Über das Buch

»Ich möchte die vielfältige Welt der Bisexualität aus dem Schatten holen.« — Julia Shaw eröffnet neue Wege, über die eigene sexuelle Identität nachzudenken und sie zu finden.

Viele Menschen fühlen sich zu mehr als einem Geschlecht hingezogen. Und trotzdem bekennt sich kaum jemand dazu. Julia Shaw widmet sich in ihrem neuen Buch der größten sexuellen Minderheit — bisexuellen Menschen. Sie macht Bisexualität in Geschichte, Kultur und Wissenschaft sichtbar und zeigt anhand ihrer eigenen Identitätssuche, warum Bisexualität nach wie vor gesellschaftlich im Schatten steht. Dabei geht sie von Fragen aus, die sie selbst bewegen: Woher kommt unser Verständnis von Bisexualität? Warum ist es nach wie vor so schwer, sich zu outen? Julia Shaw beantwortet die Frage, wie sexuelle Identität entsteht, neu. Und sie zeigt, warum vielfältige Liebe endlich mehr Raum erhalten muss.

Julia Shaw

Bi

Vielfältige Liebe entdecken

Aus dem Englischen von Sabine Reinhardus

Hanser

Sexuelle Freiheit ist etwas Wunderbares und Fragiles.

Einführung

Ich will mehr

Ich bin bisexuell und spüre schon seit Längerem, dass ich mehr will. Es war mir ein echtes Bedürfnis, mich, gestützt auf ein solides geschichtliches und wissenschaftliches Fundament, auf die Suche nach der Repräsentation von Bisexualität in Politik und Popkultur zu machen und ganz allgemein die Frage zu beantworten: Wo sind eigentlich all die bisexuellen Menschen?

Als ich mit der Suche begann, stieß ich zunächst auf eine derart beklemmende Leere, dass ich mich fragte, ob mein Wunsch, mehr herauszufinden, nicht einfach nur Zeitverschwendung war. Doch als ich allmählich vertrauter mit der Sprache der Queer-Forschung wurde, erschloss sich mir auch die Welt der bisexuellen Forschung. Mir wurde klar, welche großartige Forschungsarbeit bereits auf diesem Feld geleistet wurde — die der Öffentlichkeit bisher leider größtenteils unbekannt geblieben ist. Das möchte ich mit diesem Buch ändern und die kunterbunte Welt der bisexuellen Wissenschaft aus dem Schatten treten lassen.

Ich möchte außerdem dazu beitragen, dass Bi-Identitäten und Bi-Lebensläufe in Zukunft nicht mehr als pervers angesehen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir nicht nur lernen, Bisexualität besser zu verstehen, sondern auch Heterosexualität zu hinterfragen. Bisexualität ist nicht mysteriös, nicht bedrohlich, nicht performativ … und auch nicht cool, woke oder transzendental. Sie ist ein völlig normaler Teil der menschlichen Sexualität. Auch jetzt noch, im 21. Jahrhundert, gehen wir generell davon aus, dass jemand heterosexuell ist — jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils. Dieser Tunnelblick, der Heterosexualität als Sonne unseres sexuellen Universums zentriert, blendet zugleich die Erforschung anderer Sexualitäten aus. Ich glaube zwar nicht, dass jeder bi ist, wie es oft halb im Scherz behauptet wird, aber meiner Meinung nach ist es längst überfällig, dass wir unsere Sicht auf die Welt queeren, indem wir unsere Annahmen über Sex und Sexualität infrage stellen.

Einige werden jetzt sagen, dass wir diesen Punkt schon längst erreicht haben und aus dem sexuellen Tiefschlaf erwacht sind. So lehnte ein Verleger das Exposé zu diesem Buch mit der Begründung ab: »Diese Diskussion haben wir doch schon geführt.« Mit wir war hier das ganze Land gemeint. Ich kann nur schwer beschreiben, welche Wut das in mir ausgelöst hat. Und ich war nicht etwa deswegen so aufgebracht, weil dieser Verlag überhaupt noch nie ein Buch über Bisexualität herausgebracht hat. Nein, es war vielmehr die Erkenntnis, dass viele Menschen dieser Behauptung zustimmen würden; Menschen, die der Ansicht sind, dass ausreichend viel über das Thema gesprochen wurde, weil mehr Rechte und Schutz für diese Gruppe erstritten wurden oder weil in den sozialen Medien mehr positive LGBT+-Posts stehen oder weil sie zum ersten Mal jemand kennengelernt haben, der offen bi ist. Aber wie könnten Gespräche über Identität, Liebe und Sex jemals abgeschlossen sein? Diese Themen beschäftigen uns doch schließlich ständig.

Wir müssen außerdem damit aufhören, Bisexualität zu dramatisieren, denn es gibt kein Drama. Generell wird missverstanden oder absichtlich falsch konstruiert, dass Bisexuelle dazu beitragen, eine strikte Gender-Binarität zu verstärken. Das trifft weder historisch zu noch stimmt es heute. Die meisten bisexuellen Aktivisten definieren Bisexualität als die Anziehung zu mehr als einem Geschlecht. Diese Definition schließt übrigens transsexuelle und nicht-binäre Menschen ein.

Ich verwende in diesem Buch durchgängig den Begriff bisexuell, nicht etwa, weil ich finde, dass jeder ihn benutzen sollte, sondern weil er die umfassendste Bedeutung und die längste Geschichte hat und insgesamt am bekanntesten ist. Ich hoffe, dass ich auf diesen Seiten unsere gesamte sexuelle Familie vereinen kann, unabhängig von persönlichen Vorlieben, was Begrifflichkeiten angeht, ob es nun bisexuell, plurisexuell, pansexuell, omnisexuell, polysexuell, fluide, ohne Label oder irgendeine andere Bezeichnung sein mag.

In den meisten Themen, die das Buch anschneidet, geht es nicht ausschließlich um Bisexualität, sondern um die grundlegenden Konstrukte menschlicher Sexualität, um Liebe und Beziehungen. Wer Sie auch sein mögen, ich hoffe, dieses Buch kann dazu beitragen, Ihre Gedanken zu diesem Thema zu bereichern und zu erweitern.

Im Rahmen meines Bestrebens, Bisexualität besser zu verstehen, kam ich auf verschiedene Weise mit der akademischen bisexuellen Community in Kontakt. Ich gründete eine bisexuelle Forschungsgruppe, die sich regelmäßig traf, leitete eine internationale Bisexualitäts-Forschungskonferenz mit über 485 Teilnehmer*innen und 70 Forscher*innen, die ihre Arbeit vorstellten, und absolvierte den Masterstudiengang in Queer History. Obwohl ich bereits in Psychologie promoviert hatte, war ich, um dorthin zu kommen, wo ich hinwollte, auf die Hilfe von Wissenschaftler*innen und Dozent*innen angewiesen, die mich auf diesem Weg begleitet und mich mit großer Geduld und Umsicht an die Informationen in diesem Buch herangeführt haben. Inzwischen weiß ich, dass das Thema Bisexualität sehr viel mehr Forschung, Geschichte und wissenschaftliche Arbeiten hervorgebracht hat, als sich je in einem einzigen Buch unterbringen lässt. Obwohl dieses Buch also, unweigerlich, unvollständig ist, hoffe ich, dass es den unglaublichen Forscher*innen und Aktivist*innen, die ihr Leben dem Verständnis und Schutz Bisexueller widmen, gerecht wird.

Ich gehe in diesem Buch der Frage nach, wie Bisexualität definiert und erforscht wurde, decke die überraschend lange und wichtige Geschichte der Bisexualität auf und erfahre vieles über einige berühmte Bi-Aktivist*innen und Gelehrte, die jeder kennen sollte. Ich begebe mich, bildlich gesprochen, auf eine Safari und werfe einen Blick auf verhaltensmäßig bisexuelle Tiere und versuche herauszufinden, ob es ein Bi-Gen gibt. Ich untersuche, warum es nach wie vor immer noch vielerorts als irgendwie unangemessen empfunden wird, über Bisexualität zu sprechen — auch am Arbeitsplatz —, und welche psychischen und physischen Folgen es haben kann, wenn man seine Bisexualität verbirgt. Ich lerne die verheerende Realität der Kriminalisierung und Menschenrechtsverletzungen kennen, mit der so viele Menschen auf der ganzen Welt konfrontiert sind, und mache mir Gedanken darüber, wie wir unsere Wut nutzen können, um eine bisexuelle Revolution anzustoßen. Im Anschluss versuche ich herauszufinden, wie eine bisexuelle Person typischerweise aussieht (und ob das überhaupt ein Thema ist), ob es Bi-Sichtbarkeit auf dem Bildschirm gibt, und unternehme eine Erkundungstour durch die bunte Welt der bisexuellen Communitys. Im letzten Kapitel stürze ich mich in eines der erotischsten Themen des Buches, die Dreiecksbeziehung, und nehme die Forschung zu dem ebenso amüsanten wie heiklen Thema der einvernehmlichen Nicht-Monogamie in den Blick.

Aus welchem Grund auch immer Sie zu diesem Buch gegriffen haben mögen, das ganz eindeutig und unmissverständlich bi ist: Ich hoffe, Sie sind, genau wie ich, hier gelandet, weil Sie mehr wollen — mehr Wissen über die Geschichte, Kultur und Wissenschaft der Bisexualität.