Souad Mekhennet
Nur wenn du allein kommst
Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad
Aus dem Englischen von Sky Nonhoff
C.H.Beck
Was passiert hinter den Fronten des Dschihad? Wie ticken Warlords und jugendliche Attentäter? Spannend wie in einem Krimi berichtet Souad Mekhennet von ihren teils lebensgefährlichen Recherchen in den No-go-Areas des Terrors. Denn die Dschihadisten werden wir erst dann verstehen, wenn wir ihre Geschichten kennen.
Die Journalistin Souad Mekhennet verfügt über ungewöhnliche Verbindungen zu den Most Wanted des Dschihad – und über ein einzigartiges investigatives Talent. Sie deckte die Entführung und Folterung des Deutsch-Libanesen Khaled al-Masri durch die CIA auf, interviewte den Führer von al-Qaida im Maghreb, obwohl ihr die Geheimdienste auf den Fersen waren, lernte ein ägyptisches Foltergefängnis unfreiwillig von innen kennen, enttarnte den berüchtigten IS-Henker «Jihadi John» und wusste nach den Pariser Anschlägen schon vor der Polizei, wer der in Saint Denis erschossene Attentäter war. Ihre meisterhaften Nahaufnahmen lassen uns die Kämpfe und Wünsche der islamischen Welt besser verstehen und führen uns heilsam vor Augen, dass sich der Clash zwischen Islam und Westen in Wirklichkeit nur in den Köpfen abspielt.
«Eine herausragende Journalistin nimmt mich mit auf ihren eigenen, gefährlichen, schwierigen Weg zu den Quellen des Weltkonflikts, der unsere Zeit zu beherrschen scheint: der Glaubenskrieg des 21. Jahrhunderts. Ihr großartiges Buch hat mich nicht nur Fakten gelehrt, sondern das, was uns offenbar mehr als alles andere fehlt: Verständnis.» Claus Kleber
«Wie ein Thriller, der uns ins Herz der islamischen Welt führt.» Jessica Stern
«Mehr als eine großartige Erzählung: … eine Geschichte für unsere Zeit, ein erhellender Blick auf die Wurzeln des Islamismus von einer begnadeten, ungewöhnlich kühnen Journalistin.» Joby Warrick
Souad Mekhennet hat ihr Leben lang zwischen den Welten gelebt. Die Tochter einer türkischen Mutter und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland aufgewachsen, recherchiert seit dem 11. September 2001 über den islamistischen Terror und ist Sicherheitskorrespondentin der Washington Post. Bei C.H.Beck erschien von ihr zuletzt «Dr. Tod. Die Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher» (mit Nicholas Kulish, 2015).
Prolog: Verabredung mit ISIS – Türkei, 2014
1. Fremde in einem fremden Land – Deutschland und Marokko, 1978–1993
2. Die Hamburger Zelle – Deutschland, 1994–2003
3. Ein Land mit gespaltener Seele – Irak, 2003–2004
4. Ein Anruf von Khaled el-Masri – Deutschland und Algerien, 2004–2006
5. Selbst wenn ich heute sterben sollte – Libanon, 2007
6. Die Verlorenen von Zarqa – Jordanien, 2007
7. Der Wert eines Lebens – Algerien, 2008
8. Guns & Roses – Pakistan, 2009
9. Mukhabarat – Ägypten, 2011
10. Das ist kein Arabischer Frühling – Deutschland und Tunesien, 2011
11. Bedrohungen – Bahrain, Iran und Deutschland, 2011–2013
12. Nachwuchs für das Kalifat – Deutschland, 2013
13. Bräute für das Kalifat – Deutschland und Frankreich, 2014–2015
14. Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnte – England, 2014–2015
15. Die Radikalisierten – Österreich, Frankreich und Belgien, 2015–2016
Epilog: Mitten ins Herz – Deutschland und Marokko, 2016
Dank
Anmerkungen
Prolog: Verabredung mit ISIS
1. Fremde in einem fremden Land
2. Die Hamburger Zelle
3. Ein Land mit gespaltener Seele
4. Ein Anruf von Khaled el-Masri
5. Selbst wenn ich heute sterben sollte
6. Die Verlorenen von Zarqa
7. Der Wert eines Lebens
8. Guns & Roses
9. Mukhabarat
10. Das ist kein Arabischer Frühling
11. Bedrohungen
12. Nachwuchs für das Kalifat
13. Bräute für das Kalifat
14. Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnte
15. Die Radikalisierten
Epilog: Mitten ins Herz
Fußnoten
Meinen Großeltern, Eltern und Geschwistern
Türkei, 2014
Ich sollte allein kommen. Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente; Handy, Aufnahmegerät, Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen. Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber.
Im Gegenzug verlangte ich, mit jemandem zu sprechen, der etwas zu sagen hatte und mich über die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien, kurz ISIS, aufklären konnte. Es war im Sommer 2014, drei Wochen, bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veröffentlichung eines Videos, das die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley zeigte. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich, dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen würde. Ich hatte für die New York Times, diverse große deutsche Zeitungen und die Washington Post über militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt, wie sich die Gruppe nach den Anschlägen vom 11. September, zwei von den USA geführten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Frühling formiert hatte. Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten künftigen IS-Mitgliedern gesprochen.
Ich sagte meinen Kontakten, dass ich mir keine Fragen verbieten lassen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vorlegen würde. Außerdem wollte ich eine Garantie, dass man mich nicht entführen würde. Und da mir eingeschärft worden war, niemanden von der Washington Post mitzubringen, bat ich, meinen Vertrauensmann mitnehmen zu dürfen – den Kontakt, der das Interview arrangiert hatte.
«Ich bin nicht verheiratet», sagte ich den IS-Anführern. «Ich kann nicht mit euch allein sein.»
Als muslimische, in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch-türkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten, die sich mit dem globalen Dschihad beschäftigen. Seit ich als Studentin meine ersten Artikel über die Selbstmordattentäter des 11. September schrieb, hat meine Herkunft es mir ermöglicht, mit Chefstrategen des Dschihad in Verbindung zu treten – wie eben dem Mann, den ich an jenem Julitag in der Türkei treffen sollte.
Mir war bekannt, dass der IS Journalisten als Geiseln nahm. Nicht bekannt war mir, dass der Kommandeur, der mich erwartete, für die Geiselnahmen zuständig war, zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent, der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als «Jihadi John» weltweit berüchtigt werden sollte. Später erfuhr ich, dass besagter Kommandeur – Abu Yusaf – maßgeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte, einschließlich Waterboarding.
Ein Treffen am Tag an einem öffentlichen Ort war mir verwehrt worden. Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden, unter vier Augen. Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt abermals, auf 23:30 Uhr. Keine sonderlich beruhigende Entwicklung. Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht: Offenbar planten radikale Islamisten, mich mit der Zusage eines Exklusiv-Interviews in den Nahen Osten zu locken, dort zu entführen und anschließend mit einem Kämpfer zu verheiraten. Während ich mich an diese Warnung erinnerte, fragte ich mich, ob ich verrückt geworden war. Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein. Wenn alles glatt lief, würde ich die erste westliche Journalistin sein, die einen hochrangigen IS-Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam.
Es war ein heißer Tag gegen Ende des Ramadans; ich saß in Jeans und T-Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor. Bevor ich aufbrach, zog ich eine schwarze Abaya an, ein traditionelles islamisches Überkleid, das außer Gesicht, Händen und Füßen den gesamten Körper bedeckt. Einer von Abu Musab al-Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor für mich ausgesucht, als ich die Heimatstadt des mittlerweile verstorbenen al-Qaida-Anführers besucht hatte. Al-Zarqawis Gefolgsmann hatte sogar noch betont, die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schönes Exemplar und der Stoff so fein, dass man sie auch bei heißem Wetter problemlos tragen könne. Seither ist sie für mich zu einer Art Glücksbringer geworden. Ich trage sie immer bei heiklen Missionen.
Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der türkisch-syrischen Grenze stattfinden, unweit des Grenzübergangs bei Reyhanli. Ich kannte die Gegend gut: Meine Mutter war in der Nähe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen.
Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen Anthony Faiola, hinterließ ihm ein paar Telefonnummern, unter denen er meine Familie erreichen konnte, falls etwas schiefging. Um 22:15 Uhr holte mich der Mann, der den Kontakt hergestellt hatte, vom Hotel ab; ich werde ihn hier Akram nennen. Nach etwa fünfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Hotelrestaurants nahe der Grenze ab und warteten. Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf. Der Fahrer des ersten Wagens, eines weißen Honda, stieg aus. Akram setzte sich hinters Steuer, und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner, der auf der Rückbank saß. Ich schätzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig, achtundzwanzig; er trug eine weiße Baseballkappe und eine dunkle Brille, die seine Augen verbarg. Er war groß und gut gebaut, hatte einen kurzen Bart und schulterlange Locken. Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo-Hose wäre er auf europäischen Straßen nicht weiter aufgefallen.
Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung-Handys, alles ältere Modelle. Er erklärte, aus Sicherheitsgründen würde kein Kämpfer in seiner Position ein iPhone benutzen; sie ließen sich zu leicht orten. Er trug eine Digitaluhr, wie ich sie häufig an den Handgelenken amerikanischer Soldaten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte. Seine rechte Hosentasche war ausgebeult; offensichtlich war er bewaffnet. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn uns die türkische Polizei anhielt.
Akram startete den Motor, und wir fuhren durch das nächtliche Grenzgebiet, kamen durch ein paar kleine Dörfer. Das Geräusch des Fahrtwinds drang an meine Ohren. Ich versuchte mir zu merken, wo wir langfuhren, doch mein Gespräch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wieder ab.
Er sprach ruhig und leise, versuchte zu verbergen, dass er marokkanischer Herkunft war; zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt liefern, wo genau in Europa er gelebt hatte. Doch seine Gesichtszüge waren unverkennbar nordafrikanisch, und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte, verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel. Es stellte sich heraus, dass er zwar in Marokko geboren, aber als Teenager nach Holland gekommen war. «Wenn Sie wissen wollen, ob ich auch Französisch spreche, brauchen Sie’s nur zu sagen.» Er lächelte. Holländisch sprach er auch. Später fand ich heraus, dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte.
Während der Fahrt schilderte er mir seine Vision: Der IS würde die Muslime von Palästina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schließlich über die ganze Welt verbreiten. Jeder, der Widerstand leistete, würde dafür mit dem Leben bezahlen. «Wenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen, werden wir ebenfalls Blumen regnen lassen», sagte Abu Yusaf. «Aber wenn sie Feuer regnen lassen, zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Münze heim, auch auf ihrem eigenen Terrain. Und das gilt genauso für jedes andere westliche Land.»[1]
Er erklärte mir, der IS verfüge sowohl über die nötigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know-how. Tatsächlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert, ehe die Weltöffentlichkeit auf sie aufmerksam geworden war. Zu ihren Mitgliedern gehörten gebildete Leute aus westlichen Ländern, erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republikanischer Garde und ehemalige al-Qaida-Kämpfer. «Glauben Sie ernstlich, uns würden sich nur Schwachköpfe anschließen?», fragte er. «Von wegen. In unseren Reihen stehen Brüder aus England mit Uni-Abschlüssen, Brüder mit pakistanischen, somalischen, jemenitischen, ja sogar kuwaitischen Wurzeln.» Später begriff ich, dass er von den Wachen sprach, die mehrere IS-Geiseln als die «Beatles» bezeichnet hatten: Jihadi John und drei andere mit englischem Akzent.
Ich fragte, was ihn dazu bewogen hatte, sich der Organisation anzuschließen. Abu Yusaf erwiderte, er hätte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker, die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten, muslimische Bürger aber wie Menschen zweiter Klasse behandelten. «Sehen Sie sich doch an, wie wir in Europa behandelt worden sind», sagte er. «Ich wollte dazugehören, Teil der Gesellschaft sein, in der ich aufgewachsen bin, aber ich hatte immer das Gefühl: Du bist nur ein Muslim, nur ein Marokkaner, die werden dich nie akzeptieren.»
Die US-Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen, sagte er: Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben, im Abu-Ghraib-Gefängnis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafür zur Rechenschaft gezogen worden. «Und dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbaren.»
«Sie behaupten, Sie wollen nicht, dass Unschuldige zu Schaden kommen», sagte ich. «Und weshalb entführen und töten Sie dann selbst Unschuldige?»
Er schwieg ein paar Sekunden lang. «Jedes Volk hat die Chance, sich zu befreien», gab er dann zurück. «Wenn die Menschen es nicht tun wollen, ist das ihr Problem. Nicht wir haben sie angegriffen – sie haben uns angegriffen.»
«Was erwarten Sie, wenn Sie Menschen als Geisel nehmen?», fragte ich.
Er begann, von seinem marokkanischen Großvater zu erzählen, der gegen die französischen Kolonialherren gekämpft hatte, zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen. «Die Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machen», sagte er. «Und jetzt führen wir den Heiligen Krieg, um die muslimische Welt zu befreien.»
Mein eigener Großvater aber hatte ebenfalls in Marokko für die Freiheit gekämpft. Als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er mir oft von jenem «Dschihad» erzählt, davon, wie die Muslime und ihre «jüdischen Brüder» alles darangesetzt hatten, die Franzosen aus dem Land ihrer Väter zu vertreiben. «Aber Frauen und Kinder haben wir nicht getötet, auch keine Zivilisten», hatte mein Großvater gesagt. «Im Dschihad ist das verboten.» Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Gräueltaten, die der IS verübte.
«Aber er hat in seinem Heimatland gekämpft», wandte ich ein. «Das hier ist nicht Ihr Land.»
«Das hier ist das Land aller Muslime.»
«Ich bin in Europa aufgewachsen, habe dort studiert», sagte ich. «Genau wie Sie.»
«Und wieso glauben Sie dann immer noch, das europäische System sei fair und gerecht?»
«Was ist die Alternative?»
«Die Alternative ist das Kalifat.»
Unsere Debatte war hitzig geworden, persönlich. Es schien so viele Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben. Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen – wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war, den eine Muslimin einschlagen sollte.
«Warum tun Sie sich das an?», fragte er. «Glauben Sie ernstlich, der Westen würde uns respektieren? Uns Muslimen die gleichen Rechte einräumen? Es gibt nur einen richtigen Weg – unseren Weg.» Wobei er mit «uns» den sogenannten Islamischen Staat meinte.
«Ich habe Ihre Sachen gelesen», sagte er. «Sie haben den Kopf von al-Qaida im Maghreb interviewt. Warum sind Sie nur Zeitungsreporterin? Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen? Warum sitzen Sie nicht längst in der Chefetage, bei all den Auszeichnungen, die Sie bekommen haben?»
Mir war durchaus bewusst, wovon er sprach. Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund, selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen, muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen. Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder, sagen wir, unbequeme Fragen zu Außenpolitik oder Islamophobie stellt, muss mit heftigem Gegenwind rechnen.
Das Kalifat war definitiv keine Lösung. Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten, die Radikalisierung junger muslimischer Männer zu verhindern. Mehr geheimdienstliche Aktivitäten, mehr Restriktionen sind nicht die Lösung, ebenso wenig wie globale Überwachungsnetzwerke, mit denen die Freiheit unschuldiger Bürger ebenso eingeschränkt wird wie die von Verdächtigen. Abu Yusaf gehörte zu einer Generation junger Muslime, die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren, ähnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radikalisiert hatte. Ein wenig erinnerte er mich an meinen jüngeren Bruder, und ich fühlte mich plötzlich verantwortlich für ihn. Aber es war zu spät; ich konnte nichts mehr ungeschehen machen.
«Mag sein, dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht ist», sagte ich. «Aber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad. Hätten Sie in Europa Karriere gemacht, das wäre der wahre Dschihad gewesen. Wenn auch ein bisschen mühevoller. Sie haben es sich ziemlich einfach gemacht.»
Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen.
Abu Yusaf hatte darauf bestanden, mich nach Antakya zurückzubringen, statt mich an unserem ursprünglichen Treffpunkt abzusetzen, und inzwischen befanden wir uns in der Nähe meines Hotels. Ich bedankte mich und stieg aus dem Wagen. Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafés und Imbisse voll mit Leuten, die vor Sonnenaufgang aßen, wie es im Ramadan üblich ist, wenn Muslime tagsüber fasten. Ich war froh, das Interview bekommen zu haben, aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefühl tiefen Unbehagens. «Egal ob die USA, Frankreich, England oder irgendein arabisches Land», hatte er gesagt. «Wer auch immer uns angreift, dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen, auf seinem eigenen Territorium.»
Wir verlieren einen nach dem anderen, dachte ich. Aus diesem Typen hätte etwas ganz anderes werden können. Er hätte ein ganz anderes Leben führen können.
Deutschland und Marokko, 1978–1993
Ich kam mit dichten schwarzen Locken und großen braunen Augen zur Welt. Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel, und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum. Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht, zog die Blicke aber auch deshalb auf mich, weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah. Im Park ließen Eltern ihre Kinder stehen, um mich anzugaffen. In der Nähe der Klettenbergstraße, wo sich unsere Wohnung befand, waren viele amerikanische Soldaten mit ihren Familien stationiert. Sie grüßten uns freundlich, wenn wir ihnen begegneten.
«Du sahst ganz anders aus als die anderen Kinder», erzählte mir später Antje Ehrt, die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante für mich geworden war. «Wie kritisch du dreingeblickt hast, wenn du wegen irgendetwas sauer warst. Richtig böse, und wie! Alle haben sich in dich verliebt – du warst so lustig und hübsch, unglaublich süß.»
Ich wurde im Frühling 1978 geboren, am Vorabend einer Periode dramatischer Veränderungen in der muslimischen Welt. In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran, in Saudi-Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen, die die muslimische Welt erschütterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen – Umstürze, Invasionen und Kriege.[1]
Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie. Am 1. Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zurück, rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehemaligen Verbündeten, Intellektuelle und Liberale. Er initiierte eine Rückkehr zu konservativen religiösen und gesellschaftlichen Werten, beschränkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch. Am 4. November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln, von denen zweiundfünfzig über ein Jahr lang festgehalten wurden.
Sechzehn Tage später, am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400, stürmte eine Gruppe schwer bewaffneter religiöser Extremisten die heiligsten Stätten des Islam, die Große Moschee in Mekka und die Kaaba, die sich im Innenhof des Gebäudes befindet. Scharfschützen erklommen die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten – mit dem Ziel, die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren.
Die Besetzung der Großen Moschee dauerte zwei Wochen; geschätzt tausend Menschen kamen ums Leben, und die heiligen Stätten wurden massiv beschädigt, bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer französischen Antiterror-Einheit gelang, die letzten Aufständischen zur Aufgabe zu zwingen.[2] Die Auswirkungen der Aktion waren auf der ganzen Welt zu spüren und sollten lange nachhallen. Osama bin Laden geißelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften, beschuldigte das saudische Königshaus und pries die «wahren Muslime», die die heiligen Stätten verwüstet hatten. Ein paar Wochen später marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Afghanistan ein, was neun Jahre Krieg zur Folge hatte; bin Laden und andere muslimische Kämpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an, legten den Grundstein für die Ära des globalen Dschihad.
Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher. Meine Mutter Aydanur stammte aus der Türkei, mein Vater Boujema war Marokkaner. Beide waren in den frühen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen – als Gastarbeiter, Teil einer Flut von Migranten aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika, die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten. Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt, war aber im Begriff, sich zu einer der führenden Industrienationen zu entwickeln. Das Land benötigte Arbeiter, junge, gesunde Menschen, die die Ärmel hochkrempeln konnten und sich nicht zu schade waren für die Jobs, die viele Deutsche nicht übernehmen wollten. Deutsche Firmen stellten Arbeitskräfte aus Griechenland, Italien, der Türkei, Jugoslawien, Spanien und Marokko ein.[3] Unter ihnen: meine Eltern.
Meine Mutter war als Neunzehnjährige allein nach Deutschland gekommen, mit einem Zug voller Türken. In Hildesheim, unweit der ostdeutschen Grenze, verpackte sie Radios und Fernseher; sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten, teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Frauen. Später zog sie nach Frankfurt, wo einer ihrer Brüder lebte. Sie hatte langes Haar, das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte, und sie trug gern Kleider, die ihre Beine zur Geltung brachten.
Meinen Vater lernte sie 1972 über einen älteren Marokkaner kennen, der die beiden zusammenbrachte, nachdem ihm meine Mutter in einem Café in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufgefallen war, wo sie als Bedienung arbeitete. Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens «Dippegucker», bekannt für internationale und regionale Spezialitäten wie die Frankfurter Grüne Sauce, die mit Kräutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird. All das war Neuland für meinen Vater, der sich als Marokkaner um einiges besser mit der französischen Küche auskannte. Doch er hatte lange davon geträumt, nach Europa zu kommen, und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleißiger, zuverlässiger Mitarbeiter.
Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb. Trotzdem war sie skeptisch; bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen, sie würden zwar gut aussehen, aber nur die Algerier wären noch größere Hallodris, sagten ihre Freundinnen. Aus Neugier schaute sie im «Dippegucker» vorbei und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass er dort tatsächlich als Koch tätig war, nicht bloß als Spüler, wie sie angenommen hatte. Er war groß und muskulös, hatte kräftige dunkle Locken und sah in seiner blütenweißen Montur mit Kochmütze ziemlich beeindruckend aus. Zudem fiel ihr auf, dass er sich auch anderen Leuten gegenüber außerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt. Ihr gegenüber sowieso; er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte, wann sie sich wiedersehen würden. Und als sie am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, wartete er mit einem Blumenstrauß und Pralinen auf sie.
«Wenn du glaubst, du kannst mit mir nach oben kommen, hast du dich getäuscht», sagte sie. Aber dann lud sie ihn trotzdem ein, und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen.
Ihre Gefühle füreinander vertieften sich schnell, und ein paar Wochen später ließen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen. Trauzeuge meines Vaters war sein Chef, Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin.
Bald darauf war meine Mutter schwanger. Doch das Leben veränderte sich drastisch für Muslime und Araber in Westdeutschland, als eine Gruppe von acht palästinensischen Terroristen während der Olympischen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olympia-Teams eindrang, einen Trainer und einen Gewichtheber tötete und neun andere Sportler als Geiseln nahm.[4] Die Extremisten waren Mitglieder einer Terrororganisation, die sich Schwarzer September nannte. Sie verlangten die Freilassung von zweihundert arabischen Gefangenen, die in israelischen Gefängnissen einsaßen, sowie freies Geleit für sich selbst; andernfalls würden sie die Geiseln erschießen. Israel lehnte es ab, sich erpressen zu lassen. Die Deutschen hingegen erklärten sich bereit, die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen. Eine Finte: Am Flughafen eröffneten deutsche Scharfschützen das Feuer auf die Palästinenser. Aber die Terroristen waren gut ausgebildet; sie erschossen die Geiseln, und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster: Alle Geiseln, fünf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben.
Jahre später stellte sich heraus, dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte, eine von Jassir Arafat gegründete Guerilla-Organisation der PLO. Direkt nach dem Münchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht. Meine Eltern spürten den allgemeinen Argwohn, insbesondere mein Vater, der häufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste. Die Wohnungen arabischer Studenten wurden durchsucht, weil die Polizei sie verdächtigte, militante Zellen zu unterstützen oder ihren Mitgliedern Unterschlupf zu gewähren. «Manche Leute forderten sogar ‹Araber raus!›», erzählte mir mein Großvater später. Er stieß sich allerdings nicht daran, weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszufinden versuchten, wer hinter dem Anschlag steckte. Er verstand ihren Argwohn.
Die Lage blieb angespannt, denn in den Siebzigerjahren waren Terroranschläge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesordnung. Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader-Meinhof-Bande[5] hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den «Imperialismus des Westens», doch ideologisch waren sie links und nicht religiös motiviert. Zur Baader-Meinhof-Bande gehörten auch Söhne und Töchter deutscher Intellektueller, die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Faschisten betrachteten und sie bezichtigten, Nazis zu sein.[6] Aber während die Baader-Meinhof-Bande sich auf Banküberfälle und Bombenanschläge spezialisierte, verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flugzeugentführungen, Kidnapping und Mordanschläge. Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten. Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande in den Libanon, wo sie sich in einem palästinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerillatechniken schulen ließen, und einige RAF-Angehörige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen. Die RAF entführte westdeutsche Politiker und Industriebosse, darunter Hanns-Martin Schleyer, einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionär und ehemaligen SS-Untersturmführer; er wurde im Oktober 1977 von seinen Entführern ermordet.
1973 wurde meine älteste Schwester Fatma geboren, ein Jahr später meine Schwester Hannan. 1977 erfuhr meine Mutter, dass sie zum dritten Mal schwanger war. Die Ärzte rieten ihr zu einem Abbruch, da sie fürchteten, dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen würde, möglicherweise ohne Arme oder Hände. Meine Mutter war zutiefst beunruhigt.
«Alles liegt in Gottes Hand», sagte mein Vater. «Lass uns das Kind bekommen. Wir kriegen das schon hin, was immer auch geschieht.»
Damals kam es in Krankenhäusern nicht selten vor, dass türkische Männer ein Riesentheater veranstalteten, wenn ihre Frauen Mädchen zur Welt brachten. Sie wollten Söhne.
Als ich geboren wurde, sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an. «Tut mir leid», sagte er. «Es ist ein Mädchen.»
«Geht es ihr gut?», fragte meine Mutter. «Hat sie Arme und Beine?»
«Es geht ihr nicht nur gut», antwortete der Arzt. «Sie hat mich gerade angepinkelt.»
Weil ich entgegen aller ärztlichen Prognosen gesund und munter war, nannten meine Eltern mich «Souad», was Arabisch ist und so viel wie «Glückskind» bedeutet. Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr glückliches Kind. Die Klettenbergstraße, in der wir damals wohnten, ist eine der schönsten Straßen Frankfurts. Der Chef meines Vaters, dem auch das Restaurant gehörte, in dem er arbeitete, wohnte in der Klettenbergstraße 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus, im obersten Stock, gleich unter dem Dach. In dem schon recht alten Gebäude gab es sechs Wohnungen; unsere Nachbarn waren hauptsächlich Banker, Manager oder Geschäftsleute. In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa. Wir waren die einzige Gastarbeiterfamilie.
Die Gegend war schön, unsere Wohnung nicht. Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke, dass meine Mutter Eimer aufstellen musste. Meine Eltern arbeiteten beide, und nicht nur, um uns zu versorgen. Sie fühlten sich verantwortlich für ihre Familien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Türkei. Meine beiden Schwestern kamen tagsüber zu einer deutschen Babysitterin. Und auf mich passte die jüngere Schwester meiner Mutter auf, die nach Deutschland gekommen war, um ihre Brüder zu besuchen.
Als ich acht Wochen alt war, erfuhren meine Eltern, dass der Vater meiner Mutter schwer krank war. Einen Flug konnten sie sich so kurzfristig nicht leisten; die Reise mit dem Bus war günstiger, nahm aber vier Tage in Anspruch. Und meine Eltern befürchteten, die Reise würde zu viel für mich sein.
Antje Ehrt und ihr Mann Robert, die in unserem Haus lebten, boten an, während der vierwöchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen. Meine Eltern nahmen an, bestanden aber darauf, für die Kosten aufzukommen. Doch ihre Rückkehr verzögerte sich, weil sich der Gesundheitszustand meines Großvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten, länger zu bleiben. Dort, wo sie waren, gab es kein Telefon. Die Ehrts begannen allmählich, sich Sorgen zu machen: Wie sollten sie den Behörden erklären, wie dieses Baby in ihre Hände geraten war?
Nachdem meine Eltern zurückgekehrt waren, wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel für mich. Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft. Sie ließen mich in meinem Babykörbchen im Schlafzimmer, wenn sie in der Küche aßen. Doch das gefiel mir gar nicht. Ich wollte dort sein, wo etwas los war. Und so brüllte ich mir die Lunge aus dem Leib, bis sie mich holten. Das Babykörbchen mit der kleinen «Madame» stellten sie dann auf die Arbeitsplatte, so dass ich bei ihnen sein konnte.
Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar, das mich prägen sollte. Ruth und Alfred Weiss waren Überlebende des Holocaust. Mein Vater holte manchmal beim Bäcker Brot für sie, und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei.
«Viele meiner Lehrer waren Juden», sagte mein Vater uns immer. «Und ich bin ihnen überaus dankbar für alles, was sie mir beigebracht haben.»
Als ich ein paar Monate alt war, beschloss die Schwester meiner Mutter – diejenige, die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte –, in die Türkei zurückzukehren, um sich um meinen Großvater zu kümmern. Meine Eltern überlegten, ob sie mich in die Obhut meiner marokkanischen Großmutter geben sollten, damit jemand rund um die Uhr für mich da war; außerdem würde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden.
Es schien eine kluge Entscheidung. Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte, machte meine Großmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig, die meine Amme wurde. Aber meine Mutter war zu Tode betrübt – die ersten prägenden Erfahrungen meines Lebens würde ich ohne sie machen, in einem weit entfernten Land.
Meine Großmutter Ruqqaya war nach einer der Töchter des Propheten benannt worden. Sie und ihre Verwandten hießen mit Nachnamen Sadiqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al-Cherif, einem marokkanischen Adligen, dessen Familie aus dem heutigen Saudi-Arabien stammte und dabei geholfen hatte, Marokko im 17. Jahrhundert zu vereinigen. Er gehörte zur Dynastie der noch heute über Marokko herrschenden Alawiden und war somit ein Scherif – ein Ehrentitel, der ausschließlich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist.[7]
Meine Großmutter stammte aus einer vermögenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts in der Stadt Er-Rachidia aufgewachsen. Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfältig registriert, doch sie konnte sich daran erinnern, wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren.[8] Ihre Familie besaß Land in der Region, und sie erzählte mir häufig von den Dattelpalmen dort, von den Kühen, Schafen, Ziegen und Pferden, die sie gehalten hatten. Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig, weshalb ihre Angehörigen und sie gelegentlich mit ihrem Ehrentitel angesprochen wurden – die Männer mit moulay und scharif, die Frauen mit scharifa oder lalla –, auch wenn meine Großmutter nie Wert auf derartige Formalien legte.
Als junges Mädchen, mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren, wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters verheiratet, einem gut situierten Jungen aus besten Verhältnissen, der nur wenige Jahre älter war als sie. Ein Jahr später schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben. Im Lauf der nächsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt, doch ihr Mann wurde immer öfter gewalttätig, schlug sie und die Kinder, weshalb sie ihren Eltern erklärte, dass sie sich scheiden lassen wolle. Das wurde in der Familie zwar diskutiert, doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschäftlich zu eng verbunden. Hab Geduld, wurde ihr geraten, manchmal geben sich solche Probleme auch wieder. Meine Großmutter aber spielte nicht mit. Sie ließ sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit.
Damals war das ein radikaler Schritt, und meine Großmutter wurde verstoßen. Sie war jung und auf sich allein gestellt, konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt, schlicht weil es nicht nötig gewesen war. Sie flüchtete mit ihren Kindern nach Meknes, eine der vier Königsstädte Marokkos, und heiratete dort erneut. Sie sprach nie über ihren zweiten Ehemann, erwähnte lediglich, dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war: Er hatte sie verlassen, während sie ein weiteres Kind erwartete, ein Mädchen namens Zahra. Nun war sie wieder allein, noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Männern. Sie schwor sich, nie wieder zu heiraten, sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen. Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heilöle.
Meine Großmutter hatte ihren eigenen Kopf, nahm große Risiken auf sich, vergaß dabei aber nie ihre Wurzeln. Sie erzählte mir, dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren.[9] Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschäftsfrau; um einige Jahre älter als er, hatte sie Mohammed finanziell unterstützt und ihm nicht zuletzt den Rücken gestärkt, als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte. Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt, die als Erste an Mohammeds religiöse Botschaft glaubte, als seine ergebenste und treueste Vertraute. Eine andere seiner Frauen, Aischa, war bekannt für ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna, der Überlieferung der Worte und Taten Mohammeds, die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbindliches Regelwerk angesehen wird. Doch während Sunniten Aischa als Inspirationsquelle des Propheten verehren, wird sie von manchen Schiiten kritischer betrachtet. Sie unterstellen ihr, dem Propheten untreu gewesen zu sein, und machen geltend, ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwiegersohn Ali sei eine unverzeihliche Sünde gewesen. «Lass dir bloß nicht einreden, dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein muss», sagte meine Großmutter.
Den Mann, der mein Großvater werden sollte, lernte sie in Meknes kennen. Er hieß Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen Familie. Zu dem Zeitpunkt aber, als sie sich begegneten, hatten ihn Gefängnis und Folter körperlich gebrochen, und von seinem Vermögen war nichts mehr übrig.
Mein Großvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Nähe von Marrakesch. Dort war der Widerstand gegen die französischen Besatzer besonders stark ausgeprägt; in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kämpften Muslime und Juden Seite an Seite für die Unabhängigkeit. Mein Großvater, ein Stammesfürst und führender Kopf der regionalen Unabhängigkeitsbewegung, half dabei, Strategien zu entwickeln und die Widerstandskämpfer mit Waffen und Material zu beliefern. Sie nannten es einen Dschihad, doch mein Großvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln: Sie attackierten nur französische Soldaten und Folterer, die für die Franzosen arbeiteten – keine Frauen oder Zivilisten.
Ende der Vierzigerjahre wurde mein Großvater eines Tages verhaftet; die Franzosen wollten Namen von ihm, wollten in Erfahrung bringen, wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte. «Du wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhalten», sagte der Franzose, der ihn verhörte. «Aber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, gehst du ins Gefängnis, und wir enteignen dich.»
Großvater ließ sich nicht einschüchtern. Selbst wenn ihm die Franzosen sein Land wegnahmen, so glaubte er, würde er es zurückbekommen, sobald Marokko die Unabhängigkeit erlangt hatte. Sie steckten ihn ins Gefängnis, schlugen ihn, zwangen ihn und andere Gefangene, stundenlang nackt in grotesken Stellungen auszuharren; sie urinierten auf sie, übergossen sie mit eiskaltem oder siedend heißem Wasser, manche wurden mit Flaschen vergewaltigt. Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg, seine Mandelbaum- und Orangenplantagen, seine Pferde. Ein Großteil seiner Besitztümer ging an Kollaborateure.
Er verbrachte mehrere Monate im Gefängnis. Nach seiner Entlassung durfte er nicht auf sein Gut zurückkehren; außer seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben. Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer; er verstand davon nichts, aber schließlich musste er überleben. Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezentrum, und Häuser schossen wie Pilze aus dem Boden.
Der Mann, dem einst Pferde und viele Morgen Land gehört hatten, beschloss, sich in Sidi Masoud niederzulassen, einem Viertel, das an eine Barackenstadt erinnerte. In Sidi Masoud lebten Menschen, die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gründen nach Meknes gekommen waren; ihre notdürftigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz, Blech und allen möglichen anderen billigen Materialien.
Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein. Einer von Abdelkaders Freunden, der von seiner Vergangenheit als Stammesfürst wusste, erzählte ihm lachend, dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte, da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte.
Abdelkader wusste, dass besagte Frau Kinder hatte, weshalb er Süßigkeiten mitbrachte, als er sie besuchte, um sie willkommen zu heißen. Ihr Misstrauen war sofort geweckt; sie beschied ihm, dass sie weder Süßigkeiten noch sonstige Geschenke benötige. Er war schwer beeindruckt. Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag. Abdelkader war Mitte zwanzig, einige Jahre jünger als meine Großmutter, doch obwohl er immer noch ein glühender Verfechter der marokkanischen Unabhängigkeit war, hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlassen. Als ich ihn als kleines Mädchen fragte, was das für Narben an seinen Händen und Armen wären, erklärte er mir, dass die Franzosen glühende Zigaretten auf seiner Haut ausgedrückt hätten; die Narben auf seinem Rücken stammten von einer Pferdepeitsche. Ich glaube, dass er sich zum Teil zu meiner Großmutter hingezogen fühlte, weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war. Er sorgte für sie und die Kinder, so gut es ihm möglich war, adoptierte sogar ihre jüngste Tochter, die ohne Vater aufgewachsen war; auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter.
1950, knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit, brachte meine Großmutter meinen Vater zur Welt; er war der Jüngste und ihr absoluter Liebling. Die Familie lebte in einem Häuschen, das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war. Durch die Ritzen der dürftig zusammengenagelten Wände konnten sie das Blau des Himmels sehen. Es gab zwei kleine Zimmer, weder fließend Wasser noch eine Küche. Das «Bad» befand sich in einer abgetrennten Ecke, mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen.
«Es gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasser», erzählte mir mein Vater. «Er war zwei Kilometer entfernt, und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zurückschleppen.»
Die Franzosen luden meinen Großvater immer noch gelegentlich vor, wenn sie ihn nicht einfach abführten. Sie sagten ihm, er könne sein Land immer noch zurückbekommen, er müsse nur mit ihnen kooperieren. Doch er weigerte sich, obwohl er sich um seine Familie sorgte. Er fürchtete besonders, dass die Franzosen meine Großmutter abholen würden, um ihm noch mehr Schmerz zuzufügen. Es ging das Gerücht, dass französische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten. Mein Vater erinnerte sich, dass mein Großvater eine Pistole im Haus versteckt hatte. Einmal – mein Vater war vier oder fünf Jahre alt – stritten sich meine Großeltern, und meine Großmutter drohte, den Franzosen von der Waffe meines Großvaters zu erzählen. «Die werden dich einsperren, und dann bin ich dich ein für alle Mal los», sagte sie, und das war nur halb im Scherz gemeint. Mein Großvater wollte definitiv nicht zurück ins Gefängnis. Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine.
Meine Großeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv, leisteten Überzeugungsarbeit, forderten Nachbarn auf, an den Protestmärschen gegen die französischen Besatzer teilzunehmen. 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhängigkeit, doch mein Großvater erhielt seinen Grundbesitz nie zurück. Stattdessen versuchte ihn der Bürgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen. Meine Großeltern lehnten ab. Beide waren zutiefst frustriert, und mein Großvater verfiel in eine Depression.