Dagmar Pauli
SIZE ZERO
Essstörungen verstehen,
erkennen und behandeln
C.H.Beck
Size Zero ist ein so zorniges wie hilfreiches Buch über die verborgenen Zusammenhänge von Essstörungen, Schlankheitswahn und sozialen Medien. Schneller, als man wahrhaben will, so Dagmar Pauli, Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, kippt eine scheinbar harmlose Diät in eine Magersucht oder Bulimie. Essstörungen sind unter jungen Menschen weit verbreitet, und sie entstehen als Folge einer gesellschaftlichen Essstörung. Mit den sozialen Medien hat sich die Zahl der Erkrankten noch einmal dramatisch erhöht. SIZE ZERO – die weibliche Körpergröße Null (32 bzw. XXS) – wurde zum Synonym für übertriebenen Schlankheitswahn und Selbstdarstellungen auf Online-Plattformen mit Vorher-Nachher-Selfies. Dagmar Pauli benennt Ursachen und Verantwortliche und zeigt Auswege aus der Essstörungsfalle auf. Ihr Buch wendet sich an die gefährdeten und betroffenen Jugendlichen selbst, aber auch an besorgte Eltern, verantwortungsvolle Erzieher sowie Therapeuten auf der Suche nach innovativen Behandlungsformen.
Dr. med. Dagmar Pauli ist Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Präsidentin des Expertennetzwerks Essstörungen Schweiz. Ein gigantisches Plakat am Zürcher Hauptbahnhof, das in obszöner Direktheit für Brust-Schönheitsoperationen bei jungen Frauen warb, wurde für die Mutter von drei Kindern zum Auslöser, sich über ihre Tätigkeit als Therapeutin hinaus auch gegen die gesellschaftlichen Ursachen von Essstörungen junger Menschen zu engagieren und dieses Buch zu schreiben.
Vorwort
TEIL 1
Phänomenologie der Essstörung I: Die essgestörte Gesellschaft
1. Warum wir verlernt haben, normale Körperformen schön zu finden
Es begann mit Twiggy …
Der Zweitgenerationen-Effekt
Mit welchen «Maßen» sich Mädchen auf Instagram & Co. herumquälen
Und was ist mit den Jungen?
Die Kehrseite der Medaille: Die Ablehnung übergewichtiger Menschen
Was ist zu tun?
2. Warum ich mich ständig ärgern muss über …
… Schaufensterpuppen, die keine Menstruation haben könnten
… Sendungen, die systematisch den Selbstwert junger Frauen demontieren
… Models, denen die Kleider um den Leib schlottern
Wie Photoshop unser Körpergefühl verändert und die Schönheitschirurgen reich macht
Wer definiert eigentlich Plus Size?
… Werbung, die uns krank macht
… immer jüngere Kinder, die mit Prävention gegen Übergewicht geplagt werden
Adipositas-Prävention als gesellschaftliche Aufgabe
Übergewicht: Das vordringlichste Essproblem unserer Zeit? Adipositas und Magersucht als zwei Seiten derselben Medaille
3. Warum gerade junge Menschen so anfällig sind für krank machende Ideale
Wenn die Seele mit dem Körper nicht mitkommt
Die Macht der Bilder
Body Shame: Der Trend zur kollektiven Körperscham
4. Über das Essen und warum wir es oft nicht genießen können
Es gibt keine gesunden und ungesunden Nahrungsmittel
Orthorexie – Hungerzustand aufgrund von kompletter Nahrungsmittel-Überinformation
Wider den Diätwahn
Welchen Schaden eine Diät anrichten kann: Der Jo-Jo-Effekt
Risiko für Essstörungen
Mythen der Ernährungslehre und kolossale Irrtümer vermittelt durch die Diätindustrie
Die süße Versuchung …
Fazit
Was tun, wenn die Tochter oder der Sohn eine Diät anfängt?
5. Sport ist Mord oder Wenn der Sport in die Sportsucht kippt
Zusammenfassende Diagnose der Gesellschaft: Gemischte Essstörung
TEIL 2
Phänomenologie der Essstörung II: Das essgestörte Individuum
6. Der Suppenkasper: Hilfe, mein Kind isst nicht, was nun?
Die vorpubertäre Magersucht
7. Magersüchtig oder nur schlank? Wie erkenne ich eine beginnende Essstörung?
Body-Mass-Index – Maß ohne Maß?
8. Was eine Magersucht mit dem Körper und der Seele anstellt: Symptome der Essstörung
Seelische Symptome
Körperliche Symptome
Bilden sich die körperlichen Folgen nach Überwinden der Essstörung zurück?
9. Welche Essstörungen gibt es und wie häufig kommen sie vor?
Vorläufer von Essstörungen
Ist Adipositas auch eine Essstörung?
Einteilung der klassischen Essstörungen
10. Ursachen von Essstörungen
Das Minnesota-Experiment
Faktoren, die eine Essstörung begünstigen
Der Teufelskreis der Essstörung oder Wie die Essstörung sich selbst aufrechterhält
11. Die Frage nach Verantwortung und Schuld
TEIL 3
Die Behandlung der Essstörung
12. Prävention und Früherkennung: Die Rolle von Elternhaus und Schule
Wie die Familie präventiv wirken kann
Was ist die Rolle der Schule?
Prävention
13. Liebe Jugendliche, lieber Jugendlicher …
Wenn du deinen Körper nicht magst …
Das Spiegelexperiment
Auswirkungen von Diäten
Wenn die Essstörung im Anmarsch ist
Frühzeichen von Essstörungen
Wenn die Essstörung schon da ist
Umgang mit der Angst
Ich kann «wirklich» nicht essen
Warum kann ich meine Essstörung nicht loslassen?
Eine Freundin von mir hat eine Essstörung …
14. Was können Eltern tun?
Der erste Grundsatz: Zuhören und nachfragen
Der zweite Grundsatz: Alles, was wir tun, ist in den Augen der Betroffenen falsch – aber nichts tun ist noch falscher
Der dritte Grundsatz: Kämpfen Sie nicht gegen die Tochter oder den Sohn, sondern gegen die Essstörung
Liebe Eltern …
15. Die Therapie junger Menschen mit Essstörungen
Die Erstintervention in der Sprechstunde bei jungen Menschen mit Essstörungen
Psychoedukation: Aufklärung über das Erscheinungsbild und die Hintergründe der Essstörung
Ambulante oder stationäre Behandlung?
Die Eltern als wichtige Partner in der Behandlung: Die Familienbasierte Therapie
Die Vereinbarung
Maudsley-Prinzipien der Familienbasierten Therapie
Ernährungstherapie
Die vergessenen Geschwister …
Gemeinsam gegen die Essstörung: Trialog-Abende für Eltern und Betroffene
Abend 1: Den Essstörungskreislauf in Beziehungen erkennen und durchbrechen
Abend 2: Hilfe, die Essstörung frisst uns auf – wie können wir den Fokus erweitern?
Abend 3: Einfühlung und Verbesserung der Kommunikation
Abend 4: Sorge, emotionale Wärme, Verantwortung – die richtige Balance finden
Abend 5: Diskussion gemeinsam mit ehemaligen Betroffenen
Die Therapie geht nach Hause: Home Treatment für junge Menschen mit Essstörungen und deren Familie
Warum soll ich meine Essstörung aufgeben? Die Motivationsphase der Therapie
Die Odysseus-Sage als Analogie
Psychotherapeutische Methoden: Was hilft?
Was hat meine Essstörung mit mir zu tun?
Therapiegruppen
Körper und Kreativität: Bewegungstherapie, Entspannungstraining, Musiktherapie, Maltherapie
Können Medikamente helfen?
In der Klinik: Ein intensives multimodales Behandlungsprogramm
16. Liebe Therapeutinnen, liebe Therapeuten …
Wo liegen die Fallstricke für die Behandler?
Was sind die größten Herausforderungen?
17. Prognose der Essstörungen: Was wird aus den Jugendlichen?
18. Die Behandlung der essgestörten Gesellschaft: An die Adresse der Verantwortlichen in Politik, Werbebranche, Film- und Modeindustrie
Präventionsprogramme in Schulen
Modewelt
Werbung
Medien und Gesellschaft
Wie geht es weiter?
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Für alle, die schön sind, ohne es zu wissen …
Eines Tages wollte ich mich nicht mehr damit abfinden, als Therapeutin immer wieder die gleichen Geschichten zu hören. Von Mädchen und Jungen, die aus der Diät in die Magersucht kippen. Weil sie sich nicht schön finden, sondern «zu fett». Weil sie sich für ihre Körperformen abgrundtief schämen. Weil sie beschlossen haben, endlich beliebt und begehrt zu werden, indem sie abnehmen. Um sich dann in einer tödlichen Essstörung wiederzufinden. Einer Essstörung, die sie zunächst mögen und gegen alle Widerstände verteidigen. Die ihnen die Lösung aller Probleme verheißt. Und die sie dann alleine nicht mehr loswerden können. Eine Essstörung, die ihr ganzes Leben ruinieren kann.
Es war der Tag, als mich eine schöne junge Frau von einem Plakat anlächelte, das für Schönheitsoperationen der Brust warb. «Meine Dinger, mein Ding». So lautete ihr Slogan und sie war eindeutig glücklich und selbstbewusst. Und dennoch wollte sie sich die Brust zurechtoperieren lassen, so ganz wie es ihr passte. Das war die Botschaft, mit der die Jugendlichen bombardiert wurden, direkt vor unserem Klinikeingang. Jugendliche, denen ich helfen sollte, selbstbewusst und gesund zu werden. Das war der Tag, an dem mir der Kragen platzte.
Der Tag, an dem ich beschlossen habe, ein Buch zu schreiben. Ein Buch, das sich nicht nur an Fachleute wendet und die Methoden für die Behandlung beschreibt. Kein reines Fachbuch, sondern ein engagiertes Buch. Ein Buch, das die Hintergründe unseres Schönheitswahns beleuchtet. Ein Buch, das sich auch an die Eltern wendet. Besorgte Eltern. Eltern, die sich fragen, warum ihr Kind in die Essstörung geraten ist. Eltern, die sich fragen, was sie falsch gemacht haben. Die sich selbst die Schuld dafür geben und die ich gerne entlasten würde mit Fragen, die ich an die Gesellschaft und an die Politik stelle: Was tun wir, damit unsere Kinder nicht mehr dem Schlankheitswahn erliegen? Wie wollen wir gesellschaftliche Tendenzen eindämmen, die unserer Jugend nachweislich schaden? Investieren wir genug in die Prävention?
Das Buch richtet sich aber auch an die Betroffenen selbst. Junge Menschen, die sich im Werden des Körpers und der Seele befinden. Junge Menschen, die Selbstzweifel haben und sich nach Bestätigung sehnen. Deren Gehirne von klein auf mit Bildern zugekleistert wurden von superdünnen Stars und Models. Jugendliche, die in einer Welt von «guten und schlechten Fettsäuren» aufgewachsen sind und deren Mütter sich bereits mit Diäten aller Art beschäftigt haben. Das Buch prangert die gesellschaftlichen Hintergründe der Essstörung an. Angehörige und Betroffene sollen Essstörungen frühzeitig erkennen, damit sie im Keim erstickt werden können. Gleichzeitig werden die Wege aus der Essstörung aufgezeigt und die Möglichkeiten für die Essstörungsbehandlung erklärt.
Ein Buch, das sich sowohl gegen den Magerwahn richtet als auch Behandlungen aufzeigt? Ein Buch, das sowohl für Laien als auch für Fachleute interessant ist? Der Anspruch ist hoch. Aber wie sollen wir die Wurzeln der Essstörungen erkennen und dagegen ankämpfen, wenn wir nicht an einem Strang ziehen? Wenn wir nicht, ausgestattet mit den gleichen Fakten und Informationen, dem Grundübel zu Leibe rücken? Wenn die Betroffenen gegen ihre Familien und die Behandler kämpfen anstatt gemeinsam gegen die Essstörung und deren gesellschaftliche Ursachen?
Wenn die Essstörung im Anmarsch ist, genügt unter Umständen die plötzliche Einsicht und Umkehr der Betroffenen selbst, das beherzte Eingreifen von Eltern oder die Unterstützung durch eine Freundin oder den Partner. Wenn die Essstörung bereits da ist, dann brauchen die Betroffenen und ihre Familien Hilfe von Fachpersonal. Das rechtzeitige Erkennen und die frühzeitige fachgerechte Behandlung von Essstörungen verbessern die Prognose. In der Behandlung der Essstörungen geht es darum, die Betroffenen zur Mitarbeit zu motivieren. Sie müssen wissen, dass das angestrebte Schlankheitsideal kein Lebensziel ist, das sie glücklich machen wird. Eltern müssen erfahren, dass sie nicht schuld an der Essstörung ihrer Kinder sind, sondern ihren Teil zur Gesundung beitragen können.
Essstörungen junger Menschen entstehen auf dem Nährboden der gesellschaftlichen Essstörung. Es ist wichtig, dass wir unsere Scham über gesunde Körperformen überwinden. Es ist wichtig, dass wir in Zukunft nicht nur Essstörungen behandeln, sondern auch verhindern.
Wenn dieses Buch einen Beitrag dazu leisten kann, dann macht mich das glücklich.
Zürich, im Juni 2018 |
Dagmar Pauli |