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Jörg Hacker

PANDEMIEN

Corona und die neuen
globalen Infektionskrankheiten

Unter Mitarbeit von Sandra Kumm

C.H.Beck


Zum Buch

Pandemien, die Länder und Kontinente übergreifende Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, sind eine dunkle Seite der Globalisierung, insbesondere des internationalen Flugtourismus. Schon vor dem Aufkommen des neuen Coronavirus war das bei einer ganzen Reihe von Infektionskrankheiten der Fall; Cholera, HIV (Aids), Influenza und SARS sind prominente Beispiele. Mit Blick auf die aktuelle Situation erläutert der Band die Strategien zur Eindämmung von Pandemien sowie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und die Teilhabe am öffentlichen Leben. Lässt sich ein bislang unbekanntes Virus überhaupt aufhalten, oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Großteil der Bevölkerung angesteckt ist? Was kann der Einzelne tun, oder ist er machtlos? Wie weit darf ein demokratischer Staat die Grundvoraussetzungen gesellschaftlichen Lebens außer Kraft setzen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten?

Über die Autoren

Jörg Hacker ist ein international renommierter Experte auf dem Gebiet der Infektionsbiologie. Er war Präsident des Robert Koch-Instituts und bis 2020 Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Menschen, Seuchen und Mikroben. Infektionen und ihre Erreger, 2003.

Sandra Kumm ist Biologin und als wissenschaftliche Referentin an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina tätig.

Inhalt

Vorwort

1. Zur Geschichte von Infektionen und Pandemien

2. Neue pandemische Mikroorganismen: Beispiele und Szenarien

Coronaviren

Influenzapandemien

Auslöschung der Pocken

3. Pandemien und Grundlagenforschung

4. Zoonotische Erreger – One Health, Global Health

One Health – Public Health – Global Health

Bedeutung und Dilemma der Antibiotika

5. Was Pandemien mit dem Anthropozän zu tun haben

6. Zur Eingrenzung von Pandemien

7. Digitalisierung im Kampf gegen Pandemien

8. Pandemieforschung und «Dual Use»

9. Wissenschaftskommunikation in der Corona-Krise

Wissenschaft und Öffentlichkeit

10. Wirtschaft und Gesellschaft in der Pandemie

Blick zurück und nach vorn

11. Pandemie und ethische Fragestellungen

Quellen

Bildnachweis

Personenregister

Fußnoten

Vorwort

«Diese Pandemie ist kein Krieg. Nationen stehen nicht gegen Nationen. Soldaten nicht gegen Soldaten. Sondern sie ist eine Prüfung unserer Menschlichkeit. Sie ruft das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervor. Zeigen wir einander das Beste in uns.»

Frank-Walter Steinmeier

Pandemien sind keine Geschehnisse, die auf das 21. Jahrhundert beschränkt wären. Schon im Schrifttum der Antike und des frühen Christentums werden Ereignisse beschrieben, die als großflächige Infektionen deutbar sind. Besonders der Pest kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie hat im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit als der «Schwarze Tod» das Infektionsgeschehen dominiert.

Auf dieses Infektionsgeschehen hebt der Holzschnitt Die vier apokalyptischen Reiter von Albrecht Dürer ab, der große Verbreitung fand. Die Verse «Ich bin der schnelle, schwarze Tod, / ich überhol’ das schnellste Boot / und auch den schnellsten Reiter» von Hermann Lingg treffen das mittelalterliche Geschehen sehr gut.

Die Bedrohung, die aus diesen Sätzen klingt, betrifft vor allem den «schnellsten Reiter», der als Verbreiter der Pest gelten kann. So war es auch in den darauffolgenden Jahrhunderten: Immer wieder spielten neue Infektionskrankheiten eine Rolle, auch im täglichen Leben der Menschen.

Abb. 1:  Albrecht Dürer: «Die vier apokalyptischen Reiter», Holzschnitt, um 1497/98. Der Bogenschütze gilt als Seuchenbringer, der mit seinen Pestpfeilen jeden treffen könnte.

Momentan befinden wir uns weltweit in einer ähnlichen Situation. Durch das neue Virus vom Corona-Typ sind auch wir jetzt mit einem neuen, unbekannten Infektionserreger konfrontiert. Das Wort «inficere» bedeutet so viel wie vermischen, vergiften, verpesten oder auch anstecken. Wie in Kapitel 2 dargestellt wird, können unterschiedliche Gruppen von Mikroorganismen als Infektionserreger fungieren.

Treten bestimmte Krankheiten in einer Region anhaltend und in etwa gleichbleibend gehäuft auf, beispielsweise die Malaria oder Ebola, spricht man von einer Endemie. Als Epidemie wird hingegen ein nur vorübergehend gehäuftes, sich stetig steigerndes Auftreten einer Krankheit bezeichnet. Das Geschehen ist geographisch begrenzt und kann auch nichtinfektiöse Prozesse betreffen. Beispielsweise wird die zunehmende Ausbreitung von Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) heute als eine Epidemie definiert.

Bei Pandemien handelt es sich nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation World Health Organization (WHO) um eine «Länder und Kontinente übergreifende Ausbreitung einer Krankheit beim Menschen». In dem zuletzt im Mai 2017 überarbeiteten Leitfaden zum «Pandemic Influenza Risk Management» ist festgelegt, dass die Ausrufung einer Pandemie, als Übergang von einer Epidemie, durch den Generaldirektor der WHO erfolgt. Bei der neuen SARS-Variante (Severe Acute Respiratory Syndrome) SARS-CoV-2, die zum Krankheitsbild von COVID-19 (Coronavirus Disease 2019, weil es im Jahr 2019 erstmals aufgetreten ist) führte, war der 11. März 2020 das maßgebliche Datum.

An diesem Tag wurde die vom Virus SARS-CoV-2 ausgehende und zunächst als Epidemie bezeichnete Erkrankung von der WHO zur Pandemie erklärt, nachdem das Infektionsgeschehen bereits am 30. Januar 2020 als internationale Gesundheitsnotlage bezeichnet wurde. Die Entwicklung und Ausbreitung von SARS-CoV-2 ist also Teil einer pandemischen Erkrankung. Sie beeinflusst alle gesellschaftlichen Bereiche: Politik und Wirtschaft genauso wie Wissenschaft, Kultur und Umwelt.

Neu bei der durch Coronaviren initiierten Pandemie ist die Tatsache, dass jetzt globale Gesundheitsprozesse von Bedeutung sind, die nur international erforscht und bekämpft werden können. Deshalb werden die hinter diesen Überlegungen stehenden Begriffe auch als «Global Health» bzw. «Planetary Health» bezeichnet. Global Health illustriert die Tatsache, dass globale Prozesse an der Entwicklung einer Pandemie beteiligt sind. Diese Prozesse spielen eine Rolle für das gesamte, weltweite Ökosystem und für die gesamte Menschheit, was sich wiederum in dem Terminus «Planetary Health» ausdrückt. Diese Entwicklung ist relativ neu. Sie zeigt sich beispielsweise darin, dass bei den letzten, in Deutschland stattgefundenen Meetings der Staats- und Regierungschefs im Rahmen von G7 (2015) sowie G20 (2018) auch über Infektionskrankheiten und ihre Bekämpfung gesprochen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass dieser internationale Impetus bei der Beschreibung und Bekämpfung von neuen Infektionskrankheiten seine Bedeutung auch in der Zukunft erhält.

Mein Dank gebührt dem Verlag C.H.Beck und hier insbesondere Herrn Dr. Stefan Bollmann für eine Reihe von Vorschlägen und Anregungen, die essenziell für dieses Buch waren. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeiterinnen aus dem Präsidialbüro der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina: Frau Jana Friedrich für ihre Hilfe bei der Abfassung des Manuskriptes und ganz besonders Frau Dr. Sandra Kumm, die sich im Rahmen dieses Projektes mit vielen Vorschlägen ganz außergewöhnlich engagiert hat. Auch Herrn Dr. Stefan Artmann gilt mein Dank für zahlreiche Hinweise und wertvolle Anregungen.

1. Zur Geschichte von Infektionen und Pandemien

«Die Mikroben haben immer das letzte Wort.»

Louis Pasteur

In seinem großen Prosawerk Il Decamerone beschrieb der florentinische Dichter Giovanni Boccaccio (1313–​1375) die Pest vor dem Hintergrund einer aufziehenden Pandemie, die nicht nur seine Heimatstadt Florenz, sondern ganz Europa bedrohte. In seiner Novellensammlung führt Boccaccio aus:

«Ungefähr am Frühlingsanfang des vergangenen Jahres begann die Seuche ihre entsetzlichen und verheerenden Wirkungen zu offenbaren. Zu Beginn entstanden bei Männern und Frauen Schwellungen in der Leistenbeuge oder in der Achselhöhle, zuweilen so groß wie ein gewöhnlicher Apfel oder wie ein Ei, die schlichtweg Pestbeulen genannt wurden. Später gewann die Krankheit eine neue Form. Es erschienen überall am Körper schwarze oder bläuliche Flecken. Sie waren immer die Vorboten des Todes.»[1]

Was hier von Boccaccio so eindrucksvoll geschildert wird, sind in der Tat die Symptome, die sich nach einer Übertragung von Keimen des Pesterregers auf den Menschen einstellen. Wegen der bläulich-schwarzen Flecken, bei denen es sich um Gefäßblutungen handelt, wurde die Pest auch der «Schwarze Tod» genannt.

Zunächst besiedeln die Pestbakterien Yersinia pestis Nager, vor allem Ratten, die in der Regel nach der Übertragung der Bakterien nicht erkranken. Von den Ratten werden die Bakterien durch den Rattenfloh, der die Keime mit kontaminiertem Rattenblut aufnimmt, auf den Menschen übertragen. Dieser komplizierte Übertragungsweg wurde vor gut 100 Jahren von dem Schweizer Mikrobiologen Alexandre Yersin entdeckt. Heute sind die molekularen Mechanismen der Pesterkrankung recht gut erfasst, auch die gesamte Erbinformation der Pestbazillen ist mittlerweile entschlüsselt worden. Das Krankheitsbild der Beulenpest, die Boccaccio beschreibt, ist jedoch schon seit Jahrtausenden bekannt.

Neben der Beulenpest kann es bei Menschen auch zur Lungenpest kommen, wenn die Atemwege durch die Bakterien infiziert werden. Bei dieser Form der Erkrankung können die Pestbakterien durch kleine Wassertröpfchen, sogenannte Aerosole, direkt von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Die Lungenpest endet dann fast immer tödlich. Ihr fielen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beispielsweise in der Mandschurei mindestens 60.000 Menschen zum Opfer.

Die Pestepidemie der Jahre 1346 bis 1352 stellte einen Wendepunkt nicht nur in der Geschichte der Seuchen, sondern generell in der Historie des Abendlandes dar. Insgesamt starben über 20 Millionen Menschen, das waren etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Die Einwohnerzahlen in den Städten gingen zurück, die Besiedelung Osteuropas wurde für lange Zeit unterbrochen, und die Entwicklung der Infrastruktur wurde um Jahrzehnte, ja Jahrhunderte zurückgeworfen.

Bis heute ist der «Schwarze Tod» ein Symbol für die enorme Sterblichkeit, die eine Pandemie verursachen kann. Der Begriff «Pest» ist zu einem Synonym für gesellschaftliche Kalamitäten im Allgemeinen geworden, selbst wenn diese nicht ansteckend sind. Dies schlägt sich auch umgangssprachlich nieder: etwas/jemanden wie die Pest hassen; stinken wie die Pest; die Wahl haben zwischen Pest und Cholera.

Natürlich hat man sich schon damals Gedanken gemacht, welche Ursachen die bereits bekannten Infektionskrankheiten haben könnten. König Philipp VI. von Frankreich gab zur Deutung des Pestausbruches im Jahre 1348 ein Gutachten bei der Medizinischen Fakultät der Universität Paris in Auftrag. Das Kollegium der Professoren kam nicht etwa zu dem Ergebnis, dass naturwissenschaftliche Ereignisse für die Pest-Infektionen verantwortlich seien. Sie beschrieben vielmehr die besondere Konjunktion der drei Planeten Saturn, Jupiter und Mars am 20. März 1345, auf die die Erkrankung zurückzuführen sei.

Die «heißen» Planeten Jupiter und Mars sollten bewirken, dass von der Erde giftige Dämpfe, «Miasmen», frei würden, die die Menschen verseuchen und als Ursache für die Pestilenz anzusehen seien. Deshalb trugen, wie in Abbildung 2 dargestellt, die Ärzte der damaligen Zeit eine Art luftdichte, Miasmen abweisende Schutzkleidung mit einem Schnabel in Höhe der Mundhöhle, gefüllt mit aromatischen Essenzen gegen den penetranten Leichengeruch. Im Grunde wurde mit dieser Kleidung unbewusst bereits eine Desinfektionsmaßnahme des 20. Jahrhunderts vorweggenommen. Es sind gerade die Sicherheitsanzüge und die Ausstattung der Sicherheitslabors (BSL 1 bis BSL 4), die es überhaupt erst möglich machen, mit hochpathogenen Pandemieerregern zu arbeiten. In Abbildung 3 sind Sicherheitsanzüge dargestellt, die momentan zum Einsatz kommen, wenn es darum geht, hochpathogene Pandemieerreger zu erforschen.

Abb. 2: Paul Fürst: «Der Doctor Schnabel von Rom», Kupferstich eines Pestarztes, um 1656

Abb. 3: S4‐Schutzanzug

Man mag heute über die Anrufung der Astrologie zur Erklärung von Infektionskrankheiten schmunzeln, das Beispiel ist jedoch insofern von genereller Bedeutung, als die Geschichte der Seuchen auch eine Geschichte vergeblicher Deutungsversuche ist. Dies zeigen auch heutige «Verschwörungstheorien». Bis ins 19. Jahrhundert hinein konnte man die Ursachen von Infektionskrankheiten nur unvollkommen oder gar nicht erklären. Neben der Sternkonstellation und den Miasmen wurden auch andere Kräfte, Faktoren wie die Bodenbeschaffenheit, die Zusammensetzung des Wassers oder bestimmte Bevölkerungsgruppen für Seuchen verantwortlich gemacht.

Letztere dienten als Sündenböcke. Im Jahr 1348 glaubte man, sie in den Juden gefunden zu haben. In vielen Städten Europas wurde die Pestepidemie von Pogromen begleitet, die dazu führten, dass keine oder nur noch sehr kleine jüdische Gemeinden bestehen blieben. So wurde beispielsweise die jüdische Gemeinde in Würzburg im Zuge der Pestepidemie im 14. Jahrhundert nahezu völlig vernichtet und das alte Judenviertel abgerissen. Auch heute zirkulieren wieder antisemitische Ursprungsszenarien über COVID-19.

Aus der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Zum einen ist es wichtig, die naturwissenschaftlichen Grundlagen von Infektionskrankheiten und besonders von Pandemien zu erkennen, um geeignete Präventionsmaßnahmen durchführen zu können. Zum anderen induzieren Infektionen politische Deutungsmuster und Ursprungsideen, die weit über das medizinisch relevante Geschehen hinausgehen.

Bei diesen Deutungsmustern werden Infektionen häufig als Metaphern verwendet. Mit ihrer Hilfe lassen sich gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge deutlich machen. Die Publizistin Susan Sontag hat 1989 in ihrem Buch AIDS and Its Metaphors auf den Zusammenhang zwischen HIV-Infektionen und dem Krankheitsbild Aids auf der einen Seite sowie generell dem Auftreten von Seuchen hingewiesen. Seuchen stehen nicht nur für ein bestimmtes Krankheitsgeschehen, sondern können auch als Metaphern für bestimmte politische Entwicklungen, etwa für Krieg, Not, oder auch gesellschaftliche Prozesse, etwa das Ausgrenzen von Fremden, verwendet werden; ein Phänomen, das auch heute wieder zu beobachten ist.

Erhellende Beispiele für die Metaphorisierung von Krankheiten finden sich in den Romanen und Erzählungen von Thomas Mann. Infektionen und Infektionskrankheiten spielen in ihnen eine wichtige Rolle. Sie kommen meistens als bösartige Schicksalsschläge über die Menschen und spiegeln die Verwerfungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider.

Das ist vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwa im Zauberberg der Fall; der Roman spielt in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke und enthält bereits Anklänge an die Kritik der modernen «Apparatemedizin». Cholera-Infektionen bilden den Hintergrund der Novelle Der Tod in Venedig. Die Geschlechtskrankheit Syphilis wiederum ist von entscheidender Bedeutung für den Doktor Faustus. Aber auch die Sepsis und Typhus-Erkrankungen kommen vor.

Der Typhus war Ende des 19. Jahrhunderts eine gefürchtete Infektionskrankheit, die vor allem durch kontaminiertes Wasser übertragen wurde. Berühmt geworden sind die Beschreibungen der Erkrankung in Die Buddenbrooks, Thomas Manns erstem Roman: Der kleine Hanno steckt sich an und verstirbt nach kurzer Zeit. Thomas Mann hat dies wie folgt beschrieben:

«Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt.

Der Mensch fühlt eine seelische Mißstimmung in sich entstehen, die sich rasch vertieft und zu einer hinfälligen Verzweiflung wird. Zu gleicher Zeit bemächtigt sich seiner eine physische Mattigkeit, die sich nicht allein auf Muskeln und Sehnen, sondern auch auf die Funktionen aller inneren Organe erstreckt, […] nicht zuletzt auf die des Magens, der die Aufnahme von Speise mit Widerwillen verweigert. […] Hie und da fließt ohne jedwede besondere Veranlassung Blut aus der Nase. […] Dann gibt ein heftiger Frostanfall, der den ganzen Körper durchschüttelt und die Zähne gegen einander wirbelt, das Zeichen zum Einsatz des Fiebers […]. Auf der Haut der Brust und des Bauches werden nun einzelne linsengroße, rote Flecken sichtbar, die durch den Druck eines Fingers entfernt werden können, aber sofort zurückkehren. Der Puls rast; er hat bis zu einhundert Schläge in der Minute. So vergeht bei einer Körpertemperatur von 40 Grad die erste Woche.»

Die Schilderung des Krankheitsverlaufs setzt sich dann fort, bis hin zum Ableben des kleinen Patienten. Gerade in dieser Passage zeigt sich, wie eng in der Literatur Thomas Manns individuelles Schicksal und infektiologische Betrachtungen verbunden sein können.

Thomas Mann ist keineswegs der einzige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, in dessen Erzählwerk Infektionskrankheiten geschildert werden. Zu erwähnen ist etwa der Roman Nemesis von Philip Roth, der den fiktionalen Ausbruch einer Polioepidemie 1944 in einer Schule in New Jersey schildert. Ganz besondere Bedeutung, gerade auch angesichts der politischen Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kommt dem 1947 erschienenen Roman Die Pest von Albert Camus zu. Camus siedelt die Handlung in einer Stadt am Mittelmeer, Oran, an. Der Ausbruch der Pestepidemie und die hilflose Suche nach Schuldigen lassen viele Erklärungen zu. Mit beeindruckender Detailtreue und nahezu wissenschaftlicher Präzision schildert Camus die infektiologischen und medizinischen Aspekte einer Pestepidemie, aber auch die gesamtgesellschaftlichen Dimensionen dieses Geschehens. So verweigert eine Reihe von Amtsträgern in Oran schlicht die Mitwirkung und trägt damit Schuld an dem verspäteten Eingreifen der medizinischen Autoritäten. Da bestehen durchaus Parallelen zur heutigen Situation in einigen Staaten.

Im Grunde hat der Roman von Camus einen Anstoß für die Aufarbeitung der politischen Geschehnisse des 20. Jahrhunderts gegeben, für die Entwicklung totalitärer Diktaturen in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt. Er zeigt, wie eng die Auswirkungen von Epidemien beziehungsweise Pandemien und das politische System einer Gesellschaft miteinander verflochten sind.

Interessanterweise gibt es seit einigen Jahren eine neue Technik in der Molekularbiologie, die auch als «molekulare Archäologie» bezeichnet wird. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, auch weit zurückliegende Prozesse eines Infektionsgeschehens und anderer mikrobieller Aktivitäten zu charakterisieren. Bei der Erforschung der Pest-Pandemien des Mittelalters kann man deshalb mittlerweile nicht nur auf literarische, sondern auch auf molekularbiologische Quellen zurückgreifen.

Die von Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und anderen entwickelte Disziplin der Molekulararchäologie verbindet Fragestellungen aus den Bereichen der Archäologie, der Medizin sowie der Geschichtswissenschaften. Einige der erhobenen Daten legen nahe, dass der Pesterreger schon vor 40.000 Jahren aus der Yahnaia-Wüste in Nordindien nach Europa gelangt ist. Auch die Pocken konnten bereits in 1400 Jahre alten Proben nachgewiesen werden. «Schon die Wikinger hatten Pocken», kommentiert Krause seinen Befund reichlich salopp. Er gibt der Vermutung Raum, dass es sich bei den Pockenviren – ähnlich wie bei der Pest – um Reservoirs für zukünftige Pandemien handeln könnte.

Auf großes Interesse ist darüber hinaus die Tatsache gestoßen, dass im Erbgut des rezenten Menschen auch Gene, die von den Neandertalern übertragen wurden, vorkommen. Svante Pääbo und Hugo Zeberg vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie konnten zeigen, dass Personen, die schwere COVID-19-Verläufe aufwiesen, häufiger Neandertalergene tragen als eine Kontrollgruppe. Die Vermischung von Genen des Neandertalers mit denen von Homo Sapiens hat möglicherweise vor 60.000 Jahren stattgefunden, vor 30.000 Jahren wurden die Neandertalergene im menschlichen Erbgut fest etabliert. Auf dem menschlichen Chromosom 3 scheinen Faktoren vererbt zu werden, die ein höheres Risiko für die Notwendigkeit künstlicher Beatmung bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 nach sich ziehen. Was die Ursache für die stärkere Anfälligkeit gegenüber COVID-19 bei Personen mit Neandertalergenen ist, ist bisher noch nicht bekannt.

Neben menschlichen Genen und Krankheitserregern lassen sich auch andere Mikroorganismen analysieren, die im Mikrobiom von Menschen oder von Tieren zusammenwirken. In seinem Buch Die Reise unserer Gene schildert Johannes Krause eine Reihe von Befunden, die für die Analyse des Migrationsverhaltens von Menschen wie auch von Mikroben von Bedeutung sind. «Wir sind alle Migranten», schreibt er.

2. Neue pandemische Mikroorganismen: Beispiele und Szenarien

«When you’re dealing with new and emerging diseases, you have no ideas and you can’t predict in advance what would happen.»

Margaret Chan

Pandemische Mikroorganismen zeigen ein pathogenes Potenzial, das sie dazu befähigt, Infektionen in verschiedenen Wirtsorganismen auszulösen. Zu den pathogenen Mikroorganismen zählen ganz unterschiedliche Typen. Beschrieben werden sie meist dahingehend, ob sie als einzelliger Organismus auftreten oder aus mehreren Zellen bestehen. Einige von ihnen besitzen einen echten Zellkern, der stabil ist und aus Chromosomen besteht. Andere pathogene Mikroorganismen sind einzellige Mikroben, die auch als «Prokaryonten», das heißt Pathogene ohne Zellkern, bezeichnet werden.

Es gibt sechs unterschiedliche pathogene Organismengruppen (Abb. 4). Dazu zählen erstens die Würmer, die aus mehreren Zellen bestehen und einen echten Zellkern haben. Der Erreger der in Afrika grassierenden Flussblindheit, aber auch in Europa vorkommende Würmer wie der Fuchsbandwurm, der Infektionen des Gehirns hervorruft, sind hier zu nennen. Auch Pilze können Infektionen auslösen, wobei sie als mehrzellige wie als einzellige Organismen auftreten. Sie tragen einen echten Zellkern; bekannt sind unter anderem der Soorerreger Candida albicans sowie Aspergillus fumigatus, der Asthma sowie bei immunsupprimierten Patienten eine häufig tödlich verlaufende Aspergillose (Schimmelpilzinfektion) hervorrufen kann.

Protozoen hingegen sind einzellig, besitzen allerdings einen Zellkern. Zu ihnen gehört der Parasit Toxoplasma gondii,Yersinia pestis