Über das Buch:
Ithaca, New York, 1885: Nora Shipley studiert Insektenkunde und setzt alles daran, die Fachzeitschrift ihres verstorbenen Vaters zu retten, die ihr Stiefvater langsam aber sicher in den Ruin treibt. Während er und ihre Mutter darauf hoffen, dass Nora schnell eine gute Partie machen wird, träumt sie selbst davon, ihr Studium fortzusetzen und berufstätig zu werden.
Doch dafür braucht sie unbedingt das bald zu vergebende Stipendium – das sie nur bekommt, wenn sie sich gegen ihren härtesten Konkurrenten durchsetzt: Owen Epps, dem immer alles in den Schoß zu fallen scheint und den sie unter keinen Umständen mögen will.
Da er an einer Schmetterlings-Expedition in Indien teilnimmt, um mit der Praxiserfahrung zu glänzen, reist auch Nora zu dem Forschungstrupp nach Kodaikanal. Sie ahnt nicht, welch tiefgreifende Entscheidungen dort auf sie warten …
Über die Autorin:
Kimberly Duffy wuchs auf Long Island auf und lebt heute mit ihrer Familie in Ohio. Wenn sie nicht gerade ihre vier Kinder zu Hause unterrichtet, schreibt sie historische Romane, die ihre LeserInnen in andere Zeiten und über Meere entführen. Sie hat für einige Monate in Indien gelebt und war schon immer eine Weltentdeckerin.
Kapitel 6
Rose und Bitsy saßen, die Köpfe zusammengesteckt, an dem gusseisernen Tisch in der Laube in Noras Garten. Sie gaben ein hübsches Bild ab – Rose mit ihren hoch aufgetürmten blonden Locken unter einem kessen, mit Federn geschmückten Hut und Bitsy, nicht auf klassische Weise hübsch wie Rose, aber mit einer Ausstrahlung, die Menschen zu ihr hinzog.
Als Nora näher trat, wandten die beiden jungen Frauen sich zu ihr um und starrten sie traurig an. Rose hatte sogar Tränen in den Augen.
»Was ist denn los?«, fragte Nora und eilte zu ihren Freundinnen. Sie zog einen Hocker näher, setzte sich und nahm Roses Hand. »Warum seid ihr beide hier? Ist etwas passiert?«
»Oh, Nora!«, rief Rose. »Owen hat uns von Indien erzählt. Verlässt du uns?«
»Nun lass sie doch erst einmal erklären, anstatt voreilige Schlüsse zu ziehen.« Bitsy zog eine Augenbraue hoch und wandte sich dann an Nora. »Indien! Stellt euch das doch mal vor! Ich hatte einen Onkel, der in Indien beim Militär war. Er hat eine Inderin geheiratet und sie haben ein halbes Dutzend Kinder bekommen. Davon hat meine Familie sich nie wieder erholt.« Ihr spöttisches Lächeln verriet Nora, dass sie auf das skandalöse Verhalten ihres Angehörigen recht stolz war.
»Ich kann wohl kaum nach Indien gehen«, sagte Nora. »Nicht wo Mutter so krank ist.«
»Deine Mutter hat Lucius.« Bitsy deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. »Du bist nicht für sie verantwortlich.«
Rose starrte sie mit offenem Mund an. »Das ist furchtbar herzlos! Natürlich fühlt Nora sich für ihre Mutter verantwortlich. Sie könnte niemals so selbstsüchtig sein.«
»Ach, komm schon.« Bitsy spielte mit dem Perlenarmband an ihrem Handgelenk. »Du musst deine eigenen Wünsche zurückstellen und Nora erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen.«
Rose schmollte. »Es ist nicht selbstsüchtig, Nora in Ithaca behalten zu wollen, wo sie sicher und von lieben Menschen umgeben ist.« Sie zog ihre Hand aus Noras Griff und presste sie gegen ihr Herz. »Ich will nur, dass dir nichts passiert, Nora, ganz ehrlich. Ich bin nicht selbstsüchtig.«
»Natürlich nicht«, antwortete Nora. Sie warf Bitsy einen warnenden Blick zu, doch die zuckte nur mit einer ihrer zierlichen Schultern. »Außerdem werde ich nicht nach Indien reisen.«
»Owen geht aber«, sagte Bitsy und verzog ihre ausdrucksvollen Lippen.
Owen hatte daran keinen Zweifel gelassen. Er würde den Sommer über sehr viel lieber reisen, als für seinen Vater zu arbeiten. Es passte zu seinem Wunsch nach Abenteuern. Wahrscheinlich träumte er in Hindi. Oder Mandarin oder Polnisch oder Russisch. Nora war sicher, dass er von bunten Vögeln träumte, die in Bananenstauden saßen, und von Frauen in Saris, die nach Sandelholz rochen. Ihr Gesicht brannte.
»Warum spielt es eine Rolle, ob Owen geht?«, fragte sie.
Bitsy rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne und lehnte sich dann zurück, einen Arm in gespielter Gleichgültigkeit über die Rückenlehne gelegt. »Ja, wahrscheinlich ist es völlig unerheblich für die Entscheidung, wer das Stipendium bekommt.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Wie wird es wohl aussehen, wenn Owen nach Indien gegangen ist … und du in den Maisfeldern von Illinois Entomologie zum Sparpreis gemacht hast?«
Nora starrte sie an. Glaubte Bitsy das wirklich? Dass das Stipendium davon abhing, wer den aufregendsten Sommer hatte? Nein, das konnte nicht sein. Aber sie würden natürlich darauf schauen, wer die meiste Zeit und Energie investiert hatte, um das eigene wissenschaftliche Engagement unter Beweis zu stellen.
Nora vergrub das Gesicht in den Händen und Rose tätschelte ihr den Rücken. »Das macht doch nichts«, sagte Rose. »Du musst nicht unbedingt einen Master machen. Du könntest doch heiraten!«
Bitsy kicherte. »Für Nora ist die Ehe nicht die verheißungsvolle Utopie wie für dich. Außerdem ist sie mit ihren Insekten verheiratet. Und nichts würde ihr besser gefallen, als Lucius’ Pläne für eine gute Partie zu durchkreuzen.«
Nora verschränkte die Arme und sah ihre Freundin misstrauisch an. »Es hat ganz und gar nichts mit Lucius zu tun. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass ich mich etwas Besserem widmen könnte als der Entomologie.«
Und das würde sie der Kommission, die über die Stipendien entschied, auch zeigen – mit oder ohne eine Reise nach Indien.
* * *
Bevor sie am nächsten Tag das Haus verließ, streckte Nora den Kopf ins Zimmer ihrer Mutter. Lydia lag auf der geblümten Chaiselongue am Fenster, ein Schreibpult aus Walnussholz auf dem Schoß. Sie wurde von Sonnenstrahlen beschienen und Nora fand, dass sie beinahe gesund aussah.
»Ich gehe ins Labor hinüber, Mutter. Brauchst du irgendetwas?«
»Danke, mir geht es recht gut. Sag Alice doch bitte noch kurz, sie soll heraufkommen. Ich muss das Menü für deine Abendgesellschaft planen.« Ihre Miene wurde lebhafter und sie klatschte in die Hände. »Oh Nora! Lucius hat mir erzählt, dass du mit der Einladung von Mr Primrose zu diesem Essen einverstanden bist. Ich bin ja so froh! Lucius denkt, du wirst ihn mögen.«
Nora unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte das Essen mit Mr Primrose ganz vergessen, doch sie würde auf keinen Fall darum bitten, dass die Feier zu Ehren ihres Hochschulabschlusses abgesagt wurde – das Ereignis zu planen, könnte ihrer Mutter neue Energie geben. Trotzdem fiel ihr nichts ein, wonach ihr weniger zumute war als danach, mit den Freunden ihres Stiefvaters höfliche Konversation zu betreiben und so zu tun, als könnte sie es kaum erwarten zu heiraten und eine Familie zu gründen.
»Ich gebe Alice Bescheid.«
Kurz darauf machte Nora sich auf den Weg zur Universität.
Als sie am Friedhof ankam, stieß sie das rostige Tor auf und lief über den Rasen. Sie zog eine Grimasse, als sie einen Bogen um ein frisch ausgehobenes Grab machte, neben dem die Erde zu einem Haufen aufgetürmt war. Schuldgefühle machten sich in ihr breit. Sie fand es schrecklich, dass der kürzeste Weg zum Unterricht über den Friedhof führte, aber alle Studenten nahmen diese Abkürzung.
Nora vermied es, zu dem gotischen Grabstein ihres Vaters hinüberzublicken, und beschleunigte ihre Schritte, als sie an dem Kiesweg zu seinem Grab vorbeikam. Sie ging nie dorthin. Das konnte sie einfach nicht. Es war für sie unvorstellbar, dass ihr Vater, der immer so voller Leben und Energie gewesen war, unter der Erde in einem Sarg verweste.
Mit gesenktem Kopf, damit sie nicht doch versehentlich den Grabstein sah, eilte Nora in Richtung Straße und stieß mit jemandem zusammen, der genau hinter dem Tor stand.
»Oh, tut mir leid!«
Owen drehte sich um und blinzelte sie mit einem schiefen Grinsen an, das in ein verlegenes Lächeln umschlug. »Dass ich hier ausgerechnet auf dich treffe … oder vielmehr du auf mich!«
Nora hatte den Impuls zu fliehen. Sie blickte zum Friedhof zurück, als könnte sie sich hinter einem der Grabsteine verstecken. Oder auf die Eiche klettern und in ihren Ästen verschwinden. Aber wahrscheinlich würde sie nur wieder herunterfallen.
Als sie Owen wieder ansah, war sein Lächeln verschwunden und sie bemerkte, dass er Ringe unter den Augen und eine steile Falte auf der Stirn hatte. Sein sonst gescheiteltes und mit Pomade gezähmtes Haar fiel ihm ins Gesicht, als wäre er bei der Morgentoilette in Eile gewesen. Er strich die vorwitzige Tolle zurück, dann schob er die Hände in die Taschen seiner grau karierten Hose. »Ich bin auf dem Weg zu Professor Comstock«, sagte er mit ungewohntem Ernst in der Stimme.
»Warum?«
»Ich muss mit ihm über die Arbeit in Indien reden und mehr Einzelheiten klären. Gestern habe ich mit meinem Vater gesprochen.« Er wackelte mit den Augenbrauen, aber seine Unbekümmertheit wirkte irgendwie aufgesetzt. »Er ist nicht begeistert.«
Eine Kutsche fuhr vorbei und Owen zog Nora an den Straßenrand, weg von dem aufgewühlten Staub und den aufspritzenden Kieselsteinen. »Ich will ihn erwischen, bevor er zum Mittagessen geht. Komm doch mit.«
Mit langen Schritten zog er los und Nora trottete hinter ihm her. Einen Häuserblock später war sie ganz außer Atem.
Owen sah sie an und wurde langsamer. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe es nur so eilig, dem Professor von meinen Plänen zu erzählen.«
»Was hat dein Vater denn gesagt, als du ihm erzählt hast, dass du nach Indien reisen willst?«
Owen starrte geradeaus, aber sie sah einen Muskel in seinem Unterkiefer zucken. »Er hat gesagt, er würde diese Reise nicht finanzieren, was aber keine Rolle spielt. Mit dem Stipendium werde ich nicht von ihm abhängig sein und natürlich muss ich die Reisekosten nicht selbst aufbringen. Dann hat er gesagt, er gehe davon aus, dass ich scheitere, und wenn es so weit sei, solle ich nach Hause kommen, damit ich für ihn arbeiten kann, bevor ich im Herbst mit dem Jurastudium anfange.« Er lächelte traurig. »Vielleicht wäre ich Jahrgangsbester geworden und hätte seine Anerkennung erlangt, wenn nicht eine Frau mich ausgestochen hätte.«
Nora beeilte sich, ihn einzuholen. Eigentlich waren sie beide doch nicht so unterschiedlich. Sie berührte seinen Arm und lächelte leicht, ein Friedensangebot. »Ich weiß, wie unmöglich es ist, Anerkennung von einem Menschen zu erhalten, der dafür nicht offen ist. Da hilft es auch nicht, die besten Noten zu haben.«
Als sie White Hall, das Hauptgebäude auf dem Universitätsgelände, erreicht hatten, blieb Owen am Fuß der Treppe stehen. »Danke, dass du mich begleitet hast.«
Sie ging vor ihm die Treppe hinauf und betrat das Gebäude. »Ich bin selbst auf dem Weg ins Labor.«
Er folgte ihr im Laufschritt. »Hast du eine Entscheidung getroffen, was Indien betrifft?«
Nora nickte.
»Ich hoffe, du hast dich entschlossen mitzufahren.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Du bist die Klügste von allen an der Cornell. Begabt und abenteuerlustig.«
Nora wandte den Blick ab, weil sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Owen, der Reisen und Romane liebte, fand sie abenteuerlustig? Sie wusste, dass es als großes Kompliment gemeint war. Er bot ihr den Ellbogen, als sie zum dritten Stock hinaufstiegen, und ihrem Herzen unterlief ein kleiner Stolperer, als sie ihre Hand in Owens Armbeuge schob.
Professor Comstock war nicht im Labor, aber sie fanden ihn in seinem äußerst unaufgeräumten Büro nebenan. Die Beine ausgestreckt und die Füße auf dem Schreibtisch, schlief er auf seinem Stuhl. Seine Arme hingen herunter und er schnarchte leise.
Owen unterdrückte ein Lachen. Dies war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Professor Comstock bei der Arbeit eingeschlafen war. Nora widerstand dem Drang, in der Tür stehen zu bleiben, während ihre Finger zitternd auf Owens Ärmel lagen. Sie wollte sich noch ein wenig im Glanz seines Lobes sonnen und in seiner Gegenwart verweilen.
Das ist doch absurd!
Sie ließ Owens Arm los, schüttelte die Hand, als könne sie so die Erinnerung an die Wärme seiner Berührung vertreiben, und bahnte sich einen Weg zwischen Kisten und Bücherstapel hindurch. Dann berührte sie die Schulter ihres Lehrers. »Professor.«
Er wachte auf und blinzelte verwirrt, dann wurde sein Blick klar und er lächelte. »Nora. Schön, Sie zu sehen.«
Owen trat in sein Blickfeld. »Wir sind gekommen, um mit Ihnen über Indien zu reden.«
Professor Comstock schwang die Beine vom Tisch. »Ausgezeichnet! Kommen Sie, setzen Sie sich. Sagen Sie mir, was Sie beschlossen haben.«
Sie nahmen Platz.
»Ich werde Ihr Angebot annehmen. Da gibt es keinen Zweifel«, sagte Owen eilig. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und Nora hatte den Eindruck, dass er erleichtert war.
Die Freude in Professor Comstocks Augen war unverkennbar. »Eine wunderbare Entscheidung, Owen. Eine solche Gelegenheit bietet sich nicht vielen Menschen in Ihrem Alter. Ich bin sicher, Sie werden dort viel lernen und sich weiterentwickeln.« Er wandte sich mit erwartungsvoller Miene an Nora.
Sie hasste es, ihn zu enttäuschen. »Es tut mir leid, aber ich muss Nein sagen. Ich kann meine Mutter nicht verlassen.«
Professor Comstock schlug ein Bein übers andere, legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und drückte sie an sein Kinn. »Sind Sie sicher? Es wird sich kaum noch einmal eine Chance wie diese ergeben.«
Nora befingerte ihre Zikadenbrosche, während sie die Verspannung im Nacken spürte – der Schmerz zog in ihren Kopf hinauf und zwang sie, die Augen zu schließen. Sie wusste, dass das Stipendium ohne den Indienaufenthalt vermutlich nicht an sie gehen würde, vor allem, wenn Owen die Reise machte. Und wenn sie das Stipendium nicht bekam, würde sie auch die Zeitschrift nicht bekommen. Aber das blasse Gesicht ihrer Mutter und Dr. Johnsons besorgte Miene standen ihr ununterbrochen vor Augen. Sie durfte sich von der Angst, etwas zu verpassen, nicht von ihren Pflichten abbringen lassen. Es würde sich ein anderer Weg finden lassen müssen, um dafür zu sorgen, dass sie Owens Sommer überbot.
Nora öffnete die Augen. »Meine Mutter ist meine oberste Priorität.«
»Sie ist verheiratet und damit die oberste Priorität deines Stiefvaters«, wandte Owen ein und das glich dem, was Bitsy gesagt hatte, so sehr, dass es Nora nicht überrascht hätte zu erfahren, dass die beiden sich abgesprochen hatten.
»Außerdem mache ich mir nichts daraus, durch die Welt zu reisen«, sagte sie. »Ich habe nicht das Verlangen, von zu Hause wegzukommen. Ich bin hier glücklich und brauche kein Abenteuer, um meinem Leben einen Sinn zu geben.«
Sie hatte nur sich selbst überzeugen wollen – damit sie ihre Tagträume von weißem Leinen, dunklen Wäldern und uralten, unbekannten Insektenarten vergaß. Aber Owen wich zurück, als hätte sie ihn geschlagen.
Professor Comstocks sanfte Stimme füllte die unbehagliche Stille und lenkte die Aufmerksamkeit von ihren unbedachten Worten ab: »Ich kenne Sie nun schon sehr lange, Nora.«
»Seit ich klein war.«
»In der ganzen Zeit habe ich Sie immer als Abenteurerin erlebt, stets auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel. Vielleicht nicht unbedingt nach physischem Abenteuer, sondern nach Erkenntnis. Sie hatten schon immer einen unstillbaren Wissensdurst. Sie blühen auf, wenn Sie etwas Neues entdecken. Und wenn Sie so tun, als wären Sie ein Heimchen, dann wirkt das nicht sehr echt.«
Und ich habe meine Lektion vor langer Zeit gelernt.
Manchmal konnte die Suche nach Wissen ebenso gefährlich sein wie riskantes Verhalten.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Ich gebe Owen recht. Lassen Sie sich von der Loyalität Ihrer Mutter gegenüber nicht davon abhalten, Ihren eigenen Weg zu gehen. Sie ist eine verheiratete Frau und als solche ist Lucius für sie verantwortlich. Sie haben eine seltene Begabung. Es wäre eine Sünde, sie verkümmern zu lassen!«
Owen stand auf und gab dem Professor die Hand. »Danke, dass Sie mir dieses Angebot gemacht haben, Sir.«
Nora sah zu, wie er mit steifen Schritten und geradem Rücken den Raum verließ. An der Tür blieb er stehen und lächelte hölzern, bevor er verschwand.
»Das war nicht sehr nett.« In Professor Comstocks Stimme lag trotz des Tadels Mitgefühl.
Nora konnte ihm nicht in die Augen sehen. Wie peinlich, dass er ihre Gedankenlosigkeit miterlebt hatte. Seine Meinung von ihr war Nora ungeheuer wichtig, wichtiger als die jedes anderen Menschen, ausgenommen vielleicht Anna.
»Owen hat nur zu helfen versucht, damit Sie sehen, dass Ihre Aufopferung nicht angebracht ist. Er hat es gut gemeint.«
»Ich weiß.« Die geflüsterten Worte kamen ihr nur mit Mühe über die Lippen. »Ich werde mich bei ihm entschuldigen.«
Der Professor sah sie traurig an. »Ich werde erst am Montag ein Telegramm senden. Zu lange kann ich nicht mehr warten, weil mein Kollege hofft, Anfang Juli Hilfe zu bekommen. Wenn Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben, werde ich Ihren Platz jemand anderem anbieten.«
Nora nickte und spürte seinen Blick im Rücken, als sie das Büro verließ. Durch die offene Tür zum Labor sah sie Owen am Insektenschrank stehen, einige Schubladen herausgezogen.
Sie blieb stehen. »Owen?«
Er drehte sich um und lehnte sich an den Schrank, die Füße gekreuzt und die Arme verschränkt. Hätte sie nicht seinen verletzten Blick gesehen, nachdem sie ihn beleidigt hatte, hätte sie angenommen, seine Haltung wäre ein Ausdruck von Verärgerung oder Arroganz, doch so kannte sie die Wahrheit. Sie fragte sich, wie oft ihre impulsiven Worte ihn schon getroffen hatten. Wie oft sie ihm charakterliche Mängel zugeschrieben hatte, die er gar nicht hatte.
Nora ging zwischen den Tischen hindurch zu ihm. Sie trat so nahe an ihn heran, dass sie in seinen Augen den cognacfarbenen Ring sehen konnte, der in eine blaue Iris mit silbernen Sprenkeln überging. Sie hatte noch nie bemerkt, wie interessant seine Augen waren. Nora wandte sich von ihm ab und fuhr mit dem Finger über die Schubladen des Schranks. Da. Sie zog die Lade heraus, um eine Sammlung südamerikanischer Falter zu betrachten, die in dem Glasfach ruhten.
»Sieh mal«, sagte sie.
Er spähte über ihre Schulter, sodass sie einen weiteren Blick in seine ungewöhnlichen Augen erhaschte. Sie zeigte auf den blauen Morphofalter. Morpho achilles. »Deine Augen, in Form eines Nymphalis.«
Er lächelte sie an und die kleinen Tupfen in besagten Augen glänzten wie Silberfischchen.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ich verzeihe dir, Schrullig.« Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, zögerte aber mit unentschlossener Miene.
»Ich werde dich nicht noch einmal kränken, Owen. Bitte sag mir, was du denkst.«
Als er sich auf die Unterlippe biss, fragte sie sich, wie ein Mann, der so viele Ecken und Kanten hatte, einen so weichen Mund haben konnte. Er packte ihre Ellbogen. Hätte ein anderer Mensch von seiner Größe und Präsenz das getan, hätte sie Angst gehabt. Sich eingeschüchtert gefühlt. Aber bei Owen wirkte die Geste beinahe schützend.
Und er sah so ernst aus. »Ich hoffe, dir ist bewusst, wie diese Reise deine Karriere voranbringen könnte. Wenn du nach Indien gehst und eine Entdeckung machst, könnte dir das nicht nur das Stipendium garantieren, sondern vielleicht sogar das Ansehen der Wissenschaftsgemeinde sichern.«
Nora lachte. »Was denn für eine Entdeckung?«
»Ich weiß nicht, am besten eine neue Art. Du … du könntest die nächste Amelia Phelps sein. Eine Auszeichnung der Amerikanischen Akademie für Naturwissenschaften erhalten. Lehren, forschen, schreiben. Es gibt so viele unglaubliche Wissenschaftlerinnen, die unser Fach im vergangenen Jahrhundert geprägt haben. Du gehörst auf jeden Fall zu ihnen.«
Die Inbrunst, mit der er sprach, ließ einen Funken in ihrem Innern sprühen, von dem sie wusste, er könnte sie verbrennen, wenn er angefacht wurde. Oder er könnte einen neuen Weg erleuchten.
»Ich will nur sagen«, fuhr Owen fort und beugte sich so weit vor, dass sie die Silberfischchen schwimmen sah, »dass durch diese Sache alle deine Träume Wirklichkeit werden könnten. Lass dir das nicht von Erwartungen anderer nehmen.«
Er drückte ihre Arme, dann ließ er sie los und hastete aus dem Raum, als würde die Leidenschaft seiner Worte ihn verfolgen.
Nora blinzelte und starrte auf den Fleck, an dem er gerade noch gestanden hatte. Dann sah sie wieder den blauen Morphofalter an. Nach Indien reisen? Alles Vertraute gegen das Unbekannte eintauschen, gegen die klebrige Hitze der Tropen, gegen die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen?
Die Flügel des Falters glänzten im Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, und Nora fragte sich, wie Owens Augen wohl unter einem indischen Mond aussehen würden.
Kapitel 7
»Liebling, du siehst bezaubernd aus!«
Nora ergriff die ausgestreckten Hände ihrer Mutter und ließ sich von ihr im Kreise drehen. Lydias Augen leuchteten und ihre Wangen waren zum ersten Mal seit ihrem Sturz rosig. Nora brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, wie schrecklich sie das Kleid fand, das für das Festessen zu ihrem Abschluss geschneidert worden war. Mit all den Bändern und Spitzenvolants sah sie darin aus wie eine mehrstöckige Hochzeitstorte.
Nora hob ihre behandschuhte Hand an die Wange und fuhr mit einem Finger über den Schorf auf der heilenden Schürfwunde. Immer noch zog jedes Lächeln und Stirnrunzeln und sie vermied es, in den Spiegel zu schauen, während Alice ihr die Haare frisierte. Etwas eitel war Nora doch. Aber dieses Kleid … Es war ein gewisser Trost für Nora, dass zu dem Essen nur die Freunde ihres Stiefvaters und ihrer Mutter kommen würden und nicht ihre eigenen. Nur John und Anna Comstock hatte ihre Mutter eingeladen, aber Nora wusste, dass die beiden sich kaum Gedanken über ihre Kleidung machen würden.
»Ich freue mich sehr darüber, dass Mr Primrose heute Abend mit uns isst«, sagte Lydia.
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Mutter. Ich habe derzeit wirklich kein Interesse daran zu heiraten.«
Mutter presste die Lippen zusammen, was hinsichtlich Noras Chancen für einen entspannten Abend nichts Gutes verhieß. »Lucius hat nur dein Wohl im Sinn und du kannst nicht auf ewig unverheiratet bleiben. Deine Schönheit wäre an ein Dasein als alte Jungfer einfach verschwendet. Mr Primrose ist hoch angesehen, erfolgreich und attraktiv.«
Nora warf einen Blick in den Spiegel. Schönheit? Was hatte Schönheit damit zu tun? »Mir ist es wichtiger, dass ich meinen Verstand nicht an eine Ehe mit einem Mann verschwende, den ich gar nicht heiraten will.«
Mutter tätschelte Noras Arm. »Vielleicht magst du ihn ja, wenn du ihn kennenlernst. Gib ihm eine Chance.«
Nora schnaubte. Jemanden, den Lucius geeignet fand, würde sie wohl kaum als Ehemann in Betracht ziehen. Aber es gab keinen Grund, das an ihrer Mutter auszulassen. Also setzte Nora eine sanftere Miene auf, bevor sie ihr den Arm darbot. »Ich werde mich mit ihm unterhalten.«
Ihre Mutter lächelte strahlend und sah dabei beinahe gesund aus. Während sie in die gute Stube hinuntergingen, wo die Gäste auf sie warteten, dachte Nora, dass sie fast bereit wäre, sich von Mr Primrose den Hof machen zu lassen, wenn es ihrer Mutter dann besser ging.
Nora plauderte bis zum Essen mit den Gästen, was nicht unbedingt ihrer persönlichen Neigung entsprach. Nach einer Weile trat Lucius zu ihr, an seiner Seite ein attraktiver Mann, der etwa fünfzehn Jahre älter war als sie.
»Nora, darf ich dir Carlton Primrose vorstellen? Ihm gehört die Druckerei, die unsere bescheidene Zeitschrift herstellt.«
Nora streckte die Hand aus, über die Mr Primrose sich beugte, und nahm seine gerade Nase, die leicht angegrauten Schläfen und die tief liegenden Augen, die vor Intelligenz und Interesse funkelten, zur Kenntnis. Mutter hatte tatsächlich recht. Er war attraktiv. Und erfolgreich. Sein Unternehmen druckte beinahe alle Veröffentlichungen in Ithaca und Umgebung. In einer Universitätsstadt wie dieser gab es eine Menge davon.
Sie ließ sich von Mr Primrose ins Esszimmer führen, wo sie gegenüber von Professor Comstock und seiner Frau Platz nahmen. Als das eigens für diesen Abend angeheuerte Personal schließlich den ersten Gang aufgetragen hatte – eine leuchtend rote Suppe aus gerösteten Roten Beten, verziert mit saurer Sahne –, war Nora bereits in eine Unterhaltung über Fotogravur verwickelt, eine neue Methode, Fotografien zu drucken.
»Ich glaube«, sagte Mr Primrose mit einem selbstgefälligen Ausdruck, der Nora ärgerte, »dass Zeitschriftenillustrationen irgendwann der Vergangenheit angehören werden.«
Nora lachte. »Eine Fotografie kann doch gewiss nicht die Details auf dieselbe Art wiedergeben wie ein talentierter Künstler.«
Mr Primrose zwinkerte Professor Comstock zu. Nora tauchte ihren Löffel in die Suppe und führte ihn an ihre Lippen, während sie auf eine Entgegnung wartete, von der sie hoffte, dass sie ihren Eindruck von diesem Mann nicht schmälern würde.
»Es mag Sie verwundern, junge Frau, aber die Dinge bleiben nur selten, wie sie sind.« Mr Primrose tätschelte ihre Hand, und als er seine Finger einen Moment zu lange auf ihren ruhen ließ, zog Nora sie weg. »Sie brauchen sich keinerlei Gedanken darüber zu machen, Miss Shipley. Doch Sie können sich sicher sein, dass die Arbeit von Illustratoren zwar nicht sofort überflüssig sein, die Technik aber exponentielle Sprünge machen wird.«
Sie tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. »Im Gegensatz zu den Erwartungen der Gesellschaft an Frauen, die sich eher rückwärts zu entwickeln scheinen.«
Anna hustete ein wenig, aber Nora sah Mr Primrose unverwandt an. Er zupfte an seinem Ohr und eine Furche erschien zwischen seinen Augenbrauen. Dann klärte sich seine Miene und er lachte. »Sagen Sie nicht, dass Sie eine dieser ›neuen Frauen‹ sind, von denen Henry James schreibt.«
»Sie kennen James?«, fragte sie.
»Ich bin Drucker. Ich bekomme alle möglichen alarmierenden Ideen zu Gesicht.«
»Was ist alarmierend daran, wenn eine Frau ihr Leben selbst in die Hand nimmt, indem sie mehr tut, als zu heiraten und Kinder zu bekommen?«
»Wollen Sie denn nicht Ehefrau und Mutter werden?«
»Doch, aber ich sehe nicht, warum das eine das andere ausschließen sollte. Mein Vater, der beste Vater der Welt, war sowohl in seinem Beruf als auch in seinem Privatleben erfolgreich.«
Mr Primrose lehnte sich zurück, während ein Diener seinen Teller abräumte. Er wandte dabei den Blick nicht von Nora ab und in seinen Augen lag ein berechnender Glanz, der ihr nicht gefiel. »Wie ich gehört habe, wird dieses Festmahl anlässlich Ihres Hochschulabschlusses veranstaltet.«
»Ja.«
»Und Sie sind die Jahrgangsbeste.«
»Das bin ich.«
»Sagen Sie: Glauben Sie, dass Sie diese Ehre verdient haben?«
»Ja. Ich habe fleißig gearbeitet und meine Noten spiegeln diesen Einsatz wider.« Sie machte dem Bediensteten Platz, damit er den Teller mit dem nächsten Gang vor ihr abstellen konnte. Sie betrachtete die Forelle in Sauce mousseline und fragte sich, warum ihre Mutter etwas für das Menü ihres Dinners ausgewählt hatte, das Nora so verabscheute. Dann sah sie zu Mr Primrose hinüber und ihr wurde bewusst, dass der Grund dafür Lucius war, der Forelle liebte. Alles, von den Speisen bis zu den Gästen, drehte sich um das, was Lucius wollte. Ganz anders als bei ihrem Vater, der sein eigenes Wohl immer zurückgestellt hätte, damit Nora glücklich war.
»Mr Primrose«, sagte Anna, aß einen winzigen Bissen von dem Fisch, den sie aufgespießt hatte, und wartete, bis er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, »was wollen Sie damit andeuten? Cornell verteilt für gewöhnlich keine unverdienten Ritterschläge.«
»Glauben Sie, dass es gerecht ist, einer Frau etwas zu geben, das in Wirklichkeit einem Mann mehr nutzen würde? Was werden Sie mit der Ehre, Jahrgangsbeste zu sein, anfangen, Miss
Shipley? Und überhaupt mit Ihrem Abschluss? Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie einem Mann eine Karriere stehlen, um, sagen wir, Ihrer eigenen Eitelkeit zu schmeicheln? Frauen können keine guten Gattinnen und Mütter sein und arbeiten. Das ist nicht möglich.«
Nora sah Anna an und nur mit Blicken führten sie eine ganze Unterhaltung, in der sie über den Nutzen debattierten, diesen flegelhaften Mann in seine Schranken zu weisen. Anna verlor.
Nora wandte sich wieder an ihren Möchtegernverehrer. »Es ist amüsant, dass Lucius dachte, ich könnte mir vorstellen, mich an jemandem zu orientieren, der eine so konträre Weltanschauung vertritt. Sie sind recht modern in Ihren Ansichten zu Fotografie und Wirtschaft. Leider wird dieser interessante Zug durch Ihre kurzsichtige Auffassung von der Gesellschaft allgemein und von Frauen im Besonderen stark gemindert. Cornell – und augenscheinlich auch das Druckwesen – haben mit der Zeit Fortschritte gemacht, aber Sie sind zurückgeblieben. Sie denken, die Universität hätte mir einen Gefallen getan, aber ich habe ebenso viel gearbeitet wie jeder Student, vielleicht sogar mehr.«
Mr Primrose stieß ein brüchiges Lachen aus. »Oder vielleicht ist Ihr Gehirn nicht normal. Vielleicht haben Sie jede Spur weiblicher Tugend verloren.«
Das Dutzend Personen am Tisch verstummte und alle Köpfe hatten sich ihnen zugewandt. Nora spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, und vor Verlegenheit wurde ihr schwindelig. »Das ist eine Möglichkeit. Aber wahrscheinlicher ist es meines Erachtens, dass Sie vergessen haben, was es bedeutet, ein Gentleman zu sein. Sie haben Erfolg im Beruf, das stimmt, aber Sie profitieren davon, dass Sie anderer Leute Ideen drucken. Ihr Einkommen stammt von deren Kreativität und Intellekt. Und davon fühlen Sie sich bedroht, nicht wahr? Weil Sie zu eigenen großen Gedanken nicht in der Lage sind. Sie sind ein unbedeutender Mann. Einer, der niemals die Hand irgendeiner Frau verdient hat, denn sie sind alle mehr wert als Sie.«
»Nora!«, sagte ihre Mutter entsetzt. »Das reicht.«
Nora sah sich am Tisch um. Lucius hatte rote Flecken am Hals und umklammerte seine Gabel so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Mr Primrose starrte sie mit offenem Mund an und sein Gesicht rötete sich, als wäre ihre Beleidigung ein Schlag mit der Hand gewesen.
Das Speisezimmer, das gerade noch vom Duft des festlichen Essens, dem Klirren von Glas und Porzellan und der Anwesenheit von ihr wohlgesinnten Menschen bestimmt gewesen war, hatte sich jetzt in ein Mausoleum verwandelt – still, mit dünner Luft und dem Geruch des Bedauerns.
Am liebsten hätte Nora sich hinter ihren Locken versteckt, doch die türmten sich auf ihrem Kopf und boten ihr keinen Schutz. Sie konnte sich den schockierten Mienen ihrer Gäste, dem Tadel in Lucius’ Blick und der Enttäuschung in den Augen ihrer Mutter nicht entziehen.
»Das passiert, wenn eine Frau zu viel Bildung erhält! Dann hat sie alle möglichen Flausen im Kopf.« Lucius’ Worte donnerten in die Stille hinein und er schüttelte den Kopf, die Miene voller vermeintlichem Mitgefühl. Doch Nora sah den Zorn in seinen Augen.
Ihr Gesicht brannte. Ihre Mutter sah sie immer noch traurig an, während ihre Hände über dem Tisch flatterten wie die Flügel eines verletzten Schmetterlings, bevor sie sie auf den Schoß sinken ließ. Hinter dem Schleier der Enttäuschung kam noch etwas anderes hervor. Verärgerung? Eine kalte Faust griff nach Noras Kehle. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter jemals wütend auf sie gewesen war. Verwirrt, ja. Auch frustriert. Aber das … diese Starre in der sanften Rundung des Unterkiefers … darin lag mehr als Beschämung angesichts eines Verstoßes gegen die guten Manieren.
Nora schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Bitte entschuldigt mich. Ich fühle mich unwohl.«
Sie rannte aus dem Esszimmer, so schnell ihre üppigen Röcke es ihr erlaubten. Im Flur traf sie auf eine der Bedienungen. Der junge Mann trug ein schweres Tablett mit Tellern voller Hühnchen Lyonnaise. Nora drängte sich an ihm vorbei, als sie zur Treppe eilte, und ignorierte seinen Schrei, als das Tablett fiel und Geflügel, gedünstete Zwiebeln und Porzellan auf dem gefliesten Boden landeten.
* * *
Durch ihr Schlafzimmerfenster beobachtete Nora, wie die letzten Gäste gingen. Die Räder des Einspänners knirschten auf dem Kies der Auffahrt und sie blickte dem Gefährt nach, bis das Licht der Lampen undeutlich wurde und dann verschwand.
Nora ließ den Vorhang fallen und sank auf ihr Bett. Sie hatte es wieder einmal geschafft. Und sie wusste nicht einmal, warum es so ausgegangen war. Ja, Mr Primrose hatte sich wie ein Rüpel benommen, aber sie war schon oft Menschen wie ihm begegnet und hatte nicht das Bedürfnis gehabt, sie zusammenzustauchen.
Sie zog ein Satinkissen näher und drückte es an ihre Brust. Vielleicht war es die Wut auf Lucius und seinen Plan für die Zeitschrift gewesen, die sich an falscher Stelle Luft gemacht hatte. Wie dem auch war, sie hatte ihre Mutter gekränkt und im gleichen Zug einen Gast, der ihr zu Ehren erschienen war, beleidigt. Mr Primroses Verhalten war unentschuldbar gewesen, aber ihres genauso. Lucius hatte jedes Recht, zornig zu sein, und ihre Mutter ebenfalls, obwohl es Nora überrascht hatte.
Als sie schwere Schritte auf dem Flur hörte, legte sie das Kissen wieder beiseite. Lucius trat ein, ohne zu klopfen, gefolgt von ihrer Mutter.
»Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast.« Seine leise Stimme hielt die Wut, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, nur mit Mühe zurück.
»Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht ...«
Er zerschnitt mit einer Handbewegung die Luft. »Nein, das hast du wohl nicht. Was ironisch ist, wenn man deine kleine Rede bedenkt.«
Nora sank gegen ihr Bettgestell und die gedrechselten Streben bohrten sich in ihren Rücken. »Ich werde ihn morgen besuchen und mich entschuldigen.«
»Ja, das wirst du«, sagte Lucius, »aber das wird vielleicht nicht genug sein.«
»Genug wofür?«
Er sah ihre Mutter an, deren Gesicht grau wirkte. Sie durchquerte den Raum und setzte sich neben Nora. »Dein Stiefvater hatte gehofft, Mr Primrose würde ihm einen Kredit einräumen. Dass er die Zeitschrift zu einem weitaus geringeren Preis druckt, bis wir wieder Gewinne machen. Mr Primrose fühlt sich angegriffen, Nora.«
Nora sah Mr Primroses rotes Gesicht vor sich. Wie er dort saß, erstarrt auf seinem Stuhl, und sein Revers umklammerte, als könnte sein Jackett seinen verletzten Stolz retten. »Wie lange ist das Journal schon in Schwierigkeiten?«
Lucius zog an seinem Halstuch, um es zu lockern. Nora wünschte, sie könnte die alberne Spitze von ihrem eigenen Hals zerren. Vielleicht könnte sie dann wieder atmen.
»Das spielt keine Rolle«, sagte er.
»Natürlich spielt es eine Rolle!« Sie sprang auf. »Du hast die Zeitschrift meines Vaters in den Schmutz gezogen. Du hast sie in ein Käseblatt verwandelt, das nicht einmal das Papier wert ist, auf dem es gedruckt wird. Und jetzt sagst du mir, dass du nicht einmal die Mittel hast, es weiterhin zu drucken?«
Lydia zog an Noras Ärmel und ihre zitternden Finger verhakten sich in den Bändern an Noras Ellbogen. Nora riss sich los.
»Mr Primrose hat dich als potenzielle Ehefrau in Erwägung gezogen, Nora. Er hat dich gesehen und findet dich sehr schön. Er will heiraten und Lucius hat schon oft von dir gesprochen. Das hätte alle Probleme gelöst. Es hätte mehr bedeutet als einen weiteren Kredit – einen Schuldenerlass.«
Eine Ader an Lucius’ Hals pochte. »Ich hatte es in der Hand. Und du hast unser jetziges Dilemma verschuldet, weil du meintest, dich beweisen zu müssen. Deine Verbitterung, weil du dich nicht wie ein Mann benehmen darfst, hat vielleicht alles zerstört. Du lenkst nur von deinen eigenen Fehlern ab.«
»Mein Vater hätte nie zugelassen, dass es so weit kommt.« Nora senkte den Blick auf die geknoteten Fransen des Teppichs, weil sie ihrem Stiefvater nicht in die Augen sehen konnte. Sie mochte einen Fehler gemacht haben, aber Lucius hatte sie mit seiner schlechten Unternehmensführung und seiner Arroganz an diesen Punkt gebracht. »Und ich würde niemals einen Mann heiraten, der nicht an mich glaubt, egal, was er dir anbietet.«
Lucius durchquerte das Zimmer und sie sah die Spitzen seiner modischen zweifarbigen Schuhe. Sie konzentrierte sich auf das polierte Leder, auch als seine Worte ihr Gewissen mit Steinen bewarfen: »Du vergleichst mich seit Jahren unvorteilhaft mit deinem Vater! Tu das nie wieder. Ich bin es leid, mich gegen einen Toten zu verteidigen, der ganz offensichtlich als Vater versagt hat.«
Noras Mutter unterdrückte einen Aufschrei und Nora hob den Blick und sah, dass sie eine Faust an ihren Mund presste. Doch Lydia sagte nichts und für Nora war jede Träne, die über ihre Wange lief, ein wortloser Verrat am Andenken ihres Vaters.
»Mein Vater hat nur in einer Sache versagt, und zwar darin, dass er dir vertraut und sich mit dir angefreundet hat. Wenn er sehen könnte, was du aus seiner Arbeit gemacht hast und aus seiner Familie …« Nora schüttelte den Kopf. »Du wärst nicht ein halb so guter Vater gewesen wie er. So wie du auch kein halb so guter Wissenschaftler bist. Und wenn meine Mutter ehrlich ist, dann bist du auch kein halb so guter Ehemann.«
Lucius stieß einen kehligen Laut aus und Spucke sprühte über Noras Gesicht. Sie drehte den Kopf weg und wich einen Schritt zurück, sodass ihr Bein an die Bettkante stieß. Lucius wandte sich um und trat so heftig gegen ihren Insektenschrank, dass die Glasborde wackelten.
Nachdem er aus dem Zimmer gestürmt war, starrten Nora und ihre Mutter einander an.
»So wütend war er noch nie.« Lydia rollte sich auf Noras Bett zusammen und machte ihre in Seide gehüllte Gestalt so klein wie möglich. »Warum musst du solche Dinge sagen? Er gibt sich wirklich Mühe. Er ist kein schrecklicher Ehemann und er hat keine Erfahrung in der Kindererziehung. Da darfst du nicht erwarten, dass er deinem Vater das Wasser reichen kann.«
Nora sank neben ihr aufs Bett und rieb ihren Rücken. »Reg dich nicht zu sehr auf. Er wird sich wieder beruhigen.«
Lydia blickte mit tränenüberströmtem Gesicht zu Nora auf und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, diesmal bist du zu weit gegangen. Er weiß, dass er es dir niemals wird recht machen können. Warum hast du ihm nie eine Chance gegeben?«
Nora ignorierte den Zynismus und die Fragen ihrer Mutter. Lucius scherte sich nicht im Geringsten um ihre Meinung, so wie Nora sich nicht um seine scherte. Ihre Gedanken überschlugen sich, um einen Weg zu finden, alles wiedergutzumachen. Es war ihr gar nicht recht, dass ihre schlecht platzierten Worte der Zeitschrift Schaden zugefügt hatten. Sie würde sich natürlich bei Mr Primrose entschuldigen, aber sobald diese Aufgabe erledigt war, würde sie sich eine Stelle suchen. Wenn sie das Stipendium bekommen hatte, würde sie neben dem Studium her arbeiten und jeden Penny sparen, um das Journal zu retten. Vielleicht konnte sie Lucius dazu überreden, sie ihr schon jetzt zu überlassen, bevor er sie bis zur Unkenntlichkeit vernichtete.
In diesem Augenblick erschien Alice händeringend in der Tür.
»Was gibt es denn?«, fragte Nora.
»Miss, ich fürchte, Mr Ward hat« – sie blickte über die Schulter zurück und trat dann näher – »den Verstand verloren.«
»Wie meinst du das?«
Bevor Alice antworten konnte, schob Lucius sich an ihr vorbei, zog, ohne irgendjemanden anzusehen, die Schubladen an Noras Insektenschrank auf und nahm vier Fächer heraus. Er klemmte sie sich unter den Arm und ging.
Nora sprang vom Bett. »Halt, was hast du vor?«
Lucius antwortete nicht. Seine Schritte stampften die Treppe zum Garten hinunter. Nora rannte hinter ihm her, und als sie durch die Küchentür in den Garten trat, konnte sie sehen, dass Flammen gen Himmel stiegen. Ihr wurde schlecht, als Lucius den ersten Kasten ins Feuer warf.
»Nein!« Ihr Schrei hallte durch den Garten und wurde von den Flammen verschluckt. Sie rannte auf ihn zu, aber Lucius ignorierte sie und warf auch die anderen Fächer auf die brennenden Holzscheite. Glas zersprang und sprühte Funken, als es sich in der Hitze ausdehnte. Ein Stöhnen kam über Noras Lippen, als das Licht auf die metallisch blauen und grünen Flügel Dutzender Käfer fiel. Ihr Calosoma scrutator rutschte aus dem flachen Kasten, als die Nadel, die ihn hielt, schmolz.
Ihre erste Arbeit.
Ihr Vater stand hinter ihr, seine muskulösen Arme mit den blonden Härchen um ihre Schultern gelegt, während er ihr half, die Beine des Käfers richtig zu arrangieren.
»Du darfst sie nicht ganz mittig aufspießen, Nora. So bleibt das Insekt ganz intakt.«
Sie nickte und schob die Nadel durch den Thorax des Käfers, während ihr Vater einen Kuss auf ihre Haare drückte.
Jedes der Insekten, die meisten von ihnen mit Erinnerungen wie dieser verbunden, verbrannte. Noras Lebenswerk, das Lebenswerk ihres Vaters, in Schutt und Asche gelegt.
Sie schrie und griff nach der Ecke eines Kastens, aber das Feuer krachte und sprühte Funken, die an ihrem Unterarm knabberten.
Lucius wandte sich mit entschlossen vorgerecktem Kinn um und ging zum Haus zurück. Nora rannte durch den Garten und blickte nicht zurück, als sie ihn überholte. Sie stürmte an Alice vorbei, die in der Küche stand, die Hände überm Mund, und raste die Treppe hinauf.
Wieder in ihrem Schlafzimmer angekommen, schlug sie die Tür zu und verriegelte sie. »Das darf er nicht machen!«, brachte sie tränenerstickt hervor. Wie konnte er nur? Er wusste, dass sie die Sammlung ihres Vaters als ihr Erbe betrachtete, ein festes Band, das sie für immer mit ihm verband.
Lucius hämmerte an die Tür. »Alice!« Sein Brüllen dröhnte durchs ganze Haus und Nora hörte, wie Alice zu ihm gelaufen kam. »Den Schlüssel!«
»Aber Mr Ward ...«
»Den Schlüssel, wenn du nicht entlassen werden willst!«
Nora schrie auf und setzte sich vor die Tür. Sie drückte den Rücken dagegen, die Füße gegen den Schrank gestemmt. Das Schloss klickte und trotz all ihrer Bemühungen und der Verzweiflung, die ihre Muskeln verkrampfen ließ, schob Lucius sie so weit vor, dass er hereinkommen konnte.
»Bitte nicht! Es tut mir leid, Lucius! Nicht noch mehr.« Sie warf die Arme über den Schrank und drückte das Gesicht auf die glänzende, nach Zitronen duftende Oberfläche.
Bitte, Gott, lass das nicht zu!
Aber Gott beachtete sie gar nicht. Lucius zog sie fort, griff sich vier weitere Kästen und verschwand.
Nora sank zu Boden und die Tränen tropften von ihrer Nase auf ihren Schoß. Ihre Mutter, die in den meisten Dingen erfolg- und in diesem Fall völlig nutzlos war, vergrub den Kopf unter Noras Kissen, während ihre zierlichen Schultern bebten.
Nachdem Lucius die gesamte Sammlung genommen und alles vernichtet hatte, was ihr etwas bedeutete, ging Nora nach draußen. Der wolkenlose Himmel über ihrem Garten war sternenübersät und Lucius stand vor den ersterbenden Flammen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Nora schlich durch das weiche Frühlingsgras. Es kitzelte sie durch die Strümpfe an den Knöcheln. Dass sie so etwas Banales überhaupt bemerkte! Die verkohlten Überreste ihres Schranks ragten aus der Glut und zeigten zum Himmel, in dem ein Gott wohnte, der ihr Flehen nicht erhört hatte.
Neben dem Feuer lag eine Bombus bimaculatus leblos in Asche und Dreck. Nora sank auf die Knie, hob die Hummel vorsichtig auf und fuhr mit dem Daumen über ihr stacheliges Fell.
»Komm, kleine Bumble Bea, wir gehen sammeln.«
»Aber ich heiße doch Nora, Papa.«
»Dein zweiter Name ist Beatrice, kurz Bea, nach deiner Großmutter, und sie ist gerne im Wald spazieren gegangen. Komm, wir finden etwas, das uns an sie erinnert.«
Nora schloss die Finger sacht um die Hummel und presste die Hand an ihre Wange. Sie ist alles, was noch übrig ist, Papa.
Ihre Worte wühlten sich an dem Schmerz und der Leere vorbei, die ihre Brust erfüllten: »Das werde ich dir nie verzeihen.«
Mit einer Stimme, die so leise war, dass man sie für zärtlich hätte halten können, wenn sie von einem anderen Mann gekommen wäre, sagte Lucius: »Ich lasse mich nicht mehr mit deinem Vater vergleichen.« Dann ließ er sie allein zurück.
Nora sah zu, wie die letzten Flammen an den Resten ihrer herrlichen Sammlung leckten, und gab keinen Laut von sich, bis ihre Mutter sich zu ihr auf den Boden setzte. Lydia schluchzte und berührte Noras Arm dort, wo die Brandwunden beinahe so schmerzhaft pochten wie ihr Herz.
Nora entzog sich ihr und hob das Kinn. »Mutter, ich gehe nach Indien.«
Teil 2
Kodaikanal, Indien
Juli 1885