Die neue Biographie
C.H.Beck
Der Teufel stammt nicht aus Europa, sondern aus dem Orient. Aber jahrhundertelang lag sein Schatten auf dem Kontinent und nahm von da aus den Weg in die neue Welt.
Die Europäer dachten über ihn nach und veränderten den Teufel nach ihrem Bild und Gleichnis. Und er wechselte wiederum sein Gesicht und passte sich den Europäern an, die ihn riefen.
Kurt Flasch erzählt in zwanzig Kapiteln die Geschichte des Teufels. Er beschreibt Aufbau und Abbau der Teufelslehren, ihre biblischen Anfänge, die Ausgestaltung durch Kirchenväter und im Mittelalter. Er belegt die Verbindung von Satan und Sexualität und des Teufelsglaubens mit dem Hexenwahn. Er macht einen Besuch in der Hölle und widmet sich dem dortigen Personal. Flaschs große Erzählung handelt vom Wachsen der Teufelsherrschaft, ihrem Niedergang bis zu seiner ironischen Entmachtung.
Kurt Flasch gilt als der bedeutendste deutsche Historiker mittelalterlicher Philosophie. Seine Lebensarbeit wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. 2000 mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa und 2012 mit dem Breitbach-Preis.
Bei C.H.Beck sind zuletzt von ihm erschienen: Warum ich kein Christ bin (2013, bp 2015), In Richtung Wahrheit (2014), Was ist Gott? (2013) und Meister Eckhart (2013).
Er ist schon lang in’s Fabelbuch geschrieben,
Allein die Menschen sind nicht besser dran,
Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.
GOETHE, FAUST I HEXENKÜCHE
VERSE 2507–2509
Vorwort
Teil Eins
Aufbau
I. Wer ist Satan?
Satan – kurz vorgestellt
Teufels Namen
Der Teufel bei Philosophen
II. Was macht den Teufel interessant?
Anthropologische Interessen
Beleuchtung des Theismus
Eine europäische Figur
Realgeschichte Europas
Zwischen Teufelsglauben und Skepsis
Methodisch interessant
Schreiben über etwas, das es nicht gibt
III. Satan existiert historisch
Altes Testament
Neues Testament
Das zweite nachchristliche Jahrhundert
Philosophische Dämonen
Im dritten Jahrhundert
Der unsichtbare Feind
IV. Entmaterialisierung
Stoff als Wirklichkeitskriterium. Oder: Was heißt: «Es gibt ihn ‹wirklich›»?
Der Teufel aus Luft
Die lange Tradition
Der Unreine wird reiner Geist
Das Ergebnis
Rangerhöhung. Teufel wie Engel
Ontologie der diabolischen Natur
Reiner Geist plus Totenbeschwörung
Offene Fragen
Thomas macht Einwände
Intellekt
Wollust ade!
Lucifer
V. Drei Klippen
Erste Klippe: Sünde
Zweite Klippe: Strafe
Dritte Klippe: Freiheit ohne Umkehr
Rationalitätsverlust
VI. Teufelssöhne
Das Sein der Teufelssöhne bestimmt das Bewußtsein
Extra ecclesiam nulla salus
Teufelssöhne im Neuen Testament
Frühe christliche Autoren
Augustinus
12. Jahrhundert
Thomas von Aquino
Reformatoren
Exklusion als Markenzeichen
VII. Stammsitz
Hölle
Höllenfeuer
Einteilung
Abstieg
VIII. Kämpfe. Versuchungen
Jesus vertreibt Teufel
Der Teufel versucht Jesus
Versuchungen des heiligen Antonius
IX. Hexenjagd
Ein erfolgreicher Inquisitor
Theorie der Hexenjagd nach Augustin und Thomas von Aquino
Dämonen und die Frauen
X. Alternative?
Theoretische Möglichkeiten
Rückkehr zum Einen
Gott – alles in allem
Philosophische Prämissen. Präzise Folgerungen
Gegen fromme Materialisten
Teil Zwei
Abbau
XI. Ohne Teufel, ohne Engel
Pietro Pomponazzi
Ökonomie und Variabilität der Erkenntnis
Wissenschaft vs. Volksaberglauben
Wunder
An Satan glauben
XII. Der Teufel und die Hexen
Humanismus und Hexenjagd
Die Sicht des Arztes
Politische Intention
Stärkung der Teufelsmacht zur Entlastung der Frauen
Abstand zur Universität
Der Widerspruch des Jean Bodin
Skepsis: Reginald Scot 1584
XIII. Der Teufel bei spanischen Jesuiten
Teufelslehre für das ‹Goldene Zeitalter›
Korrektur des Intellektualismus
Die Sünde Satans
Übernatürliches? Nein, Danke
Satans Strafe
Keine Rückkehr
Mit Blick auf Skepsis
XIV. Besuch in der Hölle. Um 1600
Gibt es die Hölle?
Topographie
Praxisbezug
XV. Kritik am Satanismus: Balthasar Bekker
Was wird bestritten?
Biblisches
Ambivalenzen der Satanskritik: Philipp van Limborch
XVI. Hundert Jahre Umbruch: 1650–1750
Der Teufel in der besten aller Welten: Leibniz (1646–1716)
Sündenfall ohne Satan: Herder (1744–1803)
XVII. Klimawandel: Rousseau. Goethe
‹Natürliche Religion›
Gegen Offenbarung Wirkungen
Goethe als Theologe
XVIII. Teufelsstreit
Bekker bleibt allein
Johannes Gerhard
Franz Budde
Johann David Michaelis
Auf die zweite Auflage kommt es an
Jean Paul
Johann Salomo Semler
Zweiter Teufelsstreit
Schleiermacher
XIX. Mephisto
Goethes Urfaust
Faust, Ein Fragment
Eine Tragödie
Zum Teufelsstreit
Faust II
XX. Teufels Tod
Der Teufel ist tot
Wiederbelebungsversuche
Was Geschichte hat, endet
Unterbrochener Abgang
Gegenkräfte
Begrenzungen. Kompetenzentzug
Die innere Burg
Christentum ohne Teufel?
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungen
Bibliographische Hinweise
Dank
Namenregister
Sachregister
… schwarze Engel
SHAKESPEARE, KING LEAR III 6,
ÜBERSETZT VON ERICH FRIED
Es gibt auf Erden nichts seinesgleichen
HIOB 41, 25
Demones: qui propter multitudinem dicuntur
gentes universe. Qui cum omni peccato
gaudeant, praecipue autem fornicatione et
idolatria.
GLOSSA ORDINARIA ZU LEVITICUS 18, 24
I grant that words sometimes have singular vertue
and efficacie.
REGINALD SCOT, THE DISCOVERIE OF
WITCHCRAFT, 12, 1, ED. M. SUMMERS,
LONDON 1930, S. 123
Wir können die Schuld nicht mehr auf mystische
Kräfte des Bösen schieben, auf den Teufel und
seine Gesellen. … Das Böse im Menschen
übersteigt alles, was die christliche Theologie
dem Teufel jemals zugeschrieben hat. Die These
von der infernalen Natur des Bösen hat
ausgedient, der Mensch schafft das Böse aus
eigener Kraft – und er übertrifft den Teufel
darin.
LUDMILA ULITZKAJA, MEIN LAND KRANKT, IN:
DER SPIEGEL NR. 34, 18.8.2014, S. 123
Homme, ne cherche plus l’auteur du mal; cet
auteur, c’est toi même.
ROUSSEAU, PROFESSION DE FOI DU VICAIRE
SAVOYARD, ED. B. BERNARDI, PARIS 2010, S. 7
Non enim iam ultra mali bonique discretio, quia
nusquam malum.
JOHANNES ERIUGENA, DE DIVISIONE NATURAE,
BUCH V ZEILE 3109, ED. E. JEAUNAU, S. 650
Wie bequem macht sich’s nicht Luther durch
seinen Teufel, den er überall bey der Hand hat,
die wichtigsten Phänomene der allgemeinen und
besonders der menschlichen Natur auf eine
oberflächliche und barbarische Weise zu erklären
und zu beseitigen.
GOETHE, ZUR FARBENLEHRE, BAND 2,
TÜBINGEN 1810, S. 159
A tale written by manie grave authors,
and beleeved by manie wise men of the divels death.
REGINALD SCOT, THE DISCOVERIE OF WITCHCRAFT, 1574,
ÜBERSCHRIFT ZU KAP. 4 VON BUCH VIII, ED. M.
SUMMERS, NACHDRUCK BEI JOHN RODKER,
LONDON 1930, S. 92
Sollte in unserem sonst so werten Volk eine Sucht
zu bemerken sein, unnötig zu moralisieren?
ROBERT WALSER, RÄUBER, DAS GESAMTWERK,
BAND 6, ZÜRICH-FRANKFURT/M. 1978, S. 231
Wer kann sich itzo des Lachens enthalten?
JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED, VERSUCH EINER
CRITISCHEN DICHTKUNST, LEIPZIG 41.751, S. 182,
GEFUNDEN BEI ERNST OSTERKAMP, LUCIFER.
STATIONEN EINES MOTIVS, BERLIN 1979
Meine ‹Dämonen› hatten schwarze Uniformen an
und waren gar keine.
HANS BLUMENBERG IN SEINEM LETZTEN BRIEF
VOM 26.2.1996 AN EINEN KATHOLISCHEN
DÄMONOLOGEN, IN: KATHOLISCHE ZEITSCHRIFT
COMMUNIO 43 (2014), S. 174
Je me demande si on ne peut pas envisager la
modernité plutôt comme une attitude que
comme une période de l’histoire.
MICHEL FOUCAULT, QU’EST-CE QUE LES LUMIÈRES?,
IN: M. FOUCAULT, DITS ET ÉCRITS, BAND 2,
ED. DANIEL DEFERT, PARIS 2001, S. 1387
Wer Europa kennen will, muß Gott und den Teufel erkunden. Beide haben dort lange geherrscht. Um beim Gottseibeiuns zu bleiben: Er machte Erdbeben, Epidemien und Politik. Er hat eine kulturelle, eine religiöse und politische Geschichte, Aufgang und Niedergang. Er war nicht immer derselbe: Europäische Intellektuelle haben ihn verändert. Diesen Prozeß beschreibt das vorliegende Buch aus Quellen, die vom Alten Testament bis zur Gegenwart reichen.
1. Der Teufel stammt nicht aus Europa. Aber jahrhundertelang lief er hier herum und suchte, wen er verschlingen könne; von diesem Kontinent aus nahm er den Weg in die Neue Welt. Aber die Europäer erlitten Satan (wie er auf hebräisch heißt) nicht nur, sie verwandelten ihn auch. Sie dachten produktiv nach über diese altorientalische Erblast. Sie gaben ihm Namen, Rang und Stimme und gestalteten im Blick auf Gott und ihn ihr öffentliches und ihr familiäres Leben. Dieses Buch beschreibt an ausgewählten Stationen die europäische Denkarbeit am Teufel. Es belegt die Wandlungen, die Satan dabei erfuhr. Europäische Intellektuelle haben mit dem ‹Herrscher dieser irdischen Welt› gerungen und ihn sich in langer Arbeit assimiliert. Er nahm die Form an, die gebraucht oder gefürchtet wurde. Er wechselte sein Gesicht. Er paßte sich den Europäern an, die ihn riefen. Sie bedankten sich, indem sie seine Natur erhöhten.
Mein Buch erzählt von dieser Auseinandersetzung; es nennt biblische Geschichten, soweit sie Anlaß zu Debatten wurden, ist aber kein theologisches Buch. Es beschreibt Sorgen und Gedanken von Menschen hier auf der Erde.
2. Als ich mich besonders für das Geschick des Teufels zwischen 1500 und 1800 interessierte, las ich neue Bücher über Kritiker und Verteidiger von Teufelsidee und Hexenjagd. Dabei lernte ich einige hervorragende Studien vor allem in englischer Sprache zur frühen Neuzeit kennen. Bei ihnen fielen mir zwei Schwächen auf. Erstens vergriffen sie sich nicht selten, wenn sie etwas beschrieben, das zeitlich vor ihrem Schwerpunktgebiet lag. Seit wann etwa gab es den Teufelspakt? Oft nannten sie ihn einfach ‹mittelalterlich›, ohne zu untersuchen, ob er vielleicht nicht schon antik oder nur eine von mehreren im Mittelalter umstrittenen Theorien war. Sie hielten das Mittelalter für eine dogmatisch fixierte Glaubensgemeinschaft, bestimmt vom Verbot theoretischer Neugier, vom sog. curiositas-Verbot. Mancher Autor verstieg sich zu der Behauptung, die Auffassung des Teufels habe seit dem 5. Jahrhundert keine wesentliche Entwicklung haben können, weil sie theologisch normiert gewesen sei. Daß ein lebensempfindlicher Lehrpunkt zwischen 400 und 1500 keine wichtigen Änderungen erfahren haben sollte, ist von vornherein unwahrscheinlich; es wiederholt nur die alte Legende vom starren, kirchlich kontrollierten ‹Mittelalter›; vor allem aber ist sie nachweisbar falsch. Dies will ich zeigen, und ich hoffe, meine interdisziplinäre Dienstleistung stellt Literaturwissenschaftlern, Frühneuzeitspezialisten und Kunsthistorikern eine wirklichkeitsnähere Auffassung von der Vergangenheit des Teufels zur Verfügung.
Zweitens fiel mir auf: Einige dieser ausgezeichneten Spezialisten vertieften sich so sehr in ihren Autor oder in dessen Jahrzehnte, daß sie keinen Blick mehr warfen auf den weiteren Fortgang der Teufelsgeschichte. Sie blickten kaum auf deren Ende. Dabei war die Abschaffung des Teufels und der Hölle kulturhistorisch und wissenschaftsgeschichtlich ein einschneidender Vorgang. Es berührte alle Lebensgebiete, von Ehe und Erziehung zu Politik, Wissenschaft und Religion. Es ist historisch wissenswert, ab wann die Mehrheit nicht mehr davon überzeugt war, die meisten von ihnen endeten in ewig brennendem körperlichen Höllenfeuer. Daher folge ich dem Fortgang der intellektuellen Arbeit am Teufel. Ich beschreibe an ausgewählten Stationen den Abbau der Teufelsvorstellungen in der Neuzeit. Bis zum Tod des Teufels. Zunächst bezieht sich dieses Buch zwar auf die christliche Antike, Augustin besonders, und aufs Mittelalter, Thomas von Aquino besonders, es ist aber kein ‹Mittelalterbuch›, sondern verfolgt die Linie weiter über Hobbes zu Leibniz und Schleiermacher, der Satan «unzumutbar» fand, hin zu Goethes Mephisto und Diskussionen der Gegenwart.
3. Ich habe mir Mühe gemacht, ein gut lesbares Buch zu schreiben. Ich bitte meinen Leser, mir als Gegengabe eine kleine Unart zu erlauben: Ich lasse hie und da lateinische oder englische Wörter aus meinen Quellen stehen. Sie geben den Originalklang. Sie erzeugen, hoffe ich, das nötige Gefühl der Fremdheit. Ich werde sie zwar nicht immer wörtlich übersetzen, aber sie jedesmal einführend umschreiben. Sie lassen sich also zur Not überschlagen.
Ein einziges Wort hat sich mir unter der Hand verwandelt. Daher zeige ich hier schon an, wie ich es abweichend gebrauche. Unter ‹Satanismus› versteht man meist eine quasi-religiös organisierte Gruppe, die sektenartig Musik, Literatur und Film dem Satan widmet. Sie betreibt schwarze Romantik, feiert antibürgerlich, amoralistisch esoterische Anti-Liturgie, sie hält blasphemische Messen. Das reicht von individualistischer Lebensreform zu orgiastischer Raserei mit Selbstzerstörungstendenz, die alles Unbrave bejaht.
Ich gebrauche das Wort ‹Satanismus› etwas anders. Auch die Moral- und Religionskonzepte der europäischen Hochkultur gaben dem Teufel ein sehr verschiedenes Gewicht. Einige Gruppen ehrten ihn nur mit einem Lippenbekenntnis, andere Zeiten und Denkweisen verstärkten das Interesse am Teufel exzessiv. Sie waren von ihm wie besessen. Dann spreche ich von ‹Satanismus›. Damit meine ich Verhältnisse – Lebensformen und Konzeptionen – mit vorwiegender Konzentration auf den Teufel. Ich gebrauche also den Ausdruck kulturgeschichtlich neutraler und hoffe, dadurch keine Verwirrung zu stiften.
Mainz, 12. März 2015 |
Kurt Flasch. |
Satan? Wer ist dieser Herr? Früher war viel von ihm die Rede. Heute trifft man ihn nicht mehr alltäglich auf der Straße; ich muß ihn erst vorstellen:
Gott hat keines Menschen Auge je gesehen. Aber den Teufel schon. Auch ich müßte lügen, würde ich sagen, ich hätte ihn nie gesehen. Denn in zahlreichen Gemälden und Miniaturen kommt er vor; ich habe viele Berichte von Menschen gelesen, die ihn gesehen haben. Um von ihm ein erstes Bild zu geben, bringe ich zur Einführung den Bericht eines Bischofs, der sich gut mit ihm auskannte. Es ist eine Nachricht aus den damaligen und heutigen neuen Ländern. Der Historiker, der ihn geschrieben hat, galt als verläßlich. Thietmar von Merseburg, † 1018, hat ihn vor ziemlich genau 1000 Jahren aufs Pergament gebracht, wahrscheinlich 1012. Die Teufelsbegegnung, die er erzählt, betraf König Heinrich I. († 936), mit dessen Urenkel, König Heinrich II., Thietmar befreundet war. Das war zwar schon lange her, aber das Standardwerk über ältere deutsche Geschichtsquellen, 1967 neu bearbeitet, versichert von ihm, «seine Geschichtsauffassung ist sehr gesund und deutsch».[1] Dann sollten wir ihm wohl jedes Wort glauben. Nachdem er die Tüchtigkeit und Tugendhaftigkeit des ersten Heinrich gepriesen hat, erzählt er folgende Geschichte:
«Jeder Mensch hat eher eine abschüssige Neigung zum Fallen als eine feste Natur zum Standhalten. Deshalb will ich den Frommen zum Schreck und warnenden Beispiel nicht verschweigen, wie erbärmlich er sich einmal verging:
Er war an einem Gründonnerstag völlig betrunken und schlief, vom Teufel angetrieben, am Abend verbotenerweise mit seiner Frau, obwohl die sich heftig wehrte. Satan aber, der Urheber dieses Vergehens, der Feind des menschlichen Heils, verriet diese Tat einer ehrwürdigen Matrone mit folgenden Worten: ‹Nun hat doch eben die Königin Mathilde auf mein Anstiften hin der Wollust ihres Mannes nachgegeben und einen Sohn bekommen, der jetzt mir gehört. Du mußt jetzt nur zusehen, das große Geheimnis sorgfältig zu hüten!› Sie wurde darüber still für sich tieftraurig, teilte es aber rasch der Königin mit und riet ihr, immer Bischöfe und Priester um sich zu haben, um gleich bei der Geburt des Jungen mit der Welle des heiligen Taufwassers abzuwaschen, was an ihm, wie der unselige Dämon sich ausdrückte, zu seiner Freude zurückgeblieben sei. Und dabei dankte sie Gott. Jetzt sah aber der Dämon – das heißt ja: der Alleswisser –, daß er gründlich getäuscht war. Er beschimpfte die Dame und fügte hinzu: ‹Obwohl mein Plan jetzt durch dein elendes Geschwätz gescheitert ist, habe ich doch etwas dabei gewonnen: Niemals wird Zwietracht (discordia), meine Begleiterin, ihn verlassen, auch die nicht, die aus seinen Lenden hervorgehen. Niemals gibt es für sie sicheren Frieden.› So redete er, dieser Lügner, dieser Feind der Wahrheit von seinem Plan, und ich hoffe, er geht nie in Erfüllung.»[2]
Bischof Thietmar kennt sich aus mit dem Teufel. Er weiß, wie intelligent er ist: Satan hat den betrunkenen König beobachtet; er kennt die Tage, an denen das Kirchenrecht auch den Verheirateten den Geschlechtsverkehr verbot, er hat den Gründonnerstag gewählt, um Heinrich zur Wollust zu verführen. Er nimmt wahr, daß die keusche Mathilde vergeblich versucht hat, den zudringlichen Ehemann abzuwehren. Er weiß sich in menschlicher Sprache auszudrücken. Er ist ein tüchtiger Rhetoriker. Vielleicht war es etwas weniger bedacht, der ehrwürdigen, frommen älteren Dame von der Sünde des Königs zu erzählen und sie zur Verschwiegenheit zu ermahnen, aber die Wirksamkeit des Taufwassers schätzt er genauso ein wie der Bischof. Er prognostiziert für den Königssohn die politisch-theologische Konsequenz: Es wird für ihn und seine Nachkommen keinen Frieden geben.
Der Teufel, auf der Suche nach leibeigenen Untertanen, denkt in Kategorien der Sippenhaft: Nicht den sündigen König, sondern dessen Sohn beansprucht er als sein Eigentum – wegen der Unordentlichkeit seiner Geburt. Dieser Plan mißlingt, aber Satan kommt doch auf seine Kosten: Zwietracht ist seine ständige Begleitung. Die discordia begleitet ihn immer; sie wirkt als eine zweite große mythologische Figur. Wie die Aristokraten der Zeit denkt er eher dynastisch-politisch als individual-ethisch, und er blickt weit in die Zukunft. Er begnügt sich nicht mit dem einzelnen Opfer, sondern schafft dauerhaften Unfrieden für das Reich.
Das genügt als Visitenkarte: Der Teufel ist intelligent. Thietmar nennt ihn sogar ‹allwissend›, als sei er Gott. Er kennt die Landesgewohnheiten und das Kirchenrecht, denkt weitschauend politisch, bewegt sich rhetorisch geschickt, sucht Untertanen, aber fürchtet die Sakramente, mit denen Bischöfe und Priester ihn bekämpfen. Eine Lieblingsbeschäftigung ist es, die männlichen Geschlechtsorgane in sündige Bewegung zu versetzen und so das Teufelsreich zu mehren. Gelingt dies nicht, stiftet er politische Unruhe. Er veranlaßt Kriege und gibt sich mit diesem Teilerfolg zufrieden. Auch das ist ein Sieg des Satans.
Der heutige Teufelsforscher wird zur ersten Information hinzufügen: Satan ist eine religiös-literarische Mischgestalt aus verschiedenen Strömungen. In ihm fließen volkstümliche Bilder zusammen mit hohen philosophisch-theologischen Fragen. Populär ist er als Droh- und Schreckensgestalt, die hinkt, nach Schwefel stinkt und Kälte ausstrahlt. Er tritt auf als Kröte, Schlange oder Drache, auch als Schwein oder dunkelhäutiger, zottiger Mensch mit Schwanz und Hörnern. Zugleich war er hohe Intelligenz, ein mächtiger Herr, Arbeitgeber über Tausende seiner ‹Engel›.
War er wenigstens verheiratet? Diese Frage würde er schroff zurückweisen; er war wie Gott Zölibatär, und ich hätte mich gar nicht getraut, nach seinen Familienverhältnissen zu fragen, besäße nicht in der antik-römischen Mythologie der König der Unterwelt eine Gattin.[3] Anders der Höllenfürst der christlichen Welt; heute würden ihn Spezialisten vom Eheberatungsgewerbe als ‹eheunfähig› einordnen. Doch verband seine Figur sich mit großen Fragen – nach Krankheit, Tod, Unglück und dem Ursprung des Bösen. Er war das Böse selbst, galt als der Grund alles Schlechten, sah aber auch dem Gott Pan ähnlich und nahm Züge der Satyrn an. Er wirkte als Ankläger des Menschen, als Verleumder, Verwirrer und Erprober, als Vater der Lüge und Herr der Fliegen. Er wurde auch komisch gefunden und als betrogener Betrüger verlacht. Er vereinigte in sich verschiedene geschichtliche Strömungen und widersprechende Eigenschaften, aber galt als überaus ernst zu nehmender Feind und neiderfüllter Verderber. Lange hielt man ihn für eine hochgefährliche intelligente Person. Später wurde gestritten, ob er eine lebendige Intelligenz sei oder das ins Höchste gesteigerte Symbol der Bosheit.
Seit dem 18. Jahrhundert schwächelte er. Aber je mehr er zum Bild absank, um so glänzender trat er auf im Theater, in der Literatur und im Film. Lucifer wurde zu Mephisto. Er hörte nicht auf, die Europäer zu beschäftigen. Das gilt von Dante bis Bulgakov, von Milton bis Lars von Trier, von E. T. A. Hoffmanns Elixieren des Teufels zu Thomas Manns Doktor Faustus und zu Salman Rushdie. Diese Vielseitigkeit, auch Widersprüchlichkeit des Teufels verschaffte den Europäern Spielraum, ihn umzugestalten. Er wurde ihnen immer ähnlicher. Von diesen Umformungen handelt dieses Buch. Es untersucht diesen langen Prozeß an Stellen, die für ihn besonders charakteristisch sind.
Der Teufel, mit dem Europäer sich befaßten, stammt aus der Hebräischen Bibel. Daher gab es ihn bei Juden, Christen und Muslimen; der mittelmeerische Gott hatte mit dem Teufel einen kleineren Gegenspieler. Am höchsten steigerten ihn die Christen. Paulus nannte ihn den ‹Gott dieser Welt›. Er gehört wie ‹Gott› zur europäischen Geschichte. Wer sie studiert, begegnet auf der unbeschönigt-dunklen Seite dem Satan und der Hölle, er trifft Dämonen und Hexenverfolger, er hört vom kommenden Antichrist, von Verurteilungen und Scheiterhaufen.
Er begegnet dem europäischen Alptraum, dem viele Menschen, besonders Frauen, auch physisch zum Opfer gefallen sind. Denn vom Anfang, vom Neuen Testament an, drang er in den Körper des Menschen ein, machte ihn stumm und lahm, ließ ihn zucken, schreien und erstarren. Solche Menschen nannte man die ‹Besessenen›. Sie kommen in der Bibel zahlreich vor. Der Jesus der evangelischen Berichte war vorwiegend Teufelsaustreiber. Aber damit war Europa die Besessenheit nicht los, sie nahm im 15. Jahrhundert epidemisch zu, breitete sich im 16. und 17. Jahrhundert enorm aus, ging im 18. Jahrhundert stark zurück, ist aber bis heute nicht verschwunden. Besessene galten als arme Opfer des Teufels; Hexen sagte man nach, sie verbänden sich freiwillig mit dem Teufel, um diesseitige Vorteile mit seiner Hilfe zu erreichen und in seiner Kraft Schaden anzurichten. In der Bibel gebietet Gott, alle Hexen zu vernichten, aber dieser Befehl, der nie vergessen war, wurde erst im 15. Jahrhundert massenhaft befolgt. Er führte im 16. und 17. Jahrhundert zur großen europaweiten Hexenjagd bei Katholiken, Lutheranern und – etwas weniger – bei Calvinisten. Sie ging gegen 1700 zurück und verschwand im 18. Jahrhundert europaweit, anders als die Besessenheit, die bis heute vorkommt.
Besessenheit und Hexerei waren die sichtbarsten Wirkungen Satans, beileibe nicht die einzigen. Er drohte und ängstigte, aber er gab auch zu denken. Wer war er? Wie stark konnte er werden? Im älteren Judentum und im Islam blieb seine Selbständigkeit beschränkt. Ihr Monotheismus ließ nicht mit sich spaßen. Christen waren es, die ihn erhoben zum mächtigen Gegenspieler Gottes. Er war im Neuen Testament der Hauptfeind ihres Gottes, aber er sah ihm auch verdammt ähnlich. Beide waren Verwandlungskünstler; sie konnten in der Gestalt auftreten, die ihnen beliebt. Satan kam auch als Engel des Lichts (2 Kor 11, 13–14). Beide konnten Menschen und Dinge verwandeln: Jahweh macht aus Steinen Kinder Abrahams, der Teufel macht aus Lots Weib eine Salzsäule. Beide verstanden sich auf Gestaltauflösung. Sie agierten als metaphysische Alchimisten. Satan stand also mit Gott in delikaten Wechselbeziehungen. In ältesten Passagen des Alten Testaments agiert Gott moralisch bedenkenlos. Er steht jenseits von Gut und Böse. Satan trat zuerst noch gar nicht auf; die Bibel erzählt nichts davon, daß er bei der Erschaffung der Welt dabei gewesen wäre; er kam in einem späteren Stadium als williger Helfer hinzu. Am Anfang hatte Gott noch dessen Eigenschaften. Jahweh handelte ohne ethische Bedenken. Je moralischer er wurde, um so böser wurde der Teufel. Er entlastete den gut werdenden Gott von seinen bösen Seiten. Am Ende der alttestamentlichen Zeit, z.B. im Neuen Testament, war kein gutes Haar mehr an ihm; er hatte das Roheitspotential Jahwehs übernommen.
Satan war die Kehrseite Gottes? Die beiden haben sich wechselseitig ihr Bild aufgedrückt. Sie zeigen Familienähnlichkeit. Feinde nehmen aneinander Maß. Je einheitlicher, je ‹monotheistischer› Jahweh herrschte, um so besser organisierte und dominierte Satan seine Engel. Beide wurden Herrscher eines Reichs, umgeben von massenhaft viel Personal. Beide herrschten in einheitlichen Machtzentren; sie besaßen Imperien. Gott hatte seinen Hofstaat; er befehligte ganze Heere der Engel; auch der Teufel stand an der Spitze eines Reichs. Er hatte seine ‹Engel›, die später meist ‹Dämonen› hießen. Der Ausdruck ‹der Teufel und seine Engel› klingt heute befremdlich, fast ironisch. Aber Jesus selbst gebraucht ihn, bei Matthäus 25, 41. Im Neuen Testament gab es noch gute und böse Engel.
Der monotheistische Gott ertrug, wie gesagt, keinen gleich starken Gegenspieler. Doch im dritten nachchristlichen Jahrhundert traten ‹Dualisten› auf. So die Manichäer, genannt nach dem Perser Mani, † 277. Sie stellten dem jenseitigen guten Gott den bösen Erschaffer der sichtbaren Welt gegenüber. Sie gingen in der Zweiprinzipienlehre, also im Dualismus, am weitesten: Der böse Gott war hier nicht nur ein ‹Gegenspieler› Gottes, sondern sein aktiver Feind. Er war zwar nicht allmächtig, hatte aber das Räderwerk der sichtbaren Welt in Gang gesetzt. Wer Teufelsstudien betreibt, begegnet dem manichäischen Gott immer wieder, in verschiedener Verkleidung: als zweitem Gott bei radikalen Dualisten, als seinem schwächeren Nachbild bei fast allen Christen, als seinem ‹Affen›. Er bildete in monotheistisch beschnittener Form das böse Prinzip.
Auch wer annahm, der gute Gott sei allein allmächtig und habe gesiegt, mußte zugeben, daß dem Sieger nicht alles gelungen war. Die Autoritäten schwankten, ob Gott gesiegt hat oder erst später einmal siegen wird. Rangen sie sich dazu durch, Gottes Sieg sei vollbracht, war immer noch zu erklären, wieso ein allmächtiger Gott einen immer noch mächtigen Gegner hatte. Sie mußten zugeben, der Teufel wirke noch immer, nicht nur bei Heiden, sondern auch bei Christen und ganz besonders bei Heiligen. Obwohl er ‹besiegt› heißt, verführt er noch immer. Der Erste Petrusbrief (5, 8) behauptet gar, der Teufel laufe umher «wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge». Überall auf der Erde kann ich ihm begegnen, in unvorhersehbar abweichenden Gestalten; er liegt dann doch wohl nicht, wie die Geheime Offenbarung 20, 2 behauptet, gefesselt in der festverschlossenen Hölle. Theologen fanden begriffliche Zurüstungen, diesen Zwiespalt aufzulösen, aber es blieb der Eindruck, die Gottesherrschaft sei noch nicht durchgehend aufgerichtet. Überall lauert der Böse. Als stehe der letzte Entscheidungskampf noch bevor. Apokalyptisch. Der Teufel und seine Engel hatten als bevorzugtes Arbeitsfeld die Sexualität des Menschen, vor allem die des Mannes; ihre beliebtesten Angriffsobjekte waren die Heiligen, ihre bekanntesten Opfergruppen die Besessenen und die Hexen.[4]
Einen gewissen Dualismus streift die christliche Botschaft nicht ab. Sie betet zum allmächtigen Gott, aber auf der Erde herrscht dessen allgegenwärtiger Feind. So zu reden bot dem christlichen Denken zwei Vorteile: Erstens rief diese Redeweise zu ständiger Wachsamkeit auf. Sie verhinderte das Erschlaffen im Guten. Sie schuf das Bewußtsein einer noch unentschiedenen Kampfsituation. Der Christ weiß, daß er versucht wird und daß er in dieser Versuchung fallen kann. Er nimmt sogar an, Gott selbst übernehme zuweilen die diabolische Funktion und führe ihn in Versuchung; er fleht ihn an, dies in seinem Fall doch bitte zu unterlassen. Gott selbst führt in Versuchung, das ist ein Rest der alten Satansart. Gott und Teufel stehen sich nicht als der jeweils ‹ganz Andere› gegenüber; einzelne Züge spiegeln sich ineinander. Satan übernahm eine abgespaltene Funktion Gottes; jetzt wurde er es, der einen heiligen Mann zur Erprobung in die Wüste führt. Das Erproben der Untertanen, diese untergeordnete Funktion Gottes, hat sich von ihm abgetrennt, als sie mit seiner erhöhten Erhabenheit unvereinbar wurde. Jetzt war die klare Entgegensetzung von Gut und Böse erreicht, Gott mußte einiges unterlassen, was von da ab nur noch der Teufel tut. Aber Beter flehten weiter zu Gott, sie nicht in Versuchung zu führen: ungeheure Ambivalenzen.
Der zweite Vorteil der Rede von Gegenkräften gegen Gott: Die Erzählung vom Gang aller Dinge bleibt spannend. Ihre dramatische Geschichte ist nicht schon zu Ende; jeder Zuhörer spielt in ihr mit. Innerhalb der theologischen Weltkonstruktion sorgt der Teufel für Kampf, Bewegung und Spannung. Er stachelt zur Aktivität an. Das aktivistische neuzeitliche Europa brauchte Mephisto. Goethe zeigte an ihm den Nihilismus der Papiergeldwirtschaft und die Brutalität des Kolonialismus, der sogar die Grenzen zwischen Land und Meer verschiebt.
Ferner kompliziert der Teufel psychologische Situationen und erhöht die Aufmerksamkeit auf diese. Er animiert Seelenforscher und Literaten – vom Mysterienspiel zu Elisabeth Langgässer.[5] Sie suchen noch, wie weit seine Bosheit geht und welche Mittel sie dem Menschen eingibt. Er hat schon Frauenheere auf den Blocksberg geschafft. Er macht neugierig; er fördert die Menschenkenntnis ebenso wie die Mißverständnisse, denn er überlagert die Selbstprüfung mythologisch. Christentum mit Teufel macht Angst; Christenglaube ohne Teufel schmeckt fad.
Wieviel Dualismus bleibt?
Ob das Universum ein einziges Prinzip – und zwar ein gutes – hat oder ob ihm ein gleichmächtiger böser Weltgrund gegenübersteht, das schafft mächtige Divergenzen. Sie wurden und werden unter den Stichworten ‹Gnosis›, ‹Manichäismus› und ‹Dualismus› erörtert. Im christlichen Denken entfalteten verschiedene Gruppen und einzelne Denker eine breite Palette von Varianten zwischen strengem Monotheismus und radikalem Dualismus. Völlig gleichberechtigte Gegenpole waren Gott und Satan im christlichen Denken nie; das hätte seinen Schöpfungsbegriff zerstört, den es aus spätjüdischen und antik-philosophischen Quellen entwickelt hatte. Andererseits kam es ohne dualistische Elemente nicht aus; ‹Erlösung› verlöre sonst jeden angebbaren Sinn. Mit ihr beseitigte der gute Gott ein Übel, dessen Ursprung nicht in ihm liegen durfte. Aber wo genau lag dessen Grund? Im Teufel, in Dämonen, im freien Menschenwillen oder im unbesonnenem Übermut der jungen Menschheit? Das ließ sich verschieden konstruieren. Im Mittelmeerraum überformte die platonisch-aristotelisch-neuplatonische Metaphysik das christliche Denken und reduzierte den Dualismus. Löste sie diesen ganz auf, was mit Hilfe der Philosophie des Einen und der allegorischen Bibeldeutung möglich war, dann bedrohte sie das Konzept von ‹Erlösung›. Dazu taugte später – seit dem 15. Jahrhundert – das Programm der ‹natürlichen Religion›, das vom Christentum so viel gelten ließ, als es mit ‹vernünftigen› Einsichten übereinstimmte. Das war eine freie Spekulation; als ‹vernünftig› galt dieser christlichen Spekulation, was sie im ‹Normalbestand› der antiken Philosophie unterbringen konnte, aus dem sie Materialismus und Skeptizismus ausschloß. Die so definierte ‹europäische Vernunft› verstand sich anti-dualistisch. Sie tolerierte keinen zweiten Herrn dieser Welt. Sie beschnitt dessen Macht und schaffte ihn zuletzt ganz ab. Dies rief den Widerstand der ‹Orthodoxen› hervor; sie beklagten in der Herabstufung des real existierenden Teufels zum Symbol des Bösen die philosophische Überfremdung der Offenbarung. Sie wollten ihn als ‹Person›, als Individuum geistiger Natur. Ihre Stimme erhebt sich bis heute. Ich komme darauf zurück.
Satan trat in vielen Formen auf. Die verschiedenen Namen – Satan, Teufel, Dämon – spiegeln Herkünfte und Rollen.[6] Die Deutschen nennen ihn ‹Teufel› von diabolos. Das war die griechische Übersetzung der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel, für den hebräischen ‹Satan› und hieß so viel wie ‹Ankläger› und ‹Verleumder›. Das deutet darauf hin: Er lud seine Menschenkenntnis beim höchsten Richter am Herrscherhof ab. Er war wie im Buch Hiob eine Art inoffizieller Mitarbeiter. Er leistete niedrigen Lakaiendienst; von gegengöttlicher Rebellion keine Spur. Er geriet in die paradoxe Rolle, Menschen zum Bösen zu verführen und sie dann nach Gottes gerechtem Willen zu bestrafen.
Die Namen ‹Satan› und ‹Dämon› gehören verschiedenen kulturellen Welten an: Die hebräische Herkunft nennt ihn ‹Satan›, das heißt Widersacher Gottes. In einem frühen Stadium hieß ‹Satan› soviel wie ‹Feind› oder ‹Gegner› überhaupt. Das Wort war noch nicht der Name einer ‹Person›, war noch kein Eigenname. Das wurde es im Ersten Buch der Chronik, 21, 1. Das Alte Testament erzählt die schöne Geschichte von Bileams Esel, der zu sprechen anfängt, um sich bei seinem Herrn zu beschweren, daß er ihn schlägt. Der Esel hat den befohlenen Weg nicht fortgesetzt, denn er sah, was sein Herr nicht wahrnahm, daß der Engel Gottes ihm in den Weg tritt. Dieser Engel heißt ‹satan›, ‹Feind›. Mit dem Schwert hindert er Bileam, zu König Balak zu reiten, der von dem Propheten verlangt, die Israeliten zu verfluchen (Num 22, 1–24, 25).
Im Alten Bund handelte der individuell vorgestellte Teufel nicht von Anfang an als der durchaus Böse. Im Buch Hiob wirkt er noch kooperativ; erst im Neuen Testament agiert er als der radikale Feind – oft unter seinem original-hebräischen Namen ‹Satan›. Er steht nicht mehr wie bei der Erprobung Hiobs allein, sondern wirkt als der Herr eines ganzen Reichs. Seine Funktion bei der Versuchung Jesu in der Wüste ist wie bei Hiob die Erprobung. Aber jetzt ist er Fürst der Dämonen und Gott der irdischen Welt. Wie gesagt, war das Wort ‹Engel› noch nicht eindeutig festgelegt auf ‹gute Engel›. Später setzte sich für die bösen Engel das heidnisch-griechische Wort ‹Dämonen› durch, nur die guten Geister hießen noch ‹Engel›. Ganz eindeutig wurde der Sprachgebrauch nie. Christen sprachen lange noch sowohl von ‹guten Dämonen› wie von ‹bösen Engeln›.
Das Wort ‹Daimon›, oft auch als ‹das Dämonische›, ‹Daimonion›, stammt aus der hellenistischen Kultur; in ihr waren ‹Dämonen› produktive geistige Kräfte, sowohl gut wie böse, aber eher gut. Die alte griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel, die Septuaginta, hatte das Wort übernommen. Jüdische Apokalyptiken der letzten vorchristlichen Jahrhunderte hatten die widergöttliche Position des Teufels gestärkt und ihm viele Untertanen zugeordnet, eben die Dämonen, die man später auch ‹Teufel› im Plural nannte. Nicht, als habe die klassisch-griechische Dämonen-Vorstellung direkt auf das Neue Testament gewirkt; die neutestamentlichen Teufelsvorstellungen gehören eher zur spätjüdischen Welt.
Die gläubige Phantasie dichtete dem Satan und seinen Gehilfen gern Namen an. Sie war im Erfinden von Namen so produktiv wie heute die pharmazeutische Industrie. Sie nannten den Teufel Beelzebul, dann auch wohl mit bewußter Entstellung und Ironie Beelzebub, auch Belial/Beliar. Er hieß ‹der Drache› oder der ‹böse Feind›. Dem Satan und seinen Haupthelfern gaben Christen seltsam klingende Namen, z.B. Zabulus. Es kommen Namen vor wie Ancitif und Arfaxat, Calconix und Dagon, Mastema und Azazel, Hiaclito, Philpot und Putiphar, Gonsang und Grongade, Maho und Modu, Hillio und Smolkin. Exorzisten warben für sich, indem sie mit Namenskenntnis prunkten, es bewies ihre Vertrautheit mit der Teufelswelt; es schlich sich wohl auch der Übermut ein, die Teufel zu verspotten. Namen, die an einen fast-dadaistischen Wortsalat erinnern, hielten das Fremdartige fest, vermieden die Nähe zu Heiligennamen und zu christlich Vertrautem, drückten Abwehr und Siegesgefühl aus. Sie zu kennen bedeutete Zugehörigkeit zum inneren Kreis der Wissenden, bedeutete Macht. Wer die schwierigen Aufnahmebedingungen der Wüstengemeinde von Qumran bestanden hatte, mußte schwören, die Namen der Engel nicht zu verraten.[7]
Den Satan ‹Lucifer› zu nennen entsprang einer sehr freien Auslegung von Jesaia 14, auf die ich noch zu sprechen komme; eine gewisse Hemmung gegenüber dieser Benennung bestand, weil ‹Lichtträger› auch ein Name Jesu war, z.B. im 2. Petrusbrief 1, 19.
In der griechisch sprechenden Welt hieß Satan auch ‹Fürst der Dämonen›. Die Deutschen ersetzten gern seinen Namen durch den Gebetsruf: ‹Gott sei bei uns!›, der etwa seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Wort geschrieben wurde. Gerade in Deutschland muß er viel unterwegs gewesen sein und Orte markiert haben: Ein leicht hervorgehobener Ort in harmloser Landschaft heißt ‹Teufelssprung›, ein steiler Abhang ‹Teufelsrutsche›, eine gefährlich-feuchte Stelle ‹Teufelsmoor›.
Oft hieß der Teufel schlicht ‹der Dämon›; das war eine späte Entwicklung. Denn mit ‹Dämonen› hatte er von Haus aus nichts zu tun. Wort und Sache ‹Dämon› sind griechisch, nicht hebräisch. ‹Dämon› war in Hellas ein Zwischenwesen, das Schicksal zuteilte, das Gutes und Böses stiftete. Alles Unerwartete, Böses wie Gutes, das Irrationale und Verhängnisvolle war ‹dämonisch›. Goethe hat das Konzept wieder aufgegriffen: ‹Dämonisch› waren ihm die gesteigerte Individualität, die ungeheure Kraft und rastlose Tätigkeit, die über das Moralische hinausgehen. Christliche Theologen prägten die Wortbedeutung ‹Dämon› um; er wurde fast gleichbedeutend mit dem ‹bösen Engel›.
Dämonen hatten etwas mit Tod und Begräbnis zu tun. Augustin und auch Thomas dachten, die antiken Griechen hätten die ‹Dämonen› für die Seelen verstorbener großer Menschen, also der ‹Heroen›, gehalten. Thomas lehnte diese Assoziation ab; die Vorstellung herumirrender Seelen, die Unheil anrichten, sei falsch, denn die Seelen der Guten seien in der Hand Gottes, und die Seelen der Bösen würden sofort zur Hölle abgeführt.[8] Die Überlegung, der Dämonenglaube beruhe auf archaischer Furcht vor Revenants, klingt wie eine alte Erinnerung, durch Plotin bei Augustin aufbewahrt; sie fand bei Thomas um 1270 keinen Glauben mehr. Denn inzwischen waren die Dämonen durch aristotelische Geistphilosophie nobilitiert. Sie hatten nichts mehr von einem Gespenst an sich, aber dann fragte es sich, und auf diese Frage muß ich später zurückkommen, wie diese Geistwesen böse werden konnten. Dies war zugleich die Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Welt überhaupt: Wenn Eva und Adam verführt worden sind, wer hat zuvor die Verführer verführt? Gott hat den Verführer verursacht, hat er dann nicht auch die Verführung verursacht? Wie konnten hochintelligente Wesen, reine Geister, sich bewußt abwenden von dem guten Gott, der sie soeben erschaffen hatte? Wie konnten sie die Machtverhältnisse, die ihnen klar sein mußten, so verkennen?
Zwar kommt er in der Sündenfallerzählung von Genesis 3 gar nicht vor, aber Paulus und Augustinus hatten ihn so eng verbunden mit dem «mutmaßlichen Anfang der Menschheitsgeschichte», wie der kantische Aufsatz in der Berliner Monatsschrift von 1786 [9] heißt, daß, wer über die Menschheit und ihre Bosheit nachdachte, es mit dem Teufel zu tun bekam. Seit Augustin war die civitas diaboli samt ihrem Herrscher ein Standardthema des europäischen Denkens, groß aufgenommen im 5. Buch von Eriugenas De divisione naturae, fortgeführt in allen Sentenzenkommentaren jeweils im zweiten Buch, übernommen in die Summen des 13. und 14. Jahrhunderts, in Bibelkommentare und Streitschriften der Reformationszeit. Ich werde eine Reihe von Texten der neueren Zeit vorführen, die beweisen, was man erwarten konnte, daß es hier nicht um theologische Details, sondern um das Selbstverständnis der Freiheit ging, wie es vielleicht am markantesten Friedrich Schillers Aufsatz Etwas über die erste Menschengesellschaft in der Thalia von 1790 zu sehen ist: Andere werten die Episode im Paradies mit einem gewissen Recht als ‹Fall›, aber: «Der Philosoph hat Recht, es einen Riesenschritt der Menschheit zu nennen.»[10] Der Mensch trat heraus aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang; er begann den langen und mühsamen Weg der Selbstgestaltung: «Er war für das Paradies schon zu edel» (13, 27). Sein oft getadelter Ungehorsam war für Schiller «die glücklichste und größte Begebenheit der Menschheitsgeschichte» (13, 26). Welch ein Weg von der civitas Dei zum bejahten, ja gefeierten Auszug aus dem Paradies! Das moderne, das bürgerliche Subjekt erzählt sich seine Entwicklungsgeschichte, eine neue Erziehungsgeschichte der Menschheit.
Descartes. Satan war in der europäischen Denkgeschichte immer dabei. 150 Jahre vorher, in Paris 1640, überlegte Descartes: Er könnte, ja er müßte zweifeln an allem, was er für sicher gehalten hatte: Wahrnehmungen täuschen, Träume gaukeln Scheinerfahrungen vor; unser Gedächtnis täuscht uns, Zeugenaussagen sind unzuverlässig. Wie weit müssen wir gehen in dieser Serie der Ungewißheiten? Der äußerste Gedanke: Nehmen wir an, nicht ein guter Gott, nicht die «Quelle der Wahrheit», regiere die Welt, sondern ein böser Geist, im höchsten Maße mächtig und schlau, habe es darauf angelegt, mich zu täuschen. Sind vielleicht Himmel und Erde, Farben, Figuren und Töne, alles Traumgesichte? Sind meine Hände, ist mein ganzer Körper ein Scheingebilde? Descartes nennt den Teufel nicht beim Namen. Er stellt uns vor den letzten Abgrund der Ungewißheit. Aber er bildet auch den Wendepunkt der Analyse des Bezweifelbaren. Denn nehmen wir an, er täuscht mich, dann denke ich doch, daß er mich täuscht. Es ist dann wahr, daß ich das denke. Und wenn ich denke, bin ich. Das sind die cartesianischen Meditationen eins und zwei. In der Auseinandersetzung mit dem Teufel, in der radikalen Bezweiflung aller Wahrheitschancen gewinnt Descartes einen sicheren Ausgangspunkt der Philosophie und aller Wissenschaft.[11]
Kant. Kant druckte im April 1792 in der Berliner Monatsschrift einen religionsphilosophischen Aufsatz über ‹Das radikale Böse›. Er sollte der Anfang einer zusammenhängenden vierteiligen Reihe sein. Die Zensur war neuerdings verschärft. Er bekam nur mit Mühe die Druckerlaubnis. Als sie ihm beim zweiten Artikel ‹Vom Kampf des guten und bösen Prinzips› verweigert wurde, legte er den Gesamttext der vier Studien der Königsberger Theologischen Fakultät zur vorgeschriebenen Zensur vor. Die Königsberger Kollegen gestatteten den Druck, und so erschien 1793 in Königsberg das Buch Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.[12] Schon im nächsten Jahr erschien die zweite, erweiterte Ausgabe. Die preußische Regierung unter Johann Christoph von Wöllner reagierte scharf; sie verbot Kant jede religionsphilosophische Äußerung – Schrift und Vorlesung.
Die politische Lage war für Kant ungünstig: Friedrich II. war 1786 gestorben. Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., betrieb seine restaurative Politik gegen Aufklärer und ‹Demokraten›; 1788 übernahm der fromme Wöllner die Regierung und veröffentliche wenige Tage nach Amtsantritt sein Religionsedikt, das alle Lehrer und Pfarrer auf die Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche verpflichtete. Im selben Jahr erschien Kants Kritik der praktischen Vernunft; sie gab die Linie der Kantschen Religionsphilosophie vor: Nur die praktische Vernunft bietet philosophischen Zugang zur Religion; die Aufgabe der Religion ist es, uns moralisch zu bessern; gut ist ein Mensch nicht schon, indem er gesetzentsprechend wirkt, sondern wenn er um des moralischen Gesetzes willen handelt. Die Religion hat keinen anderen Inhalt als die Moral; sie betrachtet nur unsere Pflichten als die Gebote Gottes. Nicht als wäre der Befehl Gottes der Grund der moralischen Verpflichtung; der Weg geht umgekehrt von der Pflicht zur Ansicht der Pflicht als dem Willen Gottes. Diese Ansicht verändert nichts am Inhalt der Moral; sie erhöht nicht den Grad der Verbindlichkeit, denn diese ist die der praktischen Vernunft, die weiß, was sie zu tun hat, die aber keine neue theoretische Erkenntnis ergibt. Sie erlaubt aber weitere subjektive Annahmen, aber nur praktischen Charakters, daß wir uns nämlich denken dürfen, daß ein Gott sei, und zwar als ein mächtiger, weiser und gütiger Weltenherr, der sich um den sorgen wird, der rein um der Pflicht willen Nachteile in der sinnlichen Welt auf sich nimmt, der also einen Ausgleich bieten kann zwischen Glück und der Würdigkeit, glücklich zu sein. Aber diese Erkenntnisse allesamt nicht als neue theoretische Einsichten, sondern als Möglichkeiten, die sich denken lassen, die also keinen Widerspruch enthalten, wenn wir uns klar werden, daß die Pflicht unbedingt gilt. Das setzt voraus, daß wir auch können, was wir sollen; der Mensch muß als frei gedacht werden. Daß er nur das Werkzeug höherer Gewalten wäre, ist mit seiner Erfahrung des Sollens unvereinbar. Daß wir uns moralisch immer weiter bessern sollen, ist das Gewisseste, was wir haben; die Denkmöglichkeiten, die wir daran knüpfen können, bilden keine Serie theoretisch-theologischer oder mystischer Erkenntnisse. Noch nicht einmal die Überzeugung vom Dasein Gottes ist dadurch theoretisch gesichert.
Die Religion ist eine bestimmte Sichtweise der Moral, also der praktischen Vernunft; sie kann nur eine einzige sein für alle Menschen (Streit S. 45). Als solche heißt sie ‹natürliche Religion› oder Vernunftglauben. Es gibt daneben viele Arten des Kirchenglaubens. Dieser ist ein Vehikel, den verschiedenen sinnlichen Vorstellungen göttlicher Offenbarungen Einfluß auf die Gemüter zu verschaffen. Theoretisch ist er ohne Interesse; er ist nur Mittel zum Vernunftglauben. Daher bildet allein der Vernunftglaube die letzte Richtschnur zur Auslegung des Kirchenglaubens. Vereinfacht ausgedrückt: Der Kirchenglaube ist so lange auszulegen, bis etwas Moralisches herauskommt. Schriftgelehrte mögen ihn anders auslegen und über historische Details diskutieren, aber philosophisch ist die Rangordnung klar: Der Vernunftglaube ist Maßstab. Selbst das Bild von einem vollkommen gottwohlgefälligen Menschen, der vom Himmel gekommen wäre, uns ein Vorbild zu sein, fände sein Urbild doch nirgendwo anders als in der Vernunft (Religion S. 79). So sei es auch immer gehalten worden: «Vernünftige Volkslehrer» haben den Kirchenglauben so lange gedeutet, bis er mit den «moralischen Glaubenssätzen» übereinstimmte (Religion S. 159).
Dies sind die Grundlagen, nach denen das radikal Böse bei Kant zu deuten ist. Es kann nicht bedeuten, daß der Mensch wie ein Instrument in der Hand des Teufels wäre. Er ist auch nicht wie der Ton in der Hand des allmächtigen Schöpfers, Töpfers: Freiheit des Willens ist Voraussetzung der Moral, diese Gewißheit kann, ja darf Kant nicht einer anthropomorphen Vorstellung Gottes oder des Teufels opfern. Das radikal Böse ist in uns. Wir sind es selbst, und dabei ist das Wort ‹radikal› genau zu nehmen: An der Wurzel unserer Entscheidungen entdecken wir den fatalen Hang zum Bösen, und der ist nicht gleichzusetzen mit der Sinnlichkeit. Dann wäre er allenfalls Schwäche, nicht Bosheit. Wir entdecken, selbst wenn wir das Gute tun, in uns den Hang, es nur unter Bedingungen zu tun, die von anderswoher genommen sind. Wir tun es zum Beispiel, weil wir gut dastehen wollen. Damit verfälschen wir die Strenge des Gesetzes. Kants Gedankenführung geht dahin weiter, daß es in uns eine Kraft des guten Prinzips gibt, geben muß, die den Kampf des guten Prinzips gegen das Böse ein Leben lang vollzieht. Wenn wir das sollen, müssen wir es auch können. Die Reflexion über das radikal Böse in uns ist nur der Ausgangspunkt, ist Erstes Stück des Religionsbuchs, nicht das Ende der Reflexion, bildet nicht Stück Vier. Es gibt «radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen» (Religion S. 36), zum Beispiel in der Neigung, das moralische Gesetz nur dem Buchstaben nach zu erfüllen. Das Böse in uns ist so unbestreitbar wie unbegreiflich. Und um diese Unbegreiflichkeit auszudrücken, erzähle die Geschichte vom Sündenfall, das Böse sei durch Verführung in uns hineingekommen, und zwar durch einen ursprünglich erhabenen Geist, der nicht verführt worden ist. Daß ein solcher Geist böse werden und andere verführen kann, ist völlig unbegreiflich (Religion13praktischer(ReligionReligionReligion