Kristín Steinsdóttir
HOFFNUNGSLAND
Roman
Aus dem Isländischen
von Anika Wolff
C.H.Beck
Sie träumen von Reykjavík und einer Anstellung in einem feinen Haus: Guðfinna und Stefanía, zwei junge Mädchen vom Lande. Doch kaum in der Stadt angekommen, holt die Realität sie ein. Sie stranden in einer einfachen Hütte und müssen sich – genau wie ihre Wohngenossinnen – als Tagelöhnerinnen durchschlagen, als Waschfrauen und Kohleträgerinnen. Bis sich eines Tages eine Chance auftut, die einfach unwiderstehlich ist …
«Hoffnungsland» ist ein Roman über das Leben in Islands kleiner Hauptstadt Ende des 19. Jahrhunderts und die Geschichte einer Handvoll starker Frauen, die trotz aller Widrigkeiten und des Kampfes mit den gesellschaftlichen und patriarchalen Machtstrukturen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben und denen mitunter unverhofft List und Liebe helfen.
Kristín Steinsdóttir hat für ihre Bücher viel Anerkennung erhalten, nicht zuletzt für ihren mehrfach ausgezeichneten Roman «Im Schatten des Vogels». Mit «Hoffnungsland» legt sie einen weiteren, poetisch und anschaulich geschriebenen historischen Roman vor, der auf wahren Begebenheiten beruht.
Kristín Steinsdóttir, 1946 geboren, lebt in Reykjavík und ist eine der meistgelesenen und preisgekrönten Kinderbuchautorinnen Islands. Ihr Roman «Eigene Wege» (C.H.Beck, 2009) erhielt u.a. den Isländischen Literaturpreis der Frau 2007 und wurde in viele Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen außerdem der Roman «Im Schatten des Vogels» (C.H.Beck, 2011) und im gleichen Jahr bei Supposé die CD «Leben im Fisch: Kristín Steinsdóttir erzählt das Island ihrer Kindheit».
Anika Wolff, geboren 1985 in Köln, lebt als Übersetzerin mit ihrer Familie in Berlin. Aus dem Isländischen übersetzte sie u.a. Guðmundur Óskarsson, Oddný Eir Ævarsdóttir und Einar Bragi sowie von Kristín Steinsdóttir «Im Schatten des Vogels».
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GLOSSAR
Hinweis
Als Guðfinna den Bakarastígur hinaufläuft, erwacht die Stadt gerade zum Leben. An der Pumpe treffen immer mehr Wasserträger ein. Guðfinna bleibt kurz stehen. Einen Augenblick lang spielt sie mit dem Gedanken, den Waschbottich hinzuschmeißen und sich dazuzugesellen, statt zu den heißen Quellen zu laufen. Da ist auch schon Jóka mit ihren Wassereimern. Morgens laufen die beiden oft das erste Stück gemeinsam, aber heute hat Guðfinna länger als sonst gebraucht, um sich den schweren, hölzernen Bottich auf den Rücken zu binden, daher ist Jóka schon vorausgeeilt. Sie sagt immer, es sei wichtig, zu den Ersten in der Schlange zu gehören.
So früh am Morgen geht es an der Wasserpumpe noch ruhig zu. Die Wartenden hauchen sich in die Hände und versuchen, sich warm zu halten, irgendwer summt ein Lied, und der Mann an der Pumpe beeilt sich. Wenn er trödelt, bekommt er den Unmut der anderen zu spüren. Aus der Dunkelheit ist der Ruf des Nachtwächters zu hören:
«Es ist sechs Uhr! Der Wind ist mäßig!»
«Ach, halt doch die Klappe, du Schurke», brummt irgendwer in der Schlange. Dann wird weiter geschwiegen und gewartet.
Guðfinna weiß, dass sie bei den Quellen nicht allein sein wird. Sie hat dort schon einige andere Mädchen kennengelernt. Meist aber bleibt sie für sich und ist mit den Gedanken nicht ganz da, seit Stefanía fort ist.
Guðfinna nickt den Wasserträgern zu und läuft weiter den Hügel hinauf.
Trotz der Dunkelheit versucht sie, den holprigen Weg schnell und sicher zu laufen, biegt an der richtigen Stelle ab, folgt dem Pfad, der sich zwischen den Hütten durchs Skuggahverfi schlängelt, bis hinunter zum Meer. Den Spuren nach ist sie nicht die Erste, die sich auf den Weg gemacht hat. Am Vortag hat es noch geschneit, aber in der Nacht hat es getaut, und nun befürchtet sie, sich durch ein einziges Matschfeld kämpfen zu müssen. Oder dass es wieder schneien könnte. Kurz vor Einbruch der Dämmerung hat gestern der Wind über den Gipfel der Esja gefegt. Guðfinna ist lange genug in Reykjavík, um zu wissen, dass das kein gutes Zeichen ist. Sie späht in die Dunkelheit, hofft, vor oder hinter sich eine Bewegung auszumachen, jemanden mit einem Bottich auf dem Rücken zu entdecken, doch sie sieht nichts. Hört nichts als das Brausen des Windes.
Unsicher ist sie zwar nicht, dafür ist sie diesen Weg schon zu oft gegangen. Trotzdem wäre sie so früh am Morgen jetzt lieber nicht allein. Sie versucht, ihre Fantasie im Zaum zu halten. Manchmal überfällt sie die Angst. Wie jetzt, mitten in der Nacht, allein in der Dunkelheit. Sie vermisst Stefanía.
Nun hat sie die Mündung der Rauðará hinter sich. Sie kommt gut voran, hört die Wellen an die Küste schlagen und riecht das Meer. Sie weiß, dass der Mond gerade abnimmt. Um diese Zeit müsste er noch hoch am Himmel stehen; wenn er nicht von Wolken verdecken wäre, würde er jetzt Licht spenden.
Ach, du Schreck – was ist das für ein Lärm? Ist das vor oder hinter ihr? Sie dreht sich um und ballt die Fäuste, ist auf alles gefasst. Hält den Atem an, hört aber nichts. Und sieht auch nichts. Sie beginnt, einen Psalm zu murmeln, um sich zu beruhigen, beschließt dann aber, lieber an etwas Schönes zu denken, an den Frühling und den Sommer. Das Lied zu singen, das die Mutter ihr und den Geschwistern früher immer vorgesungen hat. Wie oft haben sie über das Land der Hoffnung und den Wald geredet, vom Ausland geträumt, vom Gold und den Diamanten! Niemand bei ihnen auf dem Land besaß etwas so Wertvolles, das wie die Sterne am Himmel funkelte:
Die Hoffnung kommt zu mir
und küsst mich auf die Wang.
Schon ist sie wieder fort
mit ihrem Haar, so lang.
Geld will sie mir geben
und Schätze allerhand,
all das Gold, die Diamanten
im Wald von Hoffnungsland.
Zuerst summt sie nur leise, doch dann fasst sie Mut und singt das Lied immer wieder. Und läuft schneller. Morgens wird sie manchmal von der Angst übermannt. Zu allen anderen Tageszeiten lässt sie das nicht zu. Als Stefanía noch da war, hatte sie nie Angst, und jetzt will sie damit auch nicht mehr anfangen.
Wenn die Waschfrauen ihre Kaffeepause machen und die Glieder strecken, werden Geschichten erzählt. Gute und schlimme. Meist gute. Wenn es mild ist, lachen die Mädchen, sind ausgelassen und übermütig. Die Älteren schütteln darüber die Köpfe, stöhnen und schnaufen. Sie erinnern sich noch an ganz andere Zeiten, an deutlich schlimmere. Am liebsten würde Guðfinna nachfragen, doch sie tut es nicht. Hofft, dass sie irgendwann mehr erfährt. Es hat auch Vorteile, von außerhalb zu kommen. Sie kennt nicht die Geister und Seeungeheuer, weiß nur, dass sie sich keine Angst einjagen lassen darf. Will nicht zurück aufs Land. Ist in Reykjavík sie selbst, und so soll es bleiben.
Sie stellt kurz ihren Eimer ab und rückt den Bottich auf ihrem Rücken zurecht. Plötzlich der Schreck: Hat sie etwas vergessen? Sie guckt in den Eimer, erkennt aber kaum etwas in der Dunkelheit. Greift hinein und fühlt die Seife, den Wäscheklopfer, Soda, Becher, Kaffeekanne und Proviant. Gott sei Dank, alles da. Heute hat sie die Wäsche von zwei Gymnasiallehrern dabei und im letzten Moment noch einige Kleider von einem Schuljungen eingepackt, der dringend frische Wäsche braucht. Womöglich hat sie sich damit etwas zu viel aufgebürdet, aber sie will sich nichts entgehen lassen. Sie wird von allen bezahlt und weiß, was sie schafft. Ist verschuldet und muss sparen.
Am Bach, der den Fúlatjörn speist, trifft sie auf ein Mädchen, das mit seiner Last kämpft. Sie nimmt ihr den Eimer ab. Das Mädchen ist dankbar, redet vom Wetter und dem schlechten Weg. Der Bach führt nur wenig Wasser, und sie kommen mühelos auf die andere Seite, müssen nicht runter zum Strand laufen. Das letzte Stück führt durchs Kirkjumýri. Es zieht sich. Sie weichen den sumpfigen Stellen aus und achten darauf, nicht vom Weg abzukommen.
Und dann sehen sie die weiß-grauen Dampfsäulen von den Quellen aufsteigen.
Guðfinna setzt den Bottich ab und nimmt die Wäsche heraus. Sortiert sie schnell. Der Bottich steht auf einem Stein an den Quellen. Mit dem Eimer schöpft sie kochend heißes Wasser in den Bottich, dann holt sie kaltes Wasser, vermischt beides und beginnt mit der Dreckswäsche. Knetet kräftig. Weiß, dass sie diese Prozedur noch viele Male wiederholen und anschließend alles gut auswringen muss. Am Anfang hat sie noch ganz blutige, eitrige Hände davon gekriegt. Inzwischen scheinen sie sich an die heiße Brühe gewöhnt zu haben. Obwohl das Wasser warm ist, kann einem bei dieser Arbeit furchtbar kalt werden, und gefährlich ist sie auch noch.
Wenn ihr jemand prophezeit hätte, dass sie mal in Reykjavík landen würde, hätte sie ihm kein Wort geglaubt. Sie hatte bereits ein Jahr lang als Magd auf dem Hof Hvammur gearbeitet, als Stefanía auftauchte. Von diesem Tag an war alles anders. Guðfinna fühlte sich sofort zu diesem fröhlichen Mädchen hingezogen, und ihre bittere Einsamkeit gehörte schlagartig der Vergangenheit an. Manchmal schreckte sie mitten in der Nacht auf, überzeugt davon, dass das alles nur ein Traum gewesen war.
Die beiden wollten in Reykjavík eine Anstellung finden. Am liebsten in einem vornehmen Haus. Hatten von Mädchen gehört, die in die Stadt gezogen waren und denen es dort gut ergangen war. Die schöne Kleider hatten, heirateten und nur noch zu Besuch in ihre alte Heimat kamen, auf Pferden reitend, in feinen Kleidern und mit gut aussehenden Männern an ihrer Seite. Stefanía, die Träumerin, war fest entschlossen, sich so einen Mann zu angeln. Und setzte Guðfinna denselben Floh ins Ohr. Behauptete, sie könne zwischen den Männern auswählen. Sie sei doch so tüchtig. Sie müssten bloß nach Reykjavík kommen.
Guðfinna hielt dagegen, dass Stefanía sich doch genauso gut auf dem Land einen jungen Mann suchen könne, doch die schüttelte entschieden den Kopf. Fand diese Männer weder zupackend genug noch hübsch. So herzhaft wie mit Stefanía hatte Guðfinna noch nie gelacht.
Es war so leicht, sich von ihr anstecken zu lassen, weil sie immer die komische Seite an den Dingen sah, obwohl das Leben es weiß Gott nicht immer gut mit ihr gemeint hatte. Mit kurzem Abstand hatte sie Mutter und Vater verloren, und die Geschwister waren getrennt worden. Sie war bei einer Verwandten untergekommen, die sie Ziehmutter nannte und von der sie nur Gutes und Schönes erzählte. Die Ziehmutter hatte bemerkt, dass Stefanía nicht so kräftig gebaut war wie die anderen Mädchen und sich schonen musste. Sie war schnell erschöpft, manchmal lief sie sogar blau an und wurde bei der Arbeit einfach ohnmächtig. Daher achtete die Ziehmutter darauf, sie nicht zu viel arbeiten zu lassen. Wenn Stefanía müde wurde, war es in Ordnung, wenn sie nur einen halben Fäustling strickte, während die anderen Kinder einen ganzen schafften. Auf manchen Höfen mussten die Kinder ein ganzes Paar am Tag stricken, aber die Ziehmutter war gut zu ihren Schützlingen.
Viele versuchten, die Mädchen von ihrem Plan abzuhalten. Prophezeiten, dass sie noch vor Einbruch des Herbstes zurückkommen würden, kleinlaut und ernüchtert. Hvammur, wo die beiden sich kennengelernt hatten, war in der Tat ein vorbildlicher Hof. Sie konnten sich glücklich schätzen, hier untergekommen zu sein, auch wenn sie von morgens bis abends schuften mussten. Es gab genug zu essen, und es war immer viel los, oft ging es sogar richtig lustig zu. Doch nachdem ihre Ziehmutter gestorben war, hielt Stefanía nichts mehr auf dem Land. Und wenn Stefanía ging, wollte Guðfinna auch nicht bleiben.
Der Bauer konnte kaum glauben, dass die beiden nach Reykjavík wollten, und versuchte alles Mögliche, um sie umzustimmen. Sagte, dass er sie nicht entbehren könne. Schwang Lobesreden auf die beiden, versprach ihnen einen besseren Lohn, wenn sie es den anderen nicht verrieten. Guðfinna hätte sich vielleicht tatsächlich noch überreden lassen; nicht aber Stefanía. Sie behauptete, in Reykjavík bereits eine feste Anstellung gefunden zu haben. Über eine Verwandte ihrer Ziehmutter, die Anna heiße und auf einem Hof namens Sveinsbær wohne. Und auch für Guðfinna habe Anna eine Stelle ausfindig gemacht. Als der Bauer mehr über diese Stelle wissen wollte, antwortete Stefanía ausweichend. Sie glaubte, es sei in einem Haus im Westen der Stadt. Bei guten Leuten. Sie hätte keinen Grund, misstrauisch gegenüber der Verwandten ihrer Ziehmutter zu sein, die immer nur das Beste für sie gewollt habe. Da wollte der Bauer den Brief sehen, doch Stefanía entgegnete, dass der privat sei. Damit war die Sache vom Tisch.
Natürlich erwartete die beiden keine Anstellung in Reykjavík, doch sie hatten die stillschweigende Übereinkunft getroffen, das für sich zu behalten. Ihre Zeit auf Hvammur war fast um, und sie wollten einfach nur noch weg, alles Weitere würde sich schon finden. Zur Kreuzauffindung, als die Saison zu Ende war, verabschiedeten sie sich schließlich von den Leuten auf Hvammur und brachen auf.
Im Nachhinein hat Guðfinna das Gefühl, Stefanía nie so glücklich und erwartungsfroh erlebt zu haben wie in jenen Frühjahrstagen auf ihrer Wanderung übers Land. Wenn sie unterwegs müde wurde, was oft vorkam, setzten sie sich irgendwohin und ruhten sich aus, oder Guðfinna nahm ihr das Bündel ab. Die Sonne ging kaum unter, und nichts hinderte die beiden daran, Nacht für Nacht unter freiem Himmel zu schlafen. Wenn sie an Höfen vorbeikamen, arbeiteten sie dort ein bisschen und bekamen dafür zu essen. Erzählten Neuigkeiten, die sie gehört hatten, redeten übers Wetter und darüber, wie weit das Gras schon gewachsen war. Doch sobald ihnen jemand anbot, länger zu bleiben, lehnten sie dankend ab und setzten ihre Reise fort.
Auf dem Hof Árbær bekamen sie etwas Milch zu trinken, und als sie auf die große Bucht blickten, hatten sie das Gefühl, schon fast in Reykjavík zu sein, und brachen schnell wieder auf. Als Nächstes machten sie auf dem Hof Barð halt. Da hatten sie schon das Meer erreicht, und die Stadt war bereits in Sichtweite. Die Sonne schien, und die Vögel sangen.
Die lieben Lehrer sollten ruhig mal öfter ihre Sachen waschen lassen, denkt Guðfinna verärgert und richtet sich auf. Sie schüttet das schmutzige Wasser aus und füllt den Bottich mit frischem Seifenwasser, wirft die weiße Wäsche hinein und rührt tüchtig mit dem Wäscheklopfer. Während die Kleider im Bottich kreisen, wendet sie sich ihrer Kaffeekanne zu. Inzwischen schneit es tatsächlich. Die Sonne ist aufgegangen, doch zu dieser Jahreszeit bleibt es nur kurz hell, und im Schneetreiben sieht man sowieso kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Einige Mädchen haben sich zusammengefunden, stehen dicht beieinander und trinken Quellenkaffee, mit dem schwefligen Quellwasser aufgegossen. Reden übers Wetter, das Meereseis und die Pest, die angeblich in einigen Hütten umgeht. Auch Erbrechen und Durchfall. Und diese elendige Skrofulose, die die Kinder heimsucht.
Wie gut es tut, den Rücken zu strecken und ein wenig zu verschnaufen. Sich zu den anderen zu gesellen. Seit Stefanía fort ist, ist sie meist mit den Gedanken woanders, will zwar bei den anderen sein, fühlt sich aber irgendwie verloren. Der Kaffee wärmt, doch trotzdem kriecht die Kälte in alle Knochen. Der Wind hat zugenommen. Sie versucht, sich mit dem Rücken zu ihm zu stellen, aber der Schnee scheint ihr aus allen Richtungen ins Gesicht zu wehen. Sie hätte heute nicht herkommen sollen, hätte die Schlechtwetterwolke über der Esja ernst nehmen sollen. Aber wer hätte schon damit gerechnet, dass es ein solches Mistwetter geben würde?
Vor vielen Jahren hat hier einmal ein Haus gestanden, mit Wäscheleinen davor. Damals konnten die Frauen ihren Kaffee dort drinnen trinken und sich ins Trockene setzen. Oder auch im Haus waschen, wenn das Wetter ganz schlimm war. Doch das Haus ist während eines Unwetters weggeflogen, nur noch ein paar Wäscheleinen sind davon übrig. Was würde sie dafür geben, jetzt in einem Haus unterschlüpfen zu können, selbst wenn es darin spukt. Es heißt, ein Mädchen habe dort ausgeharrt, bis der Sturm das Haus mit sich gerissen habe. Sie war schwanger, stürzte in die westliche Quelle und erlitt so heftige Verbrennungen, dass sie starb. Die Mädchen sagen, Guðfinna solle nicht erschrecken, wenn sie abends eine dunkel gekleidete Frau bei den Quellen sehe. Sie tue niemandem etwas, sondern klage nur bitterlich ihr Leid.
Guðfinna eilt zurück zu ihrem Bottich. Fischt ein Teil nach dem anderen heraus, breitet alles auf einem großen flachen Stein aus und schlägt mit dem Wäscheklopfer die Seife heraus. Verdammt, da ist immer noch ein Fleck! Sie legt sich ins Zeug, muss alle Flecken rauskriegen, sonst wird sie kein zweites Mal gebeten, die Wäsche zu waschen. Sie füllt den Bottich noch einmal mit frischem Wasser und reibt das Stück sorgfältig mit Seife ein. Als sie endlich zufrieden ist, spült sie es einige Male durch und wringt dann alles so gut wie möglich aus. Damit die Wäsche auf dem Heimweg nicht unnötig schwer ist – sie muss auch so schon genug schleppen. Sie ist verschwitzt, und gleichzeitig sind ihre Kleider von der Brust bis zum Rocksaum nass. Der Rock ist ihr im Weg, und sie versucht, ihn auszuwringen, aber er ist steif gefroren. Sie will so schnell wie möglich nach Hause. Sieht, dass auch alle anderen sich beeilen. Befürchtet, dass das Wetter noch schlechter wird. Sie will mit den anderen gehen, nicht allein unterwegs sein.
Mit steifen Fingern schnüren sie sich die Bottiche auf die Rücken; die Eimer halten sie im Arm, müssen sie gut festhalten, damit der Wind sie ihnen nicht aus den Händen reißt. Wie so oft führt Matthildur die Gruppe an. Sie arbeitet schon lange als Wäscherin und ist diesen Weg schon bei jeder Witterung gegangen.
Das Wetter ist furchtbar, und der Weg scheint endlos. Sie bleiben dicht beieinander, geben sich gegenseitig Schutz und achten darauf, keine in der Dunkelheit zu verlieren.
Es ging schon auf den Abend zu, als Guðfinna endlich das niedrige Häuschen fand. Stefanía kam in einigem Abstand hinter ihr her. Ein Schwarm Fliegen brummte um den Fisch, der an der Hauswand hing. Eine kleine Frau verscheuchte die lästigen Insekten, stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm die zusammengebundenen Fische vom Haken. Als sie sich umdrehte, ging Guðfinna mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
«Ich bin Guðfinna Ólafsdóttir aus Flóinn, und das ist Stefanía Sveinsdóttir. Wohnt hier Þorfinnur Jónsson, der Zimmermann?»
Die Frau war nicht besonders gesprächig, stellte sich aber immerhin als Margrét Karlsdóttir vor, und als sie sich zu einem schlaffen Händedruck hinreißen ließ, kam ein stattlicher Mann aus dem Haus. Er lächelte freundlich.
«Ich bin Þorfinnur, Zimmermann und Besitzer dieser bescheidenen Hütte, ganz richtig. Und ihr müsst die Mädchen sein, von denen Anna gesprochen hat. Bitte schön, herein in die gute Stube.» Er hielt ihnen die Tür auf. Von außen hatte das Häuschen schon klein gewirkt; von innen war es winzig, aber sauber und gemütlich. Margrét ging direkt zum Küchentisch und kümmerte sich um den Fisch. Sie war blass, hatte eingefallene Wangen und wirkte unzugänglich. Ihr Mann zeigte auf ihre Schlafstätte und sprach für sich und seine Frau:
«Es ist nicht groß, aber ihr werdet euch wohlfühlen. Alle fühlen sich in Litlakot wohl! Und wenn erst das neue Haus gebaut ist, werden wir Platz haben! Hast du keinen Kaffee für die Mädchen, Weib?»
Dann erklärte er, dass er noch ein paar Leute treffen müsse, und sagte den Mädchen, dass sie ruhig mitessen könnten.
«Über die Bezahlung sprechen wir, wenn ihr Arbeit gefunden habt», sagte er und lächelte. «So tüchtig, wie ihr ausseht, werdet ihr keine Schwierigkeiten haben, etwas zu finden.»
Endlich schien ein bisschen Leben in Margrét zu kommen, und sie rief:
«Der Fisch ist schon fast im Topf. Willst du nichts essen, Þorfinnur?»
«Heb mir einen Bissen auf, meine Gute. Ich esse, wenn ich zurückkomme!» Und schon war er weg.
Guðfinna sah sich um, dann setzte sie sich. Vielleicht hatte sie sich ihre Unterkunft in Reykjavík anders vorgestellt. Hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwartete. In den ersten Tagen war ihnen in dieser Stadt alles so groß vorgekommen, es gab so viele Häuser und Menschen. Sie hatten befürchtet, sich nie zurechtzufinden, bis sie sich einige Fixpunkte einprägten: den See Tjörnin, den Turm der Dómkirkja und die Mühle.
Gleich nach ihrer Ankunft hatte Stefanía Anna aufgesucht. Die Verwandte ihrer Ziehmutter ließ die Mädchen in den ersten Tagen bei sich wohnen, kündigte aber sofort an, dass sie nicht lange bleiben könnten. Und dann organisierte sie ihnen den Platz in der Hütte bei Þorfinnur und Margrét. Wusste, dass er Schlafplätze vermietete. Anna versprach, sie wissen zu lassen, wenn sie von einer Stelle in einem guten Haus höre. Im Moment wisse sie nichts.
Guðfinna verstaute ihr Gepäck am Fußende ihres Bettes, dann legte sie sich hin und entspannte sich. Merkte, wie erschöpft sie noch von der langen Reise war. Genoss es, sich mitten am Tag hinzulegen. So einen Luxus hatte es auf dem Land nicht gegeben. Da hatten sie frühestens bei Einbruch der Nacht freigehabt, wenn überhaupt. Dieses Leben war schon so weit weg. Damals hatte sie ein Dach über dem Kopf, es gab zu essen und ansonsten endlose Plackerei. Jetzt hatte sie nur noch ein Dach über dem Kopf, für das sie auch noch bezahlen musste; weder etwas zu Essen noch Arbeit. Ob sie hier genauso schuften musste? Ganz bestimmt. Aber sie wollte Gott vertrauen und jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Ihre Lider fielen zu, und auf einmal stand sie mit einer Harke auf dem Land, allein vor einer viel zu großen Fläche trocknenden Heus. Und dann fing es auch noch an zu regnen …
War sie eingenickt? Wo war sie? Sie hörte, dass sich Stefanía mit irgendwem unterhielt. Sie dämmerte noch einen Moment vor sich hin, dann setzte sie sich auf. Auf einem der Betten saß eine kleine, energisch wirkende Frau. Margrét war immer noch mit dem Fisch beschäftigt, Kaffeeduft lag in der Luft – offenbar hatte sie frischen aufgegossen.
«Na, endlich aufgewacht?» Die kleine Frau kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. «Jórunn Sveinsdóttir», sagte sie. «Nenn mich einfach Jóka.» Ihr kleines, knorriges Händchen verschwand in Guðfinnas Hand.
«Am helllichten Tag so zu schnarchen …», kicherte Jóka. Sie hielt Guðfinna eine Tasse Kaffee hin. «Ich arbeite als Wasserträgerin und habe deiner Gefährtin schon gesagt, dass das auch was für euch sein könnte. Es gibt immer Leute, die sich ihr Wasser bringen lassen. Viele sind faul, und andere sind sich zu fein dafür.»
Die Wasserträger waren Guðfinna gleich am ersten Tag aufgefallen. Außer ihnen schleppten vor allem alte Leute, Hausmädchen und vereinzelt auch Kinder Wassereimer durch die Stadt.
«Der Hausherr meint, dass es für uns leicht sein wird, Arbeit zu finden», entgegnete Stefanía fröhlich.
«Der Hausherr! Man kann auch alles schönreden», schnaubte Jóka. Es schien sie nicht im Geringsten zu stören, dass Þorfinnurs Frau zuhörte. «Ist er mal wieder besoffen gewesen?»
«Nein, er wollte noch Leute treffen», beeilte sich Stefanía zu sagen.
«Leute, sagst du! Wie leichtgläubig man sein kann. Der ist im Schweinestall, der Kneipe, wie immer um diese Tageszeit. Bei Illugi.» Sie schwieg bedeutungsvoll, dann schimpfte sie weiter: «Furchtbar, wenn man sich vorstellt, was meine Margrét alles ertragen muss. Gott stärke und stütze sie – uns alle!»
Immer noch schien Margrét nicht zuzuhören. War es ihr völlig egal, wie Jóka über ihren Mann herzog? Die schnappte sich ihr Schultertuch und verkündete, dass sie im Schweinestall vorbeischauen wolle, um nachzusehen, wie es ihm gehe. Manchmal lasse er sich überreden, mit nach Hause zu kommen.
Als sie fort war, sahen sich die Freundinnen an. Und hörten in der Stille, die auf Jókas Tiraden folgte, Margréts unterdrücktes Schluchzen.
Nach kurzem Zögern stand Stefanía auf, ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Wollte etwas Nettes sagen, wusste aber nicht, was. Sie wollte dieser fremden Frau ein bisschen von ihrer Last nehmen. Da drehte Margrét sich um und schluchzte:
«Ich hätte es wissen müssen … die Vorzeichen!»
«Welche Vorzeichen?»
«Dieser Raum ist voller entstellter Vögel gewesen, die sich gegenseitig die Federn ausrissen … ganz blutig und schleimig, wie Frühgeborene … Und so viele von ihnen tot. Seht zu, dass ihr hier wegkommt! Sucht euch lieber eine andere Bleibe.»
Jetzt weinte Margrét heftig. Behutsam schob Stefanía sie zu ihrem Bett. Da sackte sie förmlich in sich zusammen. Allmählich legte sich ihr Weinen, und sie dämmerte weg. Stefanía saß auf der Bettkante und strich ihr übers Haar. Versuchte, mit ihr zu reden, bekam aber kein Wort aus ihr heraus. Es schien, als sei Margrét weggedämmert. Nach einer halben Ewigkeit stammelte sie leise:
«Geht nicht. Ihr könnt den Fisch essen.»
Den Freundinnen war nicht wohl bei der Sache. Wo waren sie hier gelandet? Und was hatte es mit Margréts Andeutungen zu den Vorzeichen auf sich? Sie aßen den Fisch und ließen ein Stück für den Hausherrn übrig. Dann räumten sie auf, so leise, dass sie Margrét, die schwer atmend schlief, nicht störten. Bis spät in den Abend unterhielten sie sich im Flüsterton. Immer wieder fuhr Margrét erschrocken hoch und faselte irgendetwas, um dann wieder wegzudämmern. Guðfinna war überzeugt, dass diese Frau geisteskrank war, aber vermutlich nicht weiter gefährlich. Ansonsten hätte Anna sie nicht hierhergeschickt.
Stefanía hingegen ließen die Vorzeichen keine Ruhe, sie konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Als Guðfinna sich bettfertig machte, ging Stefanía noch einmal raus, lief ein ganzes Stück und atmete tief die frische Luft ein. Die Esja lag im selben tiefroten Schein wie am letzten Abend. Da war Stefanía noch ganz überwältigt von der Schönheit gewesen, doch jetzt war alles wie gedämpft, und sie hatte Angst. Als sie sich zurück in die Hütte schlich, schliefen die anderen bereits. Auch sie legte sich hin, doch sie hatte Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden.
«Es ist Mitternacht. Es geht ein schwacher Wind!» Der Ruf des Nachtwächters unterm Fenster riss Stefanía aus dem Schlaf. Das nächste Mal wachte sie auf, als Þorfinnur und Jóka nach Hause kamen. Er war laut, und Jóka fuhr ihn an, ruhig zu sein. Stefanía lag bis tief in die Nacht wach, und als sie dann endlich einschlief, schlief sie wie ein Stein bis in den Tag hinein. Als sie aufwachte, war Guðfinna schon längst draußen in der Sonne.