Über das Buch

Was hält Europa zusammen? In einer neuen Kulturgeschichte Europas von den mythischen Anfängen bis heute zeigt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Jürgen Wertheimer, worin die DNA des Kontinents besteht: Europa nimmt sich seit jeher als Gemeinschaft der Vielfalt wahr, die ständigen Veränderungen nach innen und außen, Verhandlungen, Streit und Diskussionen unterliegt – ohne sich auf ein festes Selbstbild zu verpflichten. Trotz aller Krisen und Kriege liegt darin auch die Stärke: Seit der Antike hat sich daraus eine Kultur der Befragung, Selbstbefragung und Offenheit gebildet, die sich in den kulturellen Zeugnissen der vergangenen Jahrhunderte, vor allem in der erzählenden Literatur, spiegelt. Sie wird von vielen in der Welt geliebt und bewundert, aber auch beargwöhnt, gefürchtet und bekämpft. Gute Gründe, sich darauf zu besinnen!

Über den Autor

Jürgen Wertheimer, geboren in München, studierte Germanistik, Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München, Siena und Rom. Seit 1991 ist er Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter gemeinsam mit Nicholas Conard »Die Venus aus dem Eis. Wie vor 40 000 Jahren unsere Kultur entstand« (Knaus, 2012). Seit 2017 leitet er das »Projekt Kassandra. Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung«.

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Jürgen

Wertheimer

EUROPA

EINE GESCHICHTE

SEINER KULTUREN

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Copyright © 2020 Penguin Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Bernd Klöckener, Berlin. Mitarbeit: Florian Rogge

Karten: Peter Palm, Berlin

Bildbearbeitung: Helio Repro, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: Fall of Giants (Caduta dei giganti),

by Pietro Longhi, 1734, Fresco (Detail) © Mondadori Portfolio/

Electa/Cameraphoto Arte/Bridgeman Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-23042-5
V002

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Inhalt

Vorwort

Einführung

I Gründungsmythen

1 Europa kriecht an Land

2 Die Mutter aller Schlachten

3 Geburt der Polis

4 Die Entdeckung des Mittelmeerraums

5 Odysseus und Jahwe: die zweite Wurzel Europas

6 Troja 2.0: Rom

Grenzen – europäische Schicksalslinien

II Metamorphosen

7 Europa gründet ein Imperium

8 Rom wandert aus

9 Ex oriente lux

10 Die Legende vom »christlichen Abendland«

11 Deus lo vult: Gott will es

Wie halten wir’s mit der Religion?

III »Eine Neuvermessung der Welt«

12 Der »Herbst des Mittelalters«: Extremisten und Décadents

13 Irdische Paradiese

14 Ein Sturm erfasst die Welt

15 Siglo de Oro: das »goldene Zeitalter«?

16 Die Kunst der Wissenschaft

Tabula rasa oder Endlosschleife?

IV Das Projekt »Aufklärung«

17 Mythendämmerung

18 Witz, Satire, Trauerspiel und Enzyklopädie: die Künste der Aufklärung

19 Die große Revolution – und ihre Folgen

Wahrnehmungsschulen: europäische Zugänge zur Welt

V Das Jahrhundert der Widersprüche

20 Die Welt muß romantisiert werden«

21 Verlorene Illusionen

22 Oceanische Gefühle«: die Jahrhundertwende

23 Europa implodiert: der Zusammenbruch der alten Systeme

Wir sind wir – oder sind wir die anderen?

VI Selbstmord und Weiterleben

24 Der Absturz

25 Die Regeneration

26 Unser Europa: Bruchstellen

27 Zukunftstraum Europa

Das Europa der Frau

Was wir gelernt haben – könnten

Dank

Anmerkungen

Bibliographie

Bildteil

Vorwort

Europa ist ein Kunstprodukt, ein Artefakt, das angemessen behandelt werden muss. In den falschen Händen kann es im wahrsten Sinn zu Bruch gehen. Und ja, Europa ist eine Mimose, ein Hybrid – im Vergleich mit anderen Kulturen ist es viel filigraner, zerbrechlicher. Das ist nicht nur seine Schwäche, sondern auch seine Stärke.

Als Artefakt aus Gegensätzen, Ähnlichkeiten (auch trügerischen), Gemeinsamkeiten und Widersprüchen, Ambivalenzen und Affinitäten, Bindungs- und Auflösungstendenzen ist es ein labiles und zugleich seit mehr als 2000 Jahren bestehendes Gebilde. Stets im Zerfall und Aufbau zugleich begriffen.

Vereinigte Staaten von Europa – ein Widerspruch in sich selbst.

Europa der Vaterländer – eine Vision aus der Mottenkiste.

Das Band gemeinsamer europäischer Werte – pure Einbildung.

»Europa« hat immer dann am besten funktioniert, wenn man es verstand, eine gewisse artistische Balance zwischen Autonomie-Ansprüchen und Bindungs-Bedürfnissen zu halten. Bei der inneren Widersprüchlichkeit der Elemente, aus denen sich dieser Kontinent zusammensetzt, ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Dieses Buch unternimmt den Versuch, sich diesem verwirrenden Kontinent zu nähern und ihn in all seiner Widersprüchlichkeit zu erkunden. Erstaunliche Höhenflüge und verheerende Abstürze gehören ebenso dazu wie rabiate Ausbruchsversuche und engherziger Rückzug. Doch genau mit diesem doppeldeutigen, vielstimmigen, fragmentarischen, unvollständigen Europa, so wie es in den zweieinhalb Jahrtausenden seiner Existenz geworden ist, haben wir es zu tun. Die Vorstellung eines in sich geschlossenen Ganzen ist pure Illusion. Wir sollten uns mit dem Europa, wie es ist, anfreunden und das Beste daraus zu machen versuchen.

Daher will und kann dieses Buch auch keine umfassende und vor allem keine vollständige Geschichte der europäischen Kulturen sein. Wer nach Lücken sucht, wird sie finden. Wer etwas über die großen Dynastien, die angeblich das Gesicht Europas geprägt haben, erfahren möchte, wird enttäuscht sein. Dies hier ist weit mehr das Protokoll einer durch persönliche Erfahrungen wie auch Irrtümer geprägten Wanderung entlang der Geschichte der kulturellen Verwandlungen und Konstanten dieses Kontinents mit seinen frappierenden Dreh- und Angelpunkten.

Es ist unmöglich, ein objektives Bild von Europa zu zeichnen. Ich kann nur versuchen wiederzugeben, welche Reflexe und Reflexionen sich in den langen Jahren und Jahrhunderten, der Chronologie folgend, eingestellt und entwickelt haben – von seiner Vorgeschichte bis zur Gegenwart.

Natürlich hätte es andere Gliederungsmöglichkeiten gegeben, man hätte Schwerpunkte herausgreifen, nach zentralen Merkmalen sortieren können. Mich hat das Prinzip des Nacheinanders deshalb interessiert, weil es ja immer auch ein Europa vor einem Europa gab. Allzu häufig blicken wir auf diesen Kontinent mit dem Blick derer, die aus der Rückschau bereits alles besser wissen. Ich möchte demgegenüber einzelne Episoden auch so beschreiben, wie sie möglicherweise von den Menschen seinerzeit verstanden wurden, noch bevor diese bereits wussten, wissen konnten, wie der nächste Schritt, den man im Begriff war zu tun, aussehen könnte, wohin der Weg, den man ging, führen würde. Europa – ein Rätsel, dessen Auflösung man noch nicht kennt.

Um dennoch einige Orientierungsmarken zu setzen, wurde die bisweilen einschüchternde Stoffmenge in sechs Teile gegliedert, die entscheidende Bewegungen zusammenfassen. Zudem gibt es eine Reihe von Zwischenkapiteln, die einige übergreifende Aspekte europäischer Erfahrung bündeln und – im schnellen Vorüberfliegen, sozusagen im Zeitraffer eines Gangs durch die Jahrhunderte – zusammenfassen.

Beim Verfolgen dieser Spur wurde manches neu entdeckt, anderes wiederbelebt. Vieles blieb notgedrungen Fragment, insgesamt ein Palimpsest aus Gedachtem, Gelesenem, Geschriebenem, Überarbeitetem, Wiedergefundenem. So wie dieses Europa selbst ja ein Patchwork aus Erinnerungen, Realitäten und Fiktionen ist und alles andere als ein in sich geschlossenes Ganzes. Wer einfache »Wahrheiten« sucht, sollte sich nicht mit Europa befassen.

Der Plural im Buchtitel möchte dieses heterogene Moment andeuten. Dieser Kontinent war über die Jahrhunderte hinweg etwas zwischen Melting Pot und bisweilen Hexenkessel – nie jedoch ein homogenes Gebilde mit »festen Außengrenzen«, wie sich das manche einreden. Es ist an der Zeit, mit solchen ebenso antiquierten wie windschiefen Vorstellungen aufzuräumen, weil sie uns daran hindern, in der jetzigen labilen Situation die richtigen Antworten zu geben. Jedenfalls bessere als die der jetzigen EU, die den Beitritt weiterer Staaten weitgehend von ökonomischen Gegebenheiten abhängig macht, was viele der betroffenen Länder als eine Art Zwangsjacke empfinden. Nähme man den Faktor »Kultur« wirklich ernst, betrachtete man ihn nicht als dekoratives oder pittoreskes Zubehör: Man käme zu einer vollständig anderen Europa-Idee. Denn kulturelle und künstlerische Phänomene sind nicht der Appendix der sogenannten politischen oder sozialen Wirklichkeit, sondern ihr innerster Ausdruck. Sind Fingerabdruck, Signatur all dessen, was für eine Gesellschaft wirklich von Belang ist, dessen, was sich auf und hinter ihrer Oberfläche abspielt. Sind Frühwarnsystem und Rückschau in einem. Sind Indikatoren für all das, was uns zusammenhält, aber auch trennt. Wer ihre Signale ignoriert, verzichtet auf den vielleicht wichtigsten Indikator für Entscheidungsprozesse.

Tübingen, 2020

Einführung

Balkan, Mazedonien, Katalonien, Rechtsruck, Nationalismus, Außengrenzen, Eurokrise und jetzt auch noch der Brexit – Europa ist angeschlagen. Fällt man auseinander oder bleibt man doch »irgendwie« beisammen? Kaum jemand wird in Abrede stellen, dass uns etwas Entscheidendes verloren gegangen ist – ein sinnstiftender Rahmen, der die »Idee« Europa überzeugend veranschaulicht.

Ist es möglich, dass uns genau das abhandengekommen ist, was Europa ausmacht: sein Mythos, seine Seele? Dass Europa seine Identität, seinen »Schatten« verlor? Wie in der wundersamen Geschichte des deutsch-französischen Autors Adalbert von Chamisso, in der der Held, Peter Schlemihl, seinen eigenen Schatten, Chiffre für seine Identität, verliert.

Wie Schlemihl um seinen Schatten kam? Nun, er hat ihn verkauft.

Das vermeintlich gute Geschäft sollte für ihn freilich zum existenziellen Desaster werden. Ohne seinen Schatten wurde der junge Mann schlagartig zum sozialen Außenseiter, zum lebenden Toten. Zu einem Wesen ohne sozialen Raum.

Nein, wir wollen uns hier nicht mit einem romantischen Märchen abspeisen lassen. Aber Fakt ist, dass der unbestreitbare materielle Reichtum Europas sich als zerstörerisch für sein inneres Selbstbild und das Bild in den Augen der Welt erwies. Fakt ist, Europa hat sich bereichert wie nie – und ist zugleich aufs Höchste irritiert und verunsichert. Die europäische Geschichte hat ihre Geschlossenheit nach innen verloren und ihre Wirkmächtigkeit nach außen verspielt. Der kleine große Kontinent ist gezwungen, über sich nachzudenken und nach seinem Puls zu tasten, um festzustellen, ob das Herz noch schlägt.

Hektisch versuchen jetzt manche, gegen das Gefühl einer drohenden Krise anzusteuern und im Schnellverfahren eine geschlossene Geschichte aus dem Hut zu zaubern: symbolisch, politisch, wirtschaftlich, militärisch. Europa fehle, so hört man, die »Narration«, die »große Erzählung«.

Doch die erwähnte Schlemihl-Geschichte hat einen Nachspann, der für unsere Überlegung, was Europa ausmacht, von Interesse ist. Statt des verlorenen Schattens erwirbt der unglückliche Held jene Siebenmeilenstiefel, die ihn ab jetzt im Sauseschritt um die Welt tragen werden. Der »hohe und breite Rücken der Alten Welt« – die, wie es heißt, »vermeintliche Wiege« der Kultur – verschwindet unter seinen Schritten, er durchquert alle Regionen der Erde, kehrt über Euphrat, Tigris, Niger, Nil, Niagara und Mississippi zurück nach Europa, um von dort aus nach kurzer Rast China, Tibet, Sumatra und Indonesien zu durchmessen.

Und in der Tat, Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Blütezeit des Kolonialismus, verfügte das kleine Europa nahezu über die gesamte Welt. Alles, an dessen Spätfolgen wir jetzt noch laborieren, wurde damals festgelegt – sodass es durchaus angemessen erscheint, dass dem Protagonisten schier schwindelig wird und er sich nach Hemmschuhen sehnt, die dem globalisierten Schnelldurchlauf durch die Welt zumindest für Momente Einhalt gebieten. Ein Drehschwindel stellt sich ein, der sich als erster Schritt zur Gesundung erweist. Denn Schlemihl erkennt, wie selbstgefährdend es ist, sich hemmungslos in und auf die Welt zu stürzen und zu glauben, man könnte über alle Differenzen hinwegsehen, -gehen, -fliegen.

Was für Schlemihl gilt, trifft auch auf Europa zu: vorbei die Zeit des grenzenlosen, siebenmeilenartigen Durchmessens der Welt. Manchmal fördern Hemmschuhe das Funktionieren der Wahrnehmung und des Verstandes. Wer es unternimmt, über eine Kulturgeschichte Europas im gegenwärtigen fragilen Zustand nachzudenken, tut gut daran, sich des alten Schlemihl-Prinzips zu erinnern und sich in einer besonderen Gangart zu bewegen: zwischen Zeitraffer und Zeitlupe, im Bannkreis des Schattens und zugleich auf der Flucht vor ihm.

Denn die Gefahr, gewohnheitsträge im Bett der Tradition zu verharren und die ebenso vertrauten wie nichtssagenden Stereotypen zu wiederholen, ist nicht eben gering: klassische Antike, Renaissance, Aufklärung, Freiheit, Toleranz, Demokratie – eben der ganze Kanon angeblich europäischer, vielleicht sogar nur europäischer Ideale und Werte.

Nicht, dass der Blick auf die kulturellen Gipfel und Höhenkämme völlig irreführend wäre. Aber er birgt die große Gefahr des Verlusts an Bodenhaftung in sich.

Europa ist kein Luftschloss, keine Vision, kein Phantasieprodukt, sondern eine konkrete, höchst irdische und gegenwärtige Angelegenheit. Und da hilft es auch nicht, auf straffere Organisationsstrukturen zu setzen oder sich auf einen gedanklichen Konkurrenzkampf beziehungsweise einen »Wettstreit der Ideen« mit den USA oder China einzulassen. Viel wichtiger wäre es, ernsthaft danach zu fragen, was wir sind und wofür wir eigentlich stehen – inmitten einer globalisierten Welt, die kein ausgeprägtes Faible für Ruinen hat. Denn im Weltmaßstab ist Europa genau das: Eine relativ edle, sehr in die Jahre gekommene kulturelle Ruine, die ihre Bewohner noch immer dazu bringt, von alten Zeiten zu träumen, statt sich zu fragen, was ihre wirklichen Eigen-Arten sind. Und ob es nicht vielleicht auch ein ganz anderes, verborgenes, in seiner Wertigkeit noch weitgehend unentdecktes Europa gibt. Ein Europa jenseits der üblichen Schlagworte und plakativen Werte republikanischer oder christlich-abendländischer, klassischer oder fortschrittsgläubiger Natur. Ja, ob es überhaupt ein Europa, ein Europa gibt …

Die japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada stellte diese Frage auf die ihr eigene freundlich-hintergründige Art. Als sie, von Japan kommend, mit der Transsibirischen Eisenbahn Richtung Europa fuhr, wähnte sie sich in Sibirien schon am Ziel, also in Europa angekommen. Wo »unser« Europa allmählich endet, hatte ihr Europa bereits angefangen, und in Moskau glaubte sie sich im Zentrum des Kontinents.

Man weiß ja nicht einmal, ob es sich um ein geopolitisches Gebilde handelt oder um das Projekt eines besonderen Stils der Governance – demokratisch, republikanisch oder egalitär? Steht der Begriff »Europa« für einen speziellen Typus der Wissensgesellschaft oder für einen Wirtschaftsraum? Ist es eine Chiffre für religiös grundierte Werte oder primär ein plurilinguales oder plurikulturelles Gewebe, eine Art Textur aus Nuancen? Sicher ist, dass es weltweit kaum eine zweite Region gibt, in der sich auf kleinstem Raum, zum Teil nur zwei- oder dreihundert Kilometer voneinander entfernt, so viele unterschiedliche Kulturen herausgebildet haben wie in Europa. Nirgends sonst stößt man auf eine solch kleinräumige Vielfalt kultureller Zonen, die sich – aller Differenz zum Trotz – dennoch bis zu einem gewissen Grad als zusammengehörig empfinden. Eine Zusammengehörigkeit, deren Reichweite und Intensität einem permanenten Wandel ausgesetzt ist.

Denn dieses Etwas, das sich Europa nennt, änderte im Lauf der Jahrhunderte selbst seinen Umriss wie eine gigantische Amöbe. Mal leckte die Zunge Europas an Sibirien, dann wieder zuckte sie zurück bis zum Ural. In den Jahren des Kalten Krieges reichte sie sogar nur bis zur Oder-Neiße-Grenze. Das spätantike Europa umfasste den byzantinischen Raum, dann wieder war hinter Wien Schluss. Es gab Zeiten, da gehörte der gesamte Mittelmeerraum einschließlich Nordafrikas dazu – gegenwärtig schotten wir die Außengrenzen genau davor ängstlich ab und wissen andererseits nicht einmal mehr, ob Großbritannien dazugehört oder eine autonome Insel ist. Wir feiern Europa für mehr als ein halbes Jahrhundert Frieden und sehen dabei von den Balkankriegen der 1990er-Jahre mit mehr als 250 000 Toten ab – vermutlich, weil wir diesen Teil des Kontinents als nicht ganz zugehörig betrachten.

Die Kontur Europas verändert sich also fortwährend und lässt sich nie auf einen Zustand fixieren. Ständig galt und gilt es, neue Regelwerke für das Zusammenspiel der einzelnen Module zu ersinnen, Membrane zwischen ihnen aufzulösen oder zu verstärken, ohne dass sich je ein fester Mittelpunkt bestimmen ließe: Weder Straßburg noch Brüssel sind als Zentren zu betrachten, allenfalls als Verwaltungszentralen. Selbst das britische Empire oder das Habsburgerreich repräsentierten nur ein Teileuropa. London und Wien, Paris und Berlin waren immer nur Zentren auf Abruf. Europa ist stets, auch und gerade in seinen Blütezeiten, ein Geflecht aus Regionen und Peripherien ohne eigentliche Mitte gewesen.

All dies mag irritierend und widersprüchlich klingen, doch letztlich handelt es sich um eine außerordentlich kreative Versuchsanordnung, die das expansive Erbe Europas ein Stück weit erklären mag. Im Grunde war und ist Europa eine einzige auf Dauer gestellte Transitzone. Ein kulturelles Treibsandgebiet ohne Leitkultur und alles andere als ein Normierungskartell. Dies ist eine mögliche Erklärung für einige seiner auffälligsten Signaturen.

Denn eines war und ist für dieses sich permanent wandelnde, sich verwandelnde, Chamäleon-artige, extrem facettenreiche Geflecht aus Möglichkeiten und Ambivalenzen wichtiger als alles andere: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation!

Lebensformen, die immer wieder auf Ähnliches, oft Gleiches stoßen, sind nicht gezwungen, sich selbst infrage zu stellen. Solchen jedoch, die sich an allen Ecken und Enden mit Neuem, Unbekannten, Fremden konfrontiert sehen, bleibt keine andere Wahl, als sich mit den anderen vertraut zu machen oder ihnen zu misstrauen, sich entweder abzugrenzen oder Kontakt zu suchen. Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit sind immer wieder neu zu definieren, um einen komplizierten Modus des Zusammenlebens unter besonderen Bedingungen zu ersinnen. Kurz, Qualitäten zu schulen, Fertigkeiten zu erlernen, die anderswo nicht oder jedenfalls nicht in dem Maße nötig sind.

Zu den wirklich unveräußerlichen und historisch beglaubigten Errungenschaften des europäischen Systems gehören nicht »Werte« (die auch andere Kulturen zu Recht für sich beanspruchen könnten), sondern ein sehr spezieller Stil, mit Werten umzugehen.

Es gilt, dieses europäische Grundgefühl, diese kommunikativen Techniken zu stärken, zu vermitteln und ihre Fortentwicklung zu befördern. Erst nach einem umfassenden Selbstreflexionsprozess sollten wir darüber entscheiden, ob es uns zusteht, global zu intervenieren. Das Bild Europas, wie es sich in der Wahrnehmung und Erfahrung von Außenstehenden darstellt, ist derzeit nur bedingt dazu geeignet, um damit in die Offensive zu gehen.

Sucht man auf diesem Weg nach Orientierung, findet man sie nicht nur in politischen Programmen, vielleicht dort am allerwenigsten überzeugend. Auch die Definition wirtschaftlicher Vorstellungen ist nicht immer hilfreich, weil dort in der Regel ein Denken mit dem Ziel der Gewinnoptimierung dominiert.

Wenn es uns um Europa geht, wirklich ernsthaft geht, sollten wir nicht andächtig vor erhabenen Kulturruinen verharren, sondern nach der inneren Geschichte auch an entlegener Stelle oder mit neuem Blick suchen. Vor allem auch nach den Gefühlen, die dieser vielgestaltige Kontinent im Laufe der Jahrhunderte ausgebrütet hat – im Guten wie im Bösen.

Es sind nicht nur die humanistischen Schriften, die philosophischen Traktate und ideologischen Erklärungen, die uns Aussagen hierüber liefern, sondern auch – an vielleicht unerwarteter Stelle – die Literatur, der sprachgewordene Fingerabdruck des Denkens und Empfindens ganzer Kollektive. Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass zwei Erscheinungsformen, zwei Genres der Literatur sich hier und nirgendwo anders ausbildeten: der Roman und das Drama.

Der Roman als vielstimmiges, perspektivenreiches, großformatiges Erzählgebilde mit offenem Ende und das Drama, das Theater als erregende Widerspruchsmaschine voller Energien und Emotionen. Europa produzierte und absorbierte solche Szenarien der Mehrstimmigkeit wie kaum eine zweite Kulturlandschaft: süchtig nach literarischen Stimulanzien als Gegenwelten zu dogmatischen, sakralen oder politischen Lehren.

Europa, die Idee Europa ist Inkarnation eines langfristigen, nachhaltigen Aufklärungs- und Säkularisierungsprozesses – Paul Veyne zufolge glaubten schon die Griechen nicht an ihre eigenen Mythen. Und es ist eindrucksvoll, wie wir uns der Narrative aus fremden Räumen bedient und sie uns anverwandelt haben. Wenn wir uns wirklich zu einer Art »Leitidee« versteigen wollten, wäre es weitaus plausibler und realitätsnäher, sich an der Weisheit und den Erkenntnissen Tausender von Geschichten zu orientieren als an abstrakten Entwürfen und Wunschgebilden.

Europa war seit seinen Anfängen etwas Pulsierendes, Lebendiges, Osmotisches, immer in Bewegung. Weit eher ein Geflecht mäandernder Flüsse als ein begradigter Kanal. Diesem migrativen, auf steten Aufbruch und Austausch angelegten dialektischen Grundcharakter gilt es auch heute gerecht zu werden. Denn europäische Werte waren nie statisch, sondern immer im besten Sinn des Wortes Verhandlungssache. Und: Europa ist von Beginn an ein Ort dramatischer innerer Widersprüche – und überlebte möglicherweise genau deshalb alle erdenklichen Krisen. Eine innere Widersprüchlichkeit, die sich bereits in der Entstehungsgeschichte Europas ausdrückt.

I

Gründungsmythen

Europa erschuf sich gleichsam aus dem Nichts. Eine Kreation, eine Komposition aus Basisgeschichten, Phantasie und strategischen Interessen. Ein bis dahin »leerer Raum« ohne feste Zugehörigkeit wurde systematisch mit Bedeutung gefüllt und Schritt für Schritt in einen politischen Raum verwandelt. Ein ganz wichtiges Instrument hierzu: die Technik der Abgrenzung, des Scheidens. Nicht wie der biblische Gott zwischen Licht und Finsternis, sondern zwischen »Ost« und »West«.

1 Europa kriecht an Land

Irgendwo zwischen Syrien und Libyen beginnt die Geschichte Europas. Und sie beginnt wie in einem bunten orientalischen Märchen. Aber es handelt sich nicht um ein Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«, sondern um eine genuin griechische Geschichte, vielleicht sogar um die Mutter aller Geschichten: Göttervater Zeus hat sich in Europé, die Tochter des mythischen Phönikerkönigs Agenor, verliebt. Als sie am Strand mit Gefährtinnen spielt, taucht er in Gestalt eines Stieres auf. Um sie zu entführen. Er tut dies auf eine offenkundig so vertrauenserweckend-charmante Art, dass sie spontan, auf seinem Rücken reitend, mit ihm geht. Er schwimmt mit der schönen Last auf dem Rücken übers Meer nach Kreta. Dort verwandelt er sich zurück und zeugt mit ihr drei Söhne, darunter Minos, den späteren Erfinder des kretischen Labyrinths. Entsprechend einer früheren Verheißung Aphrodites, wurde die neue Heimat nach ihr »Europa« benannt: Noch in der Nacht vor ihrer Entführung hatte Europé davon geträumt, dass zwei Kontinente sich um sie stritten: Asia und das zukünftige Europa. Asia wollte sie mit dem Argument an sich binden, dass sie doch hier geboren sei und deshalb hierhergehöre. Der neue Kontinent verwies darauf, dass der Mensch frei sei, zu gehen, wohin er wolle – und entführte sie in die neue Welt, nach Kreta.

Das griechische Märchen hat es also in sich. In anmutigen Bildern beschreibt es einen programmatischen Neuanfang, der mit einer Entführung beginnt und in einem Gründungsmythos endet. Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur – der gesamte Mittelmeerraum wird sozusagen neu vermessen und geht auf Kurs »West«. Und kein Geringerer als Zeus selbst stand Pate bei dieser Verpflanzung und Umwidmungen der alten ägyptisch-orientalischen Kulturen auf die Inseln der Ägäis. Ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence.

Sich kulturell zu formieren, zu positionieren heißt auch, sich abzugrenzen und Trennungslinien zu ziehen. Das geschieht exemplarisch. Mythen fungieren als Inklusions- und Exklusions-Medien. Sie sind Teil eines göttlich legitimierten, menschlich gemachten politischen Schachspiels.

Und dieses »Europa« ist ein Kunstprodukt aus dem Geist der strategischen Abgrenzung. Da es im Mittelmeerraum kaum natürliche Grenzen gibt – das Meer galt den Griechen nicht als Barriere, sondern als Verbindung, sie nannten es »ho pontos« (»die Brücke«) –, musste man artifizielle, ideologische Abgrenzungen finden. Hinter der auf den ersten Blick etwas abstrus anmutenden kleinen Entführungsgeschichte steckt weit mehr. Wenn man so will, wird hier eine für Jahrtausende gültige kulturelle wie geopolitische Grenze zwischen West und Ost gezogen.

Denn auch das Nachspiel der Geschichte hat es in sich: Nach ihrer Landung auf der Geburtsinsel des Zeus wird die entführte Prinzessin zur Stammmutter einer neuen Dynastie. So wie Kreta zum Ausgangspunkt jener minoischen Kultur werden wird, die sich innerhalb kurzer Zeit über weite Teile des ägäischen Raums ausbreiten sollte. Funde belegen, dass der Einfluss der kretisch-minoischen Kultur bis ins östliche Mittelmeer reichte.

In den langen Jahrhunderten seiner Blüte (grob gerechnet zwischen 2500 und 1500 v. u. Z.) hatte Kreta eine einzigartige kulturelle Signatur entwickelt: Die Überreste gewaltiger Paläste ohne schützende Umfassungsmauern, die der britische Archäologe Arthur Evans zu Beginn des 20. Jahrhunderts freilegen sollte, lassen auf eine ebenso reiche wie verfeinert-raffinierte Kultur schließen. Eine Kultur, die es sich erlauben konnte, sich ganz und gar unheroisch und anmutig zu präsentieren, und weder mit den Namen großer Herrscher prunkte, noch ein Register über Siege und Niederlagen führte: Auf Tausenden von Tontäfelchen, die gewaltige Brände gehärtet und vor dem Verfall bewahrt hatten, fanden sich exakte Aufzeichnungen über Herden, Ernten, Steuern und Opfergaben. Hinweise auf bedeutsame historische Ereignisse und Triumphe sucht man vergebens. Dafür überliefern die Fresken an den ehemaligen Palastmauern das Bild einer auf spielerische Eleganz, weibliche Dominanz und urbane Selbstsicherheit ausgerichteten Welt. (Siehe Abbildung 1 in Tafelteil 1.)

Minoische Kolonien waren über den gesamten Mittelmeerraum verstreut. Ihre großen, schnellen Schiffe benutzten Wasserstraßen, die bis Zypern, Sidon, Tyros reichten und die gesamte Ägäis bis hin zu den afrikanischen und italienischen Küsten und dem Schwarzen Meer umfassten. Das minoische Experiment war also eine sehr ernsthafte Antwort auf die erfolgreiche Expansion der phönikischen Handels- und Kriegsflotten, die den gesamten nordafrikanischen Mittelmeerraum beherrschten. So gesehen war die minoische Kultur ein erster früher Vorstoß, eine Art europäischer Pionierversuch – und mit einer entführten phönikischen Prinzessin als Stammmutter geradezu eine, elegant verpackte, Kampfansage an den »Osten«.

Von Griechenland konnte zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede sein. Man kann es eher als Spätfolge und Weiterentwicklung der minoischen Expansion bezeichnen. Oder, um es noch krasser und noch paradoxer zu formulieren: Griechenland wird im Nachhinein das minoische Experiment mitsamt der Geschichte Europés und ihrem Migrationshintergrund als entscheidenden Schritt der Ablösung vom dunklen Erbe der phönikischen Levante interpretieren. Eine ebenso kühne wie erfolgreiche Strategie, um neue Koordinaten zu etablieren.

Als Homer Jahrhunderte, Jahrtausende später in der Ilias Kreta als ein mächtiges Land im »dunkelwogenden Meer« mit »neunzig Städten« besang, war das minoische Kreta längst Geschichte. Griechenland hatte sein Erbe angetreten – oder weniger zurückhaltend ausgedrückt –, hatte es übernommen, gekapert. Das sprichwörtliche Labyrinth von Knossos mit dem schrecklichen Minotaurus war geknackt, das Ungeheuer tot. Und wiederum hatte ein griechischer Mythos Kreta als Folie zur Profilierung der eigenen, erst im Entstehen begriffenen Geschichte benutzt. Im Zentrum stand ein grauenerregendes Mischwesen, halb Stier, halb Mensch. Geschaffen von Dädalus, einem ebenso genialen wie skrupellosen Erfinder, der – aus Athen verstoßen – im Dienst des kretischen Hofes stand. Er konstruierte eine Kuhattrappe aus Holz, um die Zeugung dieses Kunstwesens zu ermöglichen.

Von wegen Archaik – weit mehr griechische Technologie vom Feinsten steht am Anfang dieses heroischen »Drachenkampfes«, in dem ein, wen wundert es, griechischer Held der frühen Zeit zum Retter wird: Theseus, eine der ersten der großen europäischen Projektionsfiguren, der einem Erlöser gleich alle feindlichen oder auch nur undefinierbaren Mächte abwehrt und besiegt, seien es die bedrohlichen Amazonen oder eben das minoische Ungeheuer.

Andere konkurrierende Kulturen wie die der Phöniker oder der Minoer mögen über spezielle und überaus elaborierte Kenntnisse technischer, nautischer, ökonomischer Art verfügt haben. Auch kann aufgrund der reichen Funde kein Zweifel an einem äußerst kultivierten, verfeinerten Lebensstil der minoischen Kultur sein. Was aber die eminente Fähigkeit der Griechen betrifft, die Lufthoheit im Bereich der Narration zu erobern, so ist sie singulär. Das Erfinden von Geschichten und Figuren, die die Taten der jungen griechischen Kultur legitimieren und in einen weltanschaulichen und damit auch weltpolitischen, weltgeschichtlichen Kontext stellen, ist ihre größte Kompetenz und der Schlüssel zum Erfolg.

Und dieser Theseus, der alles, was der werdenden hellenischen Kultur im Wege steht, erdrosselt, ermordet, in seinen Bann zieht oder zähmt, ist einfach göttlich gut erfunden. Nebenher verfügt der Superheld auch noch über die Fähigkeit, kreativ zu agieren. So gelingt es ihm, die Vielzahl der attischen Stämme zu einigen und der athenischen Vorherrschaft zu unterstellen. Dieser Zusammenschluss unter den Vorzeichen eines demokratischen Freistaats ist eine der vielen Taten, die Theseus zugeschrieben wurden (Plutarch). Sie dienten einem alleinigen Zweck: den kulturellen und politischen Zugriff der Griechen auf den Rest der ägäischen Welt zu begründen. Selbst das Schiff, mit dem er Kreta erobert und damit symbolisch dessen Bann gebrochen hatte, wurde folgerichtig in Athen wie ein Kultobjekt ausgestellt und über Jahrzehnte, Jahrhunderte bewahrt. (Siehe Abbildung 2 in Tafelteil 1.)

Das würdige Wrack wurde zum Ausgangspunkt einer der frühesten – typisch europäischen? – intellektuellen Diskussion, deren Ursprung Plutarch (um 45 – um 125) überliefert:

Das Schiff, auf dem Theseus […] ausfuhr und glücklich heimkehrte, den Dreißigruderer, haben die Athener […] aufbewahrt, indem sie immer das alte Holz entfernten und ein neues, festes einzogen und einbauten, derart, daß das Schiff den Philosophen als Beispiel für das vielumstrittene Problem des Wachstums diente, indem die einen sagten, es bleibe dasselbe, die anderen dies verneinten.1

Kult und Gedankenspiel – der Mythos wird zu einer Denksportübung, die bis in die Gegenwart unter dem Namen des »Theseus-Paradoxons« diskutiert wird. Das dadurch aufgeworfene philosophische Problem ist ein verbreitetes Beispiel in der Philosophiedidaktik und wird auch in der zeitgenössischen Ontologie vielfach diskutiert. Immer geht es dabei im Kern um die Frage, welche Veränderungen ein Objekt durchlaufen kann, bevor es seine Identität verliert, worin sein Wesen besteht – eine Frage, die das europäische Denken bis in die Moderne prägen wird.

Solch eine Diskussion, angelagert an ein angeblich »mythisches« Objekt – ist es übertrieben zu sagen, dies sei eine typisch »europäische« Denkfigur? Zugleich aber wurde mit diesen fast versponnen wirkenden Spekulationen knallharte, höchst pragmatische Weltmachtpolitik betrieben. Der Status des Schiffes, seine faktische Präsenz, steht der emblematischen Wucht der Arche Noah in keiner Weise nach. Ehrwürdige Ruine oder Neubau, Nostalgie und/oder Fortschritt – in dieser scheinbaren Episode scheint bereits einiges von dem gespeichert, was das in Antithesen und Synthesen fortschreitende Fluidum des europäischen Programms von diesem Moment an beinhalten wird.

Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Mit dieser Frage, die zugleich der Titel seines bekanntesten Buches ist, verstörte der französische Archäologe und Historiker Paul Veyne in den 1980er Jahren den Positivismus seiner Zeit, der von einem mehr oder weniger unreflektierten Faktendenken ausging. Er zeigte, dass es Geschichten sind, die unser Weltbild und unsere Wahrnehmung bestimmen, und zwar durchaus doppelbödige Geschichten. Einige davon haben wir gerade kennengelernt. Sie machen deutlich, wie konstruiert und fragil, wie skrupellos und kreativ unsere Art ist, Geschichte herzustellen, unsere Geschichte zu schreiben. Und auch wie virtuos wir damit umzugehen verstehen. Einerseits wandeln wir gläubig auf den Spuren der Alten und lesen jedes Gran Wirklichkeit fast andachtsvoll auf. Zugleich bezweifeln wir jeden Echtheitsanspruch und lösen die Illusionen in der Säure unseres kritischen Verstandes auf. Ein gewagter Ritt auf der Rasierklinge der sogenannten Wirklichkeit, sei sie göttlichen oder irdischen Ursprungs. Wir sind es, die über ihre Gültigkeit entscheiden.

Kreta war durch seine Überwindung zu einer Art attischer Außengrenze geworden, gleich weit entfernt von Nordafrika wie von der kleinasiatischen Küste. So bildete sich in der Zeit des allmählichen Niedergangs der minoischen Kultur um 1500 v. u. Z. ein neuer Herrschaftsraum heraus, der die Keimzelle dessen werden sollte, was wir jetzt Europa nennen. Das später in Schutt und Asche gelegte Troja gehört ebenso zu dieser Geschichte wie der ewige Kampf gegen die Phöniker und Karthager und vor allem gegen den Erzfeind, die Perser. Jene mächtigen Perser, die ein Jahrtausend später die Akropolis als Zentrum des werdenden Europa zerstören sollten, weil sie in der erstarkenden Macht aus dem Westen eine Bedrohung sahen. Wiederum hundert Jahre darauf sollte sich diese in Gestalt Alexander des Großen (356–323 v. u. Z.) personalisieren und konkretisieren.

Als selbsternannter neuer Herkules oder Theseus wird Alexander den in seinen Augen mittlerweile erstarrten »griechischen Traum« innerhalb weniger Jahre rauschhaft steigern und ihm in Form einer gigantischen Osterweiterung eine geradezu irrwitzige Dimension verleihen. Aus Makedonien, seinerzeit als Hinterhof des attischen Kulturraums verachtet, über den Olymp und weiter, sehr viel weiter, bis zum Himalaja sollte sein verwegener Weg im Namen eines hellenischen Weltreichs führen: die Levante, Theben, Kleinasien werden im Handstreich genommen, Persien, Ägypten und Teile Indiens folgen.

Der »Sohn des Zeus«, zu dem ihn das in der Antike hoch angesehene Orakel von Siwa erklärte, rächt sich zum einen an den Persern, zum anderen unternimmt er erste Versuche, die Grenzen zwischen Orient und Okzident zu verwischen beziehungsweise die Kulturen miteinander zu vermischen – zum Verdruss seines griechischen Heeres, das sich nicht mehr hinreichend gewürdigt sieht: Plötzlich will Alexander persisches Hofzeremoniell, integriert persische Soldaten in die Truppe, betet ägyptische Götter an, heiratet orientalische Frauen. Hatte man dafür gekämpft? War man dafür 18 000 Kilometer durch Wüsten und Wälder marschiert? Einerseits die Ilias zu verehren, griechische Philosophen wie Aristoteles im Tross mit sich zu führen und zugleich das, wofür Griechenland stand, zu verwischen, zu vermischen, zu verraten – konnte das gut gehen?

Nun, wir wissen, es ging nicht gut: Befehlsverweigerung im Heer war an der Tagesordnung – bis hin zur Meuterei. Alexander starb unter ungeklärten Umständen mit gerade einmal 33 Jahren. Nachfolger, die das neue Weltreich hätten zusammenhalten können, waren nicht in Sicht. Es zerfiel innerhalb weniger Jahrzehnte.

Sollte Alexander alles richtig gemacht und sich dennoch geirrt haben? Die Antwort musste lauten: ja – und sie muss auch heute so lauten. Spätestens als Europa auf dominante Hochkulturen mit jahrhundertelanger Erfahrung und eigenen Traditionen stieß, also letztlich von Anfang an, hätte es lernen können, seinen Eroberungsimpuls unter Kontrolle zu halten. Die größte Kulturnation jener Zeit, Persien, aber auch Indien und Ägypten konnte man allenfalls überrollen – nicht jedoch wesensmäßig besetzen oder umdefinieren. Europa hat diese Lektion nie wirklich gelernt, und viele seiner späteren Irrtümer basieren genau auf diesem Mangel. Grenzen zu ziehen oder zu überwinden ist eine Sache, um seine Grenzen zu wissen eine andere, nicht weniger wichtige.

Hätte Alexander auch andere Möglichkeiten gehabt, als diesen gewaltigen Vorstoß nach Osten zu unternehmen? Was wäre gewesen, wenn? Wenn Alexander auf der Suche nach einem Reich, das für seine Ansprüche groß genug gewesen wäre, den geographisch nächstliegenden Entschluss gefasst hätte und von Makedonien aus in Richtung Nordwest marschiert wäre? Den Balkanraum überwunden, von der Adria aus Germanien und Gallien erobert und Europa eine völlig andere, auf das spätere Mitteleuropa fokussierte Kontur gegeben hätte? Hirngespinste? Sicherlich. Denn in den Köpfen der Vordenker und Mentoren Alexanders steckten andere Ideen. Allen voran ist hier der griechische Philosophiestar Aristoteles (384322 v. u. Z.) zu nennen, den ein merkwürdiges Schicksal als Mentor des jungen Alexander ausgerechnet an den Hof des Duodezfürstentums Makedonien verschlagen hatte, nach Pella, keine zehn Kilometer von jenem Grenzort Idomeni entfernt, der mittlerweile durch die Blockade der Balkanroute eine makabre Berühmtheit erlangt hat.

Idomeni, ein Schicksalsort Europas? In gewissem Sinne durchaus. Denn es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Grenze zwischen Griechenland und seinen Nachbarn im Norden noch immer eine europäische Trennlinie markiert, an der sich seit mehr als 2000 Jahren Konflikte entzünden und manifestieren. Man denke nur an den verheerenden Streit um den bloßen Namen »Makedonien«.

Warum also marschierte Alexander so entschieden Richtung Osten? Seit den persischen Invasionen – 480 v. u. Z. waren Xerxes’ Truppen sogar in Athen einmarschiert – hatte sich ein traumatischer Abstoßungsprozess aufgebaut, aufgestaut, der sich irgendwann entladen musste. Wann, war nur eine Frage der Zeit. Die Gestaltwerdung Europas, eines griechischen Europa mit großen Ansprüchen, war gewissermaßen eine Reaktion auf das Überschwappen Persiens auf den »europäischen Raum«.

Alles, was sich in den darauffolgenden Jahrzehnten unter dem Namen der »Perserkriege« abspielte, war letztlich nichts anderes als ein einziger fulminanter Versuch, wieder ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. Alexander lag tendenziell richtig, aber er schoss gewaltig über das Ziel hinaus. Angefeuert und motiviert durch hellenische Ethnozentriker wie Aristoteles, jagte er den Perserkönig Dareios III. (um 380–330 v. u. Z.) in mehreren Schlachten buchstäblich vor sich her und stülpte für eine kurze Zeit von zehn Jahren Europa über Asien – man kämpfte buchstäblich am Hindukusch für das Europa der Zukunft.

Die Ikonographie der Kunstgeschichte schwelgte noch viele Jahrhunderte später in diesem phantastischen, scheinbar den ganzen Kosmos erfassenden Traum. Der Kampf des Ostens gegen den Westen gehört von Beginn an zu den Konstanten und Traumata des europäischen Denkens, ganz gleich, ob es um die Abwehr der Phöniker, der Perser oder – seit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches – der Türken geht. Die entscheidende Weichenstellung jedoch war bereits Jahrhunderte früher vorgenommen worden. Der Schauplatz dieser Entscheidung: Troja. Der Name der zweiten Basisgeschichte Europas: Ilias.