Über das Buch:
Michigan 1941.
Vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Virginia ist mit Leib und Seele Hausfrau und Mutter, sehnt sich aber nach mehr Anerkennung. Die reiche Helen ist alleinstehend und leidet unter ihrer Einsamkeit. Rosa ist frisch verheiratet, doch ihre Schwiegereltern bringen der lebenslustigen New Yorkerin nur Missbilligung entgegen. Jean, die Jüngste, träumt davon, zu studieren und mehr aus ihrem Leben zu machen. Muss sie dafür auf eine eigene Familie verzichten?
Die Arbeit in einer Schiffswerft führt die vier Frauen zusammen. Bald wird ihnen klar, dass sie einander viel zu geben haben – trotz aller Unterschiede. Und mit der Zeit gewinnen sie wertvolle Erkenntnisse über sich selbst, das Leben, die Liebe ... und das Geschenk der Freundschaft.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.

Kapitel 4

Jean

Jean Erickson konnte an den benommenen Blicken ihrer neuen Mitarbeiterinnen erkennen, dass sie für diesen Tag genügend Informationen aufgenommen hatten. Sie erinnerten Jean an eine Steckdose, an die bereits grenzwertig viele elektrische Geräte und Verlängerungskabel angeschlossen waren. Noch ein Stecker und die Sicherung würde garantiert herausspringen.

„Also, ich glaube, das reicht für heute“, sagte sie. „Wir hören ein bisschen eher auf, damit ich Ihnen noch zeigen kann, wo Sie Ihre Stempelkarten finden und wie Sie sich an- und abmelden. Denken Sie daran, dass Sie ab morgen die Overalls tragen müssen, die ich Ihnen gegeben habe.“

Die drei Frauen folgten Jean und hielten ihre zusammengefalteten Overalls fest an sich gepresst und folgten Jean zur Stechuhr. Jean dachte daran, dass sie selbst auch erschöpft und überwältigt gewesen war, als sie vor beinahe vier Monaten hier angefangen hatte.

„Manchmal, wenn ich am Ende des Tages ausstemple, fühle ich mich wie bei einem Spießrutenlauf“, vertraute sie ihrem neuen Team an. „Vor allem, seit Mr Seaborn mich zur Gruppenleiterin befördert hat.“

„Warum das?“, fragte Rosa Voorhees.

„Na ja, die meisten Männer wollen nicht Seite an Seite mit einer Frau arbeiten. Sie arbeiten schon ihr Leben lang bei der Stockton-Schiffsbau-Gesellschaft – oder Stockton-Werft, wie sie jetzt heißt – und wir Frauen dringen in ihr Territorium ein. Die Tatsache, dass ich erst achtzehn bin und schon Gruppenleiterin, macht mich zu einer bevorzugten Zielscheibe für Anfeindungen.“

„Das ist bestimmt nicht einfach für Sie“, sagte Ginny.

„Ich versuche, sie zu ignorieren, so gut ich kann. Ich bin unter Brüdern aufgewachsen, die Profis darin waren, mich aufzuziehen, also habe ich jede Menge Übung. Außerdem stellt die Werft immer mehr Arbeiterinnen ein, sodass die Männer bald in der Minderheit sein werden.“

Jean zeigte ihnen, wie sie ihre Stempelkarten benutzen mussten, und brachte sie dann zum Umkleideraum der Frauen. „Sie können sich hier umziehen und Ihre Mäntel und Handtaschen und so weiter einschließen. Noch irgendwelche Fragen?“ Als ihre Mitarbeiterinnen den Kopf schüttelten, verließ sie ihnen voran den Umkleideraum und führte sie durch die Fabrikhalle zurück zum Ausgang, gegen den Strom der Arbeiter, die zur nächsten Schicht kamen.

„Ich fahre mit dem Bus nach Hause“, sagte Rosa. „Kommt jemand von euch mit?“ Sie wandte sich zuerst an Helen Kimball. „Haben Sie den gleichen Weg?“

„Nein, danke. Ich bin mit dem Fahrrad hier.“

„Sie? Auf einem Fahrrad?“, sagte Rosa lachend. „Das muss ich sehen!“

Helen atmete aus. „Ich wäre lieber gelaufen, aber ich wohne auf der anderen Seite der Stadt.“

„Deshalb fahren Sie mit dem Fahrrad? Und das im Rock? Sind Sie als Lehrerin auch mit dem Fahrrad zur Schule gefahren?“

„Nein, zu der Schule, in der ich die letzten zwanzig Jahre unterrichtet habe, konnte ich laufen.“

„Was wollen Sie machen, wenn es schneit?“

„Dann muss ich wohl mit dem Wagen meines Vaters fahren – vorausgesetzt, ich bekomme Benzingutscheine dafür.“

Rosa setzte bereits zur nächsten Frage an, aber Jean sah, dass Helen Kimball das Verhör leid war. „Bis morgen, Miss Kimball“, sagte sie deshalb und drängte Rosa ab. „Wenn es schneit, fahre ich mit dir Bus, Rosa. Aber im Moment laufe ich jeden Tag, um Geld zu sparen.“

„Wofür sparst du denn? Hast du einen Freund, den du heiraten willst?“

„Heiraten ist das Letzte, was ich will!“, erwiderte Jean. „Ich spare fürs College. Sobald der Krieg zu Ende ist, fangen mein Zwillingsbruder und ich zusammen an zu studieren.“

„Dann bist du sicher richtig schlau, wenn du zum College willst.“

„Ich komme mit zum Bus, Rosa“, sagte Ginny und hakte sich bei ihr ein. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Hoffentlich kommt bald einer. Meine Jungs kommen bald aus der Schule nach Hause.“

Jean winkte den anderen Frauen zum Abschied zu und lief dann mit raschem Schritt los. Die drei Kilometer Fußmarsch erschienen ihr immer sehr lang, nachdem sie den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war. Als sie das Haus ihrer Schwester Patty betrat, wollte sie nur noch sitzen und ihre Schuhe ausziehen.

„Ach, du bist zurück“, sagte Patty, als Jean in die Küche kam. „Wie war die Arbeit?“ Patty balancierte ihr Baby auf einer Hüfte, während sie mit der freien Hand in einem Topf Grießpudding rührte, der auf dem Herd stand. Eines ihrer anderen Kinder hing jammernd an ihrem Bein, während das andere Töpfe und Pfannen aus dem Schrank zog und auf den Küchenfußboden verteilte. Auf einem der Küchenstühle lag ein Stapel sauberer Windeln und auf zwei anderen türmte sich die Bügelwäsche.

„Die Arbeit war sehr anstrengend. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen.“ Jean zog den einzigen freien Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich, um ihre Schuhe auszuziehen. „Sie haben gerade ein paar Anfänger eingestellt, die ich ausbilden soll. Mensch, das ist vielleicht eine merkwürdige Truppe! Eine von ihnen ist eigentlich Lehrerin und so alt, dass sie unsere Mutter sein könnte, eine andere eine Hausfrau Anfang dreißig, die noch nie im Leben gearbeitet hat –“

„Also hör mal!“, fiel ihr Patty ins Wort. „Hausfrauen arbeiten ununterbrochen.“

„Du weißt, was ich meine. Sie ist so eine, die meint, immer hübsch aussehen zu müssen, wenn ihr Mann von der Arbeit nach Hause kommt, und die glaubt, dass eine Frau an den Herd gehört –“

„Du legst es aber wirklich drauf an!“, sagte Patty und hob die Faust zu einer scherzhaften Drohung.

Jean lachte. „Tut mir leid, aber es stimmt. Und dann ist da noch ein Pin-up-Girl, das tausend neugierige Fragen stellt. Rosa ist schön genug, um ein Filmstar zu sein, aber sie ist nicht gerade eine feine Dame. Irgendwie wirkt sie aufreizend, wenn du weißt, was ich meine. Die Schweißer haben ihr hinterhergepfiffen. Ich wette, keine von den dreien hält die zweiwöchige Ausbildungsphase durch. Ich weiß, wie schwer diese ersten beiden Wochen sind, weil es unendlich viel zu lernen gibt. Und wenn diese drei Damen aufgeben, bekomme ich wieder neue Anfänger.“

„Wie kommt es eigentlich, dass du diese Frauen ausbildest? Du arbeitest doch selbst erst seit ein paar Monaten dort?“

„Ich weiß. Aber die anderen sind fast alle genauso neu. Die meisten regulären Arbeiter haben sich freiwillig gemeldet oder wurden eingezogen. Und die Männer, die noch da sind, arbeiten überhaupt nicht gerne mit Frauen zusammen. Weißt du, was der Typ, der mich eingearbeitet hat, sagte? ‚Du machst das ganz gut, für ein Mädchen.‘ Ich habe ihn gefragt, warum er ‚für ein Mädchen‘ hinzugefügt hat, und er sagte: ‚Weil das hier Männerarbeit ist.‘ Ich hätte am liebsten gesagt: ‚Aber jetzt ist es auch Frauenarbeit, Kumpel!‘ Solche Kerle machen mich wütend! Jedenfalls hat Mr Seaborn mich deshalb zur Gruppenleiterin befördert. Er meinte, die Einarbeitung sei für die Frauen einfacher, wenn sie sich nicht mit einer solchen Einstellung auseinandersetzen müssten.“

„Ehrlich gesagt würde ich mich sofort um eine Stelle bei euch bewerben, wenn ich jemanden hätte, der auf die Kinder aufpasst. Wenigstens kannst du mit jemandem reden. Versuch du mal, den ganzen Tag allein mit einem Baby und zwei Kleinkindern zu verbringen, wenn dein Mann beim Militär ist.“

„Nein, danke. Das ist ja genau der Grund, warum ich aufs College gehen will. Das Hausfrauendasein ist nichts für mich.“ Jean beschloss, das Thema zu wechseln, bevor Patty auf die Idee kam, im Gegenrhythmus zu ihr arbeiten gehen zu wollen. Jean liebte ihre drei Neffen, aber sie hatte nicht das Verlangen, alleine Babysitter für die Jungs zu spielen, nachdem sie acht Stunden gearbeitet hatte. „Ist Post gekommen? Hat Russ mir geschrieben?“

„Nein, aber ich habe einen Brief von Bill.“ Patty sah aus, als hätte sie Jean in einem Wettlauf geschlagen. Sie war vier Jahre älter als Jean und machte aus allem einen Wettbewerb. „Bill sagt, es sei furchtbar in England. Es regne die ganze Zeit, es gebe keine Heizung in den Gebäuden und die Deutschen versuchten mit ihren Bomben, London dem Erdboden gleichzumachen.“

„Sonst irgendwelche Post?“, fragte Jean. „Haben wir etwas von Johnny gehört? Oder von Danny?“

„Nein, aber Ma hat einen Brief an uns beide geschrieben.“ Sie übergab Jean das Baby und begann den Pudding in Dessertschälchen zu füllen. Jean tat so, als bemerke sie nicht, dass die Windel des Kleinen gewechselt werden musste.

„Gute alte Ma. Wo nimmt sie nur die Zeit her?“

„Sie schreibt, das Geld sei knapp, wie immer, deshalb versuchte sie, Jobs für die Jungs zu organisieren, die sie nach der Schule erledigen können – Zeitungen austragen, Botengänge machen, Telegramme überbringen oder Lebensmittel ausliefern. Sie schreibt, Danny –“

„Erzähl mir doch nicht alles, ich will es selbst lesen!“

Jean setzte ihren Neffen in seinen Hochstuhl und ging dann mit dem Brief ins Wohnzimmer hinüber, wo sie sich aufs Sofa fallen ließ und sich wieder einmal über die Kraft und Geduld ihrer Mutter wunderte. Ma hatte den Brief in aller Ruhe geschrieben, keine Einzelheit ausgelassen und das Leben auf ihrer kleinen Farm in Indiana ausführlich beschrieben. Sie schien von ihrer großen Kinderschar nie überwältigt, sondern behandelte jedes ihrer Kinder so, als wäre es ihr einziges. Sie hatte sowohl an Jean als auch an Patty persönliche Worte hinzugefügt, um sie zu ermutigen: Genieß die Zeit mit deinen Kleinen, ermahnte sie Patty. Du bist eine geborene Mutter. Die Hausarbeit kann immer warten. Freu dich an den Kindern. Und richte Bill liebe Grüße aus, wenn du ihm schreibst. Ich bete, dass er heil zurückkommt.

Und an Jean hatte sie geschrieben: Es wundert mich gar nicht, dass man dir in der Werft eine verantwortungsvolle Position übertragen will. Du bist eine kluge, geschickte junge Frau, und ich weiß, dass du alles erreichen kannst, was du dir vornimmst. Greif nach den Sternen!

Jean stiegen die Tränen in die Augen. Nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte, schob sie ihn in den Umschlag zurück, und ging in die Küche, um Patty bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Nach dem Essen wuschen und trockneten sie das Geschirr ab und hörten dabei Frank Sinatra und die Andrew Sisters.

„Und, was hast du heute Abend vor?“, fragte Patty. „Schreibst du Russell wieder einen Brief?“

„Ich weiß es noch nicht. Ich bin sauer auf ihn.“ Jean räumte einen Kochtopf in den Schrank und schloss die Tür mit dem Fuß. „Ich habe ihm drei Briefe geschrieben, und er hat nicht einen einzigen davon beantwortet.“

„Wahrscheinlich hat er einfach zu viel auf dem Hof zu tun. Es ist doch jetzt die hektische Jahreszeit.“

„Trotzdem könnte er sich die Zeit nehmen, mir ein paar Zeilen zu schreiben. Ich würde mich ja schon über eine Postkarte freuen.“

„Sei froh, dass er nicht in Europa ist. Ich wünschte, Bill hätte sich auch vom Militärdienst befreien lassen können.“

„Aber genau das verstehe ich eben nicht. Johnny hätte befreit werden können, aber er wollte es nicht. Russ und er waren die besten Freunde. Sie haben immer alles zusammen gemacht – bis jetzt. Und alle anderen unserer Mitschüler, die von einem Hof kommen, haben sich ebenfalls freiwillig gemeldet. Eigentlich waren alle Typen, die ich kenne, ganz erpicht darauf, nach dem Schulabschluss zur Armee zu gehen – alle außer Russ.“

„Mensch, du bist wirklich sauer auf ihn!“ Patty ließ das Wasser aus der Spüle und nahm Jean das Handtuch fort, um sich die Hände abzutrocknen. „Ich muss die Monster zu Bett bringen.“

Jean holte ihr Briefpapier heraus und setzte sich an den Küchentisch, um Russell einen weiteren Brief zu schreiben. Sie hatte gerade das Datum und Lieber Russ geschrieben, als jemand an der Haustür klopfte. Sie öffnete und erblickte zu ihrem Erstaunen Earl Seaborn, ihren Vorarbeiter von der Arbeit auf der Veranda.

„Mr Seaborn! Was führt Sie denn zu mir?“

„Hi, Jean. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nach der Arbeit noch belästige – ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich … äh … ich hatte heute so viel zu tun und kam gar nicht dazu, Sie nach Ihrem neuen Team zu fragen. Haben Sie einen Moment Zeit? Oder störe ich gerade?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Hören Sie, ich würde Sie gerne zu einem Eis oder einem Milchshake im Drugstore einladen, während Sie mich informieren – als Entschädigung dafür, dass ich Sie zu Hause störe.“

„Sie brauchen mich nicht mit einem Milchshake zu bestechen, Mr Seaborn.“

„Ich würde mich freuen, wenn Sie mich außerhalb der Fabrik Earl nennen würden.“

„In Ordnung … Earl.“ Sein Vorname ging ihr nur schwer über die Lippen. „Um ehrlich zu sein, ist es nach nur einem Tag schwierig einzuschätzen, ob das mit den Frauen klappt. Alle wirken völlig überwältigt, wenn sie anfangen – ich weiß noch, dass es mir genauso ging –, und die drei bilden da keine Ausnahme.“ Sie lehnte sich in den Rahmen der geöffneten Tür, während sie sprach. Earl stand unterdessen weiter draußen auf der Veranda. Als sie bemerkte, wie unbehaglich er sich fühlte, deutete sie auf die Hollywoodschaukel und den Schaukelstuhl. „Tut mir leid. Möchten Sie sich setzen?“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber zum Drugstore hinuntergehen und das Eis holen.“ Er lächelte schüchtern.

„Also gut“, sagte Jean mit einem Seufzer. Sie zog die Haustür hinter sich zu und folgte ihm die Verandastufen hinunter. Die Luft hatte sich im Lauf des Abends deutlich abgekühlt, und nach wenigen Minuten wünschte Jean sich bereits, sie hätte eine Jacke angezogen. Zuerst lief sie schnell, weil sie es gewohnt war, straff zu gehen, und weil sie diese Pflicht hinter sich bringen wollte. Doch dann erinnerte sie sich an die Gehbehinderung, die Mr
Seaborn zu verbergen bemüht war, und verlangsamte ihre Schritte. Während sie nebeneinander hergingen, fuhr sie mit der Analyse ihrer neuen Mitarbeiterinnen fort.

„Die Älteste, Miss Irgendwas …“

„Kimball. Helen Kimball.“

„Genau. Ich befürchte, die Arbeit wird sie bald langweilen. Sie hat mir erzählt, dass sie viele Jahre lang Lehrerin war, und sie scheint sehr fähig zu sein. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Arbeit in der Werft zu eintönig für sie ist. Schließlich kann das Verdrahten der Schiffselektronik kaum so anregend sein wie das Unterrichten einer Klasse voller Kinder.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, sagte Earl. „Mr Wire hat mir erzählt, dass sie bereits seine Söhne unterrichtet hat, und die sind so alt wie ich. Sie entspricht ziemlich dem Klischee, nicht wahr? Die alte Jungfer, die als Lehrerin arbeitet?“

Seine Worte machten Jean wütend. „Vielleicht hat sie sich bewusst für das Unterrichten entschieden. Manche Frauen ziehen einen Beruf Ehe und Familie vor, müssen Sie wissen.“

„Warum sollte eine Frau einen Beruf haben wollen?“ Er schien ehrlich verblüfft.

„Aus denselben Gründen, aus denen Männer einen Beruf wählen.“

Sein Lächeln verschwand. „Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen.“

„Jedenfalls, was meine Gruppe betrifft … die Dunkelhaarige, Rosa, die mit dem New Yorker Akzent, ist recht intelligent. Sie stellt jede Menge Fragen. Aber sie wirkt hier in der Stadt ziemlich fehl am Platze.“

„Ich mache mir Sorgen, dass sie den Produktionsprozess aufhält, wenn sie in ihren engen Pullovern in der Fabrik herumstolziert. Sie ist aber auch wirklich ein Hingucker, nicht wahr? Haben Sie die Pfiffe gehört?“

Jean lachte laut auf. Der brave Mr Seaborn hatte Rosa also auch bemerkt. Demnach floss auch durch seine Adern Blut. „Ich kann Sie beruhigen. Ich habe ihr einen sackartigen Overall verpasst“, sagte sie zu ihm. „Aber im Ernst, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es lange in Stockton aushält. Ansonsten denke ich allerdings, dass sie die Arbeit schafft. Sie hat heute schnell gelernt.“

Sie kamen zum Drugstore und Earl hielt ihr die Tür auf. Sie gingen in den hinteren Teil des Ladens und nahmen an der Bar Platz. Jean bestellte ein Schokoladeneis, Earl einen Vanillemilchshake. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, Earl Seaborn näher in Augenschein nehmen, da er schließlich ihr Vorgesetzter war, aber als sie sah, wie die jugendliche Bedienung hinter dem Tresen Earl taxierte, beschloss Jean, ihn selbst einmal einer genaueren Musterung zu unterziehen.

Er sah aus wie der typische amerikanische Junge von nebenan – braunes Haar, ganz leichte Sommersprossen, ein jungenhaftes Grinsen. Sein Alter schätzte sie auf sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Er war nicht direkt gut aussehend – und er hatte ganz sicher nicht das Filmstaraussehen ihres Freundes Russ. Ganz zu schweigen von Russells Farmermuskeln. Aber Earl hatte ein nettes Lächeln und eine angenehme Art. Jean wartete, bis er Milchshake fertig gemixt war, bevor sie den Gesprächsfaden wieder aufnahm.

„Die dritte Frau, Ginny, schien mir besonders überwältigt zu sein. Sie ist sehr nett und gibt sich Mühe, aber sie hat kaum Selbstbewusstsein. Sie wirkt in der Fabrik wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich habe den Frauen eine kleine Rede über Teamgeist gehalten, und dass die Soldaten auf uns angewiesen sind. Ich glaube, das hat geholfen.“

Eine lange Pause entstand, während Earl seinen Milchshake trank und mit der Papierhülle seines Strohhalms spielte. Jean fragte sich, was er wohl dachte. Vielleicht hatte sie die neuen Frauen zu kritisch beurteilt.

„Gibt es sonst noch etwas, das Sie über die Neuen wissen wollen?“, fragte sie schließlich.

„Nein. Das waren genau die Informationen, die ich brauche, Jean. Danke. Also … äh … sind Sie hier in Stockton aufgewachsen?“

„Ich komme aus Indiana. Meine Eltern haben eine Farm in der Nähe einer sehr kleinen Stadt, von der Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben.“

„Wie sind Sie dann hier gelandet?“

„Ich wohne bei meiner älteren Schwester Patty und ihren drei Kindern. Ihr Mann hat sich freiwillig gemeldet, einen Monat, nachdem das Baby geboren war, einen Monat nach Pearl Harbor. Patty hat ihn seither nur einmal gesehen, als er Heimaturlaub hatte. Sie hat mir geschrieben und erzählt, dass sie in der Werft Frauen einstellen, also bin ich hierhergezogen, nachdem ich im vergangenen Juni meinen Highschoolabschluss gemacht habe.“

„Haben Sie noch mehr Geschwister?“

„O ja. Das kann man wohl sagen! Wir sind insgesamt achtzehn Geschwister.“

Achtzehn?

„Ja.“ Jean beobachtete für ihr Leben gern die Reaktionen anderer, wenn sie über ihre Familie sprach. Earls große Augen und der offen stehende Mund waren prima. „Einige der älteren, zum Beispiel Patty, sind verheiratet, aber ich habe sieben jüngere Brüder, die noch zu Hause wohnen. Mein Zwillingsbruder Johnny und ich sind Nummer zehn und elf. Fünf meiner großen Brüder sind in der Armee, darunter auch Johnny.“

„Wo sind sie denn stationiert?“

„Überall. Mein Bruder Danny hat Pearl Harbor überlebt und ist jetzt auf einem Schiff, das Konvois nach Australien begleitet. Johnny, mein Zwilling, ist bei der Luftwaffe und macht eine Ausbildung zum Kanonier bei den Jefferson Barracks in Missouri. Peter war vor dem Krieg Polizist und ist jetzt bei der Militärpolizei auf einem Stützpunkt in Island. Rudy ist auf einem Luftwaffenstützpunkt im kalifornischen Fresno stationiert und wird vielleicht bald in das holländische Neuguinea versetzt. Und Roy ist in Florida bei den Fliegern der Pensacola Marinestation und lernt dort, Flugzeuge zu reparieren. Meine Mutter schreibt ihnen allen unermüdlich, sie ist ein Engel.“

„Ich wollte auch zur Armee, aber sie haben mich nicht genommen“, sagte Earl leise. „Ich war davon ausgegangen, dass es jede Menge Tätigkeiten gibt, die sie mir geben könnten, wenn sie der Meinung sind, dass ich nicht marschieren und schießen kann. Ich hätte einen Jeep fahren oder einen Schreibtischjob machen können. Aber Onkel Sam will mich nicht, weil ich früher Kinderlähmung hatte.“

„Die Regierung kann manchmal ziemlich dumm sein … Sind Sie hier in der Gegend groß geworden?“

„Nein. Ich komme ursprünglich aus Cleveland. Ich habe versucht, mich in Ohio freiwillig zu melden, und dann in Indiana noch einmal, aber beide Male haben sie mich abgelehnt. Schließlich bin ich nach Michigan gekommen, um zu sehen, ob sie mich hier nehmen, aber da war nichts zu machen.“

Er verstummte, und Jean hoffte, dass sie seine Gefühle nicht verletzt hatte, indem sie von all ihren Brüdern beim Militär gesprochen hatte. Sie überlegte, was sie sonst noch sagen könnte, als Earl sich plötzlich auf seinem Hocker umdrehte und sie mit ernster Miene ansah.

„Jean, ich muss Ihnen etwas beichten. Ich bin eigentlich gar nicht hergekommen, um über die neuen Mitarbeiterinnen zu sprechen – obwohl ich Ihre Einschätzungen sehr nützlich finde. Ich … ich wollte einfach etwas Zeit mit Ihnen … mit dir verbringen. Außerhalb der Arbeit.“

Sie wich ein Stückchen zurück. „Ich … ich will aber nicht gegen irgendwelche Fabrikregeln verstoßen.“

„Ich bin einer der leitenden Angestellten“, sagte er mit einem schwachen Lächeln. „Ich mache die Regeln.“

„Oh … stimmt ja.“ Jean versuchte, die Sache mit einem Lachen zu überspielen, aber plötzlich fühlte sie sich ganz unbehaglich. Sie suchte krampfhaft nach einer Erwiderung. „Ich fühle mich wirklich geschmeichelt, Earl, aber ich habe eigentlich gar kein Interesse daran, mit jemandem auszugehen. Erstens spare ich mein Geld, um aufs College zu gehen, und habe nicht vor zu heiraten, bevor ich meinen Abschluss habe. Und zweitens habe ich schon einen Freund.“

„Ist er auch beim Militär?“ Sie sah, dass ihre Zurückweisung ihn schmerzte, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

„Nein, Russ ist vom Dienst befreit, damit er seiner Familie auf dem Hof in Indiana helfen kann.“

Earl setzte zu einer Bemerkung an, überlegte es sich dann aber anders. Er zuckte mit den Schultern und zeigte sein langsames, schüchternes Lächeln. „Könntest du mich nicht einfach als Freund betrachten? Jemanden, mit dem du hin und wieder ins Kino gehst oder Eis isst? Es gibt in dieser Stadt nicht mehr viele Männer in meinem Alter, mit denen ich etwas unternehmen könnte, weißt du. Und da wir beide nicht von hier stammen, hast du doch wahrscheinlich auch nicht so viele Freunde hier.“

„Das stimmt. Aber ich möchte nicht, dass die anderen von der Arbeit einen falschen Eindruck bekommen … wenn sie uns zusammen sehen, meine ich.“

„Ich mache mir schon lange nichts mehr daraus, was die Leute sagen.“

Sie hörte die Traurigkeit in seiner Stimme, und weil er so verletzlich war, verspürte sie das Bedürfnis, ihn zu beschützen, ihm zu helfen. „Du hast recht – es wäre schön, ab und zu der lauten Familie meiner Schwester zu entfliehen und einen Film zu sehen. Und ich fände es schön, wenn wir Freunde würden. Aber dir muss bewusst sein, dass ich große Stücke auf meinen Freund halte und aus uns deshalb nicht mehr werden kann. Andererseits bist du ein so attraktiver Typ, dass es ohnehin nicht lange dauern wird, bis dir die Mädchen zu Füßen liegen.“ Sie lehnte sich vor und flüsterte: „Unsere Bedienung findet dich süß.“

„Woher weißt du das?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Eine Frau merkt so etwas.“

Sie unterhielten sich noch eine Weile, während Earl seinen Milchshake trank und Jean an ihrer Eiswaffel knabberte. Er wollte offensichtlich noch nicht gehen, aber schließlich zog er sein Portemonnaie heraus und legte das Geld für die Rechnung auf die Theke, dazu ein großzügiges Trinkgeld. Die Bedienung war damit beschäftigt, den Mixer zu reinigen.

„Danke für den Milchshake“, rief er ihr zu. Sie drehte sich zu ihm um und er warf ihr ein so strahlendes Lächeln zu, dass sie von Kopf bis Fuß errötete.

„Siehst du, was ich meine?“, flüsterte Jean.

„Ach, komm.“ Er wischte ihre Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite, aber Jean sah, dass er sich freute. Sie schlenderten zu Pattys Haus zurück und setzten sich auf die Veranda.

„Ihr Frauen in der Werft seid echte Pioniere, ist dir das eigentlich klar?“, sagte Earl. „Vor ein paar Jahren hätte niemand geglaubt, dass Frauen eine sogenannte Männerarbeit verrichten können.“

„Und es hätte uns auch niemand die Gelegenheit gegeben, es zu versuchen.“

„Und jetzt seid ihr hier, mit Schweißpistole, Lötkolben und Niethammer … und macht die Arbeit genauso gut wie die Männer. Ihr werdet in die Geschichte eingehen.“

„Meinst du wirklich?“

Es überraschte Jean, wie wohl sie sich in Earls Gesellschaft fühlte, wenn man den Altersunterschied bedachte und die Tatsache, dass er ihr Chef war. Vielleicht lag es daran, dass sie beide neu in der Stadt waren und niemanden hatten, aber Jean stellte fest, dass sie mit ihm plauderte, als würden sie sich schon lange kennen.

„Bis morgen“, sagte er, als sie sich schließlich verabschiedeten.

„Wer ist denn der niedliche Typ?“, fragte Patty, als Jean ins Haus trat. „Ich habe durch die Gardinen gelinst.“

„Mr Seaborn, mein Chef von der Arbeit.“

„Ein sehr geschickter Karriereschritt, mit dem Boss auszugehen.“

„Wir sind nur befreundet. Ich habe schließlich einen festen Freund, Russell Benson, weißt du noch?“

„Ach ja, stimmt“, sagte Patty, als hätte sie das wirklich vollkommen vergessen. „Russell – der Typ, der dir nie schreibt.“

„Ich gehe schlafen.“ Jean versuchte, gleichgültig zu wirken, aber Pattys Bemerkung hatte sie getroffen. Sie nahm den Brief, den sie angefangen hatte, mit in ihr Zimmer, aber dann stellte sie fest, dass sie nicht wusste, was sie schreiben sollte. Sie knüllte das Blatt Papier zusammen.

Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht einschlief, aber als sie es schließlich tat, träumte sie von Earl Seaborn, der mit seinem verkrüppelten Arm und dem lahmen Bein einen Traktor fuhr.

Kapitel 5

Virginia

Zum ersten Mal in ihrer Ehe hatte Virginia Mitchell das Essen nicht fertig, als ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte gerade erst die Kartoffeln aufgesetzt, der Hackbraten musste mindestens noch eine halbe Stunde im Ofen bleiben, und der Tisch war auch noch nicht gedeckt. Sie hatte kaum Zeit gehabt, ihren neuen Overall zu verstecken und sich eine Schürze umzubinden, bevor Harold zur Hintertür hereingekommen war.

Sie begrüßte ihn mit einem Kuss. „Wie war dein Tag, Harold?“

„So wie immer.“ Er erwiderte ihren Kuss geistesabwesend und lockerte seine Krawatte, während er zum Telefontischchen im Flur ging, wo sie für gewöhnlich die Post ablegte. Er drehte sich verwundert zu ihr um. „Wo ist denn die Post?“

Immer noch im Briefkasten! Ginny hatte vergessen, sie herauszuholen, nachdem sie von der Arbeit heimgekommen war und gerade noch eine Krise hatte abwenden können. Die Busfahrt hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte, und ihre beiden Jungen waren zwanzig Minuten früher als sonst aus der Schule gekommen. Der achtjährige Herbert hatte Angst bekommen, als sie nicht da gewesen war, um ihn in Empfang zu nehmen. Allan mit seinen zehn Jahren hatte schon das Telefon in der Hand gehalten, um die Polizei anzurufen, als Ginny durch die Tür geeilt war. Es hatte fünfzehn Minuten und viele mütterliche Umarmungen gebraucht, um die beiden wieder zu beruhigen. Wenigstens hatten sie ihre Abwesenheit bemerkt.

Am Morgen war sie frühzeitig aufgebrochen, um den Bus zur Arbeit zu erwischen – nur wenige Sekunden nach Harold und vierzig Minuten, bevor die Jungen zur Schule mussten. Sie hatten sie verwundert angesehen, weil sie sie ohne Erklärung verlassen und nur „Seid brav“ und „Geht nicht zu spät in die Schule“ gesagt hatte. Sie hatte sich nicht getraut, ihnen zu sagen, wohin sie ging. Zu stark war die Angst, sie könnten Harold davon erzählen, bevor sie die Gelegenheit hatte, ihm zu erklären, dass sie eine Arbeit angenommen hatte.

Seitdem war sie nur herumgehetzt, hatte versucht, das Frühstücksgeschirr der Jungen wegzuräumen – sie hatten ihre klebrigen Teller und Saftgläser auf dem Küchentisch stehen lassen – und in aller Eile das Abendessen zu kochen. Nein, ihr erster Tag als berufstätige Mutter lief überhaupt nicht gut, und jetzt hatte sie auch noch vergessen, nach der Post zu sehen.

„Die habe ich wohl vergessen“, murmelte sie. „Ich komme gleich wieder.“ Sie fragte sich, ob der Postbote ihr Schwätzchen vermisst hatte. Normalerweise brachte er die Post gegen zwei Uhr, und wenn ihr langweilig war oder sie sich einsam fühlte, unterhielt sie sich einen Augenblick mit ihm über das Wetter.

Sie holte die Briefe aus dem Kasten auf der Veranda und reichte sie Harold. Hoffentlich würde er keine Erklärung für ihre Nachlässigkeit verlangen. Doch bevor er etwas sagen konnte, hörte Ginny ein zischendes Geräusch in der Küche und lief hinüber. Die Kartoffeln waren auf dem Herd übergekocht. Sie hatte versucht, den Vorgang zu beschleunigen, indem sie den Deckel auf dem Kochtopf ließ, und jetzt hatte sie noch mehr zu putzen. Sie packte den Topf und zog ihn von der Flamme, während sie mit den Tränen kämpfte.

„Was ist das für ein furchtbarer Gestank?“, rief Harold.

„Nichts … es ist … nichts. Ich kümmere mich darum.“ Sie hatte gehofft, Harold würde gut gelaunt nach Hause kommen, damit sie ihm von ihrem aufregenden Tag erzählen konnte, aber auch während er die Post durchsah, glätteten sich die steilen Falten auf seiner Stirn nicht.

„Ist das Essen fertig?“, fragte er, als er die Post gelesen hatte.

„Noch nicht ganz. Ich rufe euch dann.“

Harold streifte seine Anzugjacke ab und verschwand im Wohnzimmer, um dort zu warten. Sie würde es ihm nach dem Essen sagen. Aber anschließend musste sie spülen und abtrocknen und die Küche aufräumen, und die Jungen brauchten Hilfe bei den Hausaufgaben, und dann war es Zeit, sie ins Bett zu bringen. Ginny wäre am liebsten gleich mit ihnen schlafen gegangen, aber sie musste noch ihre Bügelwäsche machen. Sie stellte das Bügelbrett in der Küche auf und versuchte die Arbeit schnell zu erledigen, weil sie fürchtete, Harold könnte fragen, warum sie nicht an ihrem üblichen Platz neben ihm saß und mit ihm Radio hörte.

Ginny war gerade dabei, eines von seinen Hemden zu bügeln, als sie einen Aufruf für Rüstungshelferinnen im Radio aufschnappte. „Achtung, alle Bürgerinnen Amerikas“, sagte der Sprecher in dringlichem Tonfall. „Wir brauchen Ihre Hilfe. Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, muss jede gesunde Frau mit anpacken und in der Rüstungsindustrie arbeiten, damit unsere Jungs die nötige Ausrüstung und Munition haben, um auf dem Schlachtfeld zu siegen. Bitte melden Sie sich gleich heute zur Arbeit! Sie brauchen keine Erfahrung, und auch die Ausbildungsphase wird bezahlt.“

Sie stellte das Bügeleisen ab. Dies war die Gelegenheit, auf die sie gehofft hatte. „Hast du das gehört, Harold?“, fragte sie und ging ins Wohnzimmer.

„Was soll ich gehört haben?“

„Den Aufruf, den sie gerade gesendet haben … dass sie Arbeiterinnen suchen –“

„Was ist das überhaupt für ein Sender?“, unterbrach er sie.

„Ich weiß es nicht. Aber der Mann sagte gerade, dass sie Frauen brauchen –“

„Kommt denn am Dienstagabend nicht Die Aldrich-Familie? Ich glaube, bei dem Radio ist der falsche Sender eingestellt.“ Er stand auf, ging zu dem Gerät und machte sich an dem Drehregler zu schaffen.

„Harold, ich muss dir etwas sagen. Heute –“

„Ich wünschte, die Jungs würden nicht immer an diesem Regler herumspielen. Irgendwann fällt er noch ab und dann funktioniert das Radio gar nicht mehr.“

Ginny gab auf und kehrte in die Küche zurück. Er wollte ihr nie zuhören. Sie nahm ihr Synonymlexikon und suchte nach einem Wort für sein mangelndes Interesse an ihrem Leben. Unter gleichgültig fand sie den Ausdruck distanziert. Ihr gefiel der Klang des Wortes – es klang irgendwie hochnäsig und passte zu Harolds oft gerümpfter Nase. Auch sonst passte es zu Harold – er saß in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer gleich nebenan, war aber trotzdem meilenweit entfernt. Sie schrieb das Wort distanziert in ihr Notizbuch, während ihre Tränen auf die Seite tropften. Dann putzte sie sich die Nase und griff wieder zu ihrem Bügeleisen.

Als Die Aldrich-Familie zu Ende war, kam Harold in die Küche. „Musst du noch lange bügeln?“, fragte er.

„Nur noch zwei Teile. Warum?“ Vielleicht vermisste er sie und wollte etwas Zeit mit ihr verbringen. Sie hoffte es. Vielleicht könnte sie ihm dann endlich ihre Neuigkeit mitteilen.

„Ich muss morgen verreisen“, sagte er, „und du musst noch meinen Koffer packen.“

„Verreisen! Ich finde es immer furchtbar, wenn du über Nacht fort bist. Die Abende sind ohne dich so lang und einsam.“ Sie hasste auch ihre ständige Sorge, er könnte auf seinen Reisen eine andere Frau finden. Sie hatte den ganzen Tag nicht an die beiden Eintrittskarten gedacht, aber jetzt fielen sie ihr wieder ein.

„Wohin fährst du denn diesmal?“, fragte sie. „Und für wie lange?“ Sie versuchte, interessiert zu klingen und ihre Besorgnis zu verbergen.

„Die Firma in Detroit hat Probleme. Sie brauchen mich, um die Sache wieder zum Laufen zu bringen.“

„Ich wünschte, du hättest mir früher davon erzählt.“

„Ich habe es doch selbst erst heute Nachmittag erfahren.“ Es klang defensiv.

„Na ja, ich frage mich nur, wann du wohl wiederkommst, weil es etwas gibt, das wir besprechen müssen, und ich hatte gehofft, wir könnten –“

„Warum bügelst du eigentlich um diese Uhrzeit?“, fragte er plötzlich. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich.

Ginny versuchte, nicht panisch zu klingen, während sie nach Worten suchte. Harold war mieser Laune, und sie wusste, wenn sie ihn jetzt mit den Tatsachen konfrontierte, würde er ihr befehlen zu kündigen. Dabei brauchte sie diesen Job in der Werft mehr denn je, wenn Harold wirklich ein Schwerenöter war.

„Ich … ich hatte heute viel zu tun. Wie viele Hemden brauchst du denn? Ich glaube, ich habe fünf fertig gebügelt – reicht das?“ Sie stöpselte das Bügeleisen aus, eifrig darauf bedacht, nach oben zu gehen und ihm packen zu helfen, um nur ja das Thema zu wechseln. Die Worte rannen aus ihrem Mund wie Wasser aus einem offenen Hahn. „Fährst du mit dem Auto nach Detroit oder mit dem Zug? Welchen Koffer brauchst du, den großen oder den kleinen? Und wie viele Anzüge?“

Sie folgte ihm die Treppe hinauf und achtete sorgfältig darauf, die Hemden so zu falten, wie er es gern hatte. Danach rollte sie die Socken in Paaren auf und legte alles in seinen großen, sandfarbenen Koffer. Sie wünschte, sie könnte einmal irgendwohin reisen, und sei es nur nach Detroit.

Als Harold im Bad verschwand, atmete Ginny erleichtert auf. Sie sank aufs Bett und dachte endlich einen Augenblick über ihren ersten Arbeitstag in der Fabrik nach. Es war auf furchterregende Weise spannend gewesen und hatte dieses schaurige, berauschende Gefühl in ihr wachgerufen, das sie immer verspürte, wenn sie Gruselgeschichten hörte. Die Geschäftigkeit und Größe der Fabrik hatte sie begeistert! Sie war sich sicher, dass sie diese Arbeit schaffen konnte. Und sie wollte sie so schrecklich gerne tun, um sich selbst und Harold und der Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, zu beweisen, dass sie auch alleine zurechtkam.

Drähte zu löten war gar nicht so schwierig, wie Ginny gedacht hatte. Sie war sich sicher, dass sie es bald können würde. Sie wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie einen Fehler machte, der das Schiff untergehen ließ. Allein der Gedanke würde sie vor Angst erstarren lassen. Ihr Herz hatte vor Aufregung heftig geschlagen, als sie das Schiff im Testbecken gesehen hatte. Schon die Vorstellung, beim Bau eines solchen Schiffes zu helfen, begeisterte sie! Sie würde drei neue Freundinnen haben, mit denen sie reden konnte, während sie Tag für Tag zusammen arbeiteten und zu Mittag aßen.

Es hatte einen schrecklichen Augenblick gegeben, als Rosa, das dunkelhaarige Mädchen, gestolpert und beinahe in das Wasserbecken gefallen war. Allein Ginnys schnelle Reaktion hatte sie gerettet. Und wie würde Harold sich wundern, wenn er wüsste, dass Allans ehemalige Lehrerin, Miss Kimball, ebenfalls dort arbeitete. Harold hatte immer gesagt, Miss Kimball sei eine gute Lehrerin. Vielleicht war das eine Möglichkeit, ihn auf die Nachricht vorzubereiten. Vielleicht konnte sie Helen Kimball als Beispiel dafür anführen, dass jede Frau ihre Pflicht tun sollte.

„Na, woran denkst du?“, fragte Harold. Er war aus dem Bad gekommen und hatte sie dabei ertappt, wie sie ins Leere starrte. Eine ganze Weile konnte sie nicht antworten. Warum hatte er ausgerechnet diesen Augenblick gewählt, in dem ihre Gedanken ganz durcheinander waren, um plötzlich undistanziert zu werden? Gab es dieses Wort überhaupt?

„Oh … hm … um wie viel Uhr musst du denn morgen los?“, fragte sie, um Zeit zu schinden.

„Das hast du mich schon gefragt, und ich habe es dir auch schon gesagt. Was ist denn heute Abend mit dir los? Du wirkst irgendwie … abgelenkt.“

„Ich hatte heute einen vollen Tag. Du wirst nie erraten, was ich getan habe –“

„Hast du meinen Koffer fertig gepackt?“

„Ja. Harold, ich muss dir erzählen, dass ich –“

„Hast du auch an den Schlafanzug gedacht?“

Er hörte nicht zu. Er war ganz nah, aber gleichzeitig ganz weit weg – distanziert. Und selbst wenn er nicht distanziert gewesen wäre, hätte Ginny Angst gehabt, es ihm zu sagen. Vielleicht war seine Reise nach Detroit ja von Vorteil. So hatte sie ein paar Tage Zeit, sich an ihren neuen Arbeitsrhythmus zu gewöhnen, während er fort war. Sie beschloss mit der Unterredung zu warten, bis er zurückkam.

Ginny stand auf, schlang die Arme um ihn und drückte ihn ganz fest. Dabei sog sie seinen sauberen Duft und den vertrauten Trost seiner breiten Brust in sich auf. Sie glaubte nicht, dass sie ohne ihn würde leben können, und der Gedanke, seine Liebe zu verlieren, jagte ihr Angst und Schrecken ein. Aber das Gefühl, sich selbst zu verlieren, war noch beängstigender. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

„Ich werde dich vermissen“, sagte sie.

Am Morgen stand Ginny eine Stunde eher auf als sonst, damit sie vor der Arbeit einige Hausarbeiten erledigen, Butterbrote für sich selbst und die Kinder schmieren und für sie alle Frühstück machen konnte. Ab halb sieben blickte sie immer wieder nervös auf die Uhr und wartete darauf, dass Harold aufbrach, damit sie auch gehen konnte. Er gab sich wieder distanziert.

„Jungs!“, rief sie die Treppe hinauf. „Hört auf zu trödeln, sonst werden eure Pfannkuchen kalt.“ Ginny könnte Zeit sparen, indem sie in ihrem Overall zur Arbeit ging, aber wie sollte sie diese ungewöhnliche Aufmachung den Kindern erklären? Wahrscheinlich achteten sie nicht darauf, was ihre Mutter trug, aber Ginny wollte kein Risiko eingehen.

„Hört zu, ich muss los“, sagte sie, sobald Harolds Auto aus der Auffahrt gebogen war. Die Jungen hatten sich wenige Minuten zuvor lustlos auf ihre Plätze am Frühstückstisch geschoben, aber als sie sagte, sie müsse gehen, sah Herbie sie mit ängstlicher Miene an.

„Wohin gehst du denn, Mama?“

„Wir reden darüber, wenn ich mehr Zeit habe. Hier sind eure Butterbrote. Vergesst sie nicht. Ich werde wahrscheinlich nicht hier sein, wenn ihr aus der Schule kommt.“

„Schon wieder?“

„Schließt einfach selbst auf, so wie ihr es gestern getan habt. Ich komme dann bald, in Ordnung? Vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten nach euch. Lasst Rex raus, wenn ihr nach Hause kommt, aber ich will, dass ihr beide im Haus bleibt, bis ich wieder da bin, verstanden?“

„Kann ich nicht zu Tommy spielen gehen?“, fragte Allan.

„Du hast noch genügend Zeit zum Spielen, wenn ich nach Hause komme. Fangt schon einmal mit euren Hausaufgaben an, während ihr auf mich wartet. Ich will euch hier am Tisch sitzen sehen, wenn ich zurückkomme.“

„Was ist denn los, Mama? Wohin gehst du?“ Allan starrte sie an und runzelte die Stirn wie eine Miniaturausgabe seines Vaters.

Ginny schnappte sich ihr Lunchpaket. „Ich erkläre es euch später. Bitte tut, was ich gesagt habe, in Ordnung? Tschüs.“

Sie hatte keine Zeit, sich um die beiden zu sorgen. Hastig rannte sie zwei Häuserblocks weit, um ihren Bus noch zu erwischen. Harold schimpfte immer mit ihr, weil sie die Kinder bemutterte – jetzt konnten sie zeigen, wie groß sie schon waren. Endlich würde Harold seinen Willen bekommen.