ALBERT SCHWEITZER
Gespräche über das
Neue Testament
Herausgegeben von
Winfried Döbertin
VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN
Von 1901 bis 1904, während seiner frühen Straßburger Jahre als Privatdozent für neutestamentliche Theologie, hat Albert Schweitzer 33 Gespräche über das Neue Testament in einem elsässischen Kirchenblatt erscheinen lassen. Winfried Döbertin hat sie hier einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht. Die Gespräche bieten nach dem Urteil des Bonner Theologen Erich Gräßer nichts Geringeres als eine Einführung in Schweitzers „Verständnis vom Wesen des Christentums“, wie es sie „in dieser geschlossenen, allgemein verständlichen Form nicht gab“.
Winfried Döbertin, geb. 1932, ist Dozent im Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg.
Vorwort
Wachset in der Erkenntnis
Gottes Wort durch Menschen geschrieben
Gottes Wort von Menschen gesammelt
Von den alten Handschriften
Von den Übersetzungen
Jesus, geboren in Bethlehem aus dem
Geschlechte Davids
»Da die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen
Sohn, geboren von einem Weibe.«– (GALATER 4, 4.)
Nazareth
Israels Geschichte von der Verbannung
bis zur Zeit Jesu
Pharisäer und Sadduzäer
Die messianischen Hoffnungen
des Volkes Israel
Johannes der Täufer
Jesu Taufe und Versuchung
Der See Genezareth
Der erste Sabbat in Kapernaum
Die Wunder Jesu
Wie lang hat Jesus öffentlich gewirkt?
Die Rückkehr nach Kapernaum
Die ersten Gleichnisse Jesu – (EV. MARK. 4 UND MATTH. 13)
Die Seligpreisungen – (MATTH. 5, 3–12 U.LUK. 6, 20–26)
Jesus und das Gesetz
Jesus und die Heiden
Jesus und die Reichen
Jesus und der Staat
Lebensernst und Lebensfreudigkeit
Jesus und die Weisen
Die Missionsreise der Jünger
Nach der Aussendung
Wer sagen die Leute, daß ich sei?
Warum mußte Jesus leiden?
Jerusalem
Worte des Anstoßes
Jesu letzte Weissagungen
Nachwort
Quellenverzeichnis
Fußnoten
Albert Schweitzer ist bekannt als Theologe, Philosoph, Musiker und als der helfende Arzt im Urwald. Er war aber auch ein bedeutender Erzähler, der sich einer für jedermann verständlichen Sprache bediente. Seine Lebensberichte zeigen das. Auch für die kürzlich in Günsbach und Frankfurt vorgefundenen und hier herausgegebenen»Gespräche über das Neue Testament«kann dieses Urteil gelten. Sie bauen auf den fachwissenschaftlichen Studien ihres Verfassers auf und möchten deren Ergebnisse an die Leser des»Evangelisch-protestantischen Kirchenboten für Elsaß und Lothringen«weitergeben, worin sie in den Jahren 1901 bis 1904 erschienen sind.
In den»Gesprächen über das Neue Testament«wird anschaulich berichtet von der Landschaft und Geschichte Palästinas, von den jüdischen Gruppen, denen Jesus begegnete, vom Wunderglauben der damaligen Zeit und wie dieser nach Schweitzers Auffassung heute zu beurteilen ist, von der»Naherwartung«des Reiches Gottes durch Jesus und seine Jünger, von der Lehre Jesu, von seinen Gesprächen mit seinen Jüngern und von anderem mehr.
Nicht alle Einzelheiten der Darstellung Schweitzers werden von der heutigen Wissenschaft so beurteilt, wie er es tat. Auch zeigen sie noch nicht die Haltung ökumenischen Verstehens gegenüber der katholischen Tradition, wie sie Schweitzer später grundsätzlich eingenommen hat. (Bei der»Gegenseite«war das oft auch nicht anders.) In einem Nachwort soll auf all das noch einmal eingegangen werden. Der erzählerischen Bedeutung der Skizzen Albert Schweitzers zum Neuen Testament tun solche Bedenken jedoch keinen Abbruch. Deshalb sei ihre Lektüre empfohlen.
W. D.
Wenn jemand zum Herrn Pfarrer kommt, um etwas mit ihm zu reden, geschieht’s manchmal, daß er einen Augenblick im Studierzimmer warten muß. Da hat sich schon mancher die vielen Bücher auf den Schäften beschaut und bei sich gefragt, wozu denn ein Pfarrer alle Gelehrsamkeit, die in diesen Büchern drin steht, braucht. Wenn er gelehrt reden wollte, dann würde man ihn ja nicht verstehen, und um den Glauben einfach zu predigen, wozu dient ihm denn das alles?
Andere die bleiben nicht bei der Frage stehen, sondern sie finden, das Wissen und Forschen in Sachen des Glaubens ist von Übel. Man soll einfach glauben. Die Gelehrsamkeit stiftet nur Verwirrung an und kehrt das Unterste zu oberst.
So sieht’s aus; denn die Wissenschaft hat gar oft gezeigt, daß Jesus und die ersten Christen über manche Dinge des Glaubens ganz anders gedacht, als man gemeint hätte. Es kann aber auch sein Gutes haben, wenn von Zeit zu Zeit das Unterste zu oberst gekehrt wird. Macht’s nicht der Pflüger jedes Jahr mit dem Acker auch so? Ein Stadtmensch, der nichts vom Ackerbau versteht, kann’s nicht begreifen, warum jetzt alles durcheinander gewühlt wird. Der Bauer aber weiß, daß man das Unkraut umfahren und die neue Erde heraufbringen muß, damit der Acker etwas trägt.
So ist auch der Glaube ein Acker, den man von Zeit zu Zeit pflügen muß, damit das Unkraut des Aberglaubens, der Vorurteile und der Engherzigkeit umgefahren wird und der Boden für den richtigen und gesunden Glauben bereitet wird.
Es hat Zeiten gegeben, wo man auf dem Acker des Glaubens alles wachsen ließ, wie es eben kam. Das war im Mittelalter. Niemand sollte nachforschen, ob alles sich von Anfang an so verhalten habe, wie es die Kirche lehrte, ob man einen Papst, eine Messe, Absolution, Ablaß und dergleichen von jeher kannte. Als nun fromme Männer zur Zeit der Reformation den Acker betrachteten, da erschraken sie nicht wenig, statt eines Kornfeldes eine Wildnis zu haben, und es hat Schweiß und harte Kämpfe gekostet, bis sie ihn wieder einigermaßen ordentlich bestellt hatten. Sie wären damit nicht zustande gekommen, wenn Gott nicht kundige Pflüger gegeben hätte: gelehrte Männer wie Butzer, Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin.
Darum geben wir etwas auf Gelehrsamkeit in Glaubenssachen, so lang wir Protestanten sind. Wie es nicht genügt, daß ein Feld nur einmal gepflügt und gesäubert ist, sondern diese Arbeit jedes Jahr wiederholt werden muß, so dürfen wir uns nicht zufrieden geben, daß die Reformatoren einmal mit Aberglauben und Irrtümern aufgeräumt haben, sondern jedes neue Menschenalter muß dieselbe Arbeit an sich unternehmen, sonst wächst unversehens wieder das Unkraut.
So förderlich nun die recht angewandte Gelehrsamkeit dem Glauben ist, so verderblich ist die falsch angewandte. Das hat man erlebt bei denen, die meinten, Gelehrsamkeit tue es allein. Als ob es etwas nützte, einen Acker zu pflügen, ohne etwas darauf zu säen! Wenn im Herzen kein Glaube und keine Frömmigkeit ist, nützt alles Wissen nichts, denn der Glaube kommt nicht aus dem Verstand; dann werden die Menschen nur eitel und aufgeblasen über ihr Wissen. Nur wo Glaube und Frömmigkeit schon sind, da nützt auch das Wissen um diese Dinge etwas.
Der Glaube ist wie ein herrliches altes Bild, das wir von unsern Eltern erben. Mit der Zeit aber, durch das Licht, den Staub und die Feuchtigkeit, verliert es den Glanz der Farben. Dann muß man es vorsichtig reinigen, damit der leuchtende Farbenton wieder hervorkommt. Wer aber unvorsichtig dabei umgeht, der verdirbt es.
So soll auch die Gelehrsamkeit es mit dem Glauben halten; sie darf nicht vorlaut werden, herrisch tun, und sich mit ihrer Erkenntnis brüsten. Das ist kein rechter Gottesgelehrter, der meint, mit seinem Verstand habe er allein das Richtige entdeckt und müsse das nun, um der Wahrheit willen, in die Welt hinausrufen, wenn der Glaube der andern auch noch so sehr Ärgernis daran nimmt. Mancher hätte besser daran getan, ehe er im Eifer schrieb und redete, einige Zeit lang zuzusehen; die Wahrheit hätte darum keinen Schaden gelitten. Nicht umsonst warnt der Herr im Gleichnis, daß man nicht voreilig das Unkraut vom Weizen sondern wolle, ehe man sie deutlich voneinander erkennen könne, sondern daß man die Zeit der Ernte abwarten solle, wo man sicher ist, die rechte Sichtung vorzunehmen.
Bei uns zu Hause sät man auf das abgeerntete Feld Rüben. Wenn es nun die Zeit ist, da sieht man die Frauen behutsam auf dem Feld knien, die Stoppeln aus dem Boden ziehen, damit die aufsprossenden Pflänzlein Luft bekommen. Das ist ein Bild, wie die wahre, fromme Gelehrsamkeit mit dem Glauben umgeht: sie ist die kniende, sorgsame Magd. Wie man mit der Wissenschaft dem Glauben dienen kann, das haben fromme Männer schon in den Anfangszeiten des Christentums gezeigt. Der Märtyrer Justin und der Kirchenvater Origenes waren unterrichtet in allem Wissen ihrer Zeit; durch dieses Wissen haben sie mehr wirken können als andere; sie legten die Lehre des christlichen Glaubens auch den gebildeten Heiden in überzeugender Weise aus, so daß jene begriffen, man habe das Christentum falsch verstanden, wenn man es einen törichten Aberglauben schalt; denn da sahen sie, daß sie dem zustimmte, was auch edle heidnische Philosophen gelehrt hatten, nur daß es die Wahrheit noch viel reiner enthielt.
So ist die Wissenschaft nicht nur mit dem Glauben vereinbar, sondern sie klärt und belebt ihn. Das tut unserer Zeit besonders not. Zwar ist man heutzutage wißbegieriger denn je. Die Leute können nicht genug erfahren, was in der Natur vorgeht; durch seine Zeitung will jeder nach einigen Stunden schon wissen, was sich am andern Ende der Welt zugetragen hat; jedem Kind sagt man, daß nur der, welcher viel weiß, im Leben vorwärts kommt.
Aber wenn man dieselben Leute fragte, was sie vom Neuen Testament wissen, wenn sie einem sagen sollten, was in der Bergpredigt steht, dann blieben sie die einfachsten Antworten schuldig. Das hindert nicht, daß diese gerade, wenn die Rede auf die Religion und die Bibel kommt, am ersten spotten.
Diese Unwissenheit in der Bibel ist einer der schlimmsten Schäden unserer Zeit. Es ist ein Hohn auf die Reformation. Sie hat allen die Bibel zugänglich gemacht, daß jeder daraus seinen Glauben schöpfen könne – und so wird diese kostbare Gabe mißachtet. Achtlos geht die Menschheit an der Quelle der geistigen Wahrheit vorüber. Aber es kommt die Zeit und vielleicht ist sie nicht so fern, wo sie in der Wüste des irdischen Getriebes von einem Durst nach der Quelle der Weisheit erfaßt wird, der sie zur Bibel zurückführt.
Lassen wir sie ihres Weges gehen. Wie steht es denn mit denen, die die Bibel lesen? Es will einen manchmal bedünken, als ob nicht alle es verstehen, die Schrift so zu lesen, daß sie zu immer tieferer Klarheit und Erkenntnis kommen. Wie oft trifft man Kranke an, die ein gar dunkles Kapitel eines alten Propheten vor sich aufgeschlagen haben; andere zerbrechen sich den Kopf über der Offenbarung Johannis. Ich pflege zuweilen, wenn die Rede darauf kommt, zu fragen, wer denn schon ein ganzes Evangelium zusammenhängend gelesen hat; dafür sind sie doch geschrieben, denn es sind Lebensbeschreibungen des Herrn. Die meisten Leute antworten darauf, daß sie daran noch gar nicht gedacht haben.
Vielleicht fehlt es manchen an der richtigen Anleitung, wie ein erwachsener Christ selbständig für sich die Bibel lesen soll. Er wäre froh, wenn ihn einer im Neuen Testament herumführte, ihm manches mehr darüber sagte, als was man in der Schule und im Konfirmandenunterricht zu hören bekommt und begreifen kann. Dadurch würde ihm das, worüber er jetzt vielleicht achtlos hinwegliest, lebendig und klar vor Augen stehen.
Wer eine Ausstellung von Gemälden besucht, hält sich gern an einen Maler; der führt ihn gleich zu den schönsten und wertvollsten Bildern, verweilt mit ihm davor, lehrt ihn sie von nahem betrachten und macht ihn auf Schönheiten und Eigenheiten daran aufmerksam, die er von selbst nicht gesehen hätte. So bekommt er Anleitung, wie man ein Bild richtig betrachten muß, um die ganze Schönheit desselben zu erkennen.
Vielleicht leisten die Gespräche über das Neue Testament, welche der»Kirchenbote«seinen Lesern von Zeit zu Zeit in regelmäßiger Folge zu bringen sich vornimmt, manchem diesen Dienst. Wenn der oder jener dadurch angeregt oder angeleitet würde, mit neuer Lust und wachsendem Verständnis das Neue Testament in stiller Stunde für sich zu lesen, so wäre der»Kirchenbote«glücklich, an seinem Teil zum Wachstum in der christlichen Erkenntnis beigetragen zu haben.
Das Neue Testament ist nicht vom Himmel gefallen. Es gibt Religionen, welche die Entstehung ihrer heiligen Schriften ins Dunkel hüllen. Sie suchen zu verschweigen, was menschliche Arbeit daran getan hat; sie wollen, daß jeder glaube, diese Schriften seien auf eine übernatürliche Weise entstanden, damit diejenigen, welche sie lesen, desto größere Ehrfurcht davor haben.
Das brauchen wir Christen nicht. Unser Neues Testament ist von Menschen geschrieben; wir kennen ihre Namen und wissen auch manches über ihre Lebensumstände. Aber das nimmt unserer Schrift nichts von ihrer Heiligkeit; ja es macht sie uns nur noch lieber und werter. Sie bleibt Gottes Wort – aber Gottes Wort durch Menschen geschrieben.
Es muß so sein; denn beruht nicht das Christentum in seinem innersten Wesen auf der Vereinigung des Göttlichen und des Menschlichen? Besteht nicht das Geheimnis der Person unseres Herrn Jesu darin, daß Gott sich vollkommen in einem Menschen geoffenbart hat? Und das Reich Gottes auf Erden, das Jesus gründete, entsteht und wächst es nicht durch das Zusammenwirken Gottes mit den Menschen? Wir Menschen sollen und müssen daran arbeiten, indem wir unser Herz, die Dinge und Verhältnisse des irdischen Lebens im Geiste Jesu heiligen und umgestalten. Dabei sind wir der gewissen Hoffnung, daß Gott durch seine allmächtige Kraft, was wir tun, zur Vollendung führen wird. Wie in Jesu, wie im Reiche Gottes, so sind auch im Neuen Testament das Göttliche und das Menschliche beisammen.
Wie sollen wir uns das denken? Es gab eine Zeit in unserer Kirche, wo man meinte, Gott zu ehren, indem man das, was Menschen an der Schrift getan, möglichst herabsetzte. Gott bediente sich ihrer, wie der Flötenspieler sich seiner Flöte bedient. Durch den heiligen Geist diktierte er ihnen die Schrift, wie ein Herrscher seinen Schreibern diktiert: kurz, die Evangelisten und die Epistelschreiber waren unselbständige willenlose Instrumente.
Es ist immer schlecht bestellt, wenn die Menschen, um Gott mehr Ehre anzutun, die Bedeutung edler und frommer Personen, wie die, welche unser Neues Testament geschrieben haben, herabsetzen wollen. Gott hat das nicht nötig, sondern er will, daß wir auch den Menschen, die durch ihn Großes geleistet haben, Ehre antun; denn diese Ehre kehrt doch wieder zu ihm zurück. Die Evangelisten waren nicht Gottes Schreiber, sondern seine Minister.
Was ein rechter Herrscher ist, der kann gar keine unselbständigen Personen um sich sehen, als ob er alles selbst ausführen müßte, damit seine Ehre und Herrschaft nicht geschmälert werde; sondern wenn er einen Erlaß an sein Volk richten will, teilt er seine Gedanken dem Minister mit. Dieser verfaßt dann die Verfügung, wie er’s versteht, tut auch in der näheren Ausführung manches von dem Seinigen hinzu. Nachher klebt aber doch das kaiserliche Siegel daran; es ist kaiserliches Wort, es wird als solches respektiert, obwohl der Minister in seiner Weise daran mitgearbeitet hat und jedermann dies weiß.
Die Evangelisten sind also mehr als Leute, die nur den Griffel führen. Es sind nicht die Schreiber, sondern die Minister Gottes im Verkehr mit den Menschen. Aber auch damit ist noch nicht alles gesagt, denn es handelt sich eigentlich um ein Geheimnis. Das Menschliche an der Schrift beeinträchtigt nicht die Reinheit und die Göttlichkeit der darin geoffenbarten Wahrheit, sondern Gott hat dieses Menschliche gewollt, weil er es für notwendig hielt. Es ist, als wollte er dieses Geheimnis aus dem Reich des Geistes den Menschen im Reich der Natur andeuten.
Das Wasser, so von den Wolken des Himmels auf die Erde niederrieselt, ist zwar reines Himmelswasser, denn es enthält keine irdischen Bestandteile. Und doch ist es so nicht bestimmt, die Menschen zu erquicken, sondern es sickert in den Boden ein, nimmt dort kräftigende Bestandteile der Erde in sich auf, Salze, Kalk und andere Stoffe, und erst dann, wenn es so irdisch geworden ist, entströmt es als lebendige Quelle der unergründlichen Tiefe der Erde. So muß auch die ewige göttliche Wahrheit in die Tiefen eines Menschenherzens sich versenken, dort menschlich werden, damit sie den Menschen zur Quelle des ewigen Lebens werde. Das Gotteswort ist nur lebendig für uns, wenn es aus Menschenherzen zu uns redet.
Darum ist das Menschliche in der Schrift nicht eine Art notwendiger Unvollkommenheit, die dem geoffenbarten Gotteswort anhängt, sondern es ist selbst heilig.
Was sind doch die Menschen so kleinlich und so oberflächlich, wenn die Rede auf die Widersprüche und Unvollkommenheit der Schrift kommt! Die einen meinen, wenn sie das alles aufdecken, dann haben sie die Schrift gerichtet und damit auch die göttliche Wahrheit, die darin enthalten ist. Die anderen suchen die Widersprüche zu verheimlichen und auszugleichen in der Meinung, damit der Schrift einen Dienst zu leisten und die göttliche Wahrheit zu retten. Beide irren. Das Menschliche an der Schrift mit allen Unvollkommenheiten ist nicht wie der Staub, der auf einem geheimnisvollen Spiegel liegt, daß nun der eine höhnisch sagt,»man sieht nichts«, und der andere sich abmüht ihn wegzuwischen, damit man hindurchschauen könne; sondern das Menschliche ist der See, in dem die Sonne der göttlichen Wahrheit sich spiegelt. Ob auch der Wind die Wellen bewegt, das Bild der Sonne erscheint doch glitzernd und hell darin, gerade durch das wechselnde Spiel der Wellen. Darum haben wir keine Angst, daß jemals eine Gelehrsamkeit, die auf das Menschliche in der Schrift ausgeht, ihr schaden könne. Im Gegenteil. Wir sagen: forschet nach dem Menschlichen! Laßt uns hineinblicken in die Herzen derjenigen, die hier das Evangelium zu uns reden, damit wir sie recht und immer besser verstehen! Zeigt uns die Menschen in der heiligen Schrift – und in den Menschen werden wir Gottes Größe und Wahrheit erkennen! Diese Menschen in der Schrift sind gar mannigfacher Art. Man meint, Gott habe darauf gesehen, daß jeder Stand und jeder Charakter in dem Neuen Testament zur Rede käme, um in seiner Art das Evangelium zu verkündigen.
Da ist einmal Markus, der bescheidene Dolmetscher des Apostels Petrus, welcher die Geschichte Jesu, die er gar manchmal nach der Rede des Jüngers verdolmetscht hat, schlicht und einfach niederschreibt.
Da ist auch der gelehrte Lukas zu Rom, der selbst nie den Herrn gekannt hat. Aus Schriften und nach dem, was er von ihm hat erzählen hören, berichtet er seinem Freunde Theophilus, was man von Jesus weiß. Ganz anders ist wieder der Evangelist Johannes. Für ihn treten die Einzelheiten des irdischen Lebens Jesu zurück hinter der ewigen Wahrheit, die aus seinen Worten redet. Er erschaut das Leben des Herrn mit dem tiefen Blick, der auf die Ewigkeit gerichtet ist.
Dazu kommt noch der gelehrte Rabbiner Paulus, den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, aber vor allem ein lebendiger, von Christo ergriffener Mensch. Wer nicht in das Herz dieses Menschen hineinblickt, der kann das lebendige Evangelium in seinen Briefen gar nicht recht erfassen. Man muß ihn vor sich sehen in seiner Stube zu Korinth, wie er aus der Einsamkeit heraus, vom Heimweh ergriffen nach seinen lieben Sorgenkindern, den Thessalonikern, den ersten Brief schreibt, der uns von ihm im Neuen Testament erhalten ist. Ganz anders ist wieder der Paulus in den Korintherbriefen und im Galaterbrief. Wild und heftig, wie ein Gewittersturm, und dann nachher wieder sanft und mild, wie der Abendsonnenstrahl, wenn das Gewitter verzogen ist. Im Römerbrief ist es der ruhige, zuversichtliche Paulus. Er fühlt, daß in Kleinasien und Griechenland seine Arbeit getan ist; nun winkt ihm das Abendland, Rom und Spanien, daß er auch dort von Christo rede. Und dann, im Philipper- und Kolosserbrief redet ein gefangener Mann aus irdischen Banden von der Siegeskraft des Evangeliums.
So kommen im Neuen Testament alle Arten von Menschen und diese wieder in den verschiedensten Lebenslagen zu Wort und verkünden den Glauben an das Evangelium auf gar mancherlei Weise. Jeder kann seine Art, das Evangelium aufzufassen, ich möchte sagen seine eigene Glaubensnatur, darin wiederfinden.
Das hat Luther gefühlt, als er seinem Volke das Neue Testament in der Übersetzung in die Hand gab, daß jeder für sich darin forsche. Für ihn war die Predigt vom Kreuze und von der allein seligmachenden Gnade in Christo die Hauptsache im Gegensatz zu der katholischen Lehre von der Werkheiligkeit. Darum stellt er die Schriften am höchsten, welche seine Art zu glauben am besten ausdrücken. In den andern fühlt er sich weniger zuhause.»Johannis Evangelium und St. Pauli Episteln, sonderlich die zu den Römern, und Sankt Peters erste Epistel sind der rechte Kern und Mark unter allen Büchern, welche auch billig die ersten sein sollten.«»Weil Johannes gar wenig Werk von Christo, aber gar viel seiner Predigt schreibt, wiederumb die andern drei Evangelisten viel seiner Werk, wenig seiner Wort beschreiben: ist Johannis Evangelium das einige zarte, recht Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben. Also auch Sankt Paulus und Petrus Episteln weit über die drei Evangelien Matthäi, Marci und Lucä fürgehen.«»Neben diesen Hauptbüchern ist Sankt Jakobs Epistel ein recht strohern Epistel, denn sie doch kein evangelisch Art an ihr hat.«
So schreibt Luther anno 1522 in seiner Vorrede zum Neuen Testament. Freilich, es stände nicht jedem an, eine solche Sprache zu führen. Auch würde nicht jeder, was unser Reformator hier sagt, unterschreiben. Wie Luther sich mehr zu Johannes und Paulus hingezogen fühlt, gerade so gut wird ein anderer eine Vorliebe für das Evangelium des Matthäus, mit seinen schönen Gleichnissen und der schönen Bergpredigt haben. Einem andern wieder gefällt die schlichte schmucklose Art des Markus besser; und wenn man ans Gleichnis vom verlorenen Sohn denkt, dann möchte man sagen: der Lukas sei das schönste Evangelium.
Luther hat über den Jakobusbrief hart geredet, weil er meinte, er rede zu viel von der Notwendigkeit der guten Werke. Es gibt aber Leute, denen ist er gerade der Lieblingsbrief, weil man so viele schöne Worte Jesu darin nachhallen hört.
In der Art wie Luther sollte ein jeder Christ seine Lieblingsschriften im Neuen Testament haben, die er über die andern stellt, weil sie gerade die Sprache seines Herzens reden. Wenn die Menschen dazu kämen, sich über die Eigenart der verschiedenen Evangelien und Episteln Gedanken zu machen, so würden sie das Neue Testament noch viel lebendiger verstehen, als wenn sie darin nur eine Sammlung von Sprüchen über das Evangelium sehen. So geht es aber gar vielen mit der Schrift, wie den Farbenblinden mit der Natur: sie sehen sie zwar, aber nicht in der Farbenpracht, sondern nur im farblosen Licht.
Wenn ein Sonnenstrahl auf ein geschliffenes Glas fällt, dann erscheint es in gar mannigfachen Farben. Sie sind alle in dem weißen Sonnenstrahl enthalten, aber erst in dem geschliffenen Glas kommen sie zur Erscheinung. Man kann sich nicht satt daran sehen, ob man’s auch oft sieht; je öfter, desto schöner dünkt’s einen, daß man nicht glauben sollte, diese herrlichen Farben seien alle in demselben Sonnenstrahl. Das Evangelium ist auch ein Sonnenstrahl; durch das Neue Testament wird er in alle seine Farben zerlegt. Erst wer so das Evangelium in seiner ganzen Mannigfaltigkeit zu schauen vermag, dem wird das Neue Testament immer etwas Neues sein, als hätt er’s noch nie gesehen. Dann wird es ihm auch den ganzen Reichtum des Evangeliums offenbaren, wie der Sonnenstrahl seine Farbenherrlichkeit in einem Stückchen Glas entfaltet.
Wenn uns also jemand fragte: Wie denkt ihr Protestanten über die Inspiration, das heißt über die göttliche Eingebung der Schrift, und warum haltet ihr dafür, daß sie Gottes Wort ist? so antworten wir einfach: Sie ist göttlich, von Gottes Geist stammend, weil menschlicher Sinn solche Wahrheit nie aus sich hätte erdenken können. Sie ist menschlich, weil darin Menschenherzen zu uns auf gar mancherlei Art vom Evangelium reden. Wie das Göttliche und das Menschliche darin vereinigt sind, das bleibt ein Geheimnis. Wir können auch nicht ergründen, wie das Göttliche und Menschliche in Jesu, dem Bringer des in der Schrift enthaltenen Evangeliums, vereinigt waren.
Unser Neues Testament bestand in der Kirche nicht von Anfang an. Sie besaß es nicht, sondern sie hat es geschaffen. Das will uns merkwürdig vorkommen, weil wir uns jetzt das Christentum gar nicht mehr ohne Neues Testament vorstellen können.
In der ältesten Zeit besaß man kein Neues Testament, weil man keines brauchte. Man hatte eine viel lebendigere Kunde von Jesu als beschriebenes Papier: nämlich die Apostel und ihre Jünger, welche erzählten, was sie selbst mit ihm erlebt und selbst von ihm gehört hatten. So lange diese da waren, hatte man gar kein Bedürfnis nach einem geschriebenen Evangelium.
Dazu kommt noch, daß diese ersten Christen, wie uns Paulus bezeugt, das Weltende nahe glaubten. Der Gedanke, man müsse eine schriftliche Urkunde über das Christentum haben, durch welche auch den spätesten Geschlechtern die Worte Jesu überliefert würden, lag ihnen also ganz fern.
Mit der Zeit, als der Glaube an das nahe Weltende abnahm und als die Zeugen des Lebens Jesu gestorben waren und auch das Geschlecht nach ihnen ins Grab sank: da stellte sich das Bedürfnis ein, die Kunde von Jesus aufzuzeichnen. So entstanden die Evangelien. Während früher die Männer, welche aus der mündlichen Überlieferung die Lehre Jesu kannten, im Gottesdienst aufstanden und seine Sprüche und Gleichnisse verkündeten, las man sie jetzt vor, wie sie aufgezeichnet waren. Dabei gab es Leute, welche betrübt darüber waren, daß nun das geschriebene Wort an die Stelle der lebendigen mündlichen Rede getreten war. Wir können es ihnen ganz gut nachfühlen, da auch in uns beim Lesen der Evangelien manchmal der Wunsch aufsteigt: Daß doch jemand, der Jesum selbst gesehen oder der einen gekannt, der mit ihm durch Galiläa gezogen, uns von seinem Leben und von seiner Lehre erzählte!
Nun darf man aber nicht meinen, die Evangelisten hätten die Evangelien für das Neue Testament geschrieben. Nein, sie schrieben vorerst nur für einen bestimmten Kreis von Gemeinden, damit man danach das Evangelium beim Gottesdienst verlese. Markus zeichnete die Überlieferung des Petrus auf. Das Evangelium Matthäi enthält die Reden und Gleichnisse, wie sie der Apostel Matthäus überliefert hatte. Lukas schrieb gar ein Evangelium für eine einzelne Person, seinen Freund Theophilus. Dabei sagt er noch in den ersten Versen, daß er dazu auch andere geschriebene Evangelien benutzt habe, aus denen er sein Evangelium gleichsam zusammengestellt hat, weil er selbst ja kein Augenzeuge gewesen ist. Damit meint er nicht nur den Markus und den Matthäus, sondern auch noch weitere Evangelien; denn damals gab es deren nicht nur vier, sondern eine ganze Anzahl.
So wissen wir, daß ein besonderes Evangelium der Ägypter bestand. Ein anderes war»Evangelium der Hebräer«benannt. Nach dem, was wir von diesen Evangelien wissen, müssen sie unserm Matthäus ziemlich ähnlich gewesen sein.
Es bestand also volle Freiheit! Jede Kirche, jede Gemeinde benutzte das Evangelium, das ihr am meisten zusagte. Matthäus war wohl am weitesten verbreitet wegen der vielen Gleichnisse und Sprüche, die er enthält. Niemand dachte damals daran, vier Evangelien zusammenzustellen und sie als die allein gültigen zu bezeichnen. Die Notwendigkeit einer Sammlung der heiligen Schriften wurde noch nicht empfunden.
Auch die Briefe des Apostels Paulus sind nicht für eine Sammlung heiliger Schriften geschrieben worden, sondern nur für die Gemeinden, welchen sie bestimmt waren. Wenn jemand ihm damals gesagt hätte, daß diese Briefe Jahrhunderte und Jahrhunderte später noch immer gelesen würden, so wäre ihm das sehr merkwürdig vorgekommen. Als er dem Philemon ein Brieflein schrieb wegen des entlaufenen Sklaven Onesimus, den er ihm als Christ zurückschickte, da dachte er sich nicht, daß es einst von der ganzen Christenheit gelesen würde. Und doch sind wir froh, daß es uns erhalten ist, denn es stellt allen dreien, dem Apostel, dem Herrn und dem Sklaven ein schönes Zeugnis aus und es steckt mehr christliche Lehre darin, als man glauben sollte.
Vielleicht wäre der Apostel auch gar erschrocken, wenn es ihm über dem Schreiben eingefallen wäre, daß seine Briefe noch bis in die spätesten Zeiten von allen Christen gelesen würden. Da er seinen Gemeinden, z.B. den Korinthern und Galatern, manchmal gar unerquickliche Dinge zu sagen hatte und in seinem Tadel sehr offen war, hätte er befürchten müssen, ihnen auf alle Zeiten einen schlechten Namen zu machen. Das wäre ihm sicher leid gewesen.
Diese Briefe des Paulus wurden der Gemeinde des Sonntags im Gottesdienst verlesen. Weil sie aber so viel Schönes und Erhebendes enthielten, gewöhnte man sich daran, nicht nur einmal davon Kenntnis zu nehmen, wie man es sonst bei einem Briefe tut, sondern sie des öfteren zu hören. Man begnügte sich auch nicht mit dem einen Brief, der an die Gemeinde gerichtet war, sondern die einzelnen Gemeinden tauschten die Briefe untereinander aus, schrieben sie ab, um sie alle zu besitzen. So entstanden Sammlungen der Briefe Pauli, welche bald überall im Gottesdienst verlesen wurden.
Diese Ehre widerfuhr aber nicht nur seinen Briefen, sondern auch denen anderer. Obwohl die seinen am weitesten verbreitet waren und am meisten gelesen wurden, benutzte man noch solche, die den Namen anderer Apostel trugen. Sehr viel gelesen waren der erste Johannesbrief und der erste Petrusbrief. Weniger verbreitet waren die kleineren Briefe, wie die, welche nach Jakobus und Judas benannt waren, und der zweite Petrusbrief. Sie standen nicht in gleich hohem Ansehen, da man nicht ganz sicher war, ob sie wirklich von den Aposteln herrührten, deren Namen sie trugen. Manche waren der Meinung, es hätte sie irgendein frommer Mann geschrieben und sie unter dem Namen von Aposteln ausgehen lassen, um ihnen mehr Ansehen zu geben. Darin sah man damals nichts Unerlaubtes; denn es war Sitte, auch weltliche Bücher unter dem Namen angesehener Männer der Vergangenheit zu schreiben.
Auch die Offenbarung Johannis und der Hebräerbrief genossen kein so hohes Ansehen wie die Paulusbriefe; denn auch hier waren die Meinungen geteilt, ob die Offenbarung wirklich vom Apostel Johannes geschrieben war und ob der Hebräerbrief der Feder des Apostels Paulus entstammte, da er doch eine ganz andere Art hat, als seine andern Briefe.
Luther hat es in seiner Vorrede zum Neuen Testament mit diesen Bedenken sehr ernst genommen. Er hält es gar nicht für recht evangelisch, die Schriften des Neuen Testaments, weil sie nun einmal den Namen dieses oder jenes Apostels tragen, ungeprüft hinzunehmen, sondern er will, daß man gewissenhaft untersucht, wie es sich damit verhält. Das Wort Gottes, sagt er, leidet nicht darunter; nur soll keiner aus seiner Meinung ein Gesetz für andere machen und ihm seine Überzeugung aufnötigen, sondern jedem seine Freiheit lassen. So hat er es in dieser Frage gehalten; auch wir wollen danach verfahren.
Wie stand es nun um das Neue Testament, sagen wir einmal, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts? In dem Gottesdienst wurden Evangelien und Briefe verlesen, die teils von den Aposteln, teils von ihren Schülern herstammten. Jede Gemeinde hatte volle Freiheit in der Wahl dieser Schriften. So geschah es, daß manche überall verbreitet waren, andere weniger in Ansehen standen, wieder andere angefochten und bezweifelt wurden. Ja, es war nicht einmal nötig, daß ein Schreiben apostolisch war oder einen solchen Namen trug: auch die Schriften anderer frommer Männer, wenn sie wirklich schön und erbaulich waren, wurden beim Gottesdienst gebraucht. Wir wissen z.B., daß ein»Brief des Barnabas«und einer des Clemens, ebenso ein Schreiben, welches»Hirte des Hermas«genannt wurde, bei manchen Gemeinden sehr geschätzt war.
Es war ungefähr dasselbe, als ob wir uns heute im Gottesdienst an Schreiben unserer Reformatoren erbauen würden. Das wäre sehr schön und vielleicht kommt es einmal dazu; denn es gibt Schriften Luthers, die wohl verdienten, daß man sie in der Kirche der Gemeinde vorläse neben der heiligen Schrift. Sie stammen aus demselben Geist und es ist zu bedauern, daß so viele seiner herrlichen Schriften unserm Volk gänzlich unbekannt sind.
Nun kam aber in der alten Kirche eine Zeit, wo es mit dieser Freiheit nicht mehr ging. Es tauchten nämlich unter der Apostel Namen allerlei merkwürdige Evangelien und Sendschreiben auf, welche vorgaben, eine besondere Geheimlehre über Jesus zu enthalten. Bei manchen Gemeinden fanden sie großen Anklang. Die Befürchtung war gerechtfertigt, daß durch solche Erfindung und Legende die wahre Kunde über Jesus verdunkelt werden möchte. Zuletzt hätte man ja nicht mehr unterscheiden können, was alte Überlieferung war und was der Sage angehörte.
Zudem wurden nun die alten Evangelien und Briefe selbst angegriffen. Marcion, ein frommer und gelehrter Christ, wollte nur das Evangelium im Sinne des Paulus gelten lassen. Die Apostel, meinte er, hätten Jesum mißverstanden und ein falsches Bild von ihm überliefert. Nur Paulus, mit seiner Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, habe ihn richtig begriffen und seine Lehre rein dargestellt. Darum verwarf Marcion die andern Evangelien und Briefe; sie enthielten nach seiner Meinung zu viel Jüdisches. Er wollte in der Hauptsache nur den Lukas und die paulinischen Briefe anerkennen.
Solchen Bestrebungen gegenüber war es an der Zeit, einmal die Schriften zu bestimmen, welche das Evangelium in der alten und reinen Form enthielten, damit darüber keine Unsicherheit bestände. Diese allein sollten in allen Gemeinden der ganzen Kirche in gleicher Weise heilig gehalten werden. Nur sie – das war die Hauptsache – sollten im Gottesdienst verlesen werden dürfen. Alle andern sollten davon ausgeschlossen bleiben.
Man sah sich also genötigt, eine Sammlung heiliger Schriften zu veranstalten, welche die Richtschnur des Glaubens für alle Zeiten bildeten. Kanon ist das griechische Wort für Regel, Richtschnur. Darum nennt man die Schriften dieser heiligen Sammlung kanonische Bücher und bezeichnet die andern als außerkanonisch oder apokryphisch. Das Resultat der Zusammenstellung, welche man damals unternahm, ist eben unser Neues Testament. Mit dieser Zusammenstellung ging’s nun nicht von einem Tag auf den andern. Zum Teil einigte man sich nur langsam über die Schriften, welche ins Neue Testament aufgenommen werden sollten. Für die Hauptschriften zwar herrschte schon Übereinstimmung am Ende des zweiten Jahrhunderts.