Cover

Hermann Parzinger

VERDAMMT
UND
VERNICHTET

Kulturzerstörungen
vom Alten Orient
bis zur Gegenwart

C.H.Beck

ZUM BUCH

Fassungslos blickte die Weltöffentlichkeit 2015 nach Palmyra – die antike Ruinenstadt war der Terrororganisation IS in die Hände gefallen. Der uralte Baaltempel, das heilige Zentrum zahlloser Kulturen, wurde gesprengt. Doch Kulturzerstörung ist keine Erfindung der Gegenwart. Sie zieht sich wie ein blutrotes Band durch die Jahrtausende. Hermann Parzinger schreitet die Horizonte der Barbarei ab, erzählt die Geschichte vernichteter Kulturschätze und hält ein fulminantes Plädoyer für den Schutz des Menschheitserbes und der künstlerischen Freiheit.

Seine Tour d’Horizont führt ihn von der Tilgung der Erinnerung im Alten Ägypten und den Großreichen Mesopotamiens über die Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. weiter durch die Bilderstürme der Reformation und der Französischen Revolution bis hin zu den Verheerungen des europäischen Kolonialismus, dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und darüber hinaus bis in unsere Tage. Immer wieder wird deutlich, dass gezielte Verwüstungen und Plünderungen von traditions- und identitätsstiftenden Kulturgütern auch Ausdruck eines neuen Deutungs- und Herrschaftsanspruchs waren. Doch waren jenseits machtpolitischer, ideologischer oder religiöser Beweggründe Bilderstürme häufig auch von handfesten finanziellen Interessen geleitet: Raub und Enteignungen erweisen sich bei näherem Hinsehen geradezu als systematische Vermögensumverteilungen. So erwartet Leserinnen und Leser ein Buch von schmerzlicher Aktualität, das uns zugleich die Kostbarkeit der kulturellen Zeugnisse auf allen Kontinenten vor Augen führt.

ÜBER DEN AUTOR

Hermann Parzinger ist Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und war einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt Forums im Berliner Schloss. Als international renommierter Archäologe und Prähistoriker wurde er mit zahlreichen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt die Bestseller Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift (52016) und Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte (22018).

INHALT

VORWORT

EINFÜHRUNG

1. DIE ANFÄNGE IM ALTERTUM

BRANDSTIFTUNGEN UND PLÜNDERUNGEN

VERDAMMUNG UND TILGUNG

DIE ZERSTÖRUNG DES TEMPELS VON JERUSALEM

2. DIE UMBRÜCHE IN DER SPÄTANTIKE

DER FALL DES SERAPEUMS VON ALEXANDRIA

TEMPELZERSTÖRUNGEN VON KONSTANTIN BIS JUSTINIAN

RELIGIÖSE, MACHTPOLITISCHE UND ÖKONOMISCHE INTERESSEN

3. DER BYZANTINISCHE BILDERSTREIT

KAMPF ZWISCHEN KIRCHE UND STAAT

4. DAS SPÄTMITTELALTER UND DIE PRÄLUDIEN DER REFORMATION

DIE HUSSITENBEWEGUNG

DER HUSSITISCHE BILDERSTURM

SAVONAROLA IN FLORENZ

5. DIE FRÜHE NEUZEIT UND DIE REFORMATION

DIE HINTERGRÜNDE DES REFORMATORISCHEN BILDERSTURMS

DIE ANFÄNGE DER BILDVERNICHTUNG IN DEUTSCHLAND UND DER SCHWEIZ

DIE ZWEITE WELLE MIT DEN SCHWERPUNKTEN FRANKREICH, NIEDERLANDE, ENGLAND

6. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND IHRE FOLGEN

BILDERSTURM UND KUNSTZERSTÖRUNG

VON DER RETTUNG DER KUNSTWERKE ZUM ERSTEN MUSEUM

SÄKULARISATION ZWISCHEN ZERSTÖRUNG UND ANEIGNUNG

7. DAS ZEITALTER KOLONIALER EROBERUNGEN

DER UNTERGANG DER GROSSREICHE IN DER NEUEN WELT

KULTURZERSTÖRUNGEN IN CHINA ZWISCHEN OPIUMKRIEGEN UND BOXERAUFSTAND

BENIN UND DAS ENDE EINES AFRIKANISCHEN KÖNIGREICHS

8. DIE UMBRÜCHE IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

DREI MONATE IM JAHRE 1914

OKTOBERREVOLUTION UND STALINISMUS

9. DER NATIONALSOZIALISMUS UND SEINE FOLGEN

VERFEMTE KUNST

VERNICHTUNG JÜDISCHER KULTUR

KULTURZERSTÖRUNGEN IN BESETZTEN GEBIETEN

10. DIE ZEIT NACH 1945

CHINA, KULTURREVOLUTION UND TIBET

KAMBODSCHA UNTER DEN ROTEN KHMER

BOSNIEN UND KOSOVO

11. DER ISLAMISTISCHE IKONOKLASMUS

DIE ANFÄNGE DER BILDERFEINDLICHKEIT IM ISLAM

BAMIYAN UND DIE TALIBAN

TIMBUKTU UND DIE EREIGNISSE IN MALI

DIE VERHEERUNGEN DES IS IN SYRIEN UND IRAK

12. SCHLUSSBETRACHTUNG

FORMEN VON IKONOKLASMUS

KULTURZERSTÖRUNG VERSUS VERMÖGENSUMVERTEILUNG UND AUSVERKAUF

WEGE DER REGULIERUNG UND KULTURGUTSCHUTZ

13. AUSBLICK

DIE INTERNATIONALE DIMENSION

DIE INNERE, NATIONALE DIMENSION

ANHANG

ANMERKUNGEN

EINFÜHRUNG

1. DIE ANFÄNGE IM ALTERTUM

2. DIE UMBRÜCHE IN DER SPÄTANTIKE

3. DER BYZANTINISCHE BILDERSTREIT

4. DAS SPÄTMITTELALTER UND DIE PRÄLUDIEN DER REFORMATION

5. DIE FRÜHE NEUZEIT UND DIE REFORMATION

6. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND IHRE FOLGEN

7. DAS ZEITALTER KOLONIALER EROBERUNGEN

8. DIE UMBRÜCHE IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

9. DER NATIONALSOZIALISMUS UND SEINE FOLGEN

10. DIE ZEIT NACH 1945

11. DER ISLAMISTISCHE IKONOKLASMUS

12. SCHLUSSBETRACHTUNG

13. AUSBLICK

BIBLIOGRAPHIE

EINFÜHRUNG

1. DIE ANFÄNGE IM ALTERTUM

2. DIE UMBRÜCHE IN DER SPÄTANTIKE

3. DER BYZANTINISCHE BILDERSTREIT

4. DAS SPÄTMITTELALTER UND DIE PRÄLUDIEN DER REFORMATION

5. DIE FRÜHE NEUZEIT UND DIE REFORMATION

6. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION UND IHRE FOLGEN

7. DAS ZEITALTER KOLONIALER EROBERUNGEN

8. DIE UMBRÜCHE IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

9. DER NATIONALSOZIALISMUS UND SEINE FOLGEN

10. DIE ZEIT NACH 1945

11. DER ISLAMISTISCHE IKONOKLASMUS

12. SCHLUSSBETRACHTUNG

13. AUSBLICK

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

VERZEICHNIS DER STÄDTE, LÄNDER UND REGIONEN

VORWORT

Mindestens genauso weit wie meine Beschäftigung mit Fragen der frühen Menschheitsgeschichte reicht meine Wahrnehmung bewusster, zielgerichteter Kulturzerstörung zurück. Jeder, der archäologisch forschend tätig ist, stößt auf die verheerenden Folgen von Raubgräberei. Antiken werden unsachgemäß dem Boden entrissen, weil es nur um den ästhetischen oder monetären Wert der Objekte geht, die dadurch für immer ihren historischen Kontext verlieren. Die illegale Archäologie hat inzwischen fast industrielle Ausmaße angenommen, und zwar nicht nur in Syrien und Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens, sondern in nahezu allen Teilen der Welt, auch direkt vor unserer Haustür. Der dabei verursachte Verlust an geschichtlichem Wissen und das Ausmaß der Kulturzerstörung sind weitreichend. Doch das ist nur ein Teilaspekt einer viel größeren und facettenreicheren Geschichte.

Dass diese Geschichte eine enorme zeitliche Tiefe besitzt, wurde mir klar, als wir einmal einen vor 2500 Jahren errichteten monumentalen Grabhügel der skythenzeitlichen Tagar-Kultur im sibirischen Minusinsker Becken am mittleren Jenissei ausgruben. Seine ursprünglich reich ausgestattete Grabgruft hatte man nämlich nicht einfach nur ausgeraubt, sondern regelrecht vernichtet und entweiht. Täter waren Angehörige einer unmittelbar nachfolgenden und in diese Region von außen zugewanderten Bevölkerung, die im Sinne einer damnatio memoriae offenbar bewusst ein traditions- und identitätsbildendes Denkmal für die damals dort lebenden Menschen zerstörten. Ähnliche Beispiele gibt es in der Antike und in späteren Epochen zuhauf.

Machen wir wieder einen Sprung zurück in die Gegenwart: Die weltweit verbreitete filmische Dokumentation von der Sprengung der kolossalen Buddha-Statuen von Bamiyan haben viele von uns noch vor Augen, auch wenn sie bald zwei Jahrzehnte zurückliegt. In ihrer radikalen Brutalität mag sie für manchen vielleicht überraschend gewesen sein, doch hatte sie durchaus eine Vorgeschichte. Im Jahre 1998 bereiste ich erstmals die unmittelbar an Afghanistan grenzenden Gebiete am Oberen Indus in den Tribal Areas Nordpakistans, eine archäologisch bis heute noch weitgehend unerforschte Region. Während eine Forschergruppe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Harald Hauptmann dort Inschriften und Felsbilder dokumentierte und dabei Pionierarbeit leistete, begannen fundamentalistische Extremisten bereits in den 1990er Jahren damit, die schönsten und bedeutendsten Buddha-Darstellungen – gleichsam unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – aus den Felswänden zu sprengen.

Mit drei unterschiedlichen Formen intentioneller Kulturzerstörung kam ich also bereits als Archäologe in Berührung: Habgier, politisch motivierter Zerstörungswut und fundamentalistischem Wahn. Oder anders ausgedrückt: Es ging um Geld, um Macht und um religiöse Verblendung.

Mit meinem Wechsel vom Deutschen Archäologischen Institut zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz erweiterten sich nicht nur die Aufgaben und Tätigkeitsfelder, vielmehr ließ der Blick auf andere Zeitperioden auch weitere Formen von Kulturzerstörung hinzutreten. Dazu gehörte der Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten gleich in dreifacher Hinsicht: mit der Zerstörung der sogenannten «entarteten Kunst», mit dem Holocaust und der systematischen Verfolgung der jüdischen Kultur sowie mit dem Vernichtungsfeldzug gegen Polen und die Sowjetunion, der auch die Auslöschung der polnischen und russischen Kultur zum Ziel hatte. Die Folgen davon beschäftigen uns noch heute.

Auch die Gestaltung der historischen Mitte Berlins erzählt seine eigene emotionale Geschichte. Die Sprengung des Berliner Schlosses durch das kommunistische Regime der DDR in den Jahren 1950/51 hatte ideologische Gründe, sollte dieses Symbol für Monarchie, Feudalismus und Militarismus doch für immer getilgt werden. Ähnliche Beweggründe unterstellte man beim Abriss des Palasts der Republik, wenngleich diese Geschichte komplexer war. Wir werden sie im Reigen der hier erörterten Beispiele nicht weiter ausbreiten, sehr wohl aber einige der kulturellen Verheerungen im Kontext kolonialer Eroberungen, weil diese mit dem Streben des Humboldt Forums nach einer kritischen Reflexion der kolonialen Vergangenheit und ihrer Folgen als Basis für eine gemeinsame, gleichberechtigte Welt in der Zukunft eng verbunden sind.

Jüngst sorgten die barbarischen Zerstörungen des sogenannten Islamischen Staats in Irak und Syrien weltweit für Schlagzeilen, und unweigerlich fühlte man sich – bei allen offensichtlichen Unterschieden zum NS-Regime – an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erinnert. So gingen erstens die Verheerungen mit schwersten Menschenrechtsverletzungen und Völkermord einher, zweitens wurde Weltkulturerbe aus ideologischen Gründen zerstört und diese Aktion auch noch propagandistisch ausgeschlachtet, und drittens wurden jene aus ideologischen Gründen für vernichtenswert erachteten Kulturgüter dann aber doch auch ins Ausland verkauft, um der Kriegsmaschinerie dringend benötigte Devisen zuzuführen.

Damit ist ein in jeder Hinsicht weiter Rahmen gesetzt, der es lohnend erscheinen lässt, sich Fragen intentioneller Kulturzerstörung einmal in diachroner Perspektive zuzuwenden. Die Auswahl der Beispiele ist subjektiv, viele von ihnen haben mich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Kontexten mal mehr und mal weniger intensiv beschäftigt, treiben mich aber beständig um. Das Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versucht stattdessen, den einen oder anderen roten Faden durch die Geschichte der Kulturzerstörungen zu legen. Wenn wir uns heute bewusstmachen, dass noch im Januar 2020 der US-amerikanische Präsident Donald Trump im Zuge des eskalierenden Konflikts mit Iran die Zerstörung dortiger Kulturerbestätten angedroht hat, dann zeigt uns dieser unfassbare Vorgang, dass diese Geschichte noch längst nicht zu Ende erzählt ist. Und während das Buch seine letzten Korrekturen erfährt, hören wir von weiteren Zerstörungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Nagorny-Karabach: Wieder wird das kulturelle Erbe zur Zielscheibe.

Dem Verlag C.H.Beck danke ich für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm und Stefan von der Lahr für die gewohnt professionelle Betreuung von Lektorat und Herstellung.

Berlin, im Herbst 2020

Hermann Parzinger

EINFÜHRUNG

Bewusste Kulturzerstörungen finden sich in nahezu allen Epochen vom Altertum bis in die Gegenwart. Einen solchen weiten zeitlichen Betrachtungsrahmen zu öffnen, birgt immer das Risiko der Unvollständigkeit. Denken wir an Ereignisse der Gegenwart, so ist von Syrien und Irak die Rede, nicht aber von Jemen und Libyen, wo sich ähnliche Beispiele finden ließen, auch wenn die Weltöffentlichkeit ihrer weniger gewahr wird. Sprechen wir von den Kulturzerstörungen im Zeitalter des Kolonialismus, so wird vom Boxeraufstand in China und vom Königreich Benin zu lesen sein, nicht jedoch vom Königreich Dahomey oder vom Maji-Maji-Krieg in ehemals Deutsch-Ostafrika. Thematisiert wird die römische Plünderung Korinths 146 v. Chr., nicht aber diejenige Athens 86 v. Chr., obwohl im Zuge beider Ereignisse bedeutende Zeugnisse griechischer Kunst nach Rom verschleppt wurden. Viele weitere Beispiele ließen sich nennen.

Doch hier geht es nicht um Vollständigkeit, angestrebt wird kein Handbuch der Kulturzerstörungen. Vielmehr ist das Ziel, in ihrer Wirkkraft bedeutende und exemplarisch ausgewählte Fälle von Ikonoklasmus genauer zu betrachten, in ihren jeweiligen historischen, politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Kontext einzuordnen, um sich auf diese Weise einem tieferen Verständnis des Phänomens anzunähern.

Im Zusammenhang mit Kulturzerstörung spricht man meist von «Ikonoklasmus», «Bildersturm» oder «Vandalismus». Diese Begriffe werden teils unterschiedlich, teils aber auch synonym angewendet. Für beides gibt es gute Gründe. Nach meinem Verständnis sind lediglich Ikonoklasmus und Bildersturm synonym zu gebrauchen, beide Begriffe lassen sich jedoch nicht mit Vandalismus gleichsetzen,[1] obwohl es auch dafür Beispiele gibt.[2]

Das Wort «Ikonoklasmus» kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt «das Zerbrechen von Abbildern», wobei Bildersturm eine besondere Form von Ikonoklasmus sein kann. Immer handelt es sich um eine – aus unterschiedlichen Gründen – bewusste Beseitigung oder Zerstörung von Bildern bzw. Symbolen. In besonderen Fällen spricht man auch von Denkmalsturz, zu dem es in der Regel kommt, wenn ein damit verbundenes politisches, ideologisches, religiöses, ökonomisches oder kulturelles System beseitigt wird. Solche Umbrüche werden häufig durch symbolische Zerstörungsakte sichtbar gemacht, oder es wird jegliche Erinnerung an ein gestürztes System für immer getilgt. Die Vernichtung kann dann Statuen und Bilder treffen, aber auch Gebäude, Grabmäler und andere Monumente. Doch jeder eruptive Systemwechsel, ob mit Kulturzerstörung verbunden oder nicht, schafft sich auch wieder seine eigenen neuen Bilder und Symbole. Ikonoklasmus bzw. Bildersturm sind immer wiederkehrende Phänomene, die aber stets eine ganz spezifische Entstehungsgeschichte besitzen, und um diese geht es uns hier.

Vandalismus stellt dagegen einen eher willkürlichen Vernichtungsakt dar, wodurch er sich fundamental von Ikonoklasmus oder Bildersturm unterscheidet. Er ist gleichbedeutend mit blinder Zerstörungswut, die zwar eine bestimmte Zielsetzung verfolgen kann, aber nicht muss. Daher gilt Vandalismus allgemein als zwecklos, irrational und bisweilen auch nihilistisch, er kann Zerstörung aus purem Zeitvertreib oder aus aggressiver Lust sein, ein Abreagieren von Wut oder eine Form von Imponiergehabe. In diesem Kontext sind höchstwahrscheinlich auch die jüngsten Anschläge mit einer ölhaltigen Flüssigkeit auf Kunstwerke in Häusern der Berliner Museumsinsel (Oktober 2020) sowie in Schloss Cecilienhof in Potsdam (September 2020) zu sehen, über deren Hintergründe man noch nichts Näheres weiß. Die gezielte Beschädigung oder Beseitigung von Kunstwerken, Denkmälern oder anderen Symbolen in einem größeren politischen, ideologischen, religiösen oder ökonomischen Kontext muss aber nicht zwangsläufig Vandalismus sein.

Eingeführt wurde der Begriff «vandalisme» im Jahre 1794 von Henri Grégoire, der sich dabei auf die Verwüstung und Plünderung der Königsgräber von Saint-Denis im Zuge der Französischen Revolution bezog.[3] Später wurde der Ausdruck dann ins Deutsche übernommen. Da die Zerstörung dieser Königsgräber eindeutig politisch motiviert war und keinen reinen Willkürakt darstellte, würden wir nach unserer Definition von Ikonoklasmus sprechen, und zwar von revolutionärem Ikonoklasmus. Die historische Herleitung des Begriffs Vandalismus von dem germanischen Volksstamm der Vandalen, die 455 Rom überfielen, ist im Übrigen weitgehend unbegründet, denn die Plünderung der Ewigen Stadt soll – soweit wir wissen – für damalige Verhältnisse durchaus gesittet vor sich gegangen sein, nachdem Papst Leo I. zugesichert hatte, dass es keinen Widerstand der Römer geben würde.

Hinzu kommt, dass die Begriffe in den unterschiedlichen Wissenschaftssprachen auch abweichende Anwendung finden, oder bestimmte Termini kehren bevorzugt in spezifischen historischen Kontexten wieder: Ikonoklasmus in Byzanz, Bildersturm in der Reformation und Vandalismus in der Französischen Revolution. Wie dem auch sei, auch wenn es eine einheitliche, allgemein anerkannte und verbindliche Terminologie nicht wirklich gibt, wollen wir die Begriffe im Kontext dieses Buches doch klar voneinander trennen und konsequent verwenden.

Was außerhalb der Betrachtung bleibt, sind die sogenannten Kollateralschäden, also Zerstörungen von Kunst- und Kulturgütern im Zuge militärischer Konflikte, die nicht gezielt herbeigeführt wurden, sondern vielmehr die Folge von Unachtsamkeit, vermeintlicher militärischer Notwendigkeit, von sich massiv auswirkenden Angriffen oder vielleicht auch von Missachtung waren, nicht jedoch Teil eines politischen, religiösen oder wie auch immer gearteten Programms gegen Kunst und Kultur.

Doch nicht immer sind die Grenzen scharf zu ziehen. Das gilt auch für absichtliche Kulturzerstörungen infolge von Plünderungen, auf die wir in unterschiedlichen Epochen immer wieder stoßen. Allen Landkriegsordnungen zum Trotz war das Plündern von der Antike bis heute fester Bestandteil kriegerischer Konflikte und konnte durch völkerrechtliche Konventionen allenfalls eingeschränkt, nicht jedoch völlig beseitigt werden. Schon gar nicht gelang dies in der jüngsten Vergangenheit, als im Kontext von failing states Terrorgruppen und andere kriminelle Banden das Geschehen bestimmten und sogenannte Schattenökonomien entstehen ließen. Wir beziehen solche Fälle nur dann ein, wenn sie Teil eines ikonoklastischen Programms waren.

Eine besondere Form der Plünderung bildet der systematische Kunstraub, dessen Anfänge ebenfalls bis in die Antike zurückreichen.[4] Der napoleonische Kunstraub, jener der Nationalsozialisten oder die Aktivitäten der sowjetischen Trophäenkommissionen am Ende des Zweiten Weltkriegs und andere Beispiele sind teilweise bereits sehr gut erforscht und nicht Thema dieses Buches, auch wenn wir sie vereinzelt streifen. Schließlich geht es in diesen Fällen nicht um die intentionelle Vernichtung von Kulturgut, sondern zunächst einmal darum, Werte möglichst unbeschadet an einen anderen Ort zu verbringen. Selbstverständlich ist dem Autor bewusst, dass das Entfernen von Objekten aus einem spezifischen Kontext, in dem sie ihre wahre Bedeutung besitzen, auch eine Art von Zerstörung sein kann.

Zwei große Bereiche der gezielten und programmatischen Kulturvernichtung werden nicht ausführlicher als eigene Stränge verfolgt, sondern lediglich fallweise im Kontext der jeweiligen Epochenereignisse erörtert: Denkmälersturz und Bücherverbrennung. Für beides finden sich zahlreiche Beispiele von der Antike bis in die Gegenwart. Sei es die Beseitigung von Königsdarstellungen auf assyrischen Reliefs, die Zerstörung von Bildnissen des französischen Königs Ludwigs XIV. oder der Sturz von Lenin-Denkmälern,[5] seien es die Verbrennung widerstreitender philosophischer Schriften unter dem chinesischen Kaiser Qin in vorchristlicher Zeit, die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz 1933 oder Koran-Verbrennungen durch US-amerikanische GIs 2012 in Afghanistan;[6] beide Phänomene ziehen sich wie rote Fäden durch nahezu alle Epochen unserer Geschichte.

Kulturerbe bildet in gewisser Weise materialisierte Geschichte und ist seit jeher eng mit kollektiver Erinnerung verbunden, für die Schaffung von Identität und deren Fortbestehen hatte es zu allen Zeiten eine besondere Bedeutung. Dadurch war es immer wieder vehementen Angriffen ausgesetzt, denen wir uns im Folgenden zuwenden wollen. Die Art und Weise dieser Attacken und deren Motivation konnten sehr unterschiedlich sein, sie sagen jedoch sehr viel über die jeweilige Epoche aus.

1. DIE ANFÄNGE IM ALTERTUM

Der sogenannte Titus-Bogen auf dem Forum Romanum wurde zu Ehren des römischen Feldherrn Titus (Kaiser von 79–81 n. Chr.) errichtet, der im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem erobert hatte. Der Ausschnitt aus dem linken Innenrelief zeigt, wie bedeutende Kultgegenstände aus dem Tempel von Jerusalem als Beute weggeführt wurden: Besonders gut ist der siebenarmige Leuchter (Menora) zu erkennen. Mit der in allen antiken Kulturen üblichen Praxis der Zerstörung von Kultgebäuden und der Plünderung von Kulturgütern nach einer siegreichen Eroberung sollte in diesem konkreten Fall Roms neuer Herrschaftsanspruch markiert werden, der nicht zuletzt in der Errichtung der Provinz Judäa zum Ausdruck kam.

BRANDSTIFTUNGEN UND PLÜNDERUNGEN

Nahezu sämtliche Formen von Kulturzerstörung sind bereits in der Antike nachgewiesen. Dabei galt Gewalt gegen Kunst eigentlich als barbarisch, und der Kanon der Sieben Weltwunder macht deutlich, dass z.B. die Griechen auch Meisterwerken fremder Kulturen hohe Anerkennung zollten.[1] Höchst unterschiedlich war dabei schon im Altertum die jeweils dahinterstehende Motivation: Geltungssucht, Strafe, Rache, politischer Vernichtungswille oder religiöser Eifer. Da die Liste der Beispiele lang ist, wollen wir uns hier auf einige wenige ausgewählte beschränken.

Es war wohl Geltungssucht, die Herostrat, gewissermaßen den ‹Stammvater› aller Kunstzerstörer, dazu bewog, im Jahre 356 v. Chr. das Artemision, den der Göttin Artemis geweihten Tempel in Ephesos, in Brand zu stecken.[2] Schon der griechische Geschichtsschreiber Theopomp, der darüber berichtete, legte diese Argumentation nahe, wenngleich wir über Herostrats tatsächliche Motive nichts Genaueres wissen. Theopomp war es auch, der uns überlieferte, dass Herostrats Name nach dieser abscheulichen Tat in Ephesos bei Androhung der Todesstrafe nicht mehr genannt werden durfte, er wurde schlichtweg totgeschwiegen. Schlechte Aussichten für jemanden, der als Brandstifter zu einzigartiger Berühmtheit gelangen wollte, wenn dies denn so zutraf und nicht etwa ein durch Folter erpresstes Geständnis oder gar eine eigenwillige Interpretation des Chronisten war, jedenfalls gibt es in der Forschung durchaus auch Zweifel an dieser Deutung.[3]

Längst nicht mehr gewiss ist auch der Kaiser Nero als Wahnsinnstat zugeschriebene Brand von Rom im Jahre 64 n. Chr.[4] Es war wohl nur ein Gerücht, dass Nero selbst es gewesen sein soll, der das Feuer legen ließ, um die Stadt danach neu und noch prachtvoller aufzubauen, wenngleich eine solche Deutung auch nicht gänzlich auszuschließen ist. Wahrscheinlich brach der Brand – Nero war zu jenem Zeitpunkt gar nicht in Rom – durch eine Unachtsamkeit aus und verbreitete sich in Windeseile in der ganzen Stadt. Trotzdem gilt Nero in der Geschichte als der Brandstifter Roms,[5] wer will schon das Unwahrscheinliche heute gänzlich ausschließen. Tatsache ist jedenfalls, dass die angeblich Schuldigen schnell gefunden waren und der Brand als Vorwand für eine grausame Christenverfolgung diente.[6]

Was den Brand der im Altertum weltberühmten Bibliothek von Alexandria betrifft, so herrscht noch nicht einmal über den Zeitpunkt des Ereignisses Gewissheit, geschweige denn über die wahren Hintergründe. Fast 500.000 Schriftrollen sollen damals dort verwahrt worden sein,[7] ein intellektueller Schatz unvorstellbaren Ausmaßes. Einigen Vermutungen zufolge verbrannte die Bibliothek 48 v. Chr., als Caesar sich in Alexandria aufhielt und Cleopatra bei innerägyptischen Auseinandersetzungen um die Thronfolge unterstützte. Dabei soll er in Hafennähe, wo sich auch die Bibliothek befand, in Kämpfe verwickelt worden sein.[8] Gewiss ist dies jedoch keineswegs, ebenso wenig wie der Zusammenhang mit späteren Ereignissen, etwa im Jahre 270, als Aurelian dort gegen Unterstützer des sich von Rom losgesagten Königreichs von Palmyra vorging.[9] Eine dritte Legende geht vom Untergang der Bibliothek anlässlich der Eroberung Alexandrias durch die Araber 642 aus.[10] Kurzum, die Frage nach Zeitpunkt und genauen Ursachen muss ungelöst bleiben.

In der Antike gibt es viele Beispiele für die völlige Zerstörung ganzer Städte einschließlich ihrer Kunstwerke und Kulturschätze, war doch die Plünderung einmal eroberter Städte der Normalfall. Insbesondere nach römischem Verständnis stellte ein solcher Raub auch keine Straftat dar, es galt geradezu als Recht des Siegers, dem Besiegten seine Kunstwerke und andere Güter zu entwenden und frei darüber zu verfügen. Folglich ist die Vorstellung, dass solcher Raub Unrecht sei, vergleichsweise modern. Dabei ging es gar nicht darum, Kunst im Sinne eines ikonoklastischen Akts zu zerstören, vielmehr wurden die Kunstwerke zum Gegenstand politischer Aneignung und Umwidmung und befanden sich in einem Spannungsfeld zwischen Siegestrophäe und aristokratischem Prestigeobjekt. Gerade für die stadtrömische Aristokratie sollte die Integration von geraubten Kunstwerken in den eigenen Bezugsrahmen durch eine Aufstellung im städtischen Raum einen Sieg verewigen, militärische Erfolge über andere Völker dauerhaft memorieren und die Überlegenheit und den Herrschaftsanspruch Roms für jedermann visualisieren.[11]

Zu einer besonders starken Zerstörung kam es in der Regel nur dann, wenn es um Rache ging. Dies war bei der Verwüstung Korinths im Jahre 146 v. Chr. der Fall.[12] Nachdem die Stadt es gewagt hatte, sich gegen Rom zu stellen, wurde sie unter Führung von Lucius Mummius erobert und dem Erdboden gleichgemacht, während ihre Bewohner der Überlieferung zufolge das Schicksal der Sklaverei erlitten. Mummius brachte Unmengen bedeutender Kunstwerke aus der Stadt, darunter viele aus sogenanntem «korinthischen Erz», eine zufällig bei der Brandschatzung Korinths entstandene Legierung aus geschmolzenem Gold, Silber und Bronze. Wenige Jahre später soll Mummius einige dieser Kunstwerke noch Heiligtümern in Griechenland und Italien gestiftet haben.[13] Die Bezeichnung «korinthisches Erz» blieb jedenfalls noch lange der Inbegriff für Metall von besonderem Wert.

Das zweite berühmte Beispiel für die vollständige Vernichtung einer antiken Stadt war der Untergang der punischen Hauptstadt Karthago am Ende des Dritten Punischen Kriegs (149–146 v. Chr.). Ähnlich wie im Falle Korinths wurde auch Karthago erobert, geplündert, dem Erdboden gleichgemacht, die Einwohner wurden versklavt und eine unmittelbare Neubesiedlung an Ort und Stelle wurde verboten. Die Nachrichten darüber sind spärlich, insofern bleibt auch die ganze Wucht der Zerstörung durch die Truppen von Scipio Aemilianus heute schwer nachvollziehbar. Wahrscheinlich war es der unbedingte politische Vernichtungswille Roms, der zu diesem Ergebnis führte.[14]

Ein drittes Beispiel liefert die Zerstörung von Persepolis, der Hauptstadt des Perserreichs, mitsamt ihren Prachtbauten. Im Jahre 330 v. Chr. verwüstete Alexander der Große nicht nur die 520 v. Chr. von Dareios I. gegründete Residenzstadt der persischen Könige, sondern auch die Bewässerungsanlagen in ihrer Umgebung, so dass das gesamte Areal wieder von der Wüste in Besitz genommen wurde.[15] Doch bereits in der Antike selbst war man sich nicht sicher, ob Alexander Persepolis wirklich bewusst plündern, niederbrennen und zerstören ließ. Der Überlieferung zufolge hatte die Stadt Alexander bei seiner Ankunft die Unterwerfung und all ihre Schätze angeboten, um der Vernichtung zu entgehen. Wenn es also nur um die Reichtümer von Persepolis gegangen wäre, um beispielsweise weitere Kriegszüge oder andere Maßnahmen zu finanzieren, hätte er die Stadt nicht brandschatzen müssen. Doch er soll abgelehnt und Persepolis als Revanche für die Zerstörung der Athener Akropolis durch die Perser 480/79 v. Chr. vernichten lassen haben.[16] Für einen Makedonen wie Alexander, der wenige Jahre zuvor noch selbst Kriege gegen Athen und Theben führen musste, um seine Macht unter den griechischen Stadtstaaten durchzusetzen, war dies immerhin ein bemerkenswertes Argument. Folgt man dieser Darstellung, so dürfte es sich hier also weniger um politischen Vernichtungswillen als um eine Zerstörung aus Rache gehandelt haben.

Ein im Hinblick auf die Zerstörung von Persepolis interessantes Detail kam schon bei den Ausgrabungen 1945 zum Vorschein, wurde aber erst wesentlich später in seiner vollen Bedeutung erkannt und veröffentlicht. In einem als «Schatzhaus» bezeichneten riesigen Gebäudekomplex stieß man auf mehrere Fragmente einer griechischen Marmorstatue, die eine sitzende, trauernde Frau darstellte, das Motiv der Penelope aus Homers Odyssee.[17] Bei dem Gebäude selbst, das bei der Eroberung der Stadt von Alexanders Soldaten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war, handelte es sich offenbar um eine Art königliches Archiv, in dem auch diplomatische Geschenke verwahrt wurden. Die Skulptur dürfte um 450 v. Chr. hergestellt worden sein und gelangte vielleicht als diplomatische Gabe von Griechenland aus an den Hof des persischen Königs, der sie in einem der Höfe dieses «Schatzhauses» aufstellen ließ. Als das Heer Alexanders dann ein Jahrhundert später über Persepolis herfiel, stieß man auch auf diese Statue und zerschlug sie wie alle anderen. Die Krieger enthaupteten die Figur der Penelope und schlugen Hände und Füße ab, die sie vielleicht als Souvenirs mit sich nahmen, weil sie sich nirgendwo im Gebäude mehr fanden. Der Torso wurde schließlich umgestoßen und unter dem einstürzenden Gebäude begraben.[18]

Da es nicht der Zielsetzung dieses Buches entspricht, sämtliche aus der Antike überlieferten Plünderungen eroberter Städte zu betrachten, soll die Reihe der wenigen, bewusst ausgewählten Beispiele, die schon in der Antike weithin bekannt waren, mit der Plünderung Roms vom 24. bis 27. August 410 durch die Westgoten unter Alarich enden.[19] Es handelte sich um die erste Eroberung der «Ewigen Stadt», nachdem die Gallier unter ihrem Anführer Brennus 800 Jahre zuvor, 390 v. Chr., in Rom eingefallen waren. Folgt man den spätantiken Quellen, so soll dies eine der «manierlichsten» Plünderungen des Altertums gewesen sein, bei der es geradezu gesittet zugegangen sein dürfte: Die heiligen Stätten der Stadt wurden geschont, das Kirchenasyl respektiert und frommen Römerinnen kein Leid zugefügt. Ob dies wirklich so gewesen ist, mag man mit Recht in Frage stellen, zumal die Nachrichten dazu durchaus dissonant sind.[20]

Tatsächlich aber handelte es sich um keine wirkliche Eroberung, vielmehr wurde eine meuternde Söldnerarmee angeblich durch ein geöffnetes Tor in die Stadt gelassen. Insofern unterschied sich diese Plünderung fundamental von den zuvor beschriebenen in Korinth, Karthago oder Persepolis. Nichtsdestoweniger dürfte die Stadt danach um etliche Reichtümer und Schätze ärmer gewesen sein. Das eigentlich Traumatische für die Zeitgenossen war jedoch die Tatsache, dass die Weltstadt Rom überhaupt in fremde Hände gefallen war, was so etwas wie den «11. September» der Spätantike darstellte, der den Verfall für jedermann sichtbar machte und eine Zeitenwende historischer Größenordnung markierte.[21] Die ideelle und emotionale Wirkung übertraf den materiellen Verlust also bei weitem.

VERDAMMUNG UND TILGUNG

Die demonstrative und systematische Verdammung und Tilgung des Andenkens an eine Person durch die Nachwelt im Sinne einer damnatio memoriae war im Altertum weit verbreitet. Die Namen der Verfluchten wurden dabei aus Annalen und Inschriften getilgt, die Bildnisse entweder zerstört oder zumindest doch die Gesichter unkenntlich gemacht. Bisweilen wurden auch die Grabstätten bekannter Persönlichkeiten ‹vernichtet›. Bemerkenswert ist jedoch eine Beobachtung, die nahezu alle aus dem Altertum bekannten Fälle gemeinsam haben: Es ging nicht wirklich darum, die Erinnerung an bestimmte Personen vollständig aus dem Gedächtnis der Nachwelt zu tilgen, sondern im Gegenteil die Tatsache ihrer Verfluchung ganz bewusst und ostentativ in Erinnerung zu halten. Dazu ließ man kleinere Teile von Inschriften oder Bildwerken absichtlich stehen, damit auch jeder erkannte, wer der Verdammte war.[22]

Mitunter finden sich auch in prähistorischen Kulturen Hinweise auf damnatio memoriae, die also keineswegs nur auf Zivilisationen mit schriftlicher Überlieferung und portraithaften öffentlichen Bildnissen beschränkt war, wenngleich sie sich dort ungleich leichter identifizieren lässt. Einen diesbezüglich geradezu spektakulären Befund lieferte die Untersuchung eines monumentalen Großgrabhügels (Kurgan) bei Barsučij Log in Südsibirien der skythenzeitlichen Tagar-Kultur aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Die etwa 10 m hohe Anlage stellte schon aufgrund ihrer pyramidalen Aufschüttung und ihrer aus gewaltigen Steinplatten errichteten Einfassung eine Besonderheit dar. Der Grabhügel gehörte zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend wahrhaft monumentaler Kurgane zwischen Salbyk und Barsučij Log nördlich der chakassischen Hauptstadt Abakan. Da es in der gesamten Region des außerordentlich fundreichen Minusinsker Beckens am mittleren Jenissei trotz Tausender anderer gleichzeitiger Grabhügel keine weitere Nekropole mit derartig gigantischen Grabbauten gab, vermutet man hier die Begräbnisstätte der Herrscher dieses Gebietes in der Zeit zwischen 700 und 200 v. Chr.[23]

Unter der Westhälfte der Aufschüttung des Großkurgans von Barsučij Log stießen wir bei den Ausgrabungen auf eine hölzerne Grabkammer, die jedoch – wie ein riesiger Trichter in der Aufschüttung darüber bereits vermuten ließ – in späterer Zeit massiv geplündert worden war. Anders als bei einem schlichten Grabraub allerdings war der Holzboden herausgerissen, selbst ein Großteil der Knochen fehlte, und die wenigen verbliebenen waren durcheinandergeworfen und lagen teilweise sogar außerhalb der Grabgrube. Der Befund lässt nur eine Deutung zu: Hier fand eine wüste Zerstörungsorgie statt, bei der das Grab regelrecht vernichtet werden sollte, und zwar für Zeitgenossen und Nachwelt gleichermaßen sichtbar. Zudem ließ sich dieses Ereignis sogar genau datieren: Die Grabschänder deponierten nach der Vernichtung des Grabes einen Hundekopf in der Grube, der über eine Radiokarbonprobe in das 1. Jahrhundert v. Chr. datiert werden konnte und damit in die Zeit der auf Tagar folgenden Tes’-Kultur gehört. Die Hinterlegung von ganzen Hunden oder Hundeköpfen in geplünderten Tagar-Bestattungen, um diese zu schänden und zu entweihen, gilt als charakteristisch für die Träger der Tes’-Kultur,[24] die mit den Xiongnu in Verbindung gebracht werden, einer an der nördlichen Peripherie Chinas beheimateten Ethnie. Auf jeden Fall handelte es sich dabei um einen gänzlich anderen, in der Zeit ab 200 v. Chr. ins Minusinsker Becken von Südosten aus einströmenden Personenverband. Es spricht einiges dafür, dass diese neu eingedrungenen Gruppen anscheinend gezielt die ‹Königsgräber› der früheren Herrscher dieser Region, die auch Erinnerungsorte waren, öffneten und plünderten, ja regelrecht vernichteten, wohl um damit die sakrale Macht der bisherigen Herren vor den Augen der Bevölkerung zu brechen und ihre eigene wirkungsvoll zu implantieren.

Noch eindeutiger sind die aus schriftlichen Kulturen bekannten Fälle von damnatio memoriae. So verging man sich auch im pharaonischen Ägypten immer wieder an Gräbern, wenn sie Erinnerungsmonumente ihrer Zeit waren und die Bedeutung der in ihnen bestatteten Persönlichkeiten für die Ewigkeit sichtbar halten sollten. Gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. kam es zum Zusammenbruch des Alten Reichs, in dessen Zuge die herrlichen Grabbauten der größten Herrscher jener Zeit Opfer wahrer Zerstörungsorgien wurden und viele dabei der gänzlichen Vernichtung anheimfielen, um genau diese Erinnerung für die Ewigkeit zu brechen.[25]

Bekanntestes Beispiel einer Namenstilgung in Altägypten war Hatschepsut (etwa 1479–1458 v. Chr.), Königin der 18. Dynastie und Gemahlin von Thutmosis II. Nach dessen Tod war Thutmosis III., sein Sohn aus der Verbindung mit einer Nebenfrau, rechtmäßiger Nachfolger, doch aufgrund seines kindlichen Alters übernahm Hatschepsut die Regentschaft und gab sie bis zu ihrem Tod nicht wieder ab. Ihre Regierungsjahre zählen zu den Blütezeiten der ägyptischen Geschichte.[26] Unter anderem begann sie mit der Anlage monumentaler, im Inneren reich mit Bildern verzierter Felsgräber in Theben-West («Tal der Könige» und «Tal der Königinnen»), wo auch sie sich ihre letzte Ruhestätte einrichten ließ. Nach ihrem Tod wurden ihre Namenskartuschen auf zahllosen Reliefs und Statuen unkenntlich gemacht, die Erinnerung an sie sollte für alle sichtbar getilgt werden.[27] Zunächst hielt man Thutmosis III. für den Verursacher, weil sie ihn um den Thron gebracht hatte, doch scheint diese Erklärung längst nicht mehr sicher. Auch spätere Zerstörungen werden in Betracht gezogen, möglicherweise um eine durchgehende männliche Erbfolge für die offizielle ägyptische Überlieferung zu konstruieren.

Das Wandrelief stammt vom Totentempel der Hatschepsut, der in der 18. Dynastie nahe der antiken Stadt Theben in Oberägypten errichtet wurde (1. Hälfte 15. Jahrhundert v. Chr.) und Teil der Totenstadt Deir el-Bahari ist. Links ist der Umriss einer Figur erkennbar: Das Bildnis der Hatschepsut ist herausgemeißelt worden und somit erkennbar der damnatio memoriae anheimgefallen. Hatschepsut regierte als erster weiblicher Pharao.

Mag Hatschepsuts Rolle als erste glanzvoll herrschende Frau auf dem Pharaonenthron für die damalige Zeit revolutionär gewesen sein, so war es Echnatons ebenfalls zur 18. Dynastie zählende Regierungszeit (ca. 1351–1334 v. Chr.) allemal, in der dieser Pharao die Hauptstadt kurzerhand in das neu gegründete Achetaton (Amarna) verlegte, dort in Rekordzeit eine gigantische Stadt aus dem Wüstensand stampfte und überdies gegen den Willen vieler erstmals einen Monotheismus einführte, dem zufolge nur mehr Aton angebetet werden sollte. Seine Herrschaft war mit zahlreichen grundlegenden Neuerungen verbunden, besonders in der Kunst: Diese sollte die Wirklichkeit abbilden und Schematisierung und Standardisierung durch lebensnah Portraithaftes ersetzen, wie dies die berühmte Büste seiner Gemahlin Nofretete am deutlichsten zum Ausdruck bringt.

Dennoch war Echnaton schon damals ob seiner grundstürzenden religiösen Neuerungen eine höchst umstrittene Herrscherpersönlichkeit. Seine Maßnahmen hatten für einen Großteil der Priesterschaft den Verlust von Privilegien zur Folge, es kam zu Tempelschließungen, zur Beschlagnahmung von Gütern und Bildnisse anderer Götter und deren Kultstätten verfielen, was ihm den Beinamen «Ketzerpharao» einbrachte.[28] Hinzu kam ein wirtschaftlicher Niedergang. Seine kurze Regierungszeit konnte jedoch mit dem Althergebrachten nicht endgültig brechen. Die alten Kulte wurden insgeheim weitergeführt und blühten nach dem Tode Echnatons sofort wieder auf. Seine Herrschaft war nicht mehr als eine, wenn auch bemerkenswerte, Episode in der altägyptischen Geschichte.[29]

So wie Echnaton jedoch seine Ziele durchzusetzen versuchte, indem er den Namen des Gottes Amun und selbst den seines Vaters Amenophis III. aus Inschriften und von Denkmälern tilgen ließ,[30] erging es ihm selbst nach dem Ende seiner Herrschaft; denn auch sein Name wurde beseitigt,[31] allerdings bei weitem nicht mehr mit der Systematik, die ihn selbst auszeichnete. Echnaton trachtete nämlich danach, den Absolutheitsanspruch des neuen Gottes Aton so wirkmächtig durchzusetzen, dass er den Namen Amun auslöschte, wo immer er ihn antraf, etwa an den bedeutenden Tempeln von Luxor und Karnak.[32] Gleichzeitig zerstörte er, soweit er konnte, auch die bis dahin in Theben-West angelegten Gräber der Eliten des Neuen Reichs (ab etwa 1550 v. Chr.).[33]

Viele andere Beispiele für damnatio memoriae im pharaonischen Ägypten ließen sich noch hinzufügen, die genannten sind lediglich die bekanntesten. Zentrale Strategie des «Vergessenmachens» war dabei die Tilgung der Namen, indem man insbesondere an öffentlichen Denkmälern und Orten die entsprechenden Namenskartuschen zerstörte oder sie unlesbar machte. Selbst in jenen Fällen, in denen man die Grabstätten verwüstete, war es entscheidend, etwa auf Sarkophagen die Namenshieroglyphe entweder gänzlich auszulöschen oder zumindest zu entstellen.[34] Letzteres geschah wahrscheinlich vor allem dann, wenn die Nachwelt – womöglich als Warnung – durchaus daran erinnert werden sollte, wer hier in Ungnade fiel und verteufelt wurde.

Auch im Alten Orient war die Zerstörung oder Verstümmelung von Namen und Texten ein höchst probates Mittel, um jegliche Erinnerung an Personen auszulöschen.[35] Dies unterstreicht umgekehrt aber auch, welche Wirkkraft gerade in frühen schriftführenden Kulturen Namensnennungen im öffentlichen Raum zugekommen sein muss. Jedenfalls ist die Schrift nicht minder häufig das Ziel der Vernichtung wie das Bild, was bereits in sumerischer Zeit zu beobachten ist.[36]

Eine besondere Epoche in der mesopotamischen Geschichte beginnt mit Sargon, der das Reich von Akkad als dessen erster König im 24. oder 23. Jahrhundert v. Chr. begründete. Die Erinnerung an die akkadischen Herrscher lebte nach dem 3. Jahrtausend v. Chr. noch lange fort und wurde durch Inschriften, Texte und Standbilder wachgehalten. In den folgenden Jahrhunderten kam es dabei immer wieder zu Versuchen einer damnatio memoriae, indem man entsprechende Texte oder Inschriften eliminierte oder an die akkadischen Könige erinnernde Bilder verunstaltete, verstümmelte oder gänzlich vernichtete.[37] Interessanterweise lassen sich dabei durchaus regional unterschiedliche Formen beobachten: So kam es im sumerisch geprägten Süden Mesopotamiens mit den Zentren Uruk und Ur häufiger zur Zerstörung von Texten, Inschriften und Standbildern, während im assyrischen Norden deren Verstümmelung vorherrschend war.[38] Hier ist nicht der Ort, auf diese Fragen ausführlicher einzugehen, doch zeigen die Beobachtungen, dass sowohl in Altägypten als auch in Mesopotamien verschiedene Formen von damnatio memoriae weit verbreitet waren und ihre umfassendere Untersuchung ein höchst lohnendes Forschungsfeld wäre.

Angriffe auf das kollektive Gedächtnis der jeweiligen Zeit gab es aber auch in der Folge militärischer Eroberungen von Städten und Reichen, wenn deren emblematische Kerne regelrecht ausgelöscht wurden. Dabei handelte es sich um Versuche, durch eine systematische Zerstörung von Erinnerung Geschichte umzuschreiben und die darauf aufbauende Gegenwart neu zu gestalten. Die Vernichtung von Kunstwerken und anderen kulturellen Zeugnissen spielte in solchen Fällen in der Regel eine zentrale Rolle. Interessant ist dies insofern, als das Ausradieren von Symbolen der Unterlegenen und damit der Erinnerung an sie keinesfalls die zwangsläufige Folge einer Niederlage war. Kriegerische Auseinandersetzungen gab es seit der Antike reichlich, sie sind schier unzählbar, und meist nahmen im Zuge solcher Kämpfe auch Kunst- und Kulturgüter Schaden. Und doch ist dies in den meisten Fällen nicht gezielt und systematisch geschehen. Die Fälle aber, in denen es sich absichtsvoll so ereignet hat, verdienen genauere Betrachtung.

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