Die lange Jagd nach dem
meistgesuchten NS-Verbrecher
Aus dem Englischen
von Rita Seuß
C.H.Beck
Man nannte ihn „Doktor Tod“ und „Schlächter von Mauthausen“. SS-Arzt Dr. Aribert Heim war über Jahrzehnte der meistgesuchte NS-Verbrecher. 2009 gelang es den Journalisten Nicholas Kulish und Souad Mekhennet, seine Hinterlassenschaft in Kairo aufzuspüren. In ihrem meisterhaft geschriebenen Buch verweben sie die Geschichte von Leben und Flucht Heims mit dem Bericht über die lange, fieberhafte Jagd nach ihm zu einem zeithistorischen Krimi.
Aribert Heim war nur wenige Monate in einem Konzentrationslager stationiert, aber in dieser Zeit wurde er für seine unvorstellbar grausamen „Behandlungen“ von Gefangenen berüchtigt. Nach dem Krieg führte er – trotz Fahndung – zunächst ein bürgerliches Leben als Gynäkologe und Familienvater. Kurz vor seiner Verhaftung tauchte er 1962 in Kairo unter, baute sich unter arabischem Namen, als Muslim und geliebter „Onkel“ einer Kairoer Familie, eine neue Existenz auf und verstarb dort 1992. Unterdessen lief die weltweite Suche nach der Nummer eins auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Centers auf Hochtouren. Die Entdeckung Heims in Kairo und die Rekonstruktion seines Lebens und seiner Flucht sind ein detektivisches und journalistisches Meisterstück, das über den Einzelfall hinaus erhellt, wie die Fluchtwege der NS-Verbrecher funktionierten und warum die intensive Fahndung so spät in Gang kam.
„Unglaublich: Eine junge, arabischstämmige Journalistin findet den jahrzehntelang gesuchten NS-Verbrecher: Nick Kulish und Souad Mekhennet zeigen, was der Mut und das Engagement Einzelner bewirken können. Ein faszinierendes, ein wichtiges Buch.“ Iris Berben
„Souad Mekhennet ist eine kluge und beharrliche Rechercheurin, ihr und Nicholas Kulish geht es allein um Wahrhaftigkeit. Erst, wenn jeder Stein gehoben, jedes Blatt umgedreht ist, beginnen sie zu erzählen – fesselnd und überzeugend.“ Claus Kleber
„Brillant erzählt … Mit großer Originalität werden die zahllosen Puzzleteilchen der jahrzehntelangen Jagd nach Heim – mit vielen falschen Fährten, die die Nazi-Jäger in ferne Weltgegenden führten – zu einem markanten und facettenreichen Bild der psychologischen und politischen Wirklichkeit des Dritten Reichs und seiner langen und komplizierten Nachgeschichte zusammengefügt.“ Dagmar Herzog, The New York Times
„Eine faszinierende Lektüre. Dieser Polizeikrimi aus einer Zeit, in der es noch keine Computer und Datenbanken gab, erzählt von der Arbeit der Ermittler, die die schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte jagten.“ Seattle Post-Intelligencer
Souad Mekhennet, Journalistin und Politikwissenschaftlerin, arbeitet für die Washington Post und das ZDF und ist Fellow an der School of Advanced International Studies (SAIS) in Washington DC. Sie hat für große amerikanische und deutsche Zeitungen geschrieben und ist Mitautorin von Die Kinder des Dschihad (2008) und Islam (2008). 2012 wurde sie gemeinsam mit Elmar Theveßen für die Dokumentation 9/11 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Das World Economic Forum ernannte sie zum „Young Global Leader 2014“.
Nicholas Kulish, Journalist und Schriftsteller, ist Korrespondent der Times in New York, berichtete 2013 und 2014 aus Ostafrika und leitete von 2007 bis 2013 das Berliner Büro der New York Times. 2007 erschien sein satirischer Roman Last One In über die von ihm als Reporter beobachtete amerikanische Irak-Invasion 2003.
Prolog
Kapitel 1–57
Abbildungen
Epilog
Dank
Dramatis personae
Die Schauplätze
Anmerkungen
Bildnachweis
Quellen und Literatur
Personenregister
Nach zwei Tagen ständigen Auseinander- und Zusammenfaltens ist das Schwarzweißfoto kreuz und quer von Linien durchzogen. Seine Ränder sind grau von den schwitzenden Händen der Ladenbesitzer, die es sich angeschaut haben. Dutzende Menschen haben das Foto in die Hand genommen und sich vor die Augen gehalten, um das Gesicht des Mannes genauer zu betrachten: ein Europäer in mittleren Jahren, der mit dem Anflug eines Lächelns in die Kamera blickt. Bisher hat das Foto vor allem Verwunderung hervorgerufen und die immer gleiche Frage. «Warum?», sagen sie und deuten auf die Vergrößerung des alten Passfotos: «Warum suchen Sie ihn?»
Niemand auf Kairos Straßen hat ihn bisher erkannt, doch die Ägypter wissen eine gute Story ebenso zu schätzen wie einen guten Witz. Seit langem exportieren sie ihre Soap Operas in den gesamten Nahen Osten und weit darüber hinaus, denn sie haben ein Gespür für spannende Abenteuer-, Liebes- und Kriminalgeschichten. Vielleicht geht es um die Suche nach einem verschollenen Vater, so vermuten sie, wahrscheinlich aber eher nach jemandem, der seine Schulden nicht beglichen hat, oder sogar um einen Gesetzesverstoß. Wir sind im Jahr 2008, und in Kairo stehen fast an jeder Straßenecke Sicherheitsbeamte in Zivil.
Zusammen mit dem Foto kam der Tipp, nach einem Hotel im Stadtteil al-Azhar zu suchen, aber ein Dutzend Manager und Angestellte kleiner Hotels geben alle dieselbe Antwort: «Wir kennen den Mann nicht.» Endlich weiß einer doch etwas. Er fragt ein paarmal nach und sagt dann: «Es gab hier mal ein Hotel, in dem bisweilen auch Ausländer wohnten. Es liegt in der Port-Said-Straße, nahe der Überführung.»
Das Viertel ist nach der al-Azhar-Moschee aus dem 10. Jahrhundert benannt, einem der bedeutendsten Zentren islamischer Gelehrsamkeit weltweit. Mit ihren fünf Minaretten mag die Moschee ein Abglanz himmlischer Herrlichkeit sein, doch in der Port-Said-Straße liegt ein ätzender Geruch nach verbranntem Müll in der Luft, und es stinkt nach Fleisch, das schon zu lange vor einem Metzgerladen in der Sonne hängt. Der achtstöckige Häuserblock aus Beton, nach dem Krieg erbaut, ist schmutzig gelb bis auf die grünen und blauen Farbtupfer der Fensterläden, die jedoch den trostlosen Gesamteindruck nicht schmälern können. Das Hotel Kasr el-Madina ist nicht mehr in Betrieb, wirbt aber immer noch mit großen Lettern. Ein Arm des K von «Kasr» ist abgebrochen, ebenso die Hälfte des H von «Hotel».
In der dunklen ehemaligen Lobby sind zwei Männer ins Gespräch vertieft, doch sie halten inne, um die Frage der Fremden zu beantworten. Einer von ihnen, Abu Ahmad, sagt, er kenne die Hotelbesitzer. «Ich lebe schon seit vielen Jahren hier und habe gelegentlich im Hotel ausgeholfen», erzählt er. Er nimmt das Schwarzweißfoto in die Hand. «Ich kenne diesen Mann», sagt er. Seine Augen füllen sich mit Tränen. «Das ist der Ausländer, der hier oben gewohnt hat. Das ist Herr Tarek», sagt er, «Tarek Hussein Farid.»
Abu Ahmad erzählt bereitwillig alles, was er von dem Ausländer weiß, versichert aber, Mahmoud Doma, der Sohn des ehemaligen Hotelbesitzers, wisse noch viel mehr. Nach ein paar Anrufen hat er schnell Domas Nummer. «Hallo?», meldet sich eine tiefe Stimme am Telefon. «Ja, ich bin Mahmoud. Worum geht es?» Als er den Namen Tarek Hussein Farid hört, sagt er «Amu», arabisch für Onkel.
Ein paar Tage später in einem Geschäft für Damenbekleidung. Draußen donnert der Kairoer Verkehr vorbei. Mahmoud Domas Bruder öffnet eine alte Aktentasche aus Leder. Sie ist völlig verstaubt, die Schnallen fast komplett verrostet. Die Tasche ist prall gefüllt mit Papieren, amtlichen Dokumenten, aber auch Zeitungsausschnitten, die ein eifriger Leser gesammelt hat. Auch Briefe in deutscher, englischer und französischer Sprache sind darunter, geschrieben in blauer Tinte auf inzwischen vergilbtem Papier, Anträge auf Aufenthaltserlaubnis in Ägypten sowie Überweisungsbelege der ägyptischen Nationalbank. Und die Abschrift eines letzten Willens und eines Testaments, in dem das Vermögen zwischen zwei Söhnen aufgeteilt wird.
Viele Zeitungsausschnitte handeln von Hitler und dem Nationalsozialismus, nicht wenige von Israel. Ganz unten in der Aktentasche liegen mehrere Kopien eines Fotos mit Reihen weißer Kreuze außerhalb eines Konzentrationslagers. Auf handgeschriebenen Seiten werden Vorwürfe der brutalsten Verbrechen, die in dem Lager begangen wurden, dargelegt und vehement bestritten: Exekutionen, Vivisektionen, Enthauptungen. Einige Namen tauchen immer wieder auf: Kaufmann, Sommer, Lotter, Kohl und Simon Wiesenthal, der sich in den 1960er Jahren als Verfolger von NS-Kriegsverbrechern einen Namen machte.
Die meisten Briefe tragen die Unterschrift von Ferdinand Heim oder Aribert Ferdinand Heim, der im Unterschied zu Tarek Hussein Farid vielen Menschen weltweit ein Begriff ist. Aribert Heim ist nicht einfach nur der Name eines Islamkonvertiten, der in einem billigen Hotel zurückgezogen lebt, mit Kindern spielt, Bücher liest und lange Spaziergänge durch die Stadt unternimmt. Heim war Mediziner in Hitlers Waffen-SS und KZ-Arzt. Ein mutmaßlicher Mörder. Er ist ein Phantom und wird seit 1946 als Kriegsverbrecher gesucht.
Bei Kriegsende hatten die Ermittler kaum eine Ahnung, wer Aribert Heim war. Er galt bestenfalls als ein kleiner Fisch, im Unterschied zu Adolf Eichmann, einem der Architekten des Holocaust, oder Josef Mengele, dem berüchtigten Arzt, der die mörderische Pseudowissenschaft der Nazis praktizierte. Heim galt als einer von Zehntausenden, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern unter Aufsicht der SS arbeiteten. Doch im Lauf der Jahrzehnte, als diese Männer gehängt wurden, Reue zeigten oder unentdeckt starben, gewann Heim immer schärfere Konturen, bis er schließlich zum international meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher wurde.
Heim war als Spitzensportler Mitglied der österreichischen Eishockey-Nationalmannschaft gewesen. Er zählte zu den zahllosen SS-Ärzten, die die Wissenschaft des Heilens zu einer Wissenschaft des Todes pervertierten. Auf einem der beiden Fotos, die die Ermittler von ihm besaßen, trägt der gutaussehende Heim einen Smoking. Sein letzter bekannter Wohnsitz war die glamouröse Spielcasino-Stadt Baden-Baden, wo er eine herrschaftliche weiße Villa bewohnte. Die Ermittler fanden heraus, dass er auf einem Bankkonto in Berlin ein Millionenvermögen hatte.
2007 behauptete Danny Baz, ein ehemaliger Oberst der israelischen Armee, er habe als Mitglied einer geheimen Zelle von Nazi-Jägern mit dem Namen Owl («Eule») den untergetauchten Aribert Heim aufgespürt, Kopf einer geheimen und mächtigen Organisation ehemaliger SS-Offiziere. Nach einer Schießerei im Norden des US-Bundesstaates New York, so Baz weiter, habe er eine wasserdichte Aktentasche mit Schusswaffen, Geldscheinen, Diamanten und gefälschten Pässen sichergestellt. «In der Tasche befand sich eine glänzende Luger mit einem Knauf aus Elfenbein, in der Mitte, mit Gold- und Silberintarsien, ein Hakenkreuz eingraviert und darunter der Name des Besitzers der Pistole: Aribert Heim.»[1]
Diese Geschichte einer Nazi-Jagd wurde schließlich als Lüge entlarvt. Doch auch sie trug dazu bei, dass Heim zum Prototyp des NS-Verbrechers und die Fahndung nach ihm zu einer Frage des Prinzips wurde, zur moralischen Verpflichtung sechs Millionen Opfern gegenüber. Ihm galt der empörte Ruf: «Sie laufen immer noch frei herum!» Deutschlands Umgang mit seiner blutigen Vergangenheit wird oft als beispielhaft herausgehoben. Die Bereitschaft der Deutschen, Verantwortung für begangenes Unrecht zu übernehmen, Entschädigungen zu zahlen und Kriegsverbrecher bis in die Gegenwart strafrechtlich zu verfolgen, wurde anderen Staaten wie Japan, der Türkei und Ruanda als Modell vorgehalten. Die Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern war eine der Grundlagen für das bis heute andauernde Experiment des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.
Doch der Weg Deutschlands verlief weder geradlinig noch konsequent. In den Jahren nach dem Krieg überließ man die Suche nach Kriegsverbrechern den alliierten Besatzungsmächten, denen die deutsche Öffentlichkeit eine willkürliche, auf Vergeltung zielende Siegerjustiz vorwarf. Später, im Zuge der wachsenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, verloren die Alliierten ihr ursprüngliches Interesse an der Bestrafung der Deutschen. Stärker auf den kommenden Krieg konzentriert als auf den vergangenen, rekrutierten die Amerikaner ehemalige Nazis als Spione gegen die Sowjets.
Wenn die Amerikaner bereit waren, die Vergangenheit ad acta zu legen, so war das den Deutschen nur recht. In der Phase des raschen Wiederaufbaus in den 1950er Jahren, der Zeit des «Wirtschaftswunders», wollten die meisten einfach nur vergessen, was unter dem NS-Regime geschehen war. Die Bürde der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes lastete auf den Schultern von wenigen Männern und Frauen: Polizeibeamten, Staatsanwälten und Politikern, die sich durch ihr Gewissen den Opfern verpflichtet fühlten. Jahrelang ernteten sie für ihr Streben nach Gerechtigkeit keine Anerkennung, sondern nur Beschimpfungen. Sie wurden als Verräter diffamiert. Strafprozesse wurden ignoriert, verschleppt, ja von ehemaligen Nazis sabotiert, die hohe Positionen in Polizei und Justiz und bis hinauf ins Bonner Kanzleramt innehatten.
Noch Jahrzehnte später, als sich das Klima in Deutschland wandelte und man die Verbrechen des Holocaust eingestand und bereute, wurde die Verantwortung oft auf eine diffuse Kollektivschuld abgewälzt, statt die Täter individuell zur Rechenschaft zu ziehen. Nazideutschland habe zwar abscheuliche Verbrechen begangen, so die landläufige Meinung, aber Väter, Söhne, Brüder und Freunde hätten nur Befehle ausgeführt. So viele Mörder gingen straflos aus, dass jede Strafverfolgung als willkürlich erscheinen konnte, vor allem wenn sie sich erst Jahrzehnte nach dem Krieg gegen scheinbar vorbildliche Staatsbürger richtete. Gängigen Vorstellungen zufolge finanzierten Gruppen ehemaliger Nazis wie die berüchtigte SS-Organisation Odessa ihren Waffenbrüdern die Flucht. Aber nicht Geheimorganisationen, sondern die Unterstützung durch Familie und Freunde ermöglichte es Leuten wie Heim, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen.
Zu den Schriftstücken, die in der Aktentasche gefunden wurden, zählten auch Briefe in akkurater Kinderschrift. Es gibt Zeichnungen von Panzern und Soldaten, die Übersendung von Bussis und das Versprechen, in der Schule gute Noten zu schreiben. In einem auf Millimeterpapier geschriebenen Brief berichtet ein Junge namens Rü von seinem jüngsten Fahrradunfall. Das schmutzige Blatt Papier wurde noch viel öfter gefaltet als die Kopie des Fotos, das den Vater des Kindes zeigt und das zur Entdeckung der Aktentasche geführt hatte. Er sei, so Rü, mit einem Freund unterwegs gewesen, als die Fahrräder zusammenstießen, so dass er stürzte und sich eine blutende Platzwunde zuzog. «Die Narben sind jetzt schon wieder ganz gut geheilt. Bei diesen Zwischenfällen merkt man doch, dass Du uns sehr fehlst», schreibt er dem Vater. «Wir denken alle täglich an Dich und hoffen, dass wir Dich bald wiedersehen werden und dann endlich Ruhe haben werden», heißt es weiter. «Also wollen wir nicht verzweifeln, sondern noch ein bisschen warten.»
Sie nannten es die Stunde Null. Sechs Jahre Krieg endeten mit Brandbombenangriffen, Granatenbeschuss und Panzern, die durch das Land rollten. Ganze Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. Tod und Zerstörung, die Nazideutschland über den Rest Europas gebracht hatte, kamen jetzt als Vergeltung heim ins Reich. Die Alliierten hatten den Krieg zwar gewonnen, aber der Kontinent versank fast komplett im Chaos. Europa war voller Menschen, die verzweifelt umherirrten. Endlose Karawanen von Flüchtlingen zogen in alle Richtungen: Zwangsarbeiter, die nach Polen zurückkehrten; französische und britische Kriegsgefangene auf dem Weg in ihre Heimat; fast zwölf Millionen «Volksdeutsche», die aus Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und anderen Ländern vertrieben worden waren und Zuflucht in Deutschland und Österreich suchten.[1]
Das weitaus erschreckendste Bild boten die Überlebenden der Konzentrationslager, die wie wandelnde Skelette aus ihrer Gefangenschaft auftauchten. Bald erkannte die Welt, dass die im Namen von Nazideutschland begangenen Verbrechen sehr viel mehr waren als nur Verstöße gegen das Kriegsrecht.
Das Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte SHAEF (Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force) erstellte eine umfangreiche Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher, das Central Registry of War Crimes and Security Suspects (CROWCASS).[2] Die erste Version dieser Liste enthielt 70.000 Namen, doch Schätzungen zufolge waren 160.000 Personen an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen.[3] In den chaotischen Monaten nach der deutschen Kapitulation standen die Alliierten jedoch vor dem Problem, wie sie selbst diese 70.000 Täter finden und bestrafen sollten. Allein die Amerikaner hatten es mit rund 7,7 Millionen deutschen Militärangehörigen zu tun: ganz normale Wehrmachtssoldaten; Mitglieder der Sturmabteilung (SA), des paramilitärischen Flügels der NSDAP, der bei Hitlers Aufstieg zur Macht eine Schlüsselrolle gespielt hatte; hohe Regierungsfunktionäre, die mörderische Strategien umgesetzt hatten; und Angehörige von Hitlers gefürchteter Schutzstaffel, der SS. Es erwies sich als schwierig, die einen von den anderen zu unterscheiden.[4]
Einen Hinweis auf die Zugehörigkeit gab die Blutgruppentätowierung auf der Innenseite des linken Oberarms, die für alle SS-Angehörigen verpflichtend war.[5] Gefangengenommene Soldaten wurden in Reih und Glied aufgestellt und auf diese Tätowierung hin untersucht. Zwei der berüchtigtsten NS-Kriegsverbrecher, Adolf Eichmann und Josef Mengele, blieben jedoch unentdeckt. In der Wehrmacht hatten siebzehn Personen mit dem Namen Josef Mengele Dienst geleistet, und nach seiner Internierung gab der Auschwitz-Arzt seinen Familiennamen mit Memling an, das war ein berühmter, in Bayern geborener Maler des fünfzehnten Jahrhunderts.[6] Mengele hatte keine SS-Tätowierung und behauptete, er sei ein ganz normaler Wehrmachtsarzt gewesen. Er entzog sich der Verhaftung ebenso wie Eichmann. Keiner der beiden musste vor dem Tribunal erscheinen, das nach dem Krieg in Nürnberg stattfand.
Die Verfolgung von Kriegsverbrechern war jedoch nur eine von zahlreichen Aufgaben der Alliierten und nicht einmal die vordringlichste. Deutschland war von der totalen Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation schwer getroffen. Die Menschen hungerten, die Ernte musste eingebracht werden, und innerhalb von Monaten wurden Millionen Kriegsgefangene freigelassen, die keine Arbeit hatten. Bis zum 8. Juni entließ die 3. US-Armee mehr als eine halbe Million Internierte, die 12. Armee ließ pro Tag durchschnittlich 30.000 Gefangene frei.[7] Gleichzeitig entließen die Briten im Rahmen der Operation Barleycorn 300.000 Deutsche, die als Erntehelfer in der Landwirtschaft eingesetzt werden konnten. Diese Zahl stieg bis August 1945 auf mehr als eine Million, so dass ehemalige Soldaten nun auch in Bergwerken und im Transportwesen arbeiten konnten. Zahllose Tonnen Schutt mussten weggeräumt, Brücken wiedererrichtet und Blindgänger beseitigt werden. Das Telekommunikationsnetz und die Post, Straßen und Eisenbahnen und sogar das öffentliche Verkehrssystem mussten wiederaufgebaut werden.[8]
Am 29. Juni 1945 gab das Alliierte Hauptquartier die Disbandment Directive Nr. 5 heraus, der zufolge deutsche Kriegsgefangene grundsätzlich entlassen werden konnten, sofern sie nicht in die Kategorie «automatischer Arrest» fielen, also keine SS-Angehörige und Kriegsverbrecher waren. Die internierten Soldaten wurden lediglich von einem Arzt begutachtet und mussten einen Fragebogen ausfüllen. Die mündliche Befragung dauerte nicht lange. Bei seiner Entlassung erhielt jeder Soldat einen halben Laib Schwarzbrot und ein Pfund Speck als Ration für die Heimreise.[9] Angesichts dieses Tempos und der immensen Zahlen waren unter denen, die auf freien Fuß gesetzt wurden, notgedrungen auch Kriegsverbrecher.
Zu denen, die interniert blieben, zählte Hauptsturmführer Aribert Ferdinand Heim, ein österreichischer Arzt und Mitglied der Waffen-SS, des militärischen Flügels der SS, die zu einer deutschen Parallelarmee geworden war. Er übte auch als Gefangener den Arztberuf aus und behandelte verwundete Deutsche im 8279th General Hospital bei Carentan in der Normandie, 30 Kilometer von dem Küstenabschnitt Omaha Beach entfernt.[10] Das Krankenhaus, ein riesiger Zeltkomplex, war ein amerikanisches Feldlazarett gewesen, bevor die Vereinigten Staaten es den Deutschen übergaben. Als im Mai 1945 das Rote Kreuz zu Besuch kam, wurden hier 1417 verwundete und kranke Soldaten behandelt. Der Rotkreuzinspekteur beurteilte die Zustände als «ausgezeichnet» und sagte, deutsche Soldaten hätten von sich aus erklärt, die Behandlung hier sei besser als in den letzten Kriegsjahren auf deutscher Seite.[11]
Die Zelte konnten tagsüber heiß und nachts eiskalt sein, aber es gab Operationssäle, Röntgengeräte und ein Labor. Die Ausstattung mit chirurgischen Instrumenten und Medikamenten war gut. Unter der Kontrolle von vier amerikanischen Offizieren führten die deutschen Ärzte das Krankenhaus fast eigenständig. «Auf fachlicher Ebene», schrieb der Rotkreuzbeobachter, «ist die Zusammenarbeit zwischen den Amerikanern und den deutschen Ärzten gut.» Aribert Heim zählte zu ihnen. Seine amerikanischen Vorgesetzten waren von seinem medizinischen Können und seiner Zuverlässigkeit beeindruckt. In einem Entlastungsschreiben versicherte Captain Edward S. Jones, Heim habe in der chirurgischen Abteilung «ausgezeichnete Arbeit geleistet», die «für die kranken Kriegsgefangenen lebenswichtig» gewesen sei.[12]
Heim schloss Freundschaft mit Arztkollegen und sogar mit dem deutschen Geistlichen Werner Ernst Linz, der bezeugte, Heim habe «in sehr verantwortungsbewusster Weise seine ärztliche Kunst ausgeübt, zum Wohl der ihm anvertrauten Soldaten». Besonders «aufopferungsvoll» sei er bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten gewesen und habe getan, was er konnte, um seinen Patienten zu helfen, schrieb Linz in seiner Erklärung.[13]
Obwohl Heim im Verlauf des Krieges viel herumkam, war er am Ende wieder da, wo er begonnen hatte, in Frankreich. Nach dem «Anschluss» ihres Landes an das Deutsche Reich 1938 galt für die Österreicher dieselbe Wehrpflicht wie für ihre neuen Landsleute. Heim behauptete bei seiner Vernehmung, er sei gegen seinen Willen zur Waffen-SS eingezogen worden. Mit fünfundzwanzig Jahren, nach Abschluss seines Medizinstudiums in Wien, erfolgte sein erster Einsatz als Fahrer während des deutschen Überfalls auf Frankreich 1940. Später wurde er bei der Ansiedlung von sogenannten Volksdeutschen in Jugoslawien und als Erdbebenhelfer in Rumänien eingesetzt. Er war Soldat in Norwegen und Finnland und wurde im Kampf verwundet.
Acht Tage nachdem am 7. März 1945 der erste amerikanische Soldat den Rhein überquert hatte, wurde Heims Einheit in Buchholz im Hunsrück gefangengenommen. Heim hatte Glück, Kriegsgefangener der Amerikaner zu sein, statt von den Sowjets nach Sibirien gebracht zu werden. Er kam in ein Kriegsgefangenenlager nach Frankreich.
Er stand zwar nicht auf der CROWCASS-Liste der gesuchten Kriegsverbrecher, aber als ehemaliges Mitglied der Waffen-SS fiel er in die Kategorie «automatischer Arrest», aus dem man nicht so leicht entlassen wurde. Internierung und Strafverfolgung wären ihm sicher gewesen, wenn nicht etwas gefehlt hätte: Von allen Orten, an denen Heim im Laufe des Krieges gewesen war, tauchte einer in seiner Akte nicht auf (ob aufgrund eines Versehens oder aufgrund gezielter Streichung ist unklar): das österreichische Städtchen Mauthausen.
Knapp neun Monate nach seiner Befreiung aus sechsjähriger Gefangenschaft in deutschen und österreichischen Konzentrationslagern arbeitete Dr. Arthur A. Becker als Sonderermittler für das War Crimes Investigating Team 6836 der US-Armee in Wien. Der schlanke, braunäugige Mitfünfziger stammte aus dem brandenburgischen Prenzlau. Er war Schriftsteller von Beruf, hatte aber Pharmakologie studiert und lebte in Stuttgart, als er verhaftet wurde.[1] In der Zeit seiner Lagerhaft trug er das grüne Dreieck der gewöhnlichen Kriminellen, doch wie er den amerikanischen Behörden nach seiner Befreiung sagte, war einer seiner Großväter Jude gewesen. Er war verhaftet worden, weil er sich nach der Pogromnacht am 9. November 1938 kritisch über die SS geäußert hatte.
Die amerikanischen Ermittler hatten Mühe, die Anklageschriften gegen NS-Kriegsverbrecher zügig für die Prozesse vorzubereiten, die sie in allen ihren Besatzungszonen durchführen wollten. Sie waren dramatisch unterbesetzt. US-Personal wurde zuerst an den Kriegsschauplatz in den Pazifik verlegt, wo die Vereinigten Staaten immer noch gegen Japan kämpften. Dann, nach der japanischen Kapitulation, wurden die GIs so schnell wie möglich nach Hause zurückgeschickt. Diejenigen Soldaten, die zur Untersuchung von NS-Kriegsverbrechen blieben, waren «in der Mehrzahl vom Krieg traumatisierte Panzeroffiziere, die quasi zur Erholung und Rehabilitation in diese neue Einheit geschickt wurden», erinnerte sich einer der Ankläger. «Sie saßen da und hatten keine Ahnung, wo sie anfangen sollten.»[2] Aufgrund der gewaltigen Aufgabe und der Sprachbarrieren waren sie auf die Hilfe Einheimischer angewiesen, und unter ehemaligen KZ-Häftlingen wie Becker fanden sie begeisterte Freiwillige.[3]
Am Freitagmorgen, dem 18. Januar 1946, traf sich Becker in der österreichischen Hauptstadt mit ehemaligen KZ-Häftlingen – am Vormittag mit Josef Kohl, am Nachmittag mit August Kamhuber –, um sie zur Tötung alliierter Militärangehöriger unter Verletzung der Genfer Konvention zu befragen. Wie Berlin war damals auch Wien eine geteilte Stadt mit britischen, französischen, amerikanischen und sowjetischen Soldaten in jeweils eigenen Besatzungszonen und einer gemeinsam verwalteten internationalen Zone im Ersten Bezirk. Das Ermittlerteam, in dem Becker arbeitete, hatte sein Hauptquartier in Salzburg, doch selbst eine so einfache Angelegenheit wie die Befragung eines Zeugen aus dem sowjetischen Sektor bedurfte einer Sonderregelung zwischen den einstigen Kriegsverbündeten, die einander mit wachsendem Misstrauen begegneten.[4] Die Russen betrachteten die Verbringung von Zeugen aus ihrer Zone als «Entführung».
Viel vom einstigen Glanz Wiens war durch die Kriegszerstörungen verblasst. Nach Bombenangriffen und der Offensive der Roten Armee zur Einnahme der Stadt lagen große Teile des Ersten Bezirks in Trümmern. Rund 80.000 Wohnungen waren zerstört oder beschädigt. Flüchtlinge aus ganz Europa, unter ihnen Überlebende aus den Lagern und ehemalige Zwangsarbeiter, trugen zur Verschärfung der Wohnungsnot bei. Die Gas- und Stromversorgung und das Telefonnetz funktionierten nicht, und die Wiener erhielten von ihren Besatzern die Erlaubnis, die Bäume der einstigen Prachtboulevards zu fällen, um sich in dem harten Nachkriegswinter gegen die Kälte zu schützen.[5]
Für Josef Kohl, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und schon als Kind erfahren hatte, was Hunger ist, waren Nahrungsmittelknappheit und Rationierungen nichts Ungewöhnliches. Der Mann mit der Glatze und dem verkniffenen Lächeln, mit dem er vielleicht seine großen, etwas krummen Zähne verbergen wollte,[6] war ein österreichischer Kommunist. Er sah jedoch eher aus wie ein Buchhalter, und das war er tatsächlich gewesen, bevor er sich 1934 am Barrikadenkampf zur Verteidigung der österreichischen Republik gegen die Nazis beteiligte; dabei wurde er von einer Kugel getroffen, die durch seine Lunge ging. 1938, nach dem sogenannten Anschluss Österreichs durch das expandierende Dritte Reich, wurde Kohl von der Gestapo verhaftet.[7] Nach mehreren Monaten im Gestapo-Gefängnis am Morzinplatz im Ersten Wiener Bezirk kam er in das berüchtigte Konzentrationslager Dachau.
Im September 1939 wurde Kohl in ein Lager 20 Kilometer östlich von Linz überstellt, das ein Jahr zuvor in Betrieb genommen war. Heinrich Himmler hatte den Standort wegen der Granitsteinbrüche gewählt, die wirtschaftlich genutzt werden sollten. Im Steinbruch Wiener Graben wurden die Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt, das Lager wurde nach der nahegelegenen Stadt Mauthausen benannt. Unter Androhung von Gewalt, ja von Massenexekution wurden die Lagerhäftlinge gezwungen, schwere Steine die 187 Stufen hochzutragen, die man in den Fels gehauen hatte. Viele von ihnen starben an Erschöpfung. Die Häftlinge mussten aber auch ihr eigenes Gefängnis bauen – mit hohen Steinmauern und Wachtürmen, die dem Lager das Aussehen einer mittelalterlichen Festung gaben, einzigartig unter den Konzentrationslagern.
Bevor die Nazis Vernichtungslager in Polen einrichteten, war Mauthausen das einzige Konzentrationslager der Klasse III in einem dreistufigen System. Selbst nach Einschätzung der Nazis war es damit das Lager mit den härtesten Haftbedingungen, schlimmer noch als Dachau, Buchenwald oder Auschwitz, und es war für die «Vernichtung durch Arbeit» bestimmt.[8] 1941 starben in Mauthausen mehr als die Hälfte der fast 16.000 Häftlinge oder wurden getötet.[9] Kohl blieb bis Kriegsende und bis zur Befreiung in diesem Lager inhaftiert, insgesamt fast sechs Jahre. Danach kehrte er zu seiner Frau Agnes zurück und arbeitete als Leiter der Volkssolidarität in Wien, einer Organisation ehemaliger Lagerhäftlinge.
Die Befragung Kohls durch Becker begann um 10.55 Uhr mit biographischen Auskünften des Zeugen, der Angabe seiner Adresse in der Endergasse in Hetzendorf südlich der Wiener Innenstadt und der Schilderung der Umstände seiner Inhaftierung in Mauthausen. Nach diesen Formalitäten fragte Becker: «Was können Sie über die Misshandlung Kriegsgefangener angeben?»[10]
«Die ersten englischen Gefangenen, die mit Fallschirmen in Frankreich abgesprungen waren und sich dort Zivilkleider beschafft haben, wurden 1940 nach Mauthausen gebracht und dort als Spione erschossen», antwortete Kohl. Woher Kohl wisse, dass es Engländer waren. Kohl erwiderte, er spreche Englisch und habe mit den Männern gesprochen, bevor sie exekutiert wurden. Er erzählte von den Misshandlungen alliierter Piloten im Juli 1944, die mit Fußtritten traktiert und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen wurden, und nannte die Namen der verantwortlichen SS-Leute.
Dann fragte Becker, was Kohl ihm über die Misshandlung und Tötung von Häftlingen sagen könne. «Ich bin Schreiber im Revier gewesen von April 1940 bis Juni 41», antwortete Kohl. In der Zeit habe er «als Augenzeuge den ersten Tötungen durch Injektionsspritzen beigewohnt».
«Was waren das für Häftlinge, die getötet wurden?», fragte Becker.
«In erster Linie Arbeitsunfähige, Schwache und Kranke.»
«Sind Ihnen sonst besondere Grausamkeiten von SS-Standortärzten bekannt?»
«Ja. Standortarzt Dr. Heim hatte die Gewohnheit, den Häftlingen in den Mund zu schauen, um festzustellen, ob ihr Gebiss tadellos instand war. War dies der Fall, so hat er diesen Häftling umgebracht durch Injektion, den Kopf abgeschnitten, im Krematorium stundenlang kochen lassen, bis der nackte Schädel von jedem Fleisch entblößt war, und diesen Schädel für sich und seine Freunde präpariert als Schreibtischschmuck.»
«Was wissen Sie noch über diesen Dr. Heim anzugeben?», fragte Becker weiter. «Hatte er einen Häftling für seine Experimente auserkoren, so pflegte er ihn vorerst gründlich auszufragen, besonders über den Stand seiner Familie, ob sie versorgt sei, falls er abgängig wäre. Hatte er dies festgestellt, hat er an gesunden Leuten Operationen ausgeführt. Er überzeugte sie durch Redewendungen, dass es nur eine kleine harmlose Operation wäre und sie nach Wiederherstellung sofort entlassen werden sollten. Er hat dann die schwierigsten und kompliziertesten Operationen wie Magen-, Leber-, sogar Herzoperationen an diesen Leuten durchgeführt, die ihren Tod herbeiführen mussten. Diese Leute waren durchwegs gesunde Menschen, und die Operationen waren für Versuchszwecke bestimmt», fuhr Kohl fort.
«Wissen Sie, ob Dr. Heim heute noch lebt?», fragte Becker. «Darüber kann ich keine genaue Auskunft geben», antwortete Kohl. «Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich verborgen hält.»
Über dem Eingang zu den Backsteinbaracken in Dachau hing ein neues Schild, auf dem stand: War Crimes Branch, Judge Advocate Sections, H. Q. Third United States Army.[1] Wo vorher die SS die uneingeschränkte Befehlsgewalt ausgeübt hatte, saßen jetzt uniformierte amerikanische Militäroffiziere zu Gericht, hinter ihnen ein riesiges Sternenbanner. Am 29. März 1946 eskortierten amerikanische Militärpolizisten einundsechzig Angeklagte aus dem Konzentrationslager Mauthausen in den Gerichtssaal. Ursprünglich waren es sechzig gewesen, doch der Name eines der brutalsten Wachmänner des Steinbruchs, Hans Spatzenegger, war auf der maschinengeschriebenen Anklageschrift von Hand ergänzt worden.
Bei Kriegsende waren allein im Hauptlager mehr als 350 Personen beschäftigt gewesen. Mauthausen und seine über ganz Österreich verstreuten neunundvierzig Außenlager hatten zusammen fast 10.000 Wachleute. Und es gab mehr als fünfzig SS-Ärzte.[2] «USA gegen Hans Altfuldisch u.a.» war der erste große Prozess gegen das Dienstpersonal von Mauthausen. Zu den Angeklagten zählten Parteiführer der NSDAP ebenso wie einfache Wachen. Ein US-Geheimdienstoffizier kritisierte die Auswahl der einundsechzig Angeklagten als «Würfelspiel oder Drehen an einem Rouletterad».[3]
Die Männer, die vor Gericht standen, waren zwar nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden, aber auch nicht deswegen, weil sie die schlimmsten Verbrechen begangen hatten. Der Chefankläger, Oberstleutnant William Denson, wollte einen Präzedenzfall schaffen, um die Urteilsfindung in nachfolgenden Prozessen zu vereinfachen. Er wollte einen möglichst großen Querschnitt des Lagerlebens. Denson wählte Angeklagte «im Alter zwischen einundzwanzig und zweiundsechzig Jahren aus, darunter zweiundvierzig Deutsche, zwölf Österreicher, drei Tschechen, zwei Jugoslawen, einen Rumänen und einen Ungar», die «in mehr als fünfzehn Außenlagern sowie in der Euthanasie-Anstalt Hartheim Dienst versehen hatten».[4] Unter ihnen war auch ein ziviler Angestellter der SS-Firma, die die Steinbrüche wirtschaftlich nutzte. Insgesamt acht Angeklagte waren medizinisches Personal.
Am zweiten Prozesstag wurde der Direktor der Innsbrucker Gaswerke, Ernst Martin, in den Zeugenstand gerufen. Während seiner Zeit als Lagerhäftling Nummer 3148 in Mauthausen war Martin allem Anschein nach ein desinteressierter Bürokrat, ein vorbildlicher Häftling im Rang eines Revierschreibers. Im April 1945 wurde ihm befohlen, alle Dokumente zu den Gefangenen und zum SS-Personal im Büro des Standortarztes zu verbrennen. Die Prozedur dauerte mehr als eine Woche. «Das Material war umfangreich, weil es fast 72.000 Todesfälle mit jeweils einer Einzelakte gab, so dass wir acht Tage brauchten, um alles zu verbrennen», sagte Martin vor Gericht aus. «Und weil es eine so langwierige Angelegenheit war und es so lange dauerte, diese gewaltige Menge zu verbrennen, konnte ich diese Totenbücher retten und verstecken.»[5]
Martin versteckte das belastende Material im Keller des Häftlingskrankenbaus in einem Schrank mit alten chirurgischen Instrumenten. Wenn die SS dies mitbekommen hätte, wäre er standrechtlich erschossen worden.[6] Es handelte sich um dreizehn dicke Bände mit 71.856 registrierten Todesfällen. Martins Aussage zufolge wurde die Todesursache in der Regel absichtlich falsch angegeben, und viele von denen, die eine tödliche Spritze erhielten, wurden gar nicht registriert.
Er hatte auch das Operationsbuch gerettet, Beweisstück Nummer 15 der Staatsanwaltschaft, in dem die chirurgischen Eingriffe im Lager festgehalten waren.[7] In den Einträgen vom Herbst 1941 stand der Name Heim handschriftlich am Rand. Das H trug eine markante Doppelschleife, die fast wie ein schräg gestelltes Unendlichkeitszeichen aussah. Offiziell – denn vieles geschah in Mauthausen außerhalb der Bücher – hatte Heim während seiner Dienstzeit im Lager 263 Operationen durchgeführt. Alle elf jüdischen Häftlinge, die er operiert hatte, waren innerhalb weniger Wochen gestorben, so war es in den Totenbüchern festgehalten worden. Doch Heim saß in keiner der fünf Reihen mit den Angeklagten, die den sie belastenden Zeugenaussagen lauschten.
Der ehemalige Standortarzt von Mauthausen, Dr. Eduard Krebsbach, jedoch schon. Er hatte zugegeben, rund zweihundert Tuberkulose-Patienten für die Todesspritze selektiert zu haben und später, auf Befehl des Lagerkommandanten, weitere zweitausend Häftlinge für die Gaskammer. Im Verhör zur Prüfung seiner Glaubwürdigkeit erklärte Dr. Krebsbach, er habe bei der Euthanasie der «hoffnungslos Kranken» lediglich Befehle ausgeführt, und berief sich dabei auf die NS-Ideologie, die solche Tötungen sanktionierte.[8] «Es ist bei den Menschen wie bei den Tieren», sagte Dr. Krebsbach. «Tiere, die verkrüppelt zur Welt kommen oder sonst lebensunfähig sind, werden gleich nach der Geburt getötet. […] Es ist das Recht jedes Staates, sich gegen Asoziale zu schützen, auch die Lebensuntüchtigen gehören dazu.»[9]
Die detailliertesten Informationen über die medizinischen Morde stammten von tschechischen Ärzten, die im Lager inhaftiert gewesen und gezwungen worden waren, den SS-Ärzten zu assistieren. Dr. Josef Podlaha erklärte, er habe dem American Counter Intelligence Corps (der US-Spionageabwehr CIC) fast unmittelbar über die «degenerierten und perversen Praktiken»[10] der SS-Ärzte berichtet. Podlaha sagte auch aus, er sei von einem der Angeklagten, Dr. Hans Richter, gezwungen worden, bei der Operation «verschiedener Krankheiten» mitzuwirken, an denen diese Menschen «gar nicht litten, zum Beispiel Magengeschwüre, Magenresektionen, Gallenblase, Nieren und auch Gehirnoperationen». Diese Tätigkeit, so habe Richter ihm gesagt, werde seine chirurgischen Fähigkeiten schulen.[11]
Auch Josef Kohl trat als Zeuge auf. Er war ins Konzentrationslager Dachau zurückgekehrt, wo auch er inhaftiert gewesen war, um seinen ehemaligen Peinigern gegenüberzutreten. Kohl sagte gegen einen Mauthausener Kapo aus, der Häftlinge geschlagen hatte, und identifizierte ihn unter denen, die auf der Anklagebank saßen. Der Kapo hatte ein Blatt Papier um den Hals, auf dem in schwarzen Ziffern die Nummer 21 stand. Kohl identifizierte einen weiteren Wachmann mit der Nummer 29 und einen Funktionär aus der Politischen Abteilung mit der Nummer 37. Doch der Ankläger stellte Kohl keine Fragen zu Dr. Heim, und der Arzt befand sich auch nicht unter den Angeklagten, so dass Kohl ihn nicht identifizieren konnte.[12] Von dem Mann, dem vorgeworfen wurde, Gefangene getötet zu haben, um deren Schädel als Trophäen an sich zu nehmen, fehlte jede Spur. Heims Name stand auch nicht auf der Liste der rund hundert SS-Offiziere, Wachmänner und anderer Hilfskräfte, die die Amerikaner von Überlebenden des Lagers kurz nach der Befreiung erhalten hatten.[13] Die Urteile im Mauthausen-Prozess wurden am 13. Mai 1946 verlesen. Alle einundsechzig Angeklagten wurden verurteilt, alle bis auf drei zum Tod durch den Strang. Heim war nicht unter ihnen, aber er war auch nicht vergessen.
Drei Tage später wurde rund 150 Kilometer von Dachau entfernt im Landestheater Salzburg ein neues Stück über das Konzentrationslager Mauthausen aufgeführt, geschrieben von einem der Häftlinge.[14] Für Der Weg ins Leben griff der Autor Arthur Becker nicht nur auf seine eigenen Erfahrungen zurück, sondern auch auf Zeugenaussagen, die er als Ermittler zu Kriegsverbrechen von anderen Überlebenden zusammengetragen hatte, auch von Josef Kohl. «Mord gibt es hier offiziell nicht», sagt eine der Figuren des Stücks, Hermann, ein Kapo, der als «kleiner Dieb, aber sonst guter Kerl» beschrieben wird. «Man stirbt an Lungenschlag, Schwäche oder sonst einer harmlosen Krankheit, das Krematorium sorgt dafür, dass kein Mensch deine Todesart enträtselt […]. Wir haben einen Arzt … Arzt? Nein, einen Kopfjäger», sagt Hermann weiter. «Weißt du, wie viele Menschen mit tadellosem Gebiss der schon umgebracht hat, weil ihr präparierter Schädel eine wundervolle Schreibtischzierde für ihn und diese SS-Banditen ist?»
Der SS-Obersturmführer deutet an, dass Heim einen neuen Häftling enthaupten will. «Man sollte ihn dem Lagerarzt vorstellen, vielleicht hat er Verwendung für seinen Schädel.» Der SS-Offizier brüllt einen Untergebenen an: «Sprechen Sie mit Dr. Heim. Er soll ihn sich ansehen, aber heute noch.»
Das Zentrum für jüdische historische Dokumentation in Linz war ein winziges, mit unterbezahlten Mitarbeitern besetztes Büro. Sie hielten auf kleinen Karteikarten Zeugenaussagen zu einigen der schlimmsten Verbrechen fest, die die Menschheit je gesehen hat – Beweise, die sich, wie sie hofften, im Laufe der Zeit zu einem Gesamtbild fügen würden. Dreißig Freiwillige, zumeist in Durchgangslagern wie Bindermichl bei Linz untergebracht und verpflegt, sammelten die Aussagen überlebender Opfer zu NS-Kriegsverbrechern. Miete und Nebenkosten des Büros in der Goethestraße 63 in Linz beliefen sich auf fünfzig Dollar monatlich und wurden von Abraham Silberschein bezahlt, einem wohlhabenden Juden und ehemaligen polnischen Abgeordneten, der in Genf lebte.[1] Doch ohne die Entschlossenheit und Hartnäckigkeit seines Gründers Simon Wiesenthal hätte es die ganze Operation nie gegeben.
Im Jahr 1947 war der achtunddreißigjährige Wiesenthal mit seiner Frau Cyla wiedervereint und lebte mit ihr und der im Jahr zuvor geborenen Tochter zusammen. Als studierter Bauingenieur hätte er Karriere machen und sich eine auskömmliche Existenz aufbauen können, nicht nur in Österreich. Einige seiner Angehörigen drängten ihn zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten, aber er hätte auch nach Palästina gehen können, wo viele Holocaust-Überlebende beim Aufbau des jüdischen Staates mithalfen. Schon vor seiner Deportation in die Lager hatte er allerlei Wirrnisse durchgemacht, und so wäre es nur allzu verständlich gewesen, wenn er Europa hätte den Rücken kehren wollen. Doch stattdessen hatte er das Dokumentationszentrum aufgebaut.
Wiesenthal wurde in der Neujahrsnacht 1908 im galizischen Buczacz geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Sein Vater starb 1915 als Soldat im Ersten Weltkrieg. Der junge Simon überlebte nur knapp ein von Kosaken verübtes Pogrom. Seine Heimat wurde schließlich Teil der Zweiten Polnischen Republik. Er studierte Architektur an der Technischen Universität in Prag und ließ sich anschließend mit seiner Frau Cyla in Lemberg nieder. Nachdem Hitler und Stalin in einem geheimen Zusatzprotokoll zu ihrem Nichtangriffspakt die Aufteilung Polens vereinbart hatten und die Sowjetunion im September 1939 Ostpolen besetzt hatte, war Wiesenthal plötzlich Bürger der Sowjetunion. Nicht einmal zwei Jahre später brach Hitler mit dem Überfall auf die Sowjetunion den Pakt, und Wiesenthal – und mit ihm die Mehrheit der europäischen Juden – sah sich plötzlich der Willkür der Nazis ausgeliefert. Er besorgte Cyla falsche Papiere, die sie vor der Deportation in die Vernichtungslager retteten, konnte aber selbst nicht fliehen.
Vier Jahre später kehrte er mit weniger als fünfzig Kilo Körpergewicht aus Mauthausen zurück. Er war der Gaskammer entronnen, war mit knapper Not mehrfach der Exekution entkommen und nach den Todesmärschen, zu denen die Nazis die KZ-Häftlinge bei ihrem Rückzug zwangen, in einer Baracke in Mauthausen gelandet, die den Toten und Sterbenden vorbehalten war. Nach der Befreiung des Lagers durch die US-Armee hatte Wiesenthal keine Zeit für eine lange Rekonvaleszenz. Er wollte, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Kaum drei Wochen nach seiner Befreiung schrieb er einen Brief an Colonel Richard Seibel, den für das Lager verantwortlichen amerikanischen Offizier, und bot ihm seine Mitarbeit bei der Jagd nach NS-Kriegsverbrechern an.[2] Zusammen mit seinem Lebenslauf schickte er ihm eine Liste mit den Namen von einundneunzig NS-Verbrechern und beschrieb detailliert deren äußeres Erscheinungsbild und die Gräueltaten, die sie begangen hatten. Die Amerikaner nahmen sein Angebot an und baten ihn wiederzukommen, sobald er neue Kräfte geschöpft habe.
Wiesenthal kam immer wieder, und seine Hartnäckigkeit zahlte sich schon bald aus. Er begann für die War Crimes Unit, eine Spezialeinheit zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, zu arbeiten. Als er seine erste Festnahme durchführte, schaffte er es kaum in den zweiten Stock zur Wohnung des ehemaligen Nazis. Beim Hinuntergehen wurde ihm so schwindlig, dass der Mann, den er dingfest gemacht hatte, ihn am Arm fasste, ihm die Treppe hinunter half und zum wartenden Jeep geleitete.[3]
Zunächst war Wiesenthal in einem DP-Lager in einer Volksschule in Leonding bei Linz untergebracht – ausgerechnet dort war Adolf Hitler zur Schule gegangen. Wenn Wiesenthal aus dem Fenster blickte, sah er das Häuschen, in dem Hitlers Eltern gelebt hatten, und er wusste auch, dass sie auf dem örtlichen Friedhof begraben lagen. Bald zog er nach Linz in die Landstraße 40. Nur zwei Häuser weiter lebten Adolf Eichmanns Vater und Stiefmutter.[4] Nachdem Wiesenthal von ungarischen Überlebenden erfahren hatte, dass Eichmann die Massendeportationen aus Ungarn minutiös organisiert hatte, wurde die Suche nach dem Mann, der für so viele Massaker verantwortlich war, für ihn zu einer Obsession.[5] Mittlerweile arbeitete er bei der Bricha, einer Bewegung, die die Einwanderung von Holocaust-Überlebenden nach Palästina organisierte. Rund 40.000 der fast eine Viertel Million jüdischer Flüchtlinge lebten in Österreich.[6] Wiesenthal half ihnen, mit ihren überlebenden Angehörigen Verbindung aufzunehmen oder – häufiger noch – herauszufinden, auf welche Weise sie ums Leben gekommen waren.
Zu diesem Zeitpunkt glaubte er immer noch, seine Frau sei während des Krieges in Warschau getötet worden. Tatsächlich war sie zur Zwangsarbeit in einer Rüstungsfabrik nach Deutschland deportiert worden. Cyla wiederum glaubte, Simon sei tot. Per Zufall begegnete sie in Krakau einem gemeinsamen Bekannten, der soeben einen Brief von Wiesenthal erhalten hatte, und so fanden sie sich wieder. Wiesenthals Berechnungen zufolge waren insgesamt neunundachtzig seiner Angehörigen und der Angehörigen seiner Frau im Holocaust ermordet worden. Am 5. September 1946 füllten Simon und Cyla die gelichteten Reihen ihrer Familien mit einem neuen Mitglied: Ihre Tochter Pauline Rosa wurde geboren.
Die deutsche ebenso wie die amerikanische Öffentlichkeit stand im Bann des großen Kriegsverbrecherprozesses, der zwischen dem 20. November 1945 und dem 1. Oktober 1946 vor einem internationalen Militärgerichtshof im Justizpalast Nürnberg geführt wurde. Viele Deutsche, die unter den Entbehrungen und unter der Besatzung litten, machten für ihr Nachkriegselend die NS-Führungselite verantwortlich und waren froh, dass diese zur Rechenschaft gezogen wurde. Andere sprachen von Siegerjustiz, ein Vorwurf, der mit jedem weiteren Prozess lauter wurde.
Die Entschlossenheit, NS-Kriegsverbrecher aufzuspüren, ließ auf alliierter Seite schon bald nach. Die Soldaten, die die unmenschlichen Bedingungen in den befreiten Konzentrationslagern mit eigenen Augen gesehen hatten, wurden abgelöst und kehrten in ihre Heimat zurück. Wiesenthal stellte fest, dass es vielen US-Offizieren am nötigen Elan fehlte. Auch manche antisemitische Bemerkungen klangen dem Holocaust-Überlebenden in den Ohren, so dass es ihm immer schwerer fiel, mit der zunehmenden Gleichgültigkeit seiner Partner umzugehen.
Für die Amerikaner war der Hauptfeind schon bald nicht mehr das besiegte Nazideutschland, sondern die Sowjets und Stalin mit seinen wachsenden Ambitionen in Europa. Die Kluft auf dem Kontinent vertiefte sich, als Osteuropa immer weiter in das kommunistische Lager abdriftete und Westeuropa sich mehr und mehr den Amerikanern zuwandte. Die Vereinigten Staaten ebenso wie ihr einstiger Verbündeter und jetziger Rivale Sowjetunion, eine aufstrebende Supermacht, hofften den Kampf um die deutsche Öffentlichkeit zu gewinnen. Bei einem Kräftemessen zwischen Ost und West konnte die besiegte Macht im Herzen Europas eine entscheidende Rolle spielen. Auch wenn die Deutschen es hinnahmen, dass die NS-Führung vor Gericht gestellt wurde, wollten sie, dass ihre Angehörigen – die Gefreiten, Feldwebel und Leutnants – nach Hause zurückkehrten, egal, ob sie in der Wehrmacht oder in der Waffen-SS gewesen waren.
Wiesenthal war entschlossen, weiter nach den Tätern zu suchen, nunmehr aber auf eigene Faust statt in Zusammenarbeit mit den zunehmend abgelenkten Amerikanern. 1947 gründete er zusammen mit gleichgesinnten Überlebenden, die er «Desperados» nannte, das Zentrum für jüdische historische Dokumentation.
Jeder Flüchtling war ein Zeuge. Wiesenthal verteilte Fragebögen unter ihnen: «Wo waren Sie während des Krieges und wann genau; an wen von den Nationalsozialisten erinnern Sie sich: Familienname, Vorname, Spitzname, Rang, Geburtsort; Erkennungsmerkmale […], Einsatzort […].»[7] Vor der Einführung von Computern musste Wiesenthal über Täter, Zeugen und Verbrechensschauplätze Karteikarten anlegen.[89