschaften in Wohltätigkeitsorganisationen und sein Interesse an Reformern wie Robert Owen Belege für seine humane Seite zu sein. Doch Kent war vor allem ein extrem cholerischer Mann, der sich in der Armee mit Gewalttaten einen Namen gemacht hatte. Dies war insofern eine Leistung, als im britischen Militär «raue» Methoden nicht unbekannt waren. 1803 hatte Kents Führungsstil in Gibraltar zu einem Aufstand geführt (seine große Unbeliebtheit bei den Soldaten hing auch damit zusammen, dass er preiswerte Weinläden geschlossen hatte). Der Herzog musste aus dem Dienst scheiden und war von nun an arbeits- und mittellos. Er wich ins preiswerte Brüssel aus und verlagerte seine Brutalität auf den privaten Bereich.
Zwar war er seiner Geliebten Julie de St. Laurent über 25 Jahre hinweg weitgehend treu, doch finanzielle Engpässe ließen ihn 1817 dieses Arrangement überdenken. Er brauchte jetzt dringend eine lukrative Statusheirat. Wie neue Quellenfunde zeigen, war es Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld, der Kent eine interessante Offerte machte. Der gutaussehende Leopold stammte aus dem politisch unbedeutenden Herzogtum Coburg, hatte es aber 1816 trotzdem geschafft, die britische Thronfolgerin Charlotte zu heiraten. Für das ehrgeizige Haus Coburg war die Heirat ein großer Coup: Charlotte würde eines Tages Königin werden, und Leopold hoffte, an ihrer Seite mitzuregieren. Um seine Stellung in Großbritannien auszubauen, plante er, weitere Coburger mit Mitgliedern der britischen Königsfamilie zu verheiraten. Der verschuldete Kent schien für dieses Projekt besonders geeignet und war auch sofort interessiert. Leopold konnte ihm seine verwitwete Schwester Victoria Luise anbieten. Die streng geheimen Eheverhandlungen befanden sich bereits in vollem Gange, als Leopold einen schweren Rückschlag erlitt: Seine Frau Charlotte brachte 1817 ein totgeborenes Kind zur Welt und starb kurz darauf. Ihr unerwarteter Tod beendete Leopolds Hoffnung auf den britischen Thron. Als Witwer behielt er zwar den Titel einer Königlichen Hoheit und bezog eine Apanage von 50.000 Pfund im Jahr, doch er wollte sehr viel mehr – Macht und Einfluss für das Haus Coburg.
Vorsorglich verfolgte er immer verschiedene Projekte parallel, und die bevorstehende Heirat zwischen seiner Schwester Victoria Luise und dem Herzog von Kent gab ihm Hoffnung, dass die Coburger in Großbritannien langfristig doch noch eine Rolle spielen würden. Mit viel Glück würden seine Schwester und Kent den nächsten britischen Thronfolger produzieren können. Es war eine Gleichung mit vielen Unbekannten, aber die verwitwete Victoria Luise hatte ihre Familie bisher nie enttäuscht. Als Siebzehnjährige war sie mit dem sehr viel älteren Fürsten von Leiningen verheiratet worden und hatte ihm einen Erben geboren. Als Fürstin von Leiningen wäre sie heute in Vergessenheit geraten, wenn ihr Mann nicht bald gestorben wäre. Victoria Luise war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt und somit auf dem Heiratsmarkt noch einsetzbar. Für eine englische Heirat hatte sie die richtige Religion, das richtige Alter, und ein kleines Einkommen besaß sie auch. Da sie bereits einen Sohn und eine Tochter geboren hatte, schien sie fruchtbar zu sein.
Kent war vollkommen überzeugt, dass diese Ehe ein Erfolg werden würde. Eine Zigeunerin hatte ihm einst gewahrsagt, er würde der Vater einer großen Königin werden. Charlottes plötzlicher Tod erschien ihm als ein eindeutiges Zeichen, dass er die Eheverhandlungen mit Victoria Luise endlich abschließen müsse. Nachdem er seiner Geliebten Mme de St. Laurent noch einmal versichert hatte, sie niemals zu verlassen, verschwand er für immer aus Brüssel.
Auch wenn Kents «plötzliche» Heiratswilligkeit in der Presse ironisch kommentiert wurde, war sie keineswegs ungewöhnlich für seine Zeit. Wenn man im Hochadel heiratete, dann nur nach Stand und Einkommen. Auch Kents Brüder unterhielten fast alle eine Geliebte, und Arrangements dieser Art wurden in der Regel stillschweigend toleriert. Doch mit Charlottes Tod änderte sich alles. Das Rennen um die Zeugung eines neuen Thronfolgers hatte begonnen, und Kents Geschwister schlossen jetzt ebenfalls Schnellschussehen. Zwei seiner Brüder, die Herzöge von Clarence und Cambridge, sprinteten fast zeitgleich zum Altar – nur Augustus blieb bei seiner Geliebten. Die Hochzeit zwischen Kent und Victoria Luise fand im Mai 1818 in Coburg statt und wurde zwei Monate später in Kew Palace für die Royal Family wiederholt.
Allerdings wusste der Herzog von Kent, dass seine Finanzen für ein standesgemäßes Leben in Großbritannien nicht ausreichten, und so hatte er seiner Frau versprochen, mit ihr in Amorbach im Odenwald zu leben. Hier konnte er endlich den Landesvater spielen. Er machte sich sofort daran, das Schloss kostspielig umzubauen. Das Leben in der deutschen Provinz blieb jedoch eine Episode: 1819 kehrten die Kents nach England zurück, da die Herzogin schwanger geworden war.
Kent war fest davon überzeugt, dass dieses Kind eines Tages den Thron besteigen würde. Es musste also unbedingt in London auf die Welt kommen. Zwar warnte man ihn davor, einer hochschwangeren Frau die strapaziöse Reise von Amorbach nach London zuzumuten, da Schlaglöcher und Seekrankheit zu einer Fehlgeburt führen könnten. Doch wie schon in seiner Zeit als Militär kannte Kent keine Rücksicht gegen andere. Aus Geldmangel lenkte er eine der Kutschen selbst und schaffte es tatsächlich rechtzeitig, seine Frau auf britischen Boden zu bringen. Am 24. Mai 1819 kam die spätere Königin Victoria im Kensington Palace zur Welt. Geburtshelferin war die Coburger Ärztin Charlotte von Siebold. Nur drei Monate später sollte sie ein anderes Kind auf die Welt holen – Victorias späteren Ehemann Prinz Albert.
Auch wenn Victoria «nur» ein Mädchen war, sahen ihre Eltern allen Grund zu feiern. Nach sechzehn Jahren Arbeitslosigkeit hatte Kent nun endlich eine neue Berufung gefunden: seine Tochter. Ihre Existenz verlieh ihm Status und Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft. Er war jetzt nicht mehr nur einer von vielen Brüdern, er war – zumindest vorläufig – der Einzige in der königlichen Erbfolge mit einem gesunden und vor allem ehelichen Kind. Da Kent immer der unbeliebteste Sohn in der Familie gewesen war, konnte er allerdings kaum auf die Glückwünsche seiner Geschwister hoffen. Die Geburt seiner Tochter wurde in den folgenden Tagen nur in ein paar Zeitungen erwähnt.
Auch ihre Taufe war alles andere als ein spektakuläres Ereignis. Als offizieller Taufpate fungierte der russische Zar Alexander, womit der erste Name, Alexandrina, feststand. Die Kents hatten jedoch gehofft, ihrem Kind auch einen britischen Vornamen wie Georgina oder Elizabeth geben zu dürfen. Das offizielle Familienoberhaupt, der Prinzregent, wollte davon aber nichts wissen, und so kam es am Taufbecken zu einer grotesken Szene. Ein Name nach dem anderen wurde vorgeschlagen – Prinzregent George lehnte sie alle ab. Daraufhin brach die Kindesmutter in Tränen aus, und George entschied, das Kind solle nach seiner schluchzenden Mutter benannt werden: Alexandrina Victoria. Für die Kents war dies eine schwere Niederlage. Man hatte ihrer Tochter einen Außenseiternamen gegeben. Victoria war keineswegs ein englischer Name und erweckte keine Assoziationen historischer Größe. Zwar sollten später Generationen von Mädchen nach Königin Victoria benannt werden, doch wie wenig man in Großbritannien von diesem Vornamen hielt, würde sich noch lange nach Victorias Geburt zeigen: Parlamentarier plädierten 1831 dafür, die junge Thronfolgerin solle ihren Vornamen ändern, damit sie eines Tages als Elizabeth II. regieren könnte. Victoria hatte zu diesem Zeitpunkt schon den Vornamen Alexandrina fallen gelassen, aber ihren zweiten Namen gab sie nicht auf. Stattdessen leitete sie als Queen eine Revolution der königlichen Namen ein. Keines ihrer Kinder sollte einen Vornamen erhalten, der an die Hannoveraner, die Dynastie, der sie entstammte, erinnerte. Sie machte einen klaren Schnitt zur hannoveranischen Vergangenheit ihrer «bösen Onkel».
Den Kents hatte die desaströse Taufe deutlich gezeigt, dass für sie kein Platz in der Hofgesellschaft war. Zwar bekam der Herzog eine Erhöhung seiner Apanage zugesprochen, aber seine finanziellen Probleme konnten damit nicht gelöst werden. Ökonomische Zwänge engen bekanntlich die Handlungsspielräume ein. Die Familie begab sich daher erneut auf die Suche nach einem preisgünstigen Aufenthaltsort, und dieses Mal fiel ihre Wahl auf ein Seebad – Sidmouth an der englischen Kanalküste. Es war alles andere als eine kluge Entscheidung. Devon hat zwar ein milderes Klima als andere Teile der Insel, aber im Winter kann es auch hier sehr kalt werden. Der Herzog von Kent hielt sich jedoch für eine überaus robuste Natur und unternahm im Januar 1820 lange Strandspaziergänge im eiskalten Wind. Wenig später starb er an einer Lungenentzündung. Prinzessin Lieven, die Ehefrau eines russischen Diplomaten, drückte damals aus, was viele in der Londoner Gesellschaft dachten: «Dieser Herkules von einem Mann lebt nicht mehr (…) Niemand in England wird ihn betrauern. Er war falsch, hart und gierig. Seine sogenannten guten Eigenschaften waren nur Theater.»
Der unbekannte Vater: Edward Herzog von Kent (1767–1820), vierter Sohn von König George III.
Die besondere Ironie war, dass Kent von seinem geistig umnachteten Vater George III. um sechs Tage überlebt wurde. Der König hatte zuletzt nur noch als Phantom existiert und wurde von seinem Nachfolger George IV. keine Sekunde lang betrauert. Auch die Herzogin von Kent trauerte nicht um ihren Schwiegervater, aber der Tod ihres Mannes stellte für sie eine Katastrophe dar. Zwar war ihre Ehe alles andere als eine Liebesheirat gewesen, doch hatten sie beide ein gemeinsames Projekt verfolgt. Nun war diese Arbeitsgemeinschaft über Nacht beendet und das Projekt gefährdet. Die Herzogin ahnte, dass sie keine intelligente Frau war. Dieser Umstand wäre nicht weiter aufgefallen, wenn sie nicht plötzlich die alleinerziehende Mutter der – potenziellen – britischen Thronfolgerin geworden wäre. In dieser Rolle konnte mangelnde Intelligenz fatale Folgen haben. Darüber hinaus sprach die Herzogin kaum Englisch, fühlte sich (sicher zu Recht) gesellschaftlich isoliert und hatte einen Schuldenberg geerbt. Ihre erste panikartige Reaktion war daher, die Koffer zu packen und nach Amorbach zurückzukehren. Ihre Familie überredete sie jedoch, in England zu bleiben. George IV. stellte ihr Räume im Kensington Palace zur Verfügung, und sie erhielt eine Witwenrente von 6000 Pfund. Ihr Bruder Leopold finanzierte ihr aus eigener Tasche eine zusätzliche Apanage von 3000 Pfund. Beiden Herren sollte sie dafür nicht dankbar sein.
Die überforderte Mutter: Victoria Luise Herzogin von Kent (1786–1861), geborene Prinzessin von Sachsen-Coburg
Die Herzogin war nicht nur auf finanziellem, sondern auch auf emotionalem Gebiet «needy» – sie hatte die Persönlichkeitsstruktur einer «Klammerin». Da sie sich ständig überfordert fühlte, erwartete sie von ihrer Umgebung permanente Lebenshilfe. Leopold war ihre bevorzugte Anlaufstelle, doch er verlor mit den Jahren die Geduld. Lange bevor er zum König der Belgier wurde, überließ er das Feld einem Hofschranzen: Sir John Conroy.
Der gutaussehende Conroy war ein irischer Aufsteiger mit ranzigem Charme. Als Siebzehnjähriger war er in die Armee eingetreten, hatte es jedoch geschafft, in keiner Schlacht eingesetzt zu werden und selbst Waterloo weiträumig zu umgehen. Stattdessen heiratete er die Tochter seines Vorgesetzten und begab sich auf die Suche nach ungefährlichen Karrieremöglichkeiten. Vor Victorias Geburt war er in die Dienste ihres Vaters, des Herzogs von Kent, eingetreten. Da dieser ein begeisterter Militär war, förderte er Conroy nach Kräften. Gemeinsam konnten sie in Erinnerungen an ihre Militärzeit schwelgen und ungeschlagene Schlachten analysieren. Den Grund, warum Conroy ausgerechnet Kents Nähe gesucht hatte, fand man vor einiger Zeit in seinem Nachlass. Conroy war der festen Überzeugung, seine Ehefrau Elizabeth sei eine uneheliche Tochter des Herzogs von Kent. Diese Idee war zwar abstrus (Conroys Frau wurde in Quebec geboren, als Kent noch in Gibraltar war), aber sie erklärt, warum Conroy sich geradezu obsessiv mit der königlichen Familie beschäftigte.
Nach dem Tod des Herzogs von Kent versuchte Conroy, sich nun bei der Witwe unentbehrlich zu machen. Er hatte schnell erkannt, dass Victoria Luise alles andere als alltagstauglich war, und es fiel ihm nicht schwer, sie unter seine Kontrolle zu bringen. Sukzessive übernahm er die Macht im Hause Kent. Der Diener wurde zum Herrn.
Auch während ihrer ersten Witwenschaft in Amorbach war Victoria Luise in die Hände eines skrupellosen Verwalters gefallen – jetzt wiederholte sie den Fehler. Es ist oft darüber spekuliert worden, ob sie auch eine sexuelle Beziehung zu Conroy hatte. Da ihre Töchter einen unerbittlichen Hass auf ihn entwickelten, scheint dies naheliegend. Für Conroy war es wahrscheinlich gar nicht nötig, so weit zu gehen. Das geringe Selbstbewusstsein seiner Herrin – sie bezeichnete sich immer wieder als «dumme, alte Gans» – machte ihm die Sache leicht. Wann immer die Herzogin es wagte, sich gegen seine Entscheidungen zu wehren, drohte er damit, ihre Dienste zu verlassen. Die Streitereien endeten regelmäßig mit einer Entschuldigung der Herzogin, die Conroy reumütig für all seine «persönlichen Opfer» dankte. Auch ihre Schwägerin, Prinzessin Sophia, ordnete sich Conroy völlig unter – beide Frauen übergaben ihm die Kontrolle über ihre Finanzen, und Sophia spendierte ihrem «cher ami» sogar mehrere Häuser. Conroy hingegen veruntreute mit großer Wahrscheinlichkeit die finanziellen Zuwendungen, die der Herzogin gezahlt wurden. Erst viele Jahre später sah man ihre Bücher ein: Seit 1829 hatte Sir John keine Eintragungen mehr gemacht.
Reichen Damen bei ihren Geldanlagen «behilflich» zu sein blieb jedoch langfristig unbefriedigend für Conroy. Er wollte politische Macht. Sein Plan war es, mit der Herzogin als Aushängeschild eine Regentschaft für die minderjährige Victoria zu führen. Wenn das unbedarfte Mädchen dann volljährig wäre, würde er als ihr Privatsekretär die Geschäfte leiten. Der Plan war simpel und zukunftsträchtig. Conroy hatte bis zu diesem Zeitpunkt bei der Manipulation von Menschen außerordentliche Erfolge gehabt. Victoria aber sollte sein erster und entscheidender Misserfolg werden.
Die kleine «Drina» – wie Victoria anfangs genannt wurde – hatte in den ersten fünf Jahren ihres Lebens noch wenig Kontakt zu Conroy. Wie alle hochadeligen Kinder ihrer Zeit wurde sie von einer Heerschar von Dienstboten umsorgt. Sie galt als willensstarkes, robustes Kind, das gelegentlich in Tobsuchtsanfälle ausbrach. «Drina» war eindeutig der Mittelpunkt des Hauses, und ihre Wünsche wurden in der Regel befolgt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich ihre tyrannischen Seiten verstärkten und sie vom Personal auch als «Miniaturherkules» bezeichnet wurde.
Victoria wuchs zwar ohne Vater auf, doch Väter spielten damals im Leben von Töchtern ohnehin häufig eine Nebenrolle. Typisch hierfür ist die Anekdote von einem viktorianischen Pfarrer, der bei einer Gartenparty ein kleines Mädchen fragt, zu wem es denn gehöre. Das Kind bricht in Tränen aus und schluchzt: «Zu dir, Papa!» Von Müttern wurde mehr Interesse an ihren Kindern erwartet, aber auch hier konnte die emotionale Bindung stark variieren. In der Oberschicht regierten Kindermädchen über die Kinderzimmer. Victorias Erziehung war insofern unüblich, als sie nicht nur vom Personal überaus große Aufmerksamkeit erhielt, sondern auch von ihrer Mutter, die kaum gesellschaftliche Verpflichtungen hatte. Ein Grund für den mütterlichen Enthusiasmus der Herzogin von Kent war natürlich auch, dass Victoria die Haupteinnahmequelle der Familie darstellte. Ohne das Kind hätte die Herzogin keinen Status besessen und auch keine Apanage erhalten. Von den Eltern als Einnahmequelle betrachtet zu werden war ein Schicksal, das Victoria wiederum mit vielen ihrer Generation teilte. Kinder aller Schichten galten als der Besitz ihrer Eltern und wurden – bei aller Liebe – auch als eine Art langfristige Rentenversicherung gesehen.
Spielball vieler Interessen: Die sechsjährige Victoria
Hätte Victoria keine Hoffnung auf den Thron gehabt, dann hätte sich ihre Mutter stärker auf ihre älteren Kinder – vor allem auf den Sohn Karl, den Herzog von Leiningen – konzentriert. Doch die Geschwisterhierarchie der Familie «Leiningen-Kent» war durch Victorias Thronaussichten durcheinandergeraten. Karl und Feodora spielten für ihre Mutter nur noch eine marginale Rolle. Karl war auf einer Schule in Genf geparkt worden und kam lediglich in den Ferien nach England. Feodora, die zwölf Jahre ältere Halbschwester Victorias, vermisste Amorbach und empfand London als verwirrenden Moloch. Die prekäre Situation ihrer Mutter, die Conroy hörig war und einen gesellschaftlichen Fehler nach dem anderen beging, verstärkte Feodoras Gefühl, eine Außenseiterin zu sein. Sie dachte schon früh an Flucht aus dem «Gefängnis Kensington» und nahm daher das erstbeste Heiratsangebot an. Ihrer Schwester gestand sie später, sie hätte jeden geheiratet, nur um der angespannten Atmosphäre in Kensington zu entkommen. Feodora blieb zeit ihres Lebens eine stark introvertierte Frau, die sich auch während Victorias Regierungszeit immer im Hintergrund hielt. Archivare haben heute sogar Schwierigkeiten, sie auf Familienfotos zu identifizieren. Doch die Korrespondenz der beiden Schwestern zeigt, wie viel Zuneigung sie füreinander empfanden. Ihre Kindheit hatte sie – trotz des Altersunterschieds – zu einer Leidensgemeinschaft zusammengeschweißt.
Conroy war es gelungen, um den Kensington Palace einen fein gesponnenen Kokon zu bauen. Die einzigen Bezugspersonen, die Zutritt erhielten, waren deutsche Verwandte der Herzogin, die es nach London verschlagen hatte. Die englische Aristokratie blieb Victoria Luise völlig fremd, was sich später auch auf die Regentschaft ihrer Tochter auswirken sollte. Da Victoria mit englischen Adelsfamilien nicht vertraut war, hatte sie große Schwierigkeiten, die politisch richtigen Hofdamen auszuwählen, und verstand bis zu ihrem Lebensende nie die komplexen Gesellschaftsspiele der Oberschicht.
Auch wenn die Herzogin von Kent selbst unter großen Wissenslücken litt, so wollte sie ihrer Tochter doch die bestmögliche Erziehung zukommen lassen. Alle Damen im Hause Kensington sprachen Deutsch, aber «Drina» sollte ein perfektes Englisch erlernen, und sie sollte darüber hinaus Französisch und Italienisch lesen und schreiben können. Man stellte daher englischsprachige Lehrer ein wie den Reverend George Davys, der für die Fächer Religion, Geschichte, Latein und Geografie zuständig war. Später kamen noch Lehrerinnen für Tanzen, Malen und für die Klavierstunden hinzu. Victorias deutsche Erzieherin Louise Lehzen sprach gut Englisch und wurde für sie bald die entscheidende Bezugsperson. Lehzen war die Tochter eines Pfarrers aus Hannover und adorierte ihre kleine Schülerin. Es war Lehzen, die Victoria 1830 an einer Schautafel verdeutlichte, wie nah sie dem Thron stand. Die Elfjährige soll davon überrascht gewesen sein: «Ich weinte viel, als es mir klar wurde.» Lehzen war eine große Bewunderin der Kunstfreundin Elizabeth I. und sah es als ihre Aufgabe an, Victoria Kultur zu vermitteln. Gemeinsam lasen sie französische Theaterstücke im Original und besuchten die Oper. Es wurden Ausflüge in eine romantische Zwischenwelt, in der Victoria für ihre Lieblingssänger schwärmen konnte und den Schulalltag vergaß. Der Erwartungsdruck in Kensington blieb jedoch hoch. Victorias Stundenplan umfasste fünf Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche. Damit war ihre Ausbildung der eines Schuljungen in Harrow oder Eton durchaus ebenbürtig. Ihre besorgte Mutter ließ die schulischen Fortschritte sicherheitshalber von zwei anglikanischen Bischöfen überprüfen. Nach einer intensiven Befragung der Zwölfjährigen kamen sie zu dem Schluss, dass «Drina» einen guten Wissensstand habe.
Obwohl Victoria eine brave Schülerin war, akzeptierte sie immer weniger die Hierarchien im Kensington Palace. Conroy hatte dafür gesorgt, dass sie nur mit seinen Kindern spielen durfte. Doch «Drina» erkannte schnell, dass die Conroy-Kinder als Spione im Kinderzimmer eingesetzt wurden, und lehnte jegliche Annäherung ab. Sir John registrierte dies mit wachsender Wut. Den pädagogischen Vorstellungen der Zeit folgend, plädierte er dafür, dass man den starken Willen eines Kindes brechen solle, um ihn dann nach eigenen Vorstellungen wieder aufzubauen. Je mehr Victoria ihn und seine Familie ablehnte, desto stärkeren Druck übte er auf sie aus. Jeder Tag war genau reglementiert, und es wurde darauf geachtet, dass sie nie ohne Beobachtung war. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr schlief Victoria im selben Zimmer wie ihre Mutter, und es war ihr nicht erlaubt, eine Treppe ohne Begleitperson hinunterzugehen. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde sie bei jedem ihrer Schritte an der Hand gehalten.
Unterstützer des von Conroy entwickelten «Kensington-Systems» waren neben der Herzogin von Kent ihre Schwägerin Prinzessin Sophia, Lady Flora Hastings (die später noch eine wichtige Rolle in Victorias Leben spielen sollte), der Herzog von Sussex und Victorias Halbbruder Karl Leiningen. Dieser verteidigte das System später gegenüber Prinz Albert. Ziel sei es gewesen,
Victoria in der Öffentlichkeit beliebt zu machen, indem man sie vom amoralischen Hof und seiner Politik fernhielt,
die Herzogin von Kent zur Prinzregentin zu machen und
später Conroy als Privatsekretär der Königin Victoria einzusetzen.
Dieser Logik folgend, vermied die Herzogin den Kontakt mit der Royal Family. Zwar hatte sich diese kaum für die Heirat der Kents begeistert, aber nach dem Tod des Herzogs war das Interesse der Verwandtschaft langsam gestiegen. Die Herzöge von York und Clarence luden Victoria zu sich ein, und sogar George IV. wollte sie öfter an seinem Hof sehen. Conroy untergrub alle Annäherungen dieser Art und redete der Herzogin ein, man wolle ihr Victoria wegnehmen und sie am Hof erziehen. Ein noch abschreckenderes Szenario war seine Idee, auf «Drina» könnte ein Mordanschlag verübt werden. Als potenzieller Attentäter galt ihr Onkel, der Herzog von Cumberland. Tatsächlich wären im Falle von Victorias Tod Cumberland und sein Sohn auf der Erbfolgeleiter nach oben gerutscht. Conroys Argumentation schien auch deswegen überzeugend, weil Cumberland eine zwielichtige Figur war, der man Mordkomplotte durchaus zutraute. Gerüchten zufolge hatte er einen seiner Diener umgebracht. Sein vernarbtes Gesicht ließ ihn wie die Karikatur eines Schurken erscheinen. Darüber hinaus war er mit einer deutschen Prinzessin verheiratet, der man nachsagte, sie habe beim Tod ihrer zwei vorherigen Ehemänner etwas nachgeholfen. Das Paar galt in jeder Hinsicht als kompatibel.
«Drina» wuchs zwar in Isolation von ihren königlichen Verwandten auf, doch hatte sie durchsetzen können, ihren Onkel George IV. 1826 kennenzulernen. Er lebte mit seiner Geliebten und deren Ehemann in der Royal Lodge in Windsor und war bei jener Begegnung freundlich zu dem Kind gewesen. Victoria würde sich später daran erinnern, dass er gichtgeplagt und übergewichtig war und liebevoll geschnauft habe: «Gib mir deine kleine Tatze.» Sie war auf der Suche nach einer Vaterfigur, und auch wenn der amoralische König kaum für diese Rolle geeignet war, so hoffte sie doch, ihm näherzukommen. Als er 1830 starb, teilte sie den Jubel des Volkes nicht.
Anders als ihre Mutter empfand sie auch keine Antipathie gegenüber dem neuen König, ihrem Onkel William IV. Bei seiner Thronbesteigung war William 65 Jahre alt, seine ehelichen Kinder waren unmittelbar nach der Geburt gestorben, und er konnte nicht mehr auf einen eigenen Thronfolger hoffen. Die elfjährige Victoria war seine potenzielle Nachfolgerin. Es wäre daher naheliegend gewesen, dass sie viel Zeit mit ihrem Onkel und seiner deutschen Frau verbracht hätte. Doch genau dies wussten ihre Mutter und Conroy zu verhindern. Sie erlaubten Victoria nicht einmal, an der Krönung Williams teilzunehmen. Stattdessen stellten sie Forderungen an ihn, mit denen sie teilweise auch Erfolg hatten. Zuerst wurden die monatlichen Geldzuwendungen an die Herzogin erhöht. Das wichtigste Ziel des «Kensington-Systems» war jedoch, dass die Herzogin als Regentin für Victoria eingesetzt würde. Das Parlament stimmte dieser Forderung letztendlich zu: Falls beim Tod des Königs seine Nichte Victoria noch keine achtzehn Jahre alt wäre, würde ihre Mutter vorübergehend die Regentschaft übernehmen. Der König verhinderte jedoch, dass die Herzogin in der Zwischenzeit den Titel einer «Verwitweten Prinzessin von Wales» erhielt: Ihr Mann war nie Prinz von Wales gewesen, und sie hatte daher auch kein Anrecht auf den Titel.
Die Ablehnung verärgerte Victoria Luise maßlos. In ihren Augen war sie als Mutter der zukünftigen Königin die Herrin eines Parallelhofes. Da dieser Parallelhof aber kein gesellschaftliches Zentrum werden konnte, solange der König noch lebte, arbeitete Conroy intensiv an einem weiteren wichtigen Element des «Kensington-Systems»: der Öffentlichkeitsarbeit für Victoria. Er kam auf die Idee, einen «Reisehof» zu erfinden: Victoria sollte, wie es Elizabeth I. einst auf ihren «royal progressions» getan hatte, durch Großbritannien fahren. Auf diese Weise würde sie nicht nur ihr Land näher kennenlernen, sondern auch ihre Popularität steigern und ihren Thronanspruch demonstrieren. König William IV. erkannte natürlich, dass hinter dieser Idee mehr steckte als der Wunsch, einem jungen Mädchen Unterricht in Landeskunde zu geben, aber er konnte kaum etwas dagegen unternehmen. 1830 begannen die jährlichen «Kutschfahrten» Victorias, und der alte Militär Conroy plante sie wie einen Feldzug. Er sorgte dafür, dass alle englischen und walisischen Städte, die man aufsuchte, gut auf die königlichen Gäste vorbereitet waren und sich entsprechend begeistert zeigten. Viele der Schaulustigen waren aufrichtig angetan, die künftige Königin zu sehen, doch Conroy verließ sich nicht auf spontanen Beifall. Er war ein Meister im Inszenieren von künstlichen Gefühlen, und diese Reisen wurden seine gelungenste Inszenierung. Er instruierte die Stadtväter, «Loyalitätsadressen» abzugeben, in denen die Herzogin und ihre Tochter gebührend gerühmt wurden. Anfangs schoss man sogar Salut, und Soldaten marschierten zu Paraden auf, bis der erboste König es untersagte.
Für Victoria waren diese Reisen eine ambivalente Erfahrung. Sie verschlechterten das Verhältnis zu ihrem Onkel William IV., der dadurch düpiert wurde, halfen ihr jedoch, ihre Heimat etwas besser zu verstehen. Auch wenn die Reiseziele sehr selektiv waren, konnte Victoria zumindest einen Blick auf die neu entstandenen Industriestädte werfen. Sie war von der Hässlichkeit schockiert, doch die echte Armut, das «Leben der anderen», wurde geschickt von ihr ferngehalten. Dafür kam sie der aristokratischen Oberschicht kurzzeitig näher. Um den Reisen etwas Farbe zu geben, stieg man auch auf Landsitzen ab, und Conroy bestand auf einem Besuch in Oxford, damit er dort eine Ehrendoktorwürde empfangen konnte. Im Volksmund wurde er bereits «King John» genannt.
Nach fünf Jahrestouren dieser Art war der Neuheitseffekt jedoch endgültig verflogen, und Victoria entwickelte Erschöpfungserscheinungen. 1835 schrieb sie, die Reisen seien ihr zu anstrengend geworden, sie habe genug von den weiten Strecken und den Menschenmassen. Kurz darauf wurde sie während eines Aufenthalts in Ramsgate ernsthaft krank – man vermutete Typhus. Ob der Auslöser hierfür physische Erschöpfung oder psychosomatischer Natur war, bleibt unklar. Was während dieser Krankheit jedoch unübersehbar wurde, waren Conroys kriminelle Methoden. Als Victorias gesundheitlicher Zustand sich immer mehr verschlechterte, versuchte er, sie dazu zu zwingen, ein brisantes Dokument zu unterschreiben. Mit ihrer Unterschrift hätte sie ihm einen Blankoscheck für die Leitung ihres späteren Hofstaates ausgestellt. Nach außen hin hatte Conroy bereits durchsickern lassen, er müsse unbedingt die Führung übernehmen, da die Prinzessin geistig etwas zurückgeblieben sei. Wie immer unterstützte die Herzogin von Kent sein Vorgehen, in der Überzeugung, dass «Drina» eine feste Führung brauche. Doch Victoria wehrte sich verbissen und verweigerte die Unterschrift. Conroy hatte nicht erkannt, dass sie auf Druck nicht reagierte. Aufgrund ihres kritischen Gesundheitszustandes konnte Victoria sich jedoch nur deswegen gegen Conroy und ihre Mutter wehren, weil Louise Lehzen sie unterstützte. Die Erzieherin war die Einzige, die ihr während dieser Krankheit beistand und Conroy am Ende aus dem Krankenzimmer expedierte.
Nachdem Victoria genesen war, kam ein weiterer Beschützer hinzu. William IV. hatte zwar bisher wenig gegen die Manipulationen von Conroy und der Herzogin unternehmen können, aber nun machte er bei einem Dinner in Windsor Castle öffentlich, was seine private Umgebung schon oft von ihm gehört hatte. Victoria und ihre Mutter waren anwesend, als der König verkündete, er würde alles versuchen, um so lange wie möglich zu leben. Sein einziger Grund hierfür sei, eine Regentschaft seiner Schwägerin und ihrer dubiosen «Berater» zu verhindern. Die echauffierte Herzogin verließ daraufhin das Dinner, und Victoria musste ihr als loyale Tochter folgen. Kurze Zeit später wurde sie dazu gezwungen, das Angebot des Königs abzulehnen, ein eigenes Haus zu beziehen. Es hätte die Unabhängigkeit von ihrer Mutter und Conroy bedeutet. Doch dies war der letzte Erfolg des «Kensington-Systems». Der König schaffte es, eine Regentschaft der Herzogin zu verhindern: Er starb – wie er es sich gewünscht hatte – einen Monat nach dem achtzehnten Geburtstag Victorias.
Sie war frei.
KAPITEL 2
Seit zwei Jahrhunderten existiert eine Art Zebrastreifensicht auf die Royal Family: Sie wird entweder als ganz weiß oder als ganz schwarz wahrgenommen. Die Weißseher loben den Patriotismus und die Wohltätigkeitsarbeit der Royals. Die Schwarzseher kritisieren, dass die Royal Family viel kostet und wenig leistet, dass ihre Lebensweise alles andere als vorbildlich ist und dass sie den Bezug zur Bevölkerung schon lange verloren hat. Gelegentlich wird in der britischen Presse auch noch daran erinnert, wie «unenglisch» diese Familie eigentlich ist: ein deutscher Import aus Hannover und Coburg.
All diese Kritikpunkte haben Königin Elizabeth II