OTFRIED HÖFFE
Die hohe Kunst
des Alterns
Kleine Philosophie des guten Lebens
C.H.BECK
Zum Buch
«Was du als Kind nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Älteren zu!» Mit dieser Goldenen Regel formuliert Otfried Höffe eine ebenso einfache wie überzeugende Sozialethik des Alters. Umfassend behandelt er in dieser Anleitung zum Älterwerden auch die ökonomischen, medizinischen, juristischen und sozialen Aspekte des Themas und fragt sehr konkret nach den Voraussetzungen, um in Würde glücklich altern zu können.
Höffe wendet sich gegen die Übermacht der Ökonomie und die Dominanz negativer Altersbilder. Auf die Drohkulisse der «alternden Gesellschaft»antwortet er mit der Perspektive der «gewonnenen Jahre» und gibt auch praktische Ratschläge: Die «vier L» Laufen, Lernen, Lieben und Lachen arbeiten der Altersschwäche entgegen und verhelfen nicht nur zu Wohlbefinden, sondern auch zu einem beträchtlichen körperlichen, geistigen, sozialen und emotionalen Kapital. Denn was die Erfahrung lehrt, das hat die Forschung längst bestätigt: dass man die dem Alter entgegenwirkenden Kräfte zu einem erheblichen Teil bei sich und in sich selbst findet.
Über den Autor
Otfried Höffe lehrte u.a. in Fribourg, Zürich, Sankt Gallen und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet. Bei C.H.Beck erschienen zuletzt: Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen (2016) und Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015).
Vorwort
1. Erste Annäherung
Das Thema wiedergewinnen
Gegen die Übermacht der Ökonomie
Drei philosophische Altersdiskurse
Arist-o-crates: Zur Kooperation von Philosophie und Medizin
Der Ruf nach medizinischer Ethik
Zur Gliederung
2. Wider die Macht negativer Altersbilder
Bilder statt Stereotype
Zwei Pole: Alterslob und Altersschelte
Frühgeschichte
Griechische Medizin
Von Francis Bacon zu Pablo Casals
Ein Blick in die Fremde
3. «Alternde Gesellschaft» oder «gewonnene Jahre»?
Zunehmende Lebenserwartung
Kalendarische Altersgrenzen sind fragwürdig
Bleibende Frische
Altersfreundliche Diskurse
4. Gesellschaftspolitische Aufgaben
Das sozialethische Leitgebot
Die Berufswelt ändern
Eine neue Bildungswelt
Altersfreundliche Lebensräume
5. Vorbilder für eine Alterskunst
Cicero: Eine frühe Altersstudie
Zwischenspiel: Shakespeare, Goethe und Hegel
Arthur Schopenhauer: Heiterkeit – in Grau
Jacob Grimm: Vom Glück des Älterwerdens
Ernst Bloch: Zeit der Ernte
Authentisch: Auch im Alter «Ich selbst sein»
6. In Würde glücklich altern
Altern will gelernt sein
Ratschläge der Lebensklugheit: «Die vier L»
Sozialethische Gebote
Die Goldene Regel der Altersethik
Weitere gerontologische Gebote
Muster eines Lernprozesses
7. Hochbetagt: Alterskunst in der Geriatrie
Selbstachtung, Selbstbestimmung und kreatives Altern
Facettenreiche Hilfe
Das Alter ist keine Krankheit, die Altersheilkunde eine Disziplin des Lebens
Wirtschaftlichkeit kontra Ethik
Ausbildung und Forschung
Krankenversorgung
Ein Nachwort zur Demenz
8. Wenn es zum Sterben kommt 1: Das Lebensende planen?
Die Sterblichkeit nicht verdrängen
Zum Beispiel Boëthius’ Trost der Philosophie
Systematische Überlegungen
Sieben Strategien
Grundmuster des Sterbens
Zwei abschließende Bemerkungen
9. Wenn es zum Sterben kommt 2: Um eine Kultur des Abschiednehmens bitten
Die soziale Aufgabe
Vier Dimensionen
Medizin und mehr
Ein Blick auf die Religionen
Alterssuizid: Dürfen, sollen Ärzte helfen?
Sterben lassen
10. Demokratische Aspekte der Lebens- und Alterskunst
Literatur
Personenregister
Für Evelyn,
seit 50 Jahren mein Vorbild für Lebenskunst
Lange Zeit fand das Thema des Alters und Alterns in der Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit. Seit einiger Zeit hat sich die Situation geändert, häufig angestoßen durch den vorher verdrängten demographischen Wandel. Endlich, muss man sagen, stellen sich sowohl Fachbücher und Abhandlungen als auch Zeitungsessays und literarische Texte wieder der Aufgabe, über die hier einschlägige Beziehung der Generationen zueinander und über die dabei möglichen persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Chancen, Gefahren und Konflikte nachzudenken. Die Philosophie meldet sich aber immer noch kaum zu Wort. In ihren vielbändigen Nachschlagewerken taucht das Stichwort «Alter», im Englischen «age», nicht einmal auf.
Philosophen besitzen hier zwar kein Sonderwissen, sondern bedienen sich lediglich der allen Menschen gemeinsamen Vernunft und der ebenfalls allen zugänglichen Erfahrung. Für beides bringen sie jedoch eine methodische Übung mit. Überdies können sie aus der an Begriffen, Argumenten und Problembewusstsein reichen Tradition schöpfen. Früher, insbesondere in der Antike, war nämlich das Themenfeld vom Alter und Altern ein respektabler Gegenstand. «Über das Alter», in der lange dominanten Philosophie-Sprache, dem Lateinischen, «De senectute», war ein klassischer Titel für philosophische oder der Philosophie nahe Überlegungen. Später jedoch verdrängt die Philosophie dieses Thema, obwohl der lebensweltliche Anlass bleibt: Menschen altern und haben nicht selten Schwierigkeiten, sich mit dieser Phase ihres Lebens auseinanderzusetzen, vielleicht sogar anzufreunden.
Zu den Gründen des philosophischen Desinteresses gehört ein radikaler Perspektivenwechsel: Die Pflichtenethik, auch deontologische Ethik genannt, hat den Bereich der Philosophie, in dem die «Philosophie des Alters» vornehmlich behandelt wurde, die Philosophie als Lebenskunst, zunächst entmachtet, später vollständig beiseitegeschoben. Hinzu kommt eine Verengung vieler Debatten auf Begriffsklärung und Prinzipientheorie. Dabei scheut man den für eine Philosophie des Alters unabdingbaren Blick in die Erfahrung, sowohl in die Lebenserfahrung als auch in die einschlägigen Erfahrungswissenschaften. Mit dieser Studie versuche ich, die größere Themenweite wiederzugewinnen. Es versteht sich, dass dieser Versuch die professionellen Altersdiskurse zur Kenntnis nimmt. Da und dort kann sie diese aber um einige weniger behandelte Gesichtspunkte und Methoden erweitern oder die schon bekannten anders gewichten.
Erste Ansätze habe ich vor eineinhalb Jahrzehnten unter dem Titel «Gerontologische Ethik. Zwölf Bausteine für eine neue Disziplin» veröffentlicht. Bei der Mitarbeit in einer interdisziplinären Akademiengruppe «Altern in Deutschland» konnte ich mich in eine Fülle weiterer Erfahrungen einarbeiten. Nachdem ich in den letzten Jahren aus verschiedenen Anlässen zu Vorträgen oder Stellungnahmen gebeten wurde, entstand der Wunsch, die verschiedenen Überlegungen in einen sachlichen Zusammenhang zu bringen und wo erforderlich thematisch und methodisch abzurunden.
Meine Leitfrage lautet: Gibt es im Rahmen der Lebenskunst eine Kunst des Alters und Alterns? Hat diese Kunst, geht die Frage weiter, zwei Seiten, eine personale und eine soziale Seite, die freilich ineinander greifen dürften? Und hat diese Kunst nicht einzuschließen, womit alles Leben, auch das menschliche, endet: das Sterben mitsamt dem Tod? Gibt es also oder braucht es zumindest als Ergänzung eine Kunst oder Kultur des Sterbens, die, wo erforderlich, auch einschlägige Fragen einer Pflichtenethik aufgreift?
Da wir alle, wenn wir nur offen durchs Leben gehen, vieles vom Alter und Altern kennen, darf niemand glauben, hier etwas grundsätzlich Neues vortragen zu können. Diese Studie sucht keine Neuentdeckungen, eher unternimmt sie eine phänomenale Erkundungsreise, die möglichst viele Aspekte in den Blick nimmt, da und dort freilich auch eigene Akzente setzt.
Wieder darf ich meinen vorbildlichen Mitarbeitern danken, dieses Mal besonders Dr. Moritz Hildt für kluge Kommentare und Peter Königs für Hilfe beim Literaturverzeichnis, dem Personenregister und der Fahnenkorrektur.
Tübingen, im Herbst 2017 |
Otfried Höffe |
Zu jedem Lebewesen gehört das Altern, das schließlich ins Sterben mündet. Menschen machen hier keine Ausnahme, trotzdem nehmen sie in der Natur eine Sonderstellung ein. Denn sie wissen um das Altern, erleben es in der Jugend an Eltern, Lehrern und Großeltern, später an sich selbst, weshalb sie früher oder später darüber nachdenken.
Altern und Alter sind also für den Menschen biologische Phänomene, die zugleich erlebt und erlitten, bald beschleunigt, bald auch gebremst werden und in jedem Fall ein existentielles Gewicht haben. Da sie die Berufs- und Arbeitswelt mitbetreffen, haben sie ebenso eine wirtschaftliche, weil sie das Gesundheitswesen beeinflussen, sowohl eine politische als auch eine medizinische, pharmazeutische und medizintechnische Seite. Weil ältere Menschen altersgerecht wohnen und barrierefrei in Gebäude und Wohnungen gelangen wollen, hat das Thema zudem eine Architekturseite, schließlich, weil es den Menschen in seinen gesellschaftlichen Beziehungen beeinflusst, eine soziale Seite.
Für all diese Facetten ist eine hohe Kunst des Alters und Alterns, folglich auch eine Theorie der Alterskunst gefordert. Dabei meint «Kunst» keine künstlerische Tätigkeit, sondern ein Können, ein Know-how, das ein Kennen und Wissen, ein Know-that, einbezieht und sowohl rechtliche als auch moralische Verbindlichkeiten nicht ausschließt. Hier wie andernorts beansprucht die Philosophie keine Sonderfähigkeit. Denn jedem Bürger zugänglich, ist sie ihrem Wesen nach ein demokratisches Unterfangen, das sich der allen Menschen gemeinsamen Vernunft bedient und auf eine ebenfalls allen zugängliche Erfahrung zurückgreift. Freilich bringt die Philosophie außer ihrer Fähigkeit zu methodischem Vorgehen auch die Kenntnisse einer an Begriffen, Argumenten und Problembewusstsein reichen Tradition mit. Gegenüber dem Alter reicht diese von Platon und Aristoteles über die Stoa, Cicero und die europäische Moralistik etwa mit Bacon und Schopenhauer bis zu modernen Autoren wie Ernst Bloch.
Es genügt freilich nicht, nur philosophische Zeugnisse zu Rate zu ziehen. Ebenso wichtig sind Texte der Medizingeschichte und Hinweise der religiösen und der säkularen Lebensweisheit. Schließlich darf man weder die bildende Kunst noch die große Literatur vergessen: Die einschlägige Tradition ist weit.
Die zu erneuernde philosophische Alterskunst beginnt mit dem Veto gegen eine heute drohende Engführung: Gesellschaft und Politik überlegen, wie man die Älteren möglichst wirksam zunächst in die Berufs- und Sozialwelt, später in die Welt von Alten- und Pflegeheimen integriert. Oft stillschweigend, nicht selten ausdrücklich nehmen sie dann Nutzen-Kosten-Analysen vor, gerichtet auf die Berufswelt, das Gesundheitswesen, nicht zuletzt die Rentenversicherung. Auf diese Weise wird das Themenfeld nur in funktionaler Hinsicht, zudem nicht selten in ökonomistischer Verkürzung erörtert: Wie bleiben die Menschen möglichst lange in das Erwerbsleben eingebunden? Und: Wie lassen sich die Kosten einer späteren Betreuung minimieren?
Der Einspruch gegen diese thematische Verkürzung setzt bei der Beobachtung eines zunehmend ökonomischen Denkens an, das sich auf eine sogar vierdimensionale Ökonomisierung beläuft:
Als erstes breiten sich ökonomische Absolventen in Tätigkeitsfelder aus, die bislang von Juristen oder einschlägigen Fachleuten geleitet wurden. Und in der Leitung von Pflegeheimen und Krankenhäusern erhalten kaufmännische Direktoren mehr und mehr Gewicht.
Weiterhin wächst die Macht der von Gefühlen entleerten ökonomischen Sprache, deren schlechtes Deutsch ihre Herkunft aus der anglophonen Management-Sprache verrät. Der Ausdruck «Effizienzpakt» steht schönfärberisch für «Kostenstopp» und «redundant machen» für «kündigen». Altersheime und Krankenhäuser gelten als Betriebe, die es nicht mehr mit Heimbewohnern oder Patienten, sondern mit Kunden zu tun haben. Die Angestellten schließlich zählen nicht mehr als (unentbehrliche) Mitarbeiter, sondern als ein so weit wie möglich einzusparender Kostenfaktor.
Noch gravierender als die, polemisch zugespitzt, «ökonomievergiftete» Sprache ist die zugrunde liegende Zunahme der BWL-Mentalität. Sie beginnt bei der Fragmentierung komplexer Aufgaben, setzt sich im Diktat des Rotstifts fort und endet nicht bei der Forderung, «genug Geld einzuspielen» und die «Bettenrendite» zu erhöhen. Am zynischsten manifestiert sich diese Denkweise in der Rede vom «sozialverträglichen Frühableben». Die Folge war vorhersehbar: Der allgegenwärtige Spardruck verschlechtert, was in der Altersheilkunst, der Geriatrie, und in Altersheimen besonders wichtig ist: die persönliche Zuwendung.
Nicht zuletzt wird, viertens, eine so sensible Aufgabe wie die Betreuung von Pflegebedürftigen öffentlich ausgeschrieben, als ob es sich um ein Gewerk für den Bau einer Straße oder eines Bürogebäudes handle.
Diese Beobachtungen sollen keinesfalls Fragen der Wirtschaftlichkeit für belanglos erklären. In seiner meisterhaften Erzählung «Die Nase» lässt zwar der russische Schriftsteller Nikolai Wassiljewitsch Gogol einen Arzt mit Entrüstung sagen, er habe keine finanziellen Interessen. Richtig ist, dass dem Wesen ärztlicher und pflegerischer Tätigkeit, dem Helfen und Heilen, die dem Geld unterworfene Wirtschaftlichkeit fremd ist. Trotzdem kann sich nur, wer geerbt oder glücklich spekuliert hat, die von Gogol erzählte Entrüstung leisten. Die gewöhnlichen Ärzte und Heimleitungen müssen ein Auskommen suchen; weder die geriatrische Abteilung einer Klinik noch ein Seniorenstift können sich auf Dauer rote Zahlen erlauben.
Schließlich dürfen die Gesamtkosten des Gesundheitswesens nicht beliebig steigen, so dass man eine Knappheit finanzieller und personeller Mittel nie ausschließen kann. Dass deshalb selbst in einem relativ großzügigen Gesundheitswesen wie dem von West- und Nordeuropa etliche Wünsche offen bleiben, erkennt eine philosophische Alterskunst schon wegen des anthropologischen Gesetzes der Knappheit – während die letzte Vorgabe aller Wirtschaft, die Erde, begrenzt ist, sind die menschlichen Begehrlichkeiten unbegrenzt – als unvermeidlich an:
Patienten wünschen sich sofortige Hilfe, müssen in Wirklichkeit aber warten: in der Sprechstunde, auf den Notarzt, auf ein Spenderorgan oder den Operationstermin. Und wenn ein Patient an der Reihe ist, drängt der nächste nach: Die Zuwendungszeit von Ärzten und Pflegepersonal ist in der Regel kürzer, als es sich der Patient, zumal der hochbetagte, wünscht.
Dass Fragen der Wirtschaftlichkeit notwendig sind, rechtfertigt aber nicht deren Übermacht. Gegen die skizzierte Ökonomisierung braucht es eine Gegenmacht, gegen die Kultur der Rentabilität eine Gegenkultur, die dem wirtschaftlichen Denken das Recht auf den Vorrang abstreitet.
Unsere Gesellschaft gibt ihren Mitgliedern das Recht, in allen Phasen ihrer Biographie, folglich auch im Alter, sich zu entfalten und dabei ein gelungen-glückliches Leben zu suchen. Für dessen notfalls einklagbaren Rahmen hat sie sich sogar auf die Grund- und Menschenrechte und als deren Leitgedanken auf die Menschenwürde verpflichtet. Deshalb braucht man funktionale Betrachtungen – sie mögen im Fall einer gründlichen Erörterung «funktionale Altersdiskurse» heißen – nicht aufzugeben, vor allem nicht, wenn man deren Verkürzung auf das Erwerbsleben entkommt. Allerdings nehmen funktionale Altersdiskurse einen den Betroffenen weithin fremden Blick ein, den man genau deshalb, als Fremdblick, zu relativieren hat. Öffnet man sich daher der Innenansicht der Betroffenen, dem Blickwinkel der Älteren selbst, so treten seitens der Philosophie normative Fragen in den Vordergrund, weshalb philosophische Altersdiskurse vornehmlich zur Ethik gehören.
Für sie hat die Philosophie im Lauf ihrer reichen Geschichte vier Grundmodelle entwickelt: eine Ethik des glücklich-gelungenen Lebens, eine Ethik moralischer Anforderungen, eine Ethik «kollektiven Wohls», nicht zuletzt die Moralkritik. Für jedes dieser Modelle gibt es eine herausragende Gestalt: Für das erste Muster, den Eudaimonismus («Glück» heißt im Griechischen «Eudaimonia»), ist Aristoteles mit seiner Nikomachischen Ethik maßgeblich. Für das zweite Modell, die Pflichtenethik, oft Deontologie, nämlich «Lehre des Schicklichen und Gesollten», genannt, gibt Immanuel Kant mit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das Vorbild ab. Für die Ethik des maximalen Gesamtwohls (Kollektivwohls), für das «größte Glück der größten Zahl», den Utilitarismus, hat John Stuart Mill mit seiner gleichnamigen Schrift den größten Einfluss entfaltet. Schließlich ist der bedeutendste Vertreter für die Moralkritik Friedrich Nietzsche, etwa mit der «Streitschrift» Zur Genealogie der Moral.
Eine Ethik des Alters und des Alterns – man mag sie eine gerontologische Ethik nennen – kann auf alle vier Modelle zurückgreifen. Gegen das dritte Muster, den Utilitarismus, tauchen zwar grundsätzliche Bedenken auf, denn das Prinzip des maximalen Gesamtwohls widerspricht der Innenansicht der Einzelnen und ihrer unveräußerlichen Rechte. Trotzdem kann es etwa bei Fragen einer Impfpflicht von Bedeutung sein. Wichtiger sind aber die drei anderen Modelle:
Eine eudaimonistische Altersethik untersucht, wie man auf eine gute, glücklich-gelungene Weise altert. Dafür gibt es bedeutende historische Vorbilder. Ein erheblicher Teil der klassischen, insbesondere antiken Philosophie verstand sich nämlich als eine Lebenskunst. Gemeint ist nicht jene Fähigkeit raffinierter Egoisten, aus jeder Situation Vorteile für sich herauszuschlagen, sondern die Fähigkeit und wohleingeübte Bereitschaft, sein eigenes Wohl im Rahmen von Gerechtigkeit und Fairness zu suchen. Die dafür zuständigen Überlegungen erweitern die ökonomischen und sonstwie funktionalen Altersdiskurse um eine erste philosophische und insgesamt zweite Art, um einen eudaimonologischen bzw. eudaimonistischen Altersdiskurs mit der Frage: Gibt es im Rahmen der Lebenskunst eine vom Einzelnen zu entwickelnde, schließlich zu praktizierende Kunst, um mit dem Alter, selbst dem unvermeidbaren Sterben zurechtzukommen?
Das zweite philosophische Muster, die deontologische Altersethik, befasst sich mit der Frage, wie ältere Menschen von anderen behandelt werden sollen und wie eine dem Alter freundliche Gesellschaft und Politik aussieht.
Der eudaimonologische Altersdiskurs gehört zur personalen, der deontologische nicht ausschließlich, aber vornehmlich zur sozialen Ethik; dort werden Ratschläge für das eigene Wohl erteilt, hier Gebote und Verbote gegen andere aufgestellt. Der dritte philosophische Altersdiskurs, die Moralkritik, schließlich ist etwa bei der Kritik an primär negativen Altersbildern gefragt.
Für alle drei nicht mehr funktionalen Diskurse steuert die Lebenserfahrung wesentliche Dinge bei. Aus diesem Grund benötigt man zwar für die Alterskunst qua Lebenskunst weder Philosophen noch Sozialwissenschaftler, schon gar nicht einen Guru, einen geistlichen Lehrer oder einen Zen-Meister, auch wenn keine von diesen Professionen und Personen schaden müssen. Sofern man sich aber kundig macht, empfiehlt es sich, sowohl philosophische Texte als auch Zeugnisse von der Lebensweisheit vieler Kulturen und Epochen, nicht zuletzt Beiträge der Literatur und bildenden Kunst zu Rate zu ziehen. Und um die Erfahrung zu erweitern, wo erforderlich auch zu korrigieren, blicke man in die professionelle Altersforschung, deren Vertreter, Psychologen und weitere Sozialwissenschaftler, ferner Mediziner, Medizintechniker und Fachleute der Pflege, aus stupender Gelehrsamkeit eine Überfülle von Material und Gesichtspunkten ausbreiten.
Für die nötige Erfahrung spielt die Medizin eine herausragende Rolle. Denn sie blickt auf eine besonders lange Tradition zurück, in der, noch ohne den Ausdruck zu verwenden, die Sache der Altersheilkunde, der Geriatrie, schon betrieben wird.
Werden die einschlägigen Kooperationsmöglichkeiten gründlich ausgelotet, so lassen sie sich unter einen Titel stellen, der beide Seiten, Philosophie und Medizin, als gleichrangig und gleichgewichtig miteinander verbindet: Arist-o-crates. Dieser rätselhafte Titel spricht sich gegen zwei andere Muster aus, bei denen jeweils nur die eine Seite von der anderen lernt. «Arist-o-crates» nenne ich eine hierarchiefreie Zusammenarbeit, die beiden, der Philosophie und der Medizin, den erforderlichen wechselseitigen Respekt einräumt.
Der erste Teil des Titels, «Aristo», steht für Aristoteles, spielt also auf jenen «Meister aller Wissenden» an, der von der Antike bis etwa Charles Darwin wegen seiner wahrhaft enzyklopädisch weiten Forschung bewundert und gerühmt wird. Der zweite Teil «crates» meint keinen weiteren Philosophen, etwa Sokrates, sondern einen maßstabsetzenden Begründer der Heilkunst, den herausragenden Arzt des antiken Griechenlands Hippokrates. (Im Titel Arist-o-crates erscheint der Arzt in der lateinischen Schreibweise «Hippocrates», um bei den «Aristocratikern» nicht an «Aristokraten» erinnert zu werden). Das herausgehobene «o» hingegen steht, weil beiden Vorbildern gemeinsam, für deren Verbindung.
Für das gesuchte Muster der Wechselseitigkeit gibt es nun verschiedene Untermuster oder Modelle. Das erste Modell, die Personalunion, also die Doppelbegabung von Medizin und Philosophie, kommt überraschenderweise tatsächlich vor. In der Frühzeit unseres Kulturraums gibt ein brillanter Arzt und zugleich spekulativer Philosoph, Alkmaion von Kroton, ein Beispiel ab. Ein zweites Beispiel bietet Alkmaions Zeitgenosse, der Arzt und Philosoph Empedokles, auf den die Lehre der vier Urstoffe – Feuer, Luft, Erde und Wasser – zurückgeht.
Nun mag man einwenden, damals seien die Wissenschaften noch nicht so spezialisiert wie heute gewesen, so dass etwas, das in der Antike möglich war, bald unmöglich geworden sei. Wahr ist, dass es noch Jahrhunderte später für die Personalunion prominente Beispiele gibt. Erwähnt seien sechs Personen; um allzu seltene Ausnahmen handelt es sich also nicht. Die ersten drei Beispiele stammen aus der islamischen Kultur des Mittelalters. Während im christlichen Westen die Philosophie nur mit der Theologie eine Personalunion eingeht, sind im islamischen Bereich die Aristocratiker fast die Regel:
Der persische Philosoph und welterfahrende Politiker Ibn Sina, latinisiert Avicenna, ist auch Arzt. Sein mehrbändiges Hauptwerk von 1027 trägt den Titel Kitab asch-Schifa: Buch der Heilung der Seele vom Irrtum. Das zweite Beispiel, der Erfinder von Robinsonromanen und Vorbild für Daniel Defoes Robinson Crusoe, der im 12. Jahrhundert lebende Abu Bakr Ibn Tufail, war Leibarzt des Kalifen Abu Yaqub Yusuf. Sein Nachfolger als Leibarzt, drittes Beispiel, ist der bedeutendste islamische Philosoph im Westen, Ibn Ruschd, latinisiert Averroës.
Im christlichen Westen taucht der erste bedeutende Aristocratiker erst im 13. Jahrhundert auf: Marsilius von Padua, ein bedeutender politischer Philosoph, praktiziert sowohl in Paris als auch am Königshof in München erfolgreich als Arzt. Das nächste Beispiel, der Schwabe Theophrastus Bombastus von Hohenheim, zeitweilig Stadtarzt in Basel, ist unter der latinisierten Form von Hohenheim, nämlich als Paracelsus, bekannt. Knapp 150 Jahre später findet sich trotz der weiter fortgeschrittenen Spezialisierung als weiteres Beispiel der englische Philosoph und Erzvater des Liberalismus: John Locke ist ein so herausragender Arzt, dass er im Jahr 1686 einem führenden Politiker, Lord Anthony Ashley Cooper, durch einen Leberzystenschnitt das Leben zu retten vermag.
Der erste Titelautor, Aristoteles, ist zwar selber kein Arzt, nur Sohn des makedonischen Leibarztes Nikomachos. Er bietet aber ein schönes Beispiel für wechselseitige Wertschätzung: Ein Naturphilosoph, erklärt er, müsse die Anfangsgründe, also Prinzipien, von Gesundheit und Krankheit in Betracht ziehen, weshalb die meisten Naturphilosophen letztlich zu medizinischen, mithin auch geriatrischen Fragen geführt würden. Diese Notwendigkeit führt zum zweiten Modell, nach der Personalunion zur fachlichen Kooperation.
Die Notwendigkeit einer Erfahrungsbasis ist noch kein zureichendes Argument für die gleichberechtigte Kooperation. Insbesondere fragt man sich, warum die Medizin mitsamt der Geriatrie der Philosophie bedarf. Warum genügt den Ärzten nicht ihr Ethos, das sich in den drei bekannten Maximen bündelt, die übrigens nicht medizinspezifisch, sondern für jedes Berufsethos gültig sind:
Ob Handwerker, Anwalt, Pflegeperson oder Arzt – man hat für das Wohlergehen (salus) seines Kunden, Klienten oder Patienten zu sorgen: salus personae suprema lex. Das einschlägige Minimum, zweite Maxime, besteht im Schädigungsverbot oder der Schadensminimierung: nil nocere. Schließlich müssen Kunden, Klienten oder Patienten der Arbeit zustimmen, die der zur Hilfe Gerufene vorzunehmen hat. Die ersten zwei als hippokratischer Eid bekannten Grundsätze, erweitert um das zunehmend wichtige Recht auf Selbstbestimmung, legen also weder dem Arzt noch dem Pflegepersonal für Ältere Sonderverpflichtungen auf. Sie sprechen lediglich für ihren eigenen Beruf aus, was jeder Beruf für sein Ethos fordert.