Verlag C.H.Beck
Wolfgang Reinhard, der Autor der preisgekrönten «Geschichte der Staatsgewalt», fasst in diesem Band die Geschichte des modernen Staates knapp und präzise zusammen. Er erklärt, warum der moderne Staat nur in Europa unter besonderen geographischen und ökonomischen Rahmenbedingungen durch das Zusammenwirken des Erbes der Antike und der Kultur junger Völker entstehen konnte. Dann behandelt er die verschiedenen Aspekte der Entwicklung von frühmittelalterlichen Monarchien zu den Machtstaaten des 18. Jahrhunderts: Institutionen, Selbstdarstellung und Diskurse der Monarchie, Lokalherrschaft, Stände- und Steuerwesen, Kirche und Staat, Recht und Justiz, Krieg und Gewalt, Diplomatie und Völkerrecht. Von der Französischen Revolution führt der Weg zum Nationalstaat, zur Demokratie und zum Sozialstaat, aber auch zum Triumph des Kolonialismus und zu den Exzessen des totalen Staates. Schließlich behandelt Reinhard auch den Niedergang des modernen Staates und versucht zum Schluss die Frage zu beantworten, ob der moderne Staat noch eine Zukunft hat.
Wolfgang Reinhard ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte in Freiburg. Bei C. H. Beck sind von ihm erschienen «Geschichte der Staatsgewalt» (32002) sowie «Lebensformen Europas» (22006). 2003 erhielt er den Historikerpreis.
I Grundlagen und Grundfragen
1. Was ist ein «Staat»?
2. Staaten, Reiche, Republiken
3. Staat und Gesellschaft
4. Staat und Recht
5. Theaterstaat und politische Kultur
II Aufstieg des modernen Staates
1. Warum Europa?
2. Von der Monarchie zum Machtstaat
Monarchie
Formen und Symbole
Diskurse
Machteliten und zentrale Institutionen
Lokalherrschaft und Ständewesen
Kirche und Staat
Recht und Justiz
Machtmittel
Krieg und Gewalt
Diplomatie, Staatensystem, Völkerrecht
3. Ancien Régime, Revolution, Ideologie
4. Vom Machtstaat zum totalen Staat
Nation und Religion
Verfassung und Demokratie
Steuerstaat, Kriegsstaat, Sozialstaat
Totaler Staat
Mächtesystem und europäische Expansion
III Niedergang des modernen Staates
1. Von der Selbstlegitimation zur Delegitimation
2. Verhandlungsdemokratie und Abbau des Sozialstaates
3. Von der Dekolonisation zum Staatszerfall
4. Internationalisierung und Globalisierung
5. Hat der Staat noch eine Zukunft?
Weiterführende Literatur
Personenregister
Europa hat den Staat erfunden. Diese schlichte Feststellung wirkt provozierend, weil sie in politisch unkorrekter Weise den unbestreitbaren Sachverhalt in Frage zu stellen scheint, dass auch Nicht-Europäer, in vorderster Linie die Chinesen, Gemeinwesen geschaffen haben, die den europäischen in jeder Hinsicht vergleichbar und zeitweise sogar überlegen gewesen sind. Nur – diese Gemeinwesen waren dennoch keine «Staaten» im modernen Sinn; wir wollen sie stattdessen «Reiche» nennen. Sie sind keineswegs zufällig von der Bildfläche verschwunden, um modernen Staaten Platz zu machen.
Denn überall, auch in China und in Ländern, wo man sich in besonders entschiedener Weise zum Islam bekennt, treffen wir heute auf Varianten des modernen Staates, jenes Typs Gemeinwesen, das nun in der Tat die Europäer in über tausend Jahren ihrer Geschichte geschaffen und anschließend in den Rest der Welt «exportiert» haben, so ähnlich wie ihre Wissenschaft und Technologie, ihre Sprachen und ihre Religionen, ihre Wirtschaft und ihre ganze Lebensweise. Dass auch Carl Schmitt den Staat als konkreten, an eine geschichtliche Epoche gebundenen Begriff aufgefasst hat, spricht nicht gegen die Richtigkeit dieser Sicht der Dinge; es spricht nur für den realistischen Scharfsinn von Carl Schmitt.
Das bedeutet aber, dass «Staat» in erster Linie ein historisches Thema ist, auch wenn noch so viele andere Wissenschaften sich damit befassen mögen. Selbst die juristische «Staatslehre», die als normative Rechtswissenschaft besonderes Gewicht beansprucht, auch wenn ihre einstige Vorherrschaft inzwischen von der Politikwissenschaft untergraben wurde, kommt nicht ohne historische Argumentation aus. Denn man kann den Staat der Gegenwart und seine Probleme nicht ohne gründliche Kenntnis seiner Geschichte und Vorgeschichte verstehen.
Den Staat konsequent als geschichtliche Größe zu betrachten, führt aber zu zwei bedeutsamen Schlussfolgerungen. Erstens ist der moderne Staat europäischen Zuschnitts nicht etwa aus Notwendigkeit entstanden, sondern streng kontingent, quasi zufällig. Allerdings nur quasi zufällig, weil diese Entstehungsgeschichte zwar nicht geradlinig verlief, aber durchaus Richtung und Tendenz aufweist, ganz einfach deswegen, weil eine einmal ausgelöste Entwicklung nicht ohne weiteres hinter den erreichten Stand zurückfallen kann. Zweitens ist der moderne Staat so gesehen an sich weder gut noch böse, sondern ein moralisch zwar nicht neutrales, wohl aber mehrdeutiges Phänomen.
Beides zu betonen, ist vor allem in Deutschland vonnöten, wo immer noch erhebliche Restbestände einer nahezu religiösen «Andacht zum Staate» wirksam sind. Ohnehin wird in keinem Land der Welt soviel vom «Staat» geredet und geschrieben wie in Deutschland. Anderswo gebraucht man lieber «Regierung», «Nation», «Republik» oder schlicht «la France», «Great Britain» «the United States» usf. Nicht zufällig ist auch die Redeweise vom «Vater Staat» eine ausschließlich deutsche Gepflogenheit.
Paradoxerweise war es ausgerechnet die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die theologisch und philosophisch inspiriert, dem Staat ahistorisch-zeitlose ontologische, bisweilen geradezu metaphysische Qualitäten zugeschrieben hat. Nachdem der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel erklärt hatte, der Staat an und für sich sei das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit und damit das Ziel der Weltgeschichte, erklärte der Gründervater der neueren Geschichte Leopold Ranke die Staaten zu «Gedanken Gottes», denn für ihn stand nichts auf Erden der göttlichen Ordnung so nahe wie die Staatsordnung. Geschichte bestand in der Entfaltung und im Konflikt der in den Staaten verkörperten Ideen. Demgemäß war der Staat ebenso wie die Sprache dem Menschen von Anfang an gegeben. Den Staat als Erfindung zu betrachten erinnerte einen anderen Historiker an Sancho Pansas absurde Rede von der Erfindung des Schlafes. Selbst wo heutzutage etwas realistischer immerhin von «Staatsbildung» die Rede ist, schwingt immer noch das sittliche Programm einer Bildung des Menschen zum Staate mit!
Doch wenn der Staat nicht als anthropologische Notwendigkeit von Anfang an vorhanden war, warum und wie ist er dann entstanden? Als indirekte Konsequenz einer sehr viel einfacheren anthropologischen Notwendigkeit, die tatsächlich stets gegeben ist, nämlich dem Zwang, die Machtbeziehungen zwischen den nun einmal von Natur immer ungleichen Menschen in Gruppen aller Art zu regeln.
Macht als die Chance, den eigenen Willen gegen einen anderen durchzusetzen, mag theoretisch nichts als ein wertneutrales Kommunikationsphänomen sein, eine Größe, die durch Zuschreibung entsteht. Für die Praxis hat uns aber nicht erst der desillusionierte Preußen-Historiker Otto Hintze gelehrt, «dass alle Macht [...] in der Regel missbraucht wird». Denn wer Macht hat, neigt dazu, sie weiter zu steigern, und sei es nur, um sich durch überlegene Macht gegen andere Machthaber abzusichern. Hat dieses Streben Erfolg und findet Akzeptanz, dann gerinnt Macht zu Herrschaft, das heißt, sie gebiert eine politische Institution. Damit beginnt der lange Weg zum organisierten Gemeinwesen und unter besonderen Bedingungen auch zum modernen Staat. Denn dieser ist seinem Wesen nach Machtstaat, das heißt die machtvollste Art Gemeinwesen, die Menschen geschaffen haben.
Die Akzeptanz mag darauf zurückzuführen sein, dass Herrschaft den Betroffenen als nützlich erscheint, oder auf ihre Furcht vor der Gewalt der Machthaber. Meistens dürfte beides im Spiel gewesen sein, denn Herrschaft im Allgemeinen und die Gründung von Staaten im Besonderen waren lange Zeit überaus gewalttätig. Machthaber gaben zwar vor, ihre Untertanen vor der Gewalt von Dritten zu schützen, aber dabei handelte es sich oft um Gewalt, die sie selbst durch ihre Rivalität untereinander erzeugt hatten. Denn die Grundlagen der Staaten wurden in Kriegen gelegt.
Unter diesen Umständen ist es angebracht, die Macher von Krieg und Staat als selbstsüchtige und gewalttätige Manager der Macht zu betrachten, die freilich nie im Sinn hatten, einen oder gar den modernen Staat zu gründen. Aber ihre Politik des Machtgewinns lief langfristig aus den genannten Gründen oft genug darauf hinaus. Diese Sicht der Dinge ist erheblich wirklichkeitsnäher als die Versuche, den Staat auf einen fiktiven Gesellschaftsvertrag, auf den Wertekonsens einer Gesellschaft oder auf Angebot und Nachfrage eines freien Machtmarkts zurückzuführen.
Damit soll nicht bestritten werden, dass nackter Machtwille allein selten Erfolg hat, sondern in der Regel der Legitimation durch politische Ideen und das Recht bedarf. Es wird nicht einmal behauptet, dass die Machthaber dergleichen nur zynisch zur Täuschung ihrer Untertanen instrumentalisiert hätten. Im Gegenteil, oft genug haben sie selbst daran geglaubt. Es wird nur festgestellt, dass die Dynamik politischen Wachstums daraus nicht zu erklären ist und ihre Legitimation insofern eine sekundäre Rolle spielt.
Allerdings ist das Werk von Reichsgründern nach deren Tod rasch zusammengebrochen, wenn ein Fortsetzer fehlte. Kontinuität effizienten Machtwillens war die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung moderner Staaten. Der «Königsweg» dazu war im doppelten Sinn des Wortes eine Abfolge tüchtiger Herrscher, eine kompetente Dynastie wie in Preußen 1640–1786. Die Gegenprobe sticht ebenfalls: Dynastische Krisen pflegten Staatskrisen auszulösen.
Doch mit dynastischer Kontinuität allein war es nicht getan. Genau so wichtig waren Machteliten, die aus eigenem Interesse die Selbstbehauptung und das weitere Wachstum der zentralen Herrschaft über das Gemeinwesen auf Dauer zu ihrer Sache machten und gegenüber den Untertanen durchsetzen halfen. Der Wahlmonarchie des Papsttums hat eine derartige Elitenkontinuität sogar zu mehr Stabilität verholfen als manchem Erbkönigtum.
Das Zusammenspiel von Dynastien und Machteliten in Europa auf der politischen Mikroebene scheint im weltweiten Vergleich nichts Besonderes zu sein. Genauer besehen weist es aber bereits Besonderheiten auf wie die Primogeniturerbfolge oder die Rollen von Adel, Klerus und bürgerlichen Juristen. Aus der Perspektive der politischen Makroebene sind diese auf die besondere politische Kultur Europas zurückzuführen, die durch die Verbindung des antiken und des christlichen Erbes mit demjenigen der «jungen» Völker des Nordens und Ostens zustande kam. Die Vermittlerrolle der römischen Kirche kann in diesem Zusammenhang gar nicht überschätzt werden.
Nicht nur, aber auch wegen der elementaren geographischen Vielgliedrigkeit Europas war diese politische Welt auf einer mittleren Ebene (Mesoebene) von vornherein pluralistisch angelegt. Das heißt, das politische Wachstum der zukünftigen Staaten wurde durch die Rivalität konkurrierender «Staatsgründer» vorangetrieben, konkret durch häufige Kriege. Deren steigende Kosten machten aber gesteigerte Ressourcenabschöpfung erforderlich, was wiederum zu weiterer Zunahme der Kontrolle durch die Zentralgewalt führte. Dieser Coercion-Extraction-Cycle (Samuel Finer) ist wohl die wichtigste Triebkraft der Entstehung des modernen Staates. Denn als Machtstaat ist der moderne Staat seinem Ursprung nach Kriegsstaat.
Auf diese Weise entstand zunächst, von oben gesehen, ein Satz von Institutionen mit der Funktion, Entscheidungen zu treffen und das Beschlossene durchzuführen sowie soziale Kontrolle auszuüben, von unten gesehen, ein koordiniertes und territorial begrenztes Netzwerk von Agenten zur Ausübung politischer Macht (Michael Braddick). Gemeinwesen lassen sich nicht einfach auf eine Institution reduzieren wie z.B. ihre Regierung. Sie beruhen auf einem komplexen Gefüge von Institutionen, dessen Funktionieren aber zusätzliche mentale Dispositionen voraussetzt, die wir politische Kultur nennen. Das heißt aber, in seinen Institutionen ist ein Gemeinwesen nicht vollständig zu fassen. Es kann durchaus in Auflösung begriffen sein, während seine Institutionen unverändert weiter bestehen.
Dieser Stand der Dinge, dessen Beschreibung weltweit für die meisten Gemeinwesen der Geschichte zutreffen dürfte, war im lateinischen Europa im Mittelalter erreicht. Damit war der oben genannte spezifische politische Wachstumsprozess aber nicht beendet, im Gegenteil, er nahm an Intensität und Geschwindigkeit weiter zu. Im Ergebnis war bis zum 19. Jahrhundert in verschiedenen nationalen Varianten ein spezifisch europäischer Satz von Institutionen entstanden, den wir moderner Staat nennen. Er war inzwischen selbstreferentiell, d.h. er war in der Lage, sich selbst zu legitimieren, und war zum Zweck seiner selbst geworden. Dieser moderne Staat beansprucht nach Georg Jellinek und Max Weber fünf wesentliche Eigenschaften, die ihn vor allem durch ihre Verbindung grundsätzlich von anderen, vormodernen Gemeinwesen unterscheiden:
1. ein einheitliches Staatsgebiet als ausschließlichen Herrschaftsbereich – vormoderne Gemeinwesen bestanden häufig aus Gebieten mit unterschiedlichem Status und kannten sich überschneidende Herrschaftsansprüche. Daher fehlten ihnen eindeutige lineare Außengrenzen.
2. ein einheitliches Staatsvolk als sesshafter Personenverband mit dauernder Mitgliedschaft – Nomaden können keinen modernen Staat bilden. Außerdem waren vormoderne Gemeinwesen in der Regel nicht nur vertikal, sondern auch horizontal in Schichten und Gruppen gegliedert, die im Verhältnis zur Zentralgewalt einen unterschiedlichen Status besaßen und oft genug in verschiedenen Sprachen redeten.
3. eine einheitliche Staatsgewalt im Besitz der Souveränität – vormoderne Gemeinwesen kannten häufig Herrschaftsträger aus eigenem Recht, die ihre Befugnisse unabhängig von der Zentralgewalt beanspruchten, während im modernen Staat lokale Amtsträger nichts als Beauftragte und Teilhaber einer bei aller Differenzierung im Prinzip einheitlichen Staatsgewalt sind. Das gilt auch für Bundesstaaten.
Das gemeinsame Prinzip der Einheitlichkeit stellt nachweislich den Inbegriff politischer Modernität dar. Der Wille zur Einheit und Einheitlichkeit gilt geradezu als mentale Obsession der westlichen Moderne. Politische Pluralität kennzeichnet demgegenüber nicht nur vormoderne, sondern auch postmoderne politische Verhältnisse, ein Problem, auf das wir noch zurückkommen müssen.
Souveränität der Staatsgewalt will heißen, dass sie innerhalb wie außerhalb ihres Gemeinwesens nichts und niemand über sich anerkennt. Das bedeutet konkret:
4. das Monopol der legitimen Anwendung physischer Gewalt nach innen, die von Justiz und Verwaltung geregelt und von der Polizei ausgeübt wird,
5. das Monopol der legitimen Anwendung physischer Gewalt nach außen, das heißt, das uneingeschränkte Recht, nach Belieben Krieg zu führen, wozu die Streitkräfte der ausschließlichen Kontrolle der Staatsgewalt unterstellt sind.
Unter vormodernen Verhältnissen konnte die Staatsgewalt durch Oberhoheitsansprüche von Papst und Kaiser ebenso eingeschränkt sein wie durch bestimmte Befugnisse von Untertanen. Denn zumindest ein Teil der Untertanen beanspruchte unter besonderen Bedingungen das Recht auf legitime Gewaltanwendung, das gegebenenfalls auch gegen die Zentralgewalt in Anspruch genommen wurde. Die Durchsetzung des allgemeinen Landfriedens brauchte Jahrhunderte. Auf der anderen Seite erlaubten Religion und Sitte in der Theorie Kriegführung nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen, während in der Praxis die werdende Staatsgewalt keineswegs die einzige Krieg führende Partei war.
Seit den Revolutionen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts gewann der moderne europäische Staat noch drei weitere Eigenschaften hinzu, die ihn heute mehr denn je kennzeichnen sollen. Damit war nicht nur institutioneller Wandel, sondern auch ein enormer, fast unbegrenzter Zugewinn an Möglichkeiten zur Ressourcenmobilisierung verbunden:
6. der moderne Staat ist Rechts- und Verfassungsstaat. Der Staat hat zwar auch die Verfügung über das Recht monopolisiert, aber damit zugleich das staatliche Handeln im Regelfall an schriftlich festgelegte, nachprüfbare und einklagbare Vorschriften gebunden. Darüber hinaus werden Aufbau und politisches Leben des Staates durch ein Grundgesetz in ähnlicher Weise geregelt und transparent gemacht. Beides wird heute in engem Zusammenhang mit Demokratie gesehen, aber diese Verbindung ist nicht zwingend. Preußen und andere deutsche Länder waren im 19. Jahrhundert durchaus Rechts- und zum Teil auch Verfassungsstaaten, verdienen aber kaum die Bezeichnung demokratisch.
7. der moderne Staat ist Nationalstaat. Zwar hatten schon mittelalterliche Gemeinwesen wie England oder Frankreich nationalen Charakter angenommen. Aber jetzt wurde das seiner nationalen Identität bewusste Volk auf ganz neue Weise zum Inbegriff von Staatlichkeit, während die Staatsgewalt sich zum Vollstrecker eines einheitlichen nationalen Willens stilisierte. Der moderne Einheits- und Einheitlichkeitswahn hat vor allem auf diesem Gebiet bis heute Schreckliches angerichtet.
8. der moderne Staat ist eine Demokratie, das heißt, in seiner Verfassung bekennt er sich einerseits zur Volkssouveränität, andererseits zu den Grund- und Menschenrechten und konstituiert seine Staatsgewalt durch allgemeine und gleiche, freie und geheime Wahlen als parlamentarisches Regime. Auch quasi-monarchische Präsidialsysteme wie Frankreich und die USA haben zumindest eine sehr starke parlamentarische Komponente.
Von den 191 Gemeinwesen, die das Völkerrecht 1999 anerkannte, waren 190 formal moderne demokratische National- und Verfassungsstaaten. Dass die Wirklichkeit oft ganz anders aussieht, steht auf einem anderen Blatt.
Auch wenn es bei dieser heutigen Lage der Dinge sinnvoll erscheint, den Staatsbegriff für den modernen Staat zu reservieren und unsere Untersuchung auf ihn und seine Entstehung zu konzentrieren, so ist es dennoch notwendig, wenigstens einen Blick auf andere Typen von Gemeinwesen zu werfen. Denn erstens geht der Aufstieg des modernen Staates von ihnen aus, so dass wir sie kennen müssen, um ihm gerecht zu werden. Zweitens verkörpern sie mögliche Alternativen der Organisation von Macht und Herrschaft, die zwar dem modernen Staat zum Opfer gefallen sind, aber in seiner Geschichte hochbedeutsame Spuren hinterlassen haben und möglicherweise heute im Zeichen des Niedergangs des modernen Staates neue Aktualität gewinnen.
Unter dem Oberbegriff Gemeinwesen, der wie das lateinische Res publica in allgemeinster Verwendung nicht mehr bezeichnen soll als jede Art organisierter Herrschaft ohne Rücksicht auf die Art dieser Organisation, unterscheide ich neben dem werdenden und vollendeten modernen Staat grob vereinfacht zwei Haupttypen, nämlich Reiche und Republiken. Das ist die klassische Unterscheidung der Vormoderne. Machiavelli schreibt von Fürstenherrschaften und Republiken, aber auch schon Homer von Monokratie und Polykratie.
Primordiale Gruppen von höchstens einigen hundert Menschen, vermutlich die ursprüngliche politische Organisationsform der Menschheit, akephale Gemeinschaften ohne ausdrückliche Herrschaftsorganisation, Häuptlingschaften und Verbände von solchen sind allerdings ebenfalls von Bedeutung. Denn die beiden Grundmuster lokaler Herrschaftsorganisation im vormodernen Europa, adelige Herrschaft und Kommune, lassen sich unschwer als Varianten solcher Formen verstehen. Außerdem gibt es gleitende Übergänge von solchen einfachen Gemeinwesen zu komplexeren Reichen und Republiken.
Stadtfürstentümer wie im antiken Vorderasien, in Griechenland und Etrurien, konnten ebenso den Kern eines Reiches bilden wie Stammesfürstentümer von der Art der spätantiken Völkerwanderungszeit.
Größere Reiche der Geschichte wurden auf der Grundlage einer Landwirtschaft errichtet, die hinreichend Überschüsse produzierte, um Personal zu unterhalten, das nicht in dieser Produktion tätig war. Diese Überschüsse konnten als Fronarbeit der Bauern, als Tribute in Lebensmitteln und anderen Gütern, etwa Textilien, und als Steuerleistungen in Geld abgeschöpft werden.
Die Nutznießer waren meistens in Städten konzentriert, das heißt in großen Siedlungen mit einer gemischten Bevölkerung, die nicht mehr im wörtlichen Sinne dem Broterwerb nachging. In erster Linie handelte es sich um den Herrscher, dessen Familie, Diener, Amtsträger und Soldaten sowie die Priesterschaft. Bisweilen waren Herrscher und Oberpriester identisch. Dazu kamen spezialisierte Handwerker, nicht zuletzt auch für Luxusartikel, und Kaufleute für die Befriedigung der Bedürfnisse der Elite und der übrigen Stadtbewohner. Die Herrschaftsfunktion der Städte kam in ihrer baulichen Gestalt zum Ausdruck, in eindrucksvollen Palästen und Kultstätten, in Vorratshäusern und Märkten. Außerdem waren sie befestigt zur Sicherung der Herrschaft gegen äußere oder innere Bedrohung.
Die Tätigkeit von Handwerkern und Kaufleuten führte dazu, dass sich neben dem herrschaftlichen Redistributionssystem eine Art von Marktwirtschaft entwickelte, die den Beteiligten mehr Vorteile versprach und infolgedessen zunächst eine Schwächung der politischen Kontrolle über die Wirtschaft zur Folge hatte. Längerfristig war die Entwicklung einer Markt- und Geldwirtschaft aber durchaus geeignet, zum Wachstum zukünftiger Staatsgewalten beizutragen. Erstens ließ sich der Handel ebenso leicht besteuern wie die landwirtschaftliche Produktion. Zweitens wurden auf diese Weise private Geldvermögen angehäuft, die von kurzsichtigen Herrschern enteignet, von weitsichtigen als Kredit für ihren überaus kostspieligen politischen Aufstieg herangezogen wurden, vor allem zur Finanzierung von Kriegen. Insofern bestand in Europa ein zwingender Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Frühformen des Kapitalismus und dem Aufstieg des modernen Staates.
Das heißt aber, die einfache Dichotomie eines Redistributionssystems aus Tributleistenden und Tributempfängern trifft in den wenigsten Fällen zu, sondern die Reichsbevölkerung erweist sich als kompliziert differenziert. Soziale und politische Ungleichheit und Uneinheitlichkeit ist geradezu ihr Wesensmerkmal. Auf der einen Seite getrennte und intern verschieden geschichtete dynastische, administrative, militärische und religiöse Eliten, auf der anderen getrennte Bevölkerungsgruppen mit Zuständigkeit für Gütererzeugung, Güterverarbeitung und Güterverteilung, die in sich ebenfalls geschichtet und gegliedert waren, auf elementarste Weise in Freie und Unfreie, in jedem Fall aber in Männer und Frauen.
Vermutlich hat Reichsbildung auf die Dauer aus zwei Gründen zu einer relativen Verschlechterung der Stellung der Frauen geführt. Erstens beruhte Reichsbildung weitgehend auf Kriegführung, Kriegführung aber war traditionell Männersache. Zweitens reduzierte übergeordnete Herrschaft die bis dahin ausschlaggebende Bedeutung der Familien und Familienverbände, an denen die Frauen einen stärkeren Rückhalt gehabt hatten.
In diesem Kontext ist von Interesse, welche Rolle männliche bzw. weibliche Gottheiten sowie Priester bzw. Priesterinnen im Reichskult spielten. Denn zu Reichen gehörte in der Regel ein Reichskult mit Gottheiten, von deren Wohlwollen Herrscher und Reich abhängig waren. Das Vorhandensein eines solchen Reichskults übermenschlicher Wesen ist sogar ein wesentliches Merkmal zur Unterscheidung hoch entwickelter Reiche wie des chinesischen vom modernen Staat, der im Zuge seines Aufstiegs immer säkularer wurde und sich von jenseitigen Instanzen unabhängig machte.
Priester und Administratoren waren in erster Linie zuständig für ein wichtiges Herrschaftsinstrument ausgedehnter Reiche, nämlich die Schrift, die in ihren verschiedenen Formen zur Buchführung ebenso wie für religiöse und politische Zwecke genutzt wurde. Auch das Inka-Reich, das keine Schrift kannte, musste wenigstens ein Instrument zum Festhalten von Quantitäten entwickeln.
Denn ein elementares Problem größerer Reiche war die Kontrolle des Raumes unter vormodernen Kommunikations- und Verkehrsbedingungen. Dazu kommt, dass die Kontrolle der Zentrale meist nicht sehr intensiv war. Denn sie konnte sich zahlreiche lokale Administratoren nicht leisten und setzte stattdessen auf Zusammenarbeit mit örtlicher Selbstverwaltung. Wenn diese Zusammenarbeit verweigert wurde, blieb keine Wahl, als Militär einzusetzen.
Unter solchen Umständen kam es in der Regel nicht zu einer Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung, wie sie den modernen Staat kennzeichnet. Vormoderne Reiche waren fast immer «zusammengesetzte» Gebilde aus Ländern von unterschiedlichem Status, die auf unterschiedliche Weise zu einem Ganzen verklammert waren. Ethnische und sprachliche Unterschiede wurden hingenommen, solange Ruhe herrschte und die Steuern eingingen. Das war allerdings durchaus mit der Hegemonie einer Region, Ethnie und Sprache im Gesamtverband vereinbar. England spielte diese Rolle in Großbritannien, die Ile de France in Frankreich, Kastilien in Spanien. In Gestalt von Österreich-Ungarn hat ein solches zusammengesetztes Reich bis 1918 überlebt.