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Michael Jaeger

GOETHES FAUST

Das Drama der Moderne

C.H.Beck


Zum Buch

Goethes Diktum, dass alles, was er geschrieben habe, «Bruchstücke einer großen Konfession» seien, nimmt Michael Jaeger beim Wort. Gestützt auf die neuesten Befunde der Faustphilologie und der mit ihr verbundenen Editionswissenschaft, rekapituliert dieser Band die bruchstückhafte Entstehungs- und Druckgeschichte des berühmtesten goetheschen Textes. Dabei zeigt sich, dass die fragmentarische Schreibweise eine offene Form des Dramas hervorbrachte, die dessen moderner Thematik besonders angemessen war. Denn der Faustautor hatte sich vorgenommen, die «Widersprüche disparater» zu machen, jene vor allem zwischen Ruhe und Bewegung, Reflexion und Aktion und zuletzt zwischen Weltbetrachtung und Weltveränderung. Auf diese Weise hat Goethe ein eindringliches Bild des revolutionären Bruchs gestaltet, der durch seine Epoche und durch sein eigenes Leben geht.

Über den Autor

Michael Jaeger ist Privatdozent für Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin und als Gastprofessor an deutschen und ausländischen Universitäten tätig. Er hat zahlreiche Goethe- und Fauststudien verfasst, darunter die beiden großen Monographien Fausts Kolonie (2004) und Wanderers Verstummen (2014) sowie die beiden Essays Global Player Faust (2008) und Salto Mortale. Goethes Flucht nach Italien (2018).

Inhalt

Einleitung: Die Legende vom Teufelspakt und das Drama der Grenzüberschreitung

I. Frühneuzeitliche Revolutionäre und die Historia von D. Johann Fausten

II. Die neue Faustidee des 18. Jahrhunderts

Faustkonjunktur

Faustlesungen in Weimar

III. 1771/1774: Goethes erstes Faustmanuskript (Frühe Fassung/Urfaust)

1. Das Drama des Gelehrten

Unruhe im gotischen Zimmer

Magische Ausbruchsversuche

Akademische Tragikomödie

Mephistopheles

2. Die Tragödie Margaretes

«Kindermörderinnen» im Sturm und Drang

Offenes Kunstwerk: Fausts Drama und Margaretes Trauerspiel

Gemeinschaft und Gesellschaft

«Schönes Fräulein», «unschuldig Ding»

Materialismus

Margaretes Unruhe

Gretchenfragen

Sexuelle Revolution

Zeit der Angst

Realismus: Prosa des Schreckens

Kerker: Grauen

IV. 1790: Faust. Ein Fragment

Doppelleben in Weimar

Römische Faustarbeiten

Die italienische Neukonzeption des Faustdramas

Faust in der Hexenküche – Goethe im Park der Villa Borghese

Euphorie und Angst

Faustbegeisterung: «Immer vorwärts»

V. 1808: Faust. Eine Tragödie (Faust I)

1. Präludien

Zueignung

Vorspiel auf dem Theater

Prolog im Himmel

2. Der Tragödie Erster Teil

Die große Lücke

Giftflasche

Vor dem Tor: Osterspaziergang

Studierzimmer: Wette und Pakt

Walpurgisnacht

VI. 1827: Helena – Zwischenspiel zu Faust (1833: 3. Akt von Faust II)

VII. 1828: Faust. Zweiter Teil, 1. Akt (bis Vers 6036)

Prolog: Fausts Heilschlaf in anmutiger Gegend

Fausts Naturkontemplation

Die große Transformation der Welt

Papiergeld

«Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht» – Die Vollendung der Fausttragödie

VIII. 1833: Faust. Der Tragödie zweiter Teil

1. Akt (ab Vers 6037)

Magische Geldvermehrung

Helenaprojektion

2. Akt

Menschen machen: Doktor Wagners Laboratorium

Klassische Walpurgisnacht

Meeresbilder: Triumph der Galatea

4. Akt

Système industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus

5. Akt

Der Auftritt des Wanderers

Wanderers Verstummen

Fausts Fluch

Kolonisation: Das Ende der Metamorphose und das Ende Alteuropas

Fausts Utopie, Goethes Ironie

Nachbemerkung

Zitierweise und Literaturangaben

1. Zitierte Faust-Ausgabe

2. Weitere siglierte Goetheausgaben und unsiglierte Quellentexte, zitiert mit Angabe der Band- und Seitenzahl

3. Zitierte philologische und ideengeschichtliche Literatur

Alles Ständische und Stehende verdampft,
alles Heilige wird entweiht …

Karl Marx, Friedrich Engels

I can’t get no satisfaction
’Cause I try and I try and I try and I try
I can’t get no, I can’t get no …

Mick Jagger, Keith Richards

Einleitung: Die Legende vom Teufelspakt und das Drama der Grenzüberschreitung

Die Entstehung der Faust-Tragödie, des bekanntesten und wirkungsmächtigsten Werks Goethes, zieht sich über sein gesamtes Schriftstellerdasein hin. Während dieser Zeit zwischen 1770 und 1832 haben sich die Lebensverhältnisse in Europa auf revolutionäre Weise verändert. Die alteuropäische Welt verschwindet, und es beginnt mit der Französischen Revolution und mit der industriellen Revolution jene Epoche der Moderne, in der auch wir Heutigen noch leben. Als Faustautor hat Goethe den Beginn unserer modernen Ära, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Enttäuschungen und Errungenschaften, literarisch abgebildet und kommentiert.

Im Gesamtwerk Goethes entspricht die Fausttragödie am genauesten seinem berühmten poetisch-autobiographischen Diktum: «Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession» (MA 16, 306). Lebenslang war Goethe damit befasst, die Faustbruchstücke zu vervollständigen. Publiziert hat er das Drama zu seinen Lebzeiten immer nur fragmentarisch. Es sollte bis zur posthumen Ausgabe von 1833 dauern, ehe sämtliche Teile von Goethes Faust erstmals komplett gedruckt vorlagen. Man kann es als List der Literaturgeschichte ansehen, dass Goethes Fragmentprinzip eine offene und als solche spezifisch moderne Dramenform hervorbrachte, die nun gerade der modernen Faust-Thematik besonders angemessen war. Denn dieses Schreibverfahren erlaubte es dem Faustautor, je nach Veränderung der persönlichen Verhältnisse und der zeitgeschichtlichen Situation dem bruchstückhaft konzipierten Text stets neue Perspektiven auf die Verwandlung der Welt während der europäischen Revolutionsära zwischen 1789 und 1830 hinzuzufügen. Diese doppelte Modernität, Form und Inhalt betreffend, soll im vorliegenden Band in Rücksicht auf die Chronologie der fragmentarischen Entstehungs- und Druckgeschichte der Fausttragödie zur Anschauung kommen.

Um das Drama der modernen Zeit in Szene zu setzen, greift Goethe zunächst auf die Legende vom Teufelsbündner Doktor Faustus aus dem 16. Jahrhundert zurück. Dessen Geschichte vermag Goethe für seine Zwecke umzuschreiben, weil auch der Protagonist der alten Legende die Figur einer Umbruchszeit ist, der Wende vom ausgehenden Mittelalter zur beginnenden Neuzeit, und weil bereits der legendäre Faust den Grundkonflikt zwischen Tradition und Moderne verkörpert. Die seiner Arbeit am Mythos vom Teufelspakt zugrundeliegende Idee einer epochenübergreifenden Aktualität des Faustcharakters spricht Goethe 1827 in prägnanten Worten aus, über vier Jahrzehnte nachdem er damit begonnen hatte, die Faustgeschichte auf seine Weise zu gestalten: «Fausts Charakter auf der Höhe, wohin die neue Ausbildung aus dem alten rohen Volksmärchen denselben hervorgehoben hat, stellt einen Mann dar, welcher, in den allgemeinen Erdeschranken sich ungeduldig und unbehaglich fühlend, den Besitz des höchsten Wissens, den Genuß der schönsten Güter für unzulänglich achtet, seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen, einen Geist, welcher deshalb, nach allen Seiten hin sich wendend, immer unglücklicher zurückkehrt. Diese Gesinnung ist dem modernen Wesen so analog, daß mehrere gute Köpfe die Lösung einer solchen Aufgabe zu unternehmen sich gedrungen fühlten. Die Art wie ich mich dabei benommen, hat sich Beifall erworben» (WA I 41. 2, 290).

Die in dem von Goethe nachgezeichneten Psychogramm des legendären «Mannes» aufgezählten Aspekte wird man als Erscheinungsformen einer existentiellen Unruhe ansehen, die im Konflikt mit den Bedingungen des Daseins, den «allgemeinen Erdeschranken», ihren Ursprung hat. Ungeduld, Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit heißen denn auch die ständigen Begleiter des vergeblich gegen sein irdisches Los Revoltierenden. Nichts genügt seinen Ansprüchen, der geistige «Besitz des höchsten Wissens» nicht, der materielle «Genuß der schönsten Güter» auch nicht. Was auch immer er versucht, er mag sich «nach allen Seiten» wenden, endet stets mit der Enttäuschung seiner Sehnsucht nach dem Unbedingten und führt ihn zurück ins Unglück seiner eingeschränkten Existenz.

Im Zentrum von Goethes lebenslangem Unternehmen, Fausts Tragödie als Analogie der Moderne zu schreiben, werden die Schilderungen der Ausbruchsversuche des Ungeduldigen aus den Schranken seines Daseins stehen, jene faszinierenden Abenteuer, die verbunden sind mit dem Wagnis der permanenten Grenzüberschreitung. Mit Marshall Berman könnte man im Blick auf Goethes Faustdrama von der literarisch gestalteten paradoxen «Erfahrung der Modernität» sprechen. Denn gemeinsam mit den Menschen dieser Epoche ist auch der Protagonist der goetheschen Tragödie beflügelt «von dem Willen, sich selbst und seine Welt zu verändern, zugleich aber getrieben durch die peinigende Angst vor dem Verlust der Orientierung sowie vor der Desintegration der Realität und vor dem Zerfall des Lebens. Sie alle kennen den überwältigenden Reiz und den deprimierenden Schrecken einer Welt, in der alles Ständische und Stehende verdampft» (Berman, 13).

Wird in dieser Aussicht der Horizont des goetheschen Textes in die Weite des 19. Jahrhunderts geöffnet, wo Fausts Drama auf den von Karl Marx und Friedrich Engels beschriebenen Maschinenlandschaften seine Fortsetzung findet (Marx/Engels 4, 465), so reicht die Geschichte der Moderne in der anderen Blickrichtung zurück bis zu den geistigen Revolutionen des Renaissance- und Reformationszeitalters, vor deren Hintergrund «Fausts Charakter» in einer Legende des 16. Jahrhunderts sichtbar wird.

I. Frühneuzeitliche Revolutionäre und die Historia von D. Johann Fausten

Diese Legende geht wohl zurück auf einen um 1480 in Knittlingen geborenen Georg Faust, der im süddeutschen Raum als Astrologe und Alchemist ein unstetes Wanderleben führte und der um 1540 in Staufen unter nicht ganz geheuren Umständen den Tod fand. Seine sagenumwobene Geschichte nimmt 1587 in der Historia von D. Johann Fausten erstmals ein literarisches Aussehen an. Sie zeigt uns die ruhelose Existenz eines frustrierten frühneuzeitlichen Wissenschaftlers, der sich der Magie zugewandt und schließlich gar dem Teufel verschrieben hat, um endlich die Grenzen des Wissens und Begehrens durchbrechen zu können. Solchermaßen stellt die Historia den Prototyp der Fausthandlung für die späteren Jahrhunderte bereit, und diese Überlieferung war Goethe wohlvertraut, sowohl in ihrer orthodox-theologischen Ausprägung wie auch in ihrer bereits bei Christopher Marlowe als Tragicall History beginnenden dramatischen Version sowie in den daran anschließenden Übersetzungen, Puppenspiel- und Bühnentexten.

Faust, so jene frühneuzeitliche Legende, der herkömmlichen akademischen Welt überdrüssig, beschwört den Teufel, mit dem er in Gestalt des Mephostophiles einen Pakt schließt. 24 Jahre soll Mephostophiles Fausts Diener sein und ihm helfen, die Grenzen der Erkenntnis und des gewöhnlichen Daseins zu überwinden, Mephostophiles soll Abenteuer und Weltreisen zum Vergnügen seines Herrn organisieren, soll Faust dann Helena, die schönste aller Frauen, zuführen, ihm zur Hand gehen in den magischen Künsten, die wunderbaren Reichtum und schrankenlose Macht versprechen, ehe am Ende dieser Frist Faust von Mephostophiles erdrosselt wird und zur Hölle fährt, wo Fausts Seele dann ihrerseits Knecht im Reich des Teufels sein muss. In seinem Begehren, in neue Seinsbereiche vorzustoßen, zeigt sich der legendäre Doktor Faustus als ein – wenn auch noch magisch operierender – Vertreter jener frühneuzeitlichen Pioniere, die zur gleichen Zeit die Grenzen der vertrauten Lebenswelt überwinden und in unbekannte Wissens- und Weltkontinente aufbrechen, wie etwa Kolumbus, Kopernikus, Vesalius oder Magellan.

In Rücksicht auf den historischen Kontext gehöre «die archaische Geschichte vom Teufelsbündner Dr. Faustus», so erläutert Nicholas Boyle den ideengeschichtlichen Zusammenhang, «nicht nur zu den sehr wenigen Mythen, die als authentisch modern gelten dürfen (…), in diesem Mythos geht es um die Definition der Moderne selbst, und wohl aus diesem Grund ist der Faust-Mythos in der frühmodernen Epoche entstanden. Die Geschichte Fausts ist die Geschichte eines Menschen, der sich bewusst und mit Vorsatz von seiner Vergangenheit trennt, von allem, was er bisher gelernt hat. Faust (…) verwirft die Tradition zugunsten eines ihm versprochenen völlig Neuen» (Boyle 2006, 37).

In entsprechend schrillen Tönen erklingt denn auch in der Historia von D. Johann Fausten die Ermahnung, die gott- und traditionsgegebenen «Erdeschranken» zu respektieren. Gleich auf ihrem Titelblatt teilt der anonyme Verfasser mit, dass man es mit einer Geschichte zu tun bekomme, die aus den vom «weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler» Faust hinterlassenen Schriften «allen fürwitzigen und Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel, abscheuwlichen Exempel und treuwherziger Warnung zusammengezogen» worden sei (Historia, 3). Vor Augen geführt werde dem Publikum, wie es in der Vorrede ergänzend heißt, «wohin Sicherheit Vermessenheit unnd fürwitz letzlich einen Menschen treibe und ein gewisse Ursach sey deß Abfalls von Gott» (Historia, 5). Damit sind die Schlüsselbegriffe der als Warnschrift konzipierten Geschichte Fausts ausgesprochen: Vermessenheit und Vorwitzigkeit. Schrankenlose Wissbegierde also treibt Faust zum Bruch mit dem Gott der Bibel und in den Pakt mit dessen Widersacher. Im Hintergrund dieser theologischen Didaktik steht die Curiositas-Kritik des Kirchenvaters Augustinus und deren Neuformulierung beim Augustinermönch Martin Luther. Faust, der archetypische Renaissance- und Reformationsmensch, der neuzeitliche Akademiker und Wissenschaftler, Zeitgenosse der großen Wissenschaftsrevolutionäre und Entdecker, kann nicht genug bekommen in seinem Wissensdrang, möchte alles wissen, alles beherrschen, über das Leben und seine Elemente schrankenlos verfügen und verfällt aufgrund dieser Hybris dem Teufel.

II. Die neue Faustidee des 18. Jahrhunderts

Neben Faust agieren bereits im 16. Jahrhundert Mephistopheles, Wagner und Helena als Hauptdarsteller des Dramas. Dieses Figurenensemble trat dann schon bald auf den Wander- und Puppenspielbühnen des 17. und 18. Jahrhunderts eine steile Theaterkarriere an. Im Milieu der Populärkultur wurde Faust zu einer prominenten Gestalt, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts allerdings nicht mehr nur die unterhaltungsfreudigen Zuschauer des städtischen Jahrmarkttheaters fesselte, sondern bald schon die strengen Blicke solcher kritischen Zeitgenossen in Deutschland auf sich zog, die – wie etwa Johann Christoph Gottsched – im Vorfeld der Aufklärung auf vernunftgemäßere Schauspiele drangen. Dabei nahmen sie sich den formbewussten Klassizismus in Frankreich bei Corneille und Racine zum Vorbild. Das Zauber-, Teufelsspuk- und Höllenwesen in Fausts obskurer Geschichte wurde daher seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein Gegenstand der Polemik des aufgeklärten Geistes der Epoche.

Wenn Faust dennoch während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer neuen Theaterlaufbahn aufbrechen konnte, so war das nur nach einer Umwertung seiner Person möglich. Dabei war die Neukonzeption vor allem auf die Curiositas-Kritik der theologisch inspirierten alten Faustlegende bezogen. Faust vermochte nämlich seinen Weg ins Zeitalter der Aufklärung gerade deshalb so erfolgreich fortzusetzen, weil seine ursprünglich verteufelte «Neugierde» vom hochmütigen Vorwitz zur modernen Tugend der forschenden Wissbegierde umgedeutet wurde.

Diese Umwertung von Fausts alter Sünde in ein modernes Verdienst scheint erstmals bei Gotthold Ephraim Lessing literarische Formen angenommen zu haben, wenn auch nur in fragmentarischer Gestalt (Bauer, 102ff.). Statt der Höllenfahrt war die Erlösung des Wissbegierigen vorgesehen. Dieselbe sollte zuletzt aus Engelsmund den um ihren vermeintlich verdienten Lohn gebrachten Teufeln kundgetan werden: «Ihr habt nicht über Menschheit und Wissenschaft gesiegt; die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe (den Wissenstrieb also, Vf.) gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen» (Lessing 2, 780).

Zur Rechtfertigung Fausts im Geiste der Aufklärung ist es bei Lessing in expliziter Form jedoch nicht mehr gekommen. Er selbst hat 1759 nur eine einzige Faustszene in den «Briefen, die neueste Literatur betreffend» publiziert (Lessing 2, 487ff.), die freilich noch nichts preisgab von der geplanten Modernisierung der Faustthematik. Womöglich wurde Lessing das Vorhaben, Faust als Held der Wissenschaft in ein neues Licht zu stellen, auch vergällt durch die bereits in Gang gekommene, ebenso zeitgemäße zweite Karriere Fausts im Zeichen der – Lessings Ästhetik zuwiderlaufenden – Sturm-und-Drang-Bewegung. Deren Autoren hatten den alten Teufelsbündner nämlich entdeckt als Gestalt, die erhebliches nationales Identifikationspotential im neuen Konkurrenzkampf mit der französisch-klassizistischen Geschmackskultur bot. Die Zuschreibung, einen typisch deutschen Charakter zu verkörpern, sollte Faust während seiner nun anhebenden modernen Laufbahn nie mehr loswerden.

Faustkonjunktur  Teile eines im Stil des Sturm und Drang angelegten Dramas des gegen Tradition und Konvention aufbegehrenden Faust hatte Friedrich Müller seit 1776 publiziert. Aber schon zuvor waren Faustarbeiten im Verborgenen auch im Frankfurter Bürgerhaus «Am großen Hirschgraben» begonnen worden, in dessen Dachstube Johann Wolfgang Goethe wohl seit den Herbstmonaten des Jahres 1771 an einem entsprechenden Dramenmanuskript schrieb. Die Anregungen dafür hatte er aus seiner Straßburger Studienzeit mitgebracht, wo – unter dem Einfluss Herders – parallel zur Sturm-und-Drang-typischen Begeisterung für die gotische Architektur sein Interesse für die Altertümer der deutschen Literatur geweckt wurde. Die daraus hervorgehenden charakteristisch regellosen dramatischen Versuche hatte der junge Goethe der strengen Beurteilung seines älteren Freundes jedoch entzogen. Im Rückblick von Dichtung und Wahrheit heißt es dazu: «Am sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstern hatte mich im Innersten ergriffen. (…) Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir wider» (MA 16, 445).

Goethe hatte die Faustüberlieferung schon während seiner Jugend bei den Besuchen der Frankfurter Puppenspiel- und Jahrmarktstheater kennengelernt, und offenbar waren es die hier auf die Bühne kommenden, im Commedia-dell’arte-Stil variierten Fassungen der alten Historia, die dann im Umfeld des Sturm und Drang inspirierend auf den jungen Autor wirkten. Die im Geiste der Aufklärung soeben noch aus dem Theater verbannten anarchisch-derben Bilder des Teufels-, Hexen-, Magier- und Narrenwesens scheinen zu Beginn der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts ein subversives Potential zu gewinnen und im Urteil der antiklassizistisch gesinnten jungen Generation aktuell zu werden. Was noch in Lessings Perspektive unmöglich schien, eine Verbindung der Ideen der Aufklärung mit der Ästhetik des Sturm und Drang, kennzeichnet nun den Beginn von Goethes Arbeit am Faustdrama.

Goethe hatte zu diesem Zeitpunkt gerade den Roman Die Leiden des jungen Werthers geschrieben, der ihn zum Vorbild der jungen Generation und ihrer Genieästhetik werden ließ und sofort berühmt gemacht hatte. Aufmerksam geworden war man auf den Verfasser des Romans auch in der thüringischen Residenzstadt Weimar, wo die regierende Herzogin Anna Amalia eine kunst- und wissenschaftsfördernde Politik betrieb. Zur Bildungsreise von Anna Amalias Sohn, dem künftigen Herzog Carl August, gehörte im Winter 1774 infolgedessen der Besuch bei dem zur literarischen Prominenz aufgestiegenen Wertherautor. Carl Ludwig von Knebel, der Reisebegleiter Carl Augusts, vermittelte den Kontakt und suchte den jungen Dichter im Haus am Frankfurter Hirschgraben auf. Nach Weimar schrieb er über Goethe: «Ich habe einen Haufen Fragmente von ihm, unter anderem einen Doktor Faust, wo ganz herrliche Szenen sind. Er zieht die Manuskripte aus allen Winkeln seines Zimmers hervor» (FA 7/1, 764).

Faustlesungen in Weimar  Der Begegnung mit Carl August folgte die Einladung Goethes nach Weimar, wo er im November 1775 eintraf. Die Arbeit am Faustfragment kam während der Weimarer Jahre zwischen 1776 und 1786 zum Erliegen. Berichte gibt es lediglich von Lesungen Goethes aus dem noch in Frankfurt entstandenen bruchstückhaften Drama. In einer Einladung Herders zu einer konspirativ inszenierten Weimarer Faustdarbietung Goethes heißt es: «Morgen am Abend lassen bei uns sich hinter der Kirche/Faustus Teufel zur Lehr böser Verruchter sehn/Oder hören vielmehr; sei auch von der heiligen Anzahl,/oder willst Du etwa selbst Mephistopheles sein? – Ich bitte aber es weiter niemanden zu sagen, weil der Zauberer (Goethe, Vf.) nur einen kleinen Kreis will» (FA 7/1, 766). In ironischen Worten greift Herder den wunderlichen Ton auf, der von Beginn an den Umgang des Faustautors mit seinem dramatischen Fragment kennzeichnet. Das skurrile Verhalten, das man wohl auch auf den stets peinigend unfertigen Zustand des Textes zurückführen darf und auf die Schwierigkeiten mit der Thematik, sollte Goethe während der folgenden fünfzig Jahre bis zur Vollendung des zweiten Tragödienteils im Sommer 1831 beibehalten.

Die Faustszenen, die Goethe aus Frankfurt mitgebracht und in Weimar vorgelesen hat, sind uns zwar nicht in seinen eigenen Manuskripten überliefert. Eine Fassung dieses bruchstückhaften Dramas ist dennoch erhalten. Angefertigt wurde sie wohl zwischen 1776 und 1777 von der Weimarer Hofdame Louise von Göchhausen. Dieser Text wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts im Nachlass der Hofdame entdeckt und unter dem emphatischen Titel «Urfaust» veröffentlicht. Der größte Teil der Szenen jener nur handschriftlich überlieferten «Frühen Fassung» war in die bereits zu Goethes Lebzeiten erscheinenden Faustdrucke übernommen worden. Dies war freilich in einer an vielen Stellen überarbeiteten Version geschehen, die den drastischen Ton der Sturm-und-Drang-Epoche Goethes auf eine gefälligere Stimmlage zurücknahm. Sichtbar wird in solchen Manuskriptbearbeitungen Goethes lebenslanges Unternehmen, den Fausttext nicht nur fort- und zu Ende, sondern stets auch umzuschreiben, die Bedeutung der bereits bestehenden Szenen zu verändern und durch Erweiterungen und Streichungen einzugreifen ins dramatische Gefüge.

III. 1771/1774: Goethes erstes Faustmanuskript (Frühe Fassung/Urfaust)

1. Das Drama des Gelehrten

Unruhe im gotischen Zimmer  Die frühe Fassung, wie sie von der Weimarer Hofdame aufgeschrieben wurde, setzt mitten in der «Nacht» ein. Neben der Zeitangabe stellt Goethe dem Drama die Bühnenanweisung voran: «In einem hochgewölbten engen gothischen Zimmer. Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulten». So wird bereits in den ersten zwei Zeilen des uns in seiner frühen Fassung überlieferten Textes jene in Goethes Augen moderne Gesinnung Fausts – seine Ruhelosigkeit – ausgesprochen, die dann während der folgenden sechzig Jahre über alle Brüche und Hinzufügungen hinweg als zusammenhangstiftender roter Faden des großen Werks sichtbar bleiben wird.

Charakteristisch wird man desgleichen Fausts erste Worte nennen, mit denen in der frühen Fassung das Drama einsetzt: «Hab nun ach die Philosophey/Medizin und Juristerey,/Und leider auch die Theologie/Durchaus studirt mit heisser Müh./Da steh ich nun ich armer Tohr./Und bin so klug als wie zuvor» [469/355ff. – die Zitate folgen der Originalorthographie der Frühen Fassung; zur Zitierweise siehe unten, S. 127]. Wie ein Nachklang aus «Doctor Fausti Weheklag» am Ende der alten Historia ist in Goethes Text das verzweiflungsvolle «Ach» zu vernehmen, das dann als Leitmotiv mehrfach wiederkehrt in dem berühmten Eingangsmonolog. Der mentalitätsgeschichtliche Hintergrund, vor dem Goethes Faust sein deprimierendes «Ach» ausstößt, unterscheidet sich freilich von der historischen Kulisse der Historia. Die archaische Höllenangst nämlich treibt den Monologisierenden des gotischen Zimmers nicht mehr um, jedoch die Panik, die ihn ergreift beim Rückblick auf sein eigenes Leben und auf die sinnlose Leere, die sich dabei auftut.

In Goethes Drama nimmt «das verlorene Ich einer glaubenslosen, tief skeptischen Neuzeit» die Gestalt einer Bühnenperson an (Schöne 2017, 210). Wie bereits der Protagonist der Historia bricht auch der goethesche Faust radikal mit seiner Herkunft. Er verflucht die akademische Überlieferung und erklärt alle bisherigen Studien sowie sein gesamtes Wissen für wertlos, überreif für «Kehrichtfass» und «Rumpelkammer» [476/582]. Während seines nächtlichen Monologs lässt uns Faust zurückblicken auf eine veritable Bildungskatastrophe, die sich im gotischen Zimmer zugetragen hat: «Heisse Docktor und Professor gar/Und ziehe schon die zehen Jahr/Herauf und herab und queer und krum/Meine Schüler an der Nas herum/Und seh daß wir nichts wissen können,/Das will mir schier das Herz verbrennen» [469/360ff.].

Nie gelang es ihm, einen unmittelbaren Zugriff auf die Gesetze des Daseins zu erlangen, so wie er sich das versprochen hatte, auf dass, so Faust, «ich nicht mehr mit sauren Schweis/Rede von dem was ich nicht weis./Daß ich erkenne was die Welt/Im innersten zusammenhält/Schau alle Würkungskrafft und Samen/Und thu nicht mehr in Worten kramen» [469f./