C.H.BECK
Zum Buch
Berlin in nächster Zukunft. Auf der Bundespressekonferenz bricht Tumult aus, Paragraph 216 ist abgeschafft: Tötung auf Verlangen bleibt fortan ungestraft! Hier treffen auch Paul Kungebein, ambitionierter Jungredakteur, und Hendrik Miller, Oberarzt an der Charité, aufeinander. Gemeinsam gründen sie eine Agentur, die den Dementen aus Berlins Altenghetto einen sanften Tod ermöglicht – durch aktive Sterbehilfe.
Erste Patientin ist die anrührend gezeichnete, fast hundertjährige Elsa Lindström. Bei Weißwein und Lachs rühmen sich Miller und Kungebein ihrer humanitären Taten. Daheim versorgt Kungebein liebevoll seinen umnachteten Vater Victor.
Hendrik Miller hingegen denkt weiter. Auch solche Kranke, die einen Sterbewunsch nicht mehr artikulieren können, möchte der Arzt erlösen …
In seinem brillant geschriebenen und grotesk komischen Roman entwirft Björn Kern ein Szenario zwischen Liebe und Leid, dem man sich nicht entziehen kann – spannend, voller suggestiver Bilder, die den Leser nicht loslassen, und mit einem überraschenden Ende. Ein hochaktueller Roman, der niemanden kalt lässt.
Über den Autor
Björn Kern, 1978 in Lörrach geboren, arbeitete in einem psychiatrischen Pflegeheim in Südfrankreich. Nach seinem Debütroman «KIPPpunkt» (dtv 2001) folgten im Verlag C.H.Beck der viel gelobte Roman «Einmal noch Marseille» (2005) und «Das erotische Talent meines Vaters» (2010). Björn Kern erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt das Heinrich-Heine-Stipendium. Er lebt in Südbaden und Berlin.
INHALT
ERSTES KAPITEL
1. Regierungsviertel im Regen
2. Die Würfel sind gefallen
3. Massentötung
4. Götterdämmerung
5. Leere
6. Drei Bier später
7. Im Nachthemd
8. Miller auf allen Kanälen
9. Shampoo im Tee
10. Mitleid
11. Keine Orgie
12. Streichholzschachtel
13. Die Wahrheit ist nicht zumutbar
ZWEITES KAPITEL
1. Gegrilltes Huhn
2. Mondlicht
3. Oldie
4. Rushhour
5. Die Göttin
6. Nummern 701–703
7. Die Welle
8. Im Dreck
9. Die Anzeige
DRITTES KAPITEL
1. Wölfe
2. Das erste Mal
3. Reiterdenkmal
4. Im Wachturm
5. Rein theoretisch
6. Glück
7. Fliegenklatsche
8. Das Podest
9. Doppelt so alt, dreimal so jung
10. Weißwein und Kerzenschein
VIERTES KAPITEL
1. Das Praktische am Menschen
2. Danke
3. Wider Willen
4. Vorsätzlicher Mord
5. Das eigentliche Verbrechen
6. Kopfstoß
7. Perücke im Wind
8. Mitklatschen
9. Das Henna-Tattoo
10. Zur vollen Stunde
11. Prost!
FÜNFTES KAPITEL
1. Im Ostspeicher
2. Zwei zu zwei – unentschieden
3. Groß und klein
4. Die gute Nachricht
5. Drei Wodka und eine Flasche Wein
6. In Eigenregie
7. Die Terrakottafliese
1.
REGIERUNGSVIERTEL IM REGEN
Paul Kungebein stand zehn Stockwerke über dem Potsdamer Platz an ein Fenster gelehnt, an eine Glasfassade vielmehr, im Redaktionsraum der DEUTSCHLANDZEITUNG und ließ seinen Blick über Reichstag, Kanzleramt und Hauptbahnhof streifen, über riesige Hundehaufen, wie er dachte, dunkel und verschwommen im Nieselregen, unappetitlich getürmt.
Kungebein überlegte, wann er das letzte Mal Sonnenschein über Berlin gesehen hatte und warum die Stadt nicht einfach kapitulierte und ineinanderfiel, vom Bauschimmel befallen und bis auf die Fundamente durchweicht, er massierte seine Stirn und seine Schläfen, seine Augenbrauen bewegten sich auf und ab.
Genau genommen aber war es nicht der Regen, der das Regierungsviertel zu einer feuchten und haufengleichen Kulisse degradierte, sondern Kungebein selbst, oder treffender: sein Blick, dieser Blick, der sich längst wieder verengt und nach innen gekehrt hatte, der allenfalls durch eine verträumte Nebelschicht noch die Außenwelt zu ihm hindurchdringen ließ.
Verdammt noch mal!
Kungebein schreckte aus seinen Träumereien, die seit einigen Monaten Albträumereien waren, wie er verbittert feststellte, er fragte sich umgehend, warum ein Journalist seines Kalibers auf ein derart hilfloses Wort kam, Albträumereien, und drehte sich um. Seine Redakteurin schien bereits mehrfach nach ihm gerufen zu haben, ihre Schläfen waren gerötet, ihr Blick hatte etwas Gierendes, Schäumendes, Kungebein fühlte sich geradezu chemisch abgestoßen, was ihm sonst nur bei Männern passierte, als sondere die Redakteurin eine giftige Substanz ab oder einen Gestank gewordenen Fluch.
Die Frau griff in eine Schale Studentenfutter, schob Haselnüsse und Rosinen und Sonnenblumenkerne mit dem Zeigefinger beiseite, bis sie auf eine Walnuss stieß, dann lehnte sie sich kauend zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken, was nach einer angestrengt einstudierten Herrschaftsgeste aussah, wie Kungebein befand, und bei einer Frau eher obszön wirkte denn jovial, sie wies auf die Glasfront ihres Büros, als wolle sie ihrem Mitarbeiter zu verstehen geben, dass ihr nicht nur dieser grandiose Arbeitsplatz gehöre, sondern das dahinterliegende Regierungsviertel noch dazu.
Unmerklich schüttelte Paul Kungebein den Kopf. Die Redakteurin kannte ihn schlecht, wenn sie glaubte, er habe es auf ihren Designersessel abgesehen, auf ihre Position bei der DEUTSCHLANDZEITUNG, auf diesen protzenden Blick. Man sieht die Macht von hier oben, aber man hat sie nicht, dachte er, man kommt ihr nah, aber sie einem nicht – was er alles in allem für eine schöne Umschreibung seines Berufsfeldes hielt, immer handelten andere, dachte er, und immer war er es, der nur darauf reagierte.
Mit der Unverwundbarkeit eines Mitarbeiters, der seine eigentliche Berufung weit außerhalb des Arbeitsplatzes sah, erkundigte er sich in nur leicht überheblichem Tonfall, was denn anliege, die Redakteurin riss eine Seite aus ihrem Drucker, Kungebein tat ihr den Gefallen, ging zwei Schritte auf sie zu und nahm das Papier entgegen. BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ. 14.00 UHR. BUNDESPRESSEKONFERENZ. DER MINISTER IST ANWESEND.
Kungebein war irritiert. Natürlich wusste er, dass seit dem Morgen das Parlament tagte, nur wenige hundert Meter nördlich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die Republik hatte diesem Morgen seit Monaten entgegengefiebert, einem Frühjahrsmorgen, der sich als verregnet und blass entpuppt hatte und dennoch den Schlussstrich unter eine Epoche ziehen, womöglich eine neue Zeitrechnung heraufbeschwören sollte, wie die einen hofften und die anderen fürchteten, mit Blick auf diesen historischen Frühjahrstag waren Weltanschauungen aufeinandergeprallt und Weltanschauungen zusammengebrochen, hatten Gralshüter einer vergangenen Epoche den Untergang des Abendlandes verkündet, waren Geistliche liberal und Liberale orthodox geworden – kaum einer hatte sich aber getraut, die Abschaffung von Paragraph 216 als das zu bezeichnen, was sie Kungebein zufolge für Deutschland bedeutete: als allerletzte Chance.
Warum beauftragte man ausgerechnet ihn, fragte er sich, mit einer Konferenz, die einen Keil in die Gesellschaft treiben, die keinen Stein auf dem anderen lassen, die den Krieg gegen den Terror von der internationalen Agenda stoßen und das Augenmerk auf ein drängenderes Problem lenken würde, das es über die Grenzen von Staaten und Religionen und Schichten hinweg zu lösen galt.
Kungebein wusste um seine Stellung bei der DEUTSCHLANDZEITUNG, er war nicht fest angestellt, aber der einzige Mitarbeiter unter vierzig, der Herausgeber schätzte ihn, und seit wenigen Tagen war er Träger des Methusalempreises für Publizistik, eine halbseitige Reportage hatte genügt. Dennoch geboten die Spielregeln des gehobenen Zeitungswesens, dass Johann Wullbaum einen Termin dieser Tragweite wahrnahm, als Chefredakteur, oder gar der Herausgeber selbst. Hatte sich das Schicksal von Kungebeins Vater in der Redaktion herumgesprochen? Erwartete man von Kungebein eine engagierte Berichterstattung, weil er persönlich betroffen war?
Nun hören Sie endlich mal zu!
Die Redakteurin zielte mit mehreren Rosinen auf ihren Papierkorb, stand auf, um die Fehlschüsse vom Teppich zu sammeln, und erklärte unter heftigem Zucken ihrer Augenlider, dass eigentlich Wullbaum auf die Konferenz angesetzt sei, dass Wullbaum aber seinen Leitartikel nicht fertigbekomme, überhaupt könne ja außer ihr selbst keiner mehr konzentriert arbeiten in diesem Haus, sagte die Redakteurin, und er, Kungebein, solle nicht schauen wie ein Schaf, sondern diesen Wisch nehmen und auf die Konferenz fahren, es sei bereits Viertel nach eins.
Paul Kungebein blickte auf sein Handgelenk. Es war Viertel vor zwei. Wullbaum, dachte er. Drei Packungen Marlboro, achtzehn Pernod zu zweit. Schlesische Straße, morgens um vier. Kungebein hatte seinem beruflichen Ziehvater und Zechgenossen erzählt, dass sein Vater barfuß einkaufen gehe, Passanten mit Schneebällen bewerfe, nackt im Schnee tolle. Hatte Wullbaum wirklich geplaudert? Etwas drückte auf Kungebeins Magen, für einen Moment wurde ihm flau.
Dann schnappte er seine Akkreditierung.
2.
DIE WÜRFEL SIND GEFALLEN
Vor dem Bundespressehaus war bereits alles dicht. Auf dem Vorplatz standen Übertragungsbusse und Streifenwagen ineinander verkeilt, mit nur wenigen Zentimeter Abstand, als habe man kurz vor einer Massenkarambolage das Bild festgefroren. Die letzten Journalisten kämpften sich durch Absperrgitter und bettelten um Einlass, und am Bundespressehaus schlossen soeben die Glastüren.
ARD und ZDF, die Privaten, sogar CNN und BBC waren längst vor Ort, aber die DEUTSCHLANDZEITUNG schaffte es nicht, rechtzeitig einen Reporter zu schicken! Paul Kungebein spuckte aufs Pflaster. Er streckte seine Einmetersiebzig um zwei oder drei Millimeter und schritt auf einen Wachmann zu, der mit runden Lippen Zigarrenrauch zu Kringeln formte, Kungebein ekelte sich vor der Genusssucht des Beamten, der ihn zudem nicht bemerkte oder vielmehr, was Kungebein mit den Zähnen knirschen ließ, ignorierte, und ohne die gewünschte Wirkung wedelte Kungebein mit seiner Akkreditierung.
Die Limousine des Ministers überquerte indes die Marschallbrücke und näherte sich dem Bundespressehaus, Kungebein rammte seine Ellbogen in Magengruben und Hüften, als er endlich den silbernen Haarkranz des Justizministers im Fond erkannte, er schaffte es, seine Existenzberechtigung gegen die Seitenscheibe der Limousine zu klatschen, sofort nahm ihn ein Beamter in den Polizeigriff. Der Minister aber schien das Logo der DEUTSCHLANDZEITUNG erkannt zu haben oder gar Kungebein selbst?, der Minister beugte sich zu seinem Fahrer vor, der etwas in sein Handy sprach, und wenig später ließ man Kungebein durch die Absperrung.
Noch Jahre später, als Paul Kungebein längst kein Journalist mehr war und sich auf anderem Gebiet einen gefürchteten Namen gemacht hatte, verengten sich seine Augen bei der Erinnerung, wie er an AUENTALER BOTEN und MARIENDORFER STIMMEN vorbei ins Bundespressehaus gelotst wurde, wie sich die Glastüren für ihn erneut öffneten und nach ihm wieder schlossen, und wären ihm Enkel vergönnt gewesen, hätte er noch zu deren Abitursfeiern von seinen fünf großen Minuten geschwärmt, aber Kungebein war gerade erst vierunddreißig und nicht einmal Vater, sondern Single, was er im Übrigen sein Leben lang bleiben würde.
Paul Kungebein hatte es mal wieder geschafft. Im Bundespressesaal pfropfte sich eine knisternde Stille auf seine Ohren, die Luft im Saal war schon jetzt verbraucht. Er kämpfte sich durch die Meute nach vorne, zu den Kollegen der großen Onlineportale und Tageszeitungen, in die vorderste Reihe, man erkannte ihn, man machte ihm Platz. Die Stimmung im Saal war aufgeladen, als warte eine Sektengemeinde auf ihre Erleuchtung, auf ihren Messias, und zu Kungebeins Verärgerung übertrug sich die Stimmung auch auf ihn, auf seinen Nacken, in dem er ein Kitzeln verspürte, auf seine Unterarme, die eine Gänsehaut überzog, er schüttelte sich und fühlte sich primitiv wie ein Tier.
Kaum hatte Kungebein Platz genommen, erklomm der Minister auch schon die Stufen zum Podest, nicht ohne Anstrengung, wie die Fotografen sofort bemerkten, denn der Minister war kleinwüchsig, und die Stufen waren hoch. Im Blitzlichtgewitter bewegte sich der hagere Mann wie im Stroboskoplicht eines Nachtclubs, eckig und ungelenk, dachte Kungebein, dem der ganze Auftritt wenig staatstragend erschien und peinlich obendrein.
Als die Rufe der Fotografen abschwollen, bitte mal hierher!, weiter nach rechts!, noch mal wie eben!, platzierte der Minister eine wirkungsvolle Kunstpause, fingerte an seinem Ansteckmikrofon und deklamierte mit nicht eben sonorer Stimme, wobei er die einzelnen Wörter unnatürlich in die Länge zog: Meine Damen und Herren, das Parlament hat mit 451 zu 123 Stimmen die Abschaffung –
Weiter kam er nicht. Wie auf Knopfdruck brach Lärm aus, schrien Fotografen und Journalisten durcheinander, Skandal!, Hört, hört!, sprangen Männer und Frauen von ihren Sitzen auf, applaudierend oder fingerreckend, verschafften sich Kameramänner mit Fausthieben freie Sicht, stürzte eine Plastikwasserflasche vom Ministerpodest, bündelten sich Blitzlichter zu einem gleißenden Lichtstrahl, stolperten Journalisten mit gereckten Diktierstiften über TV-Displays, lächelte Kungebein still vor sich hin.
Abgeschafft, dachte er.
Der Minister bewegte die Lippen, ohne sich Gehör zu verschaffen, der Tumult fieberte seinem Höhepunkt entgegen, Kungebein machte sich von den Armen und Händen frei, die sich um ihn schlangen, die nach ihm griffen, wie unbeteiligt bahnte er sich eine Schneise zum Podest, bückte sich nach der Wasserflasche und stellte sie zurück auf den Tisch.
Der Minister nickte ihm zu, dankbar, machte eine besänftigende Geste, mit ausgestreckten Armen, die Handteller nach unten weisend, was laute Pfiffe zur Folge hatte, jubelnd oder protestierend, das war kaum mehr auszumachen, der Minister wirkte wie der Papst vor einem aufgebrachten Fußballstadion, quittierte mit einem bitteren Lächeln die Absurdität seiner Situation und lehnte sich wartend und mit verschränkten Armen zurück.
Noch bevor der Ministerrücken die Stuhllehne erreichte, sah Kungebein das Messer im Licht der Fotografen aufblitzen, mit obszön breiter Klinge, wie in Zeitlupe sah er die Person, die das Messer hielt, eine schwarz gekleidete Frau, nach vorne schnellen, mit weißer Halskrause, eine Nonne, wie Kungebein folgerte, bevor das Adrenalin in seinen Adern weitere Folgerungen verunmöglichte, bevor er einfach nur losschrie, bevor die Klinge sich dem Minister näherte, der Minister vom Stuhl glitt und nach einer gefühlten Ewigkeit zwei Leibwächter die Nonne überwältigten.
Im Saal war es totenstill.
3.
MASSENTÖTUNG
Der Mann schien unverletzt. Er krabbelte langsam auf seinen Stuhl zurück, was erneut die gebührende Würde vermissen ließ, wie Paul Kungebein selbst in dieser Situation befand, der Mann zitterte, schluckte, seine Hände krallten sich an der Tischkante fest. Vor dem Podest hatte sich in Sekundenschnelle eine Reihe von Polizisten positioniert, mit den Rücken zum Redner, die Meute im Blick.
Der Justizminister öffnete den Mund, die Lippen lösten sich mit einem Schmatzen voneinander, einem Schnalzen vielmehr, das sich unangenehm laut in den ganzen Saal übertrug, der Minister schloss die Lippen wieder, fasste sich ans Herz, setzte noch dreimal vergeblich an, vor laufender Kamera, wie Kungebein düpiert konstatierte, bevor der Mann mit dünner Stimme vor sich hin flüsterte, monoton und als höre ihm nicht eine Menschenseele zu.
Paragraph 216 Strafgesetzbuch sei abgeschafft, der Gesetzestext werde ersatzlos gestrichen. Im Saal verwoben sich Schimpfen und Rufen erneut zu einem Protestteppich, Skandal!, Hört, hört!, oder auch zu einem Netz der Zustimmung, Kungebein war da noch immer unsicher, der Minister räusperte sich, trank einen Schluck, fasste sich endlich, fuhr mit festerer Stimme fort: Die Entscheidung sei vor einer halben Stunde im Parlament gefallen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, mit der nötigen Zweidrittelmehrheit, und noch vor der ersten Frage wolle er hinzufügen, dass er die Emotionalisierung verstehe, dass man sich aber nicht gegen ihn persönlich wenden möge, da er die Entscheidung nicht getroffen habe, sondern nur repräsentiere, was auf unzähligen Notizblöcken als Distanznahme mitstenografiert wurde – kurz: Noch zu Beginn der Konferenz redete sich der Mann um Kopf und Kragen, und nicht einmal besonders regierungstreue Blätter entschuldigten das, am nächsten Morgen, mit seinem Schock nach einem vereitelten Attentat.
Der Justizminister rief nun einzelne Journalisten auf, man erkundigte sich, ab wann die Abschaffung rechtskräftig sei und wie die Opposition abgestimmt habe, ein älterer Herr im Kordjackett fragte gar, wie es dem Herrn Politiker nach dem Attentat gehe, Kungebein schüttelte ob der gesammelten Ignoranz für jedermann sichtbar den Kopf. Wie immer oblag es ihm, dachte er, die wesentlichen Fragen zu stellen, wie immer erführe die Nation ohne ihn, dachte er, nicht einen relevanten Satz.
Er blätterte in seiner Pressemappe und suchte den genauen Wortlaut des Gesetzestextes. PARAGRAPH 216, fand er auf der letzten Seite der Mappe, TÖTUNG AUF VERLANGEN:
1) IST JEMAND DURCH AUSDRÜCKLICHES VERLANGEN ZUR TÖTUNG BESTIMMT WORDEN, SO IST AUF FREIHEITSSTRAFE VON SECHS MONATEN BIS ZU FÜNF JAHREN ZU ERKENNEN.
2) DER VERSUCH IST STRAFBAR.
Als Paul Kungebein die Pressemappe mit einer schmissigen Geste vor sich auf den Boden warf und gerade zu der, wie er fand, alles bestimmenden Frage ansetzen wollte, räkelte sich ein wohlbeleibter Mann einige Plätze weiter rechts, wie Kungebein im Augenwinkel erkannte, der Mann war deutlich älter als Kungebein, hatte seinen Körper in sorgsamen Stoff gehüllt, schwarzes Leinen über hellblauem Hemd, und mit einem Selbstbewusstsein, das die Geste aus Schülertagen auch bei einem Erwachsenen nicht würdelos erscheinen ließ, streckte der Mann seine rechte Hand, der Minister erteilte ihm umgehend das Wort.
Paul Kungebein kannte den Mann nicht, und die Aufmerksamkeit, die der Bundesminister dem Fremden entgegenbrachte, versetzte seinem Stolz kleine Schläge. Als der andere nahezu im Wortlaut genau die Frage vortrug, die auch Kungebein auf den Lippen lag, schlug er mit aller Kraft seine Fäuste gegeneinander, wobei drei Fingergelenke auf einmal knackten. Wer war dieser Mann?
Ohne Umschweife kam der Dicke zur Sache, sein Gesicht leuchtete rötlich: Das Ergebnis der Abstimmung sei vorherzusehen gewesen, da verstehe er den Tumult nicht, der Paragraph sei ein wahrer Anachronismus, rief der Mann mit einer Stimme, die sich Gebrüll annäherte, freundlichem Gebrüll, wie Kungebein zugestehen musste, während sich erste feuchte Flecken auf dem hellblauen Hemd des Fremden bildeten, schließlich gehe es nicht um eine Handvoll Perverse, die sich gegenseitig die Penisse abknabberten und sich dann ganz auffräßen, sondern um ein Massenphänomen, von Interesse sei daher nur dies, der Mann hatte sich inzwischen erhoben und fragte, halb an den Politiker und halb an den Saal gewandt: Welche Bedeutung, meine Damen und Herren, hat die Abschaffung von Paragraph 216 StGB für die Dementen und Todkranken in unserem Land?
Der Minister zuckte zusammen. Der Saal schwieg. Paul Kungebein, der sich normalerweise von jedem Alphatierchen abgestoßen fühlte, bei dem es sich nicht um ihn selbst handelte, verspürte ein ungewohntes Gefühl dem Fragesteller gegenüber, er war sogar geneigt zu verzeihen, dass der andere seine eigene Frage vorweggenommen, Kungebein um einen öffentlichen Moment beraubt hatte, in dem er sich erneut im Glanz seines gefürchteten Verstandes hätte sonnen und von der amöbenhaften Masse der Journalisten hätte abheben können.
Aber schließlich ging es hier nicht um Selbstprofilierung, sagte sich Kungebein im Wissen um seine charakterliche Integrität, schließlich ging es hier um einen verkalkten Politiker, der so überfordert war wie unbeliebt, oder letztlich ging es, dachte Kungebein, wobei seine eigene Bedeutung ihm leichten Schwindel bereitete, um das Schicksal einer ganzen Nation.
Der Justizminister schwieg noch immer. Paul Kungebein sah den Moment für seinen Auftritt gekommen. Ohne um das Wort zu bitten, ohne in die Höhe zu schnellen, seine Autorität einzig aus der berüchtigten Ruhe seines Tonfalls und seinen geschliffenen Sätzen beziehend, begann Kungebein sein Bombardement.
Es sei doch kein Zufall, dass Paragraph 216 in genau dem Jahr versenkt werde, sagte er, wobei er das Zischen seiner streng vorgetragenen S-Laute genoss, in dem erstmals mehr Neunzigjährige die Bundesrepublik bevölkerten als Zwanzigjährige, in dem erstmals mehr Greise gefüttert würden als Babys gesäugt, in dem erstmals mehr als eine halbe Million Hundertjährige der Pflege bedürften.
Er ließ seine Worte wirken. Der Minister spielte nicht mit den Fingern, er fiel seinem Angreifer nicht ins Wort, er verkapselte sich nicht in Politikerhülsen, sondern starrte nur in die Luft, mit einem Blick, den Kungebein von seinem Vater kannte, mit einem Blick, in dem Kungebein die Anzeichen einer Krankheit erkannte, die fast das ganze Land befallen hatte, mit dem Blick der Demenz.
Paul Kungebein lachte innerlich bei dem Gedanken, dass der Bundesminister ihn durch die Polizeiabsperrung geschleust hatte und nun von ihm auseinandergenommen wurde, dann fuhr er fort: Er wolle sich seinem Vorredner anschließen, auch er frage sich, ob Ärzte nun jeden Alten von den Schläuchen zupfen dürften, der einmal nach dem Tod geschrien habe, es müsse doch ganz genaue Richtlinien geben, einen Fragenkatalog, wann ein Arzt liquidieren dürfe, wann der Wille zu sterben glaubhaft sei, es genüge doch nicht, dass eine faltige Alzheimerkranke mit brüchiger Stimme vortrage: Herr Doktor, mir reicht’s!
Herr Minister, schloss Kungebein und genoss seinen bereits erzielten Etappensieg, sicherlich fehlt in meiner Mappe nur aus Versehen der längst ausgearbeitete Richtlinienkatalog! Paul Kungebein schielte Beifall heischend nach rechts, von wo der Dicke im inzwischen großflächig durchschwitzten Baumwollhemd anerkennend und zustimmend herübersah, für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich die Blicke, man kannte sich nicht und hatte sich dennoch erkannt.
Und als wäre die Taktik zuvor abgesprochen worden, erhob sich nun der Dicke wieder, dessen Nase von einem leuchtenden in ein schwärzliches Rot übergegangen war, und komplettierte Kungebeins Diskurs mit einem verstörenden Schluss: Oder, fragte der Mann, wurde vielleicht bewusst offengelassen, nach welchen Kriterien ein Arzt nunmehr töten dürfe, der Mann holte Luft und platzierte die letzten Silben wie Salvenschüsse: Sollten einer initialen Massentötung womöglich keine Steine in den Weg gelegt werden?
Der Minister schrie ein einziges Wort in sein Mikrofon: Nein!, dann heftete er wieder seinen leeren Blick auf die Decke des Saals, in dem nun Tumult ausbrach, Schreie wurden von Gelächter durchsetzt und Gelächter von Schreien, niemand schien zu wissen, ob der schwitzende Dicke einen Witz gemacht hatte, initiale Massentötung!, oder womöglich ein Tabu berührt, das Gelächter verebbte sehr schnell, endlich ergriff der Politiker wieder das Wort.
Alte Menschen, die sterben wollten, seien ja nun ein spezielles Phänomen, sagte er, das nur einen Bruchteil aller Fälle betreffe, hier aber gehe es um eine Gesetzesnovelle im Allgemeinen oder, genauer gesagt, um eine Abschaffung, wobei eine Abschaffung ja auch eine Art Novelle sei, nur ohne neuen Text, der Minister hielt inne, sah sich nach seinem Berater um, sagte schließlich, dass selbstverständlich Richtlinienkataloge in den Ausschüssen vorbereitet seien und dem Parlament vorlägen, aber nur für normale strafrechtliche Fälle, also weder, der Justizminister stockte erneut, sagte: das Abbeißen von Penissen betreffend noch den Wunsch seniler Alter, getötet zu werden, es gehe wie immer in der Gesetzgebung darum, gesellschaftliche Normen in Paragraphen zu übersetzen, und wer sterben wolle, dem solle das vergönnt sein, anders als vor zwanzig Jahren sei das heute gesellschaftlicher Konsens, diese Euthanasiegeschichte liege nun lange genug zurück, man brauche da keine Angst mehr zu haben, alle sollten glücklich werden, die Lebenden wie die Toten und, nicht zu vergessen, die Sterbenden, irgendwann kam sein Berater ans Podest, winkte den Minister vom Stuhl und verschwand mit ihm durch den Hinterausgang.
4.
GÖTTERDÄMMERUNG
Hendrik Miller tupfte sich die Stirn. Nach dem Abgang des Ministers bestand die Bundespressekonferenz nur noch aus Stühlerücken, Aktensortieren und Kabeleinrollen. Vereinzelt buhten Journalisten, die meisten spürten aber, dass etwas nicht stimmte, dass die Buhrufe eher auf den Protestierenden zurückfielen als dem Minister gerecht wurden, schließlich hatte es so wenig Sinn, einen Lahmen zum Sprint zu animieren wie einen verkalkten Politiker zum logischen Satz, die Tage des Ministers waren seit langem gezählt.
Auch Miller hatte eher mitleidig denn vorwurfsvoll den Kopf geschüttelt, als der Minister seinen Epilog vorgetragen hatte, ohnehin war Miller mehr mit der eigenen, unsinnigen Drüsenproduktion beschäftigt als mit der Wirkung des Ministers auf die anwesende Journaille, ein einziger kluger Kopf schien sich eingefunden zu haben, einige Plätze weiter links, ein schmaler Jeansjackenträger von vielleicht dreißig Jahren, wie Miller sich knapp verschätzte, man hatte sich zugenickt, wenigstens einer hatte begriffen, dass ab heute ein neues Zeitalter begann.
Hendrik Miller schwante Großes. Seit die Abschaffung von Paragraph 216 aktenkundig war, spürte Miller das Adrenalin, diese flattrige Nervosität, die in seinem Leben stets besonderen Ereignissen vorangegangen war, seiner Ernennung zum Chefarzt, seiner Heirat mit Elena, in den letzten Jahren aber, wie Hendrik Miller unter selbstverachtendem Schaudern bemerkte, nicht einmal mehr besonders tragischen Fällen in der Kommission.
Miller liebte dieses Gefühl, diese nervöse Leichtigkeit, die nicht nur seine Magengrube befiel, die auch in seine Glieder streute, kribbelte, vor seinem Intimsten nicht haltmachte, dieses Gefühl, das pubertärer Verliebtheit glich und die Welt für ihn verzauberte, als präsentierten sich Journalisten und Mikrofone plötzlich in anderer Farbe, in anderer Form.
Genau genommen war es mehr als ein Gefühl, das Hendrik Miller befallen hatte, war es letztlich ein Zustand, der ihn durchdrang, ein Zustand, in dem er sich auch vor Operationen befunden hatte, als er noch selbst operierte, hoch konzentriert und aufnahmefähig für das kleinste Detail seiner Umgebung, für einen Bruch in der Fugenmasse im gekachelten OP, für eine tiefer gefurchte Falte auf der Stirn der Assistentin, er fühlte sich elektrisiert wie in den Morgenstunden nach einer durchfeierten Nacht, wenn das Serotonin das Blut anheizt – Hendrik Miller fühlte sich jung.
Zaghaft dämmerte ihm, dass sein Status als Chefarzt, sein Haus am Müggelsee, sein Vorsitz der Ärzte-Ethik-Kommission und vielleicht sogar, und bei diesem Gedanken weiteten sich erstaunt seine Augen, seine Liebe zu Elena zu verwitterten Wegmarken seines Lebenslaufs verfallen würden, wenn sein Plan oder eher sein Vorhaben, treffender vielleicht: seine Vision, die ihm soeben auf der Pressekonferenz gekommen war und seine flatterhafte Nervosität überhaupt erst bedingte, wenn diese Vision eines Tages Gestalt annähme.
Hendrik Miller erwachte aus seinen Tagträumen, als der Jeansjackenträger mit ausgestreckter Hand vor ihm stand. Paul Kungebein, sagte Kungebein und fügte hinzu: Von der DEUTSCHLANDZEITUNG. Hendrik Miller, sagte Miller, Ärzte-Ethik-Kommission, und ergänzte nach einer winzigen Pause: CHARITÉ. Hendrik Miller hielt die DEUTSCHLANDZEITUNG für ein strukturkonservatives Blatt, dessen guter Ruf in keinem Verhältnis zur bescheidenen Qualität stand, er wunderte sich, dass dennoch ein so kluger Kopf dort arbeitete, und lud Kungebein zu einem Bier ein, Miller wolle ohnehin noch etwas essen, die Konferenz habe ja mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, vielleicht finde man gemeinsam den Ansatz einer Lösung, Kungebein willigte ein.
Und so liefen ein rotgesichtiger, für sein Alter überraschend vollhaariger Mann im schwarzen Leinenanzug und ein jüngerer schmaler Mann, der etwas fröstelte, durch den Berliner Nieselregen, genauer gesagt, schleppte der Dicke sich vorwärts, während der Schmale stolzierend um Größe rang, sie hatten die Spree zu ihrer Rechten, eine graue träge Schlange an einem grauen trägen Frühjahrsnachmittag, kurz hinter dem BERLINER ENSEMBLE bog man nach rechts in die Friedrichstraße, man lief gemächlich, man schwieg.
5.
LEERE
Berlin war leerer denn je. Auf den Straßen fuhren hauptsächlich Krankentransporte, auf den Bürgersteigen humpelte man seinen Gehböcken hinterher, Speichel tropfte, Gebisse malmten, es lebten bereits mehr Demente in der Stadt als Jugendliche, aber das Bild der stark entvölkerten Friedrichstraße, das Hendrik Miller in den letzten Jahren zunehmend wehmütig gestimmt hatte, berührte ihn heute nicht.
Miller war gut gelaunt. Ein neuer Lebensabschnitt stand bevor, das spürte er, und Miller liebte das Neue, er liebte es, morgens aufzuwachen, ohne zu wissen, wie der Tag enden würde, er liebte es, ohne Landkarte durch Brandenburg zu rasen, über Feldwege, durch Alleen, das Fenster heruntergekurbelt, die Musik aufgedreht bis zum Anschlag, er liebte es, dann plötzlich auf die Grenze zu stoßen, nach Polen zu fahren, die Schilder nicht mehr zu verstehen.
Was für eine Melodie er da summe, wollte Paul Kungebein wissen, der neben Miller auf dem Gehweg lief, mit hochgeschlagenem Jackenkragen, den Blick stur auf den Boden geheftet. Oh!, entfuhr es Miller, hatte er gesummt? Elena bedrängte ihn seit Jahren, er solle wenigstens die Melodie wechseln, wenn er schon ständig vor sich hin summe, insofern war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er auch nun wieder diesen Oldie gesummt hatte, er sagte: So einen Hit aus dem letzten Jahrhundert, Kungebein maulte: Nicht ganz meine Zeit.
Also, gesprächig ist er ja nicht, dachte Hendrik Miller, der breitbeinig durch die Pfützen stapfte, während Kungebein ein ums andere Mal deren Ränder umschritt, da steht man am Beginn einer neuen Zeitrechnung, dachte er belustigt, und kommt nicht miteinander ins Gespräch! Aber noch glaubte er an seinen neuen Gefährten, dem war nur einmal die Schale zu knacken, dachte Miller, dem war nur einmal das Hirn zu schütteln, dann wäre er für seine Vision genau der richtige Mann.
Gehen wir ins XERXES?, fragte Paul Kungebein, als sie den einstigen Prachtboulevard Unter den Linden erreichten. Vereinzelte Rollstuhlfahrer standen in der Mitte der Straße unter den Bäumen, ein Wasserstofftaxi fuhr vorbei, eine Privatlimousine, ein zweites Taxi, sonst war es still. Hendrik Miller entließ ein wenig zivilisiertes Geräusch aus seiner Kehle, er hasste das XERXES, dessen Livreekellner, dessen Gäste, die ausschließlich über die eigene Bedeutsamkeit sprachen, über ihren wachsenden Ruhm. Miller schlug vor, lieber weiter nach Süden zu gehen, nach Kreuzberg, am Halleschen Tor gebe es eine hervorragende Dönerbude, im alten Stil, bei dem Wort Dönerbude blieb Paul Kungebein so abrupt stehen, dass ein Rollstuhl mit ihm zusammenstieß, der Rollstuhlfahrer quakte eine Entschuldigung oder einen blutleeren Fluch, das war nicht genau zu verstehen.
Er habe im XERXES Rabatt, sagte Kungebein, als er sich von dem Rollstuhl befreit hatte, bei der DEUTSCHLANDZEITUNG gingen alle ins XERXES, was Hendrik Miller sofort glaubte, nicht zuletzt deshalb wollte er nicht dorthin. Etwas zu brüsk fuhr der andere fort, dass er erst gestern den Vommer am Nebentisch gesehen habe, der übrigens, Kungebein sah Miller in die Augen und lachte, gewisse Ähnlichkeiten habe mit Hendrik Miller. Miller konnte es nicht mehr hören. Das Gequatsche über Prominente an Nebentischen, seine vermeintliche Ähnlichkeit mit diesem blöden Vommer, einem fetten Volksschauspieler aus Bayern, diesen Kult um Personen, die alle austauschbar waren und zur Hälfte dement.
Andererseits kam es Hendrik Miller durchaus gelegen, dass Kungebein sich von der aufgeblasenen Welt im XERXES angezogen fühlte, von Vommer und Vommers Verehrerinnen, vielleicht, spekulierte er, war Kungebein mit seiner Arbeit bei der DEUTSCHLANDZEITUNG nicht ganz zufrieden, würde sich Kungebein dankbar in eine Aufgabe stürzen, die ihn vom Berichterstatter zum Gegenstand der Berichterstattung machen würde und berühmt noch dazu.
Aber gemach, dachte Hendrik Miller, für überstürzten Aktionismus war seine Vision viel zu gut. Zunächst galt es auszukundschaften, wie standfest Kungebein war und wie mutig, alles Weitere würde dann folgen, Schritt für Schritt. Mit dem Versprechen, seinen Döner ohne Knoblauchsoße zu bestellen, überredete Miller seinen kultivierten Begleiter, sie bogen nicht zum XERXES ab, sondern liefen weiter die Friedrichstraße entlang, bis an ihr südliches Ende, im U-Bahnhof Hallesches Tor stellten sie sich um einen Bistrotisch, über ihnen fuhren vereinzelt die Bahnen, draußen nieselte der Regen, Miller war glücklich, und Kungebein war es nicht.
6.
DREI BIER SPÄTER
Hendrik Miller hatte Durst. Er fühlte sich, als hätte er auf der Konferenz mehrere Liter Wasser verloren, zudem war es dringend an der Zeit, diesen Kungebein neben ihm aufzutauen, der Mann war nicht abweisend, aber auch nicht eben einnehmend, und seit er die Pressekonferenz verlassen hatte, seit ihm ein Publikum fehlte, war er ein anderer Mensch geworden, waren seine Schultern herabgesackt, Hendrik Miller bestellte zwei große Flaschen Bier.
Die Dönerbude roch nach Zwiebeln und Öl, ganz im alten Stil, lobte Miller, hinter der Theke vermischte sich der Schweiß des Usbeken mit dem Fett des Kebabs, Kungebein weigerte sich, ebenfalls einen Döner zu bestellen, er habe Probleme mit dem Magen, was seinen Mundwinkeln anzusehen war, wie Miller schweigend befand, er tippte auf einen HELICOBACTER PYLORI, und bald kaute er genüsslich seinen Brei aus Teig, Fleisch und Salat, der nun doch mit Zwiebeln durchsetzt und in Knoblauchsoße ertränkt war. Er prostete Kungebein zu, zupfte Fleischspäne aus seinem Brot, hielt sie dem anderen vor die Nase.