Joachim Campe
Die hellen und die dunklen Jahre
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Lektorat: Veronika Roman, Köln
Satz: Mario Moths, Marl
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Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-8062-3671-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3713-9
eBook (epub): 978-3-8062-3712-2
Einleitung
Rossini erfindet sich selbst
Vivazza
Ein Wunderkind
Das Regno d’Italia
Erfolg
Amelia Belgiojoso
Die ersten Meisterwerke
Neapel oder zwischen den Zeiten
Das Teatro San Carlo
Die Ängste der Desdemona
Urlaub auf Ischia
Mosè
Revolution
Abschied
Europa oder Rossini und die große Oper
Wien
Paris
London
Der Intendant Rossini
Die Grand opéra
Mania
Wende
Olympe Pélissier
Rückzug nach Italien
Die dunklen Jahre
Wieder in Paris
Die Rossinis etablieren sich
Samedis soir
Petite Messe solennelle
Tod
Anmerkungen
Bibliografie
Abbildungsnachweis
Personenregister
Werkregister
Gioacchino Rossini, 1861.
Rossini war ein großer Anekdotenerzähler, wie viele Zeitgenossen berichten – er war gesellig, plauderte gern und wusste immer eine neue Geschichte zu erzählen. Nicht erst als er 1858 in Paris seinen musikalischen Salon eröffnete, schon der junge Rossini liebte die Anekdoten, und so sind von ihm mehr als von jedem anderen Komponisten überliefert. Viele sind verbürgt. So die Geschichte von dem Sechzehnjährigen, der mit dem venezianischen Marchese Cavalli aneinandergeriet. Cavalli hielt eine Sängerin in Senigallia aus, das südlich von Rossinis Geburtsstadt Pesaro liegt. Der halbwüchsige Komponist, der als maestro al cembalo die Oper dort begleitete, erdreistete sich, die Sängerin wegen ihrer falschen Töne herunterzuputzen. Cavalli zitierte den jungen Musiker zu sich und wurde ausfallend, aber Rossini ließ sich nichts bieten – Musik war immer noch Musik. Die Auseinandersetzung hatte ein seltsames Nachspiel. In Venedig leitete nämlich ausgerechnet Cavalli das Teatro San Moisè, an dem Rossini später seine erste Premiere hatte. Cavalli wird sich gut erinnert haben, aber er sagte nichts. Andere Geschichten sind so pikant, dass man den Verdacht hegen könnte, sie seien der gesalzenen Pointe zuliebe erdacht worden. So pflegte Rossini zu erzählen, einer seiner Onkel habe vorgeschlagen, ihn kastrieren zu lassen – die Familie hätte dann ein sicheres Einkommen gehabt, da er als Knabe wunderschön sang. Es gibt unter den Rossini-Anekdoten aber auch Geschichten, die nicht recht glaubhaft sind. Etwa dass er während eines Gesprächs mit dem Bankier Aguado über den spanischen Kapitalmarkt eine Komposition vollendet habe. Reiz haben aber alle Anekdoten, und der Komponist und Musikschriftsteller Ferdinand Hiller, der die Gespräche mit Rossini, die er 1855 in dem Seebad Trouville führte, zu seinen Plaudereien mit Rossini verarbeitete, gab ihm den Rat: „Sie müßten einmal jemandem ihre Biographie in die Feder diktieren, die Einzelheiten eines so reichen Lebens dürfen nicht verlorengehen.“1 Freilich hoffte Hiller darauf, dass es nicht bei Anekdoten bleiben werde, sondern dass Rossini einmal jemand finden werde, der ihn „aushorche“ wie eine „geheime Polizei“, also einen roten Faden finde in all den Geschichten.
Inzwischen weiß man sehr viel mehr. Zwischen 1927 und 1929 erschien der dreibändige Rossini von Arturo Radiciotti, und 1981, nicht ganz so monumental, aber genauso gehaltvoll, Herbert Weinstocks Biografie. 1992 kam der erste Band der kritischen Brief-Edition der Fondazione Rossini heraus – man kann nur bedauern, dass sie 1830, nach der ersten Lebenshälfte, abbricht. Doch trotz all dieses aufgespeicherten Wissens hat man den inneren Zusammenhang, den Hiller meinte, immer noch nicht gefunden, der Mensch Rossini ist nicht deutlicher geworden als damals.
*
Rossini, 1792 geboren, wuchs in einer Zeit der heroischen Großereignisse auf: der Napoleons. Sie war der Geschichtsphilosophie günstiger gesonnen als den Anekdoten, auf die Rossini so versessen war. Dabei war ihm das Neue nicht unsympathisch, denn es brachte frischen Wind nach Italien; der Vater war außerdem geschworener Anhänger Napoleons. Trotzdem haben die meisten Biografen die Zeit, die dem Werk das Thema stellt, nicht nachdrücklich genug behandelt: die französische Besetzung, die Norditalien veränderte. Eine neue Zeit brach an, und Rossini wurde ihr Komponist.
Rossini war gewiss kein bonapartistischer Ideologe, aber seine Opern verraten doch den neuen Geist. Das 19. Jahrhundert, dem die napoleonische Moderne näher war, scheint das halbwegs empfunden zu haben – es wusste zumindest, dass Rossini die Menschen begeisterte, weil er die Musik schrieb, die die Zeit wollte. Hiller schreibt in seinem Nachruf, Rossini habe „einen fast mythischen Rausch“2 über Europa gebracht. Diese Euphorie wurde gewiss von den Kunstwerken ausgelöst, aber das Publikum muss auch innerlich bereit gewesen sein. Das sagt viel über die Zeit. Rausch ist nicht gleich Rausch, jeder hat seine eigene Bedeutung – der, in den Rossinis Musik versetzt, glorifiziert die ungehemmte Lebenskraft, das bürgerliche Prinzip par excellence, das in krassem Widerspruch steht zu allen Herrschaftsideologien des Ancien Régime.
Dem Erschaffen des Rauschzustandes dienen viele kompositorische Mittel Rossinis, die nach ihm benannten Crescendi etwa, und ekstatisch gebraucht er gelegentlich auch die Kunst des bel canto. Wir verbinden den Zug zum Rauschhaften vor allem mit den Buffoopern. Zu Unrecht. Als Rossini 1826 in Paris seine erste Grand opéra Die Belagerung von Korinth auf die Bühne brachte, ging es auch um Rausch – man hört denn auch immer wieder Anklänge an die buffa von einst. Allerdings ist der Rausch, den er in der Belagerung von Korinth schildert, furchtbar, denn es ist der der Gewalt: des Tötens und Niederbrennens. Doch das Hochgefühl Figaros, der das Faktotum seiner Stadt sein will, also derjenige, der alles regelt und zur geheimen Nummer eins wird, und das von Mahomets Soldateska, die Korinth erobert und niederbrennt, sind nicht völlig verschieden – um den Beweis von Kraft geht es Figaro und den Osmanen. Rossini hatte ein illusionsloses Bild vom Menschen. Ob er zerstört oder aufbaut, ist ihm gleichgültig, die Hauptsache ist, er beweist seine Kraft.
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Kraft ist freilich nur die eine Hälfte der menschlichen Realität. Dass Rossini auch das Leid sah, widerspricht dem Klischee vom kühlen Weltmann – aber er war nicht nur das, er verstand es auch, zu „predigen“3, wie Mendelssohn in einem Brief an seine Mutter schrieb. Seine Zeit, das 19. Jahrhundert, sprach gern von den Erniedrigten und Beleidigten, und auch Rossini tat das gelegentlich. Überraschend beredt verleiht er schon im Mosè von 1818 dem Gefühl der Unterdrückten Ausdruck – es sind allerdings Unterdrückte, wie auch die Bibel sie kennt: die Kinder Israels, die Pharao versklavt. Das mochte auch der König von Neapel durchgehen lassen, für dessen Opernhaus Rossini damals komponierte. Fast klingt es nach depressiver Verstimmung, was der Chor in der Eingangsszene singt. Jedenfalls schreit es nach Entbürdung und Erlösung, die Rossini noch hinreißender komponiert hat als den dumpfen Schmerz des Beginns: Wenn das Rote Meer zurückweicht und die Israeliten hindurchlässt, singt Mosè eine schlichte und eingängige preghiera. Alles Leid hat ein Ende, alle Wunden sind geheilt. Ähnlich – nur politischer – der Tell von 1829, dessen Schlussapotheose um das Wort liberté kreist. Der liberale Freiheits- ist eigentlich ein Erlösungstraum.
Doch es gibt auch unheilbares Leid, Rossini wusste das aus eigener Erfahrung. Er litt an Urethritis, die er sich bei seinen Bordellbesuchen zugezogen hatte, und – was schlimmer war – auch an Depression, die man damals noch nicht behandeln konnte; die Psychiatrie hatte noch nicht einmal einen Begriff dafür. Die Berichte der Zeitgenossen sind vage. 1831 scheint sich das Leiden freilich so zugespitzt zu haben, dass er sich von der Opernbühne zurückziehen musste; schließlich hätte er feste Termine nicht mehr einhalten können. Die Verarbeitung des unheilbaren Leidens erforderte andere gedankliche und musikalische Mittel als die von der Oper gewohnten – begreifen ließ es sich nur religiös und künstlerisch gestalten nur in geistlicher Musik, deren strikte Regeln Rossini in seiner Studienzeit in Bologna gelernt hatte. Vielgespielt bis heute das Stabat mater, das er 1841 vollendete, und die Petite Messe solennelle von 1864, die leider immer noch ein Stiefkind des Musikbetriebs ist. Darin bedient er sich auch traditionell konstruierender Techniken wie der Polyphonie, die dem „mythischen Rausch“ strikt zuwiderlaufen. Die höhere Ordnung, die Rossini in seinen geistlichen Werken beschwört, lässt keine menschliche Kraftbekundung zu, und sie kennt nur die Erlösung im ursprünglichen Sinn.
Rossinis Werk ergibt so wenig eine bruchlose Einheit wie seine Biografie. Er war ein weltlicher, ja höchst weltlicher Mensch, aber je älter er wurde, auch ein entschiedener Christ. Er war kein Frömmler, das ist bei einem Plauderer und Anekdotenerzähler auch gar nicht vorstellbar, aber es gibt doch einige (und gern übersehene) Briefe Rossinis zu religiösen Themen. Und es ist nicht nur eine Schrulle des Alternden, dass er viele Briefe mit einem Laus deo zu beenden pflegte, also: Gelobt sei Gott.
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Eine weitgespannte Konzeption, die freilich ausklammert, was seit jeher im Zentrum der Oper gestanden hatte: die Liebe. Gewiss, da ist Lindoros schwärmerisches Languir per una bella aus der Italiana in Algeri, das bis heute alle Tenöre lockt, und im Mosè hören wir die erotische Zwiesprache zwischen Osiride und Elcia. Doch das alles bleibt Oberfläche. Die Liebe kann in Rossinis Opern die Alltagsrealität unterbrechen und für einen unvergesslichen Moment sorgen, aber die Tiefen, die Verdi im Don Carlos oder im Otello erreicht, gibt es nirgends. Es ist, als habe Rossini die Verstrickung ineinander nicht interessiert – die erlösende Macht der Liebe, an der sich die anderen Komponisten des 19. Jahrhunderts abarbeiteten. Rossini musste sich wegen seines offensichtlichen Desinteresses schon von den Zeitgenossen Kritik anhören. Sinnenzauber und mythischer Rausch reichten nicht allen. So befand etwa Giuseppina Strepponi, Verdis Lebensgefährtin, Rossini sei kalt und gefühllos4, und Nikolaus Harnoncourt hat diese Kritik 2007 im SPIEGEL wiederholt: Er bewundere den Könner Rossini, doch es sei schon erstaunlich, dass dieser Mann während seines langen Lebens keinen einzigen „Herzenston“ zustande gebracht habe. Und das Werk scheint zu beweisen, was Harnoncourt ihm vorhält: Rossini war kein Gefühlsmensch, obwohl er zweimal verheiratet war und den Schutz, den die Ehe bieten kann, sehr wohl erfuhr. Emphatischen Ausdruck haben aber selbst die Gefühle für seine zweite Frau Olympe, an der er sehr hing, nicht gefunden. Die Musique anodyne, sechs Lieder, die er ihr 1857 widmete, sind, wie der Titel sagt: belanglos.
Männer und Frauen hat Rossini scharf umrissen auf die Bühne gebracht, Rosina und Almaviva aus dem Barbiere di Siviglia sind wohl die bekanntesten Beispiele. Aber die Liebe war nicht Rossinis Thema. Seine Themen waren Krankheit und Gesundheit, die individuelle wie die kollektive.
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Mit Veränderungen in der Kunst konnte Rossini nichts anfangen. Scheinbar jedenfalls. Er brachte 1868, kurz vor seinem Tod, in einem Brief an Filippo Filippi, den Redakteur einer Mailänder Musikzeitschrift, seinen Horror vor allem Modernen zum Ausdruck: Die Zukunftsmusik, um die sich Berlioz und Wagner mühten, sei nichts für ihn – ihm drehe sich der Magen um, wenn er von „Fortschritt, Dekadenz, Zukunft, Gegenwart, Konventionen“5 lese, schrieb er. Innerer Fortschritt sei Unsinn und Kunst etwas Überzeitliches. Musik sei Melodie und Rhythmus, im Fall der Oper komme noch die declamazione hinzu, die psychologisch stimmige und sinngenaue Artikulation der Texte – verboten sei nur, was langweile. Das sei alles, und damit Punktum.
Aber Veränderung gab es dennoch, nur musste der Anstoß von außen kommen. Er musste historisch sein. Der Bürger des napoleonischen Norditalien wollte eine andere buffa hören als Jahrzehnte zuvor der Untertan des Königs von Neapel; was man um 1780 spritzig fand, langweilte dreißig Jahre später – jedenfalls schien Rossini die Musik Paisiellos, der 1786 einen ersten Barbier komponiert hatte, antiquiert und banal.6 Gar so überzeitlich war auch die Sprache der Oper nicht. Rossini wusste das.
Freilich kam alle Veränderung von außen, und auch in Rossinis Leben griff dieses Äußere immer wieder ein. Man findet seine Spur in den Werken, hin und wieder auch in den Briefen und in zuweilen überraschenden Lebensentscheidungen. Es gibt Anhaltspunkte genug. Folgt man ihnen, ordnen sich die Widersprüche in Leben und Werk wie von selbst. Dem Ideal einer „geheimen Polizei“, wie Hiller formuliert, kommt man als Biograf gewiss nicht nahe, da sie auch Dokumente über das Innere braucht, die verborgenen Gefühle dessen, hinter dem sie her ist. Hillers Wunsch, Rossini möge irgendwann seinen Lebensdetektiv finden, hat sich bis heute nicht erfüllt, und da er ein mehr als diskreter Briefschreiber war, wird es wohl auch nie jemanden geben, der ihn von innen heraus verstünde. Man muss versuchen, ihn vom Äußeren her zu verstehen: der historischen Realität, in die der leidenschaftliche Zeitgenosse immer wieder verstrickt wurde. Immerhin gewinnt man durch den Weg über das Außen, die dauernd eingreifende Geschichte, Raum für den Versuch, Rossinis Leben neu zu erzählen.
Anna und Giuseppe Rossini.
Vivazza
Giuseppe Rossini war ein unruhiger Mann. Ende 1788 verließ er seine Heimatstadt Lugo, einen kleinen Ort östlich von Ravenna, wo er Stadttrompeter war – also Fanfare blies und die Verlautbarungen der Obrigkeit vorlas. Einen trombetta gab es in jeder Stadt, denn lesen konnten nur wenige. Giuseppe Rossini verdiente in Lugo nur mäßig, und er dachte daran, sich zu verbessern. Ihn lockte Pesaro. Die Hafenstadt südlich von Rimini war reicher als das verschlafene Lugo, sie konnte sich sogar eine eigene Oper leisten, das Teatro del Sole; dort wollte Giuseppe Rossini das Horn spielen, sein eigentliches Instrument. Und er machte Eindruck bei den Aufführungen. Als er sich nach dem Ende der Saison um die Stelle eines Stadttrompeters bewarb, hielt ihn der Rat freilich hin. Enttäuscht zog Giuseppe Rossini weiter nach Ferrara, wo er in der Militärkapelle das Jagdhorn blies. Doch in Pesaro entwickelten sich die Dinge schneller als gedacht – Luigi Ricci, der zweite Stadttrompeter, bot Rossini an, seine Stelle zu verkaufen. Der neue Verwaltungschef reagierte allerdings empört auf solche Machenschaften und ernannte Rossini am 29. April 1790 zum neuen trombetta von Pesaro. Er war ein Hitzkopf, das trug ihm seinen Spitznamen ein: Vivazza. Den Frauen gefiel das – zumindest einer, der Bäckerstochter Anna Guidarini, die im selben Haus wohnte wie er. Auch sie war musikalisch. Obwohl sie keinen professionellen Gesangsunterricht genossen hatte, trat sie hin und wieder in der Oper auf. Die beiden wurden rasch ein Paar, und schon bald wurde Anna schwanger. Ehe es zu spät war, heirateten Giuseppe und Anna, und im Februar 1792 wurde das erste Kind geboren. Die schmerzhaften Wehen seiner Frau sollen Vivazza in solche Unruhe versetzt haben, dass er ins Nebenzimmer flüchtete und bei jedem Schrei seiner Frau die Statue eines Apostels köpfte. Dann, am 29. Februar 1792, war Gioachino endlich da.
Die Rossinis wohnten im zweiten Stock eines schmalen Hauses in der Via del Duomo, und Gioachino wuchs auf engstem Raum auf. Gleichwohl war seine frühe Kindheit glücklich, denn die Unruhe des Vaters war verflogen, und die kleine Familie hing in großer, ja überschwänglicher Liebe aneinander. Die zahlreichen Briefe an die Mutter, die Rossini als Erwachsener schrieb, sind ein Beleg dafür.
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Die Zeit war freilich unruhig geblieben. Mit einer zahlenmäßig unterlegenen Armee stieß Napoleon im April 1796 in Richtung Genua vor. Er schlug die piemontesisch-österreichische Armee, worauf Vittorio Amadeo III. von Sardinien einen Waffenstillstand schließen musste. Napoleon rückte weiter vor, südlich von Mailand traf er auf die Österreicher. Der bravouröse Angriff auf der Brücke von Lodi erzwang den Übergang über die Adda und drängte die Österreicher nach Süden ab. Napoleon sorgte dafür, dass zahlreiche Stiche von dem Heldenstück in Umlauf kamen – er selbst, die Trikolore in der Faust, der Truppe über die noch von Österreichern gehaltene Brücke voranstürmend, Ikone einer ganzen Epoche. Am 15. Mai zog er in Mailand ein und versprach den versammelten Honoratioren eine Neuordnung Norditaliens: Die Lombardei werde Republik werden und Teile der päpstlichen Romagna erhalten. Das hörte man natürlich gern. Tatsächlich ermunterte Napoleon den Magistrat in Bologna und Ferrara, sich vom Kirchenstaat loszusagen und der Cisalpinischen Republik beizutreten. Dafür musste die Lombardei indessen zahlen. Napoleon erlegte ihr hohe Kontributionen auf, denn die Pariser Kriegskassen waren leer. Räuberei und Willkür stießen viele Italiener ab, und der Historiker Johannes Willms urteilt, aus dem zuerst „bejubelten Befreier“ sei in wenigen Tagen ein „Prokurator des Schreckens“7 geworden. Dazu kam die Feindschaft des Klerus gegen das gottlose neue System. Das veränderte das Land, und im vorher so friedlichen Italien standen sich Republikaner und Klerikale feindselig gegenüber. Auf welcher Seite Giuseppe Rossini stand, versteht sich.
Auch in Pesaro, das zum Kirchenstaat gehörte, marschierten die Franzosen am 5. Februar 1797 ein. Es gab keinen Widerstand – vielmehr beeilte sich die Verwaltung, dem neuen Mann zu huldigen. Napoleon kam schließlich auch selbst. Er wollte die päpstlichen Städte nicht völkerrechtswidrig annektieren, und sein Gastgeber, der einflussreiche Graf Mosca, half ihm bei seinem Plan, die Stadt wie Bologna und Ferrara auf dem Vertragsweg der neuen Cisalpinischen Republik einzugliedern. Giuseppe Rossini war begeistert – er hing ein neues Namensschild an seine Tür: „Wohnung des Bürgers Vivazza, eines wahren Republikaners“, und als auf der Piazza unter schmissigen Klängen ein Freiheitsbaum errichtet wurde, dirigierte er das Orchester. Die „Patrioten“ gingen einen Schritt weiter: Sie bewaffneten sich, vertrieben die päpstlichen Soldaten und setzten einen neuen Rat ein, der für die Vereinigung Pesaros mit der Cisalpinischen Republik stimmen sollte. Am Beitrittstag übte Giuseppe Rossini sein Amt mit besonders patriotischem Eifer aus. Die Gazetta di Pesaro meldete, dass die Einwohner schon in der Frühe von „den Tönen der Trompete geweckt worden [seien, d. Verf.], die der hervorragende Patriot Rossini vor ihren Häusern blies“8. Eigentlich hätte Giuseppe Rossini zufrieden gewesen sein müssen. Trotzdem beschloss er 1798, sein Amt aufzugeben und zusammen mit seiner Frau auf Operntournee zu gehen. Es war wohl nicht die wieder aufkommende Unruhe, die ihn trieb, sondern auch die Furcht vor den instabilen Verhältnissen. Wenn die Klerikalen wieder an die Macht kamen, würden sie sich für sein patriotisches Trompeten rächen.
1799 wurde er tatsächlich ein Opfer der Politik. Da Napoleon und seine Armee in Ägypten waren, ließen sich die Österreicher auf ein Bündnis mit England und Neapel ein und riskierten einen Angriff in Italien. Außerdem drang eine russische Armee vor und sorgte dafür, dass die päpstliche Herrschaft wiederhergestellt wurde. Giuseppe Rossini wurde in Bologna verhaftet und wanderte durch die Gefängnisse von Imola, Cesena und Rimini, ehe er nach Pesaro gebracht wurde, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Doch sein Idol rettete ihn. Ende 1799 war Napoleon zurück in Paris, überquerte mit seiner Armee zur allgemeinen Verblüffung die Alpen und stellte durch den Sieg bei Marengo in Norditalien die alten Verhältnisse wieder her. Darauf dachte man auch in Pesaro um und ließ den inzwischen gar nicht mehr so feurigen Vivazza frei. Patriotismus hin, Patriotismus her – Giuseppe Rossini war endgültig von der Politik kuriert, und mit seiner Frau nahm er das Wanderleben von Bühne zu Bühne wieder auf.
Finstere Jahre allerdings für Gioachino, der sich nach dem festen Zusammenhalt der kleinen Familie in der Via del Duomo sehnte. Sie schien aber nicht mehr zu existieren, jedenfalls ließen die Eltern ihn nun oft wochenlang allein, nur eine Großmutter sah nach ihm. Auch seine Ausbildung litt – die Schreib- und Leseübungen, die ihm ein Franziskaner erteilte, fesselten ihn ganz und gar nicht, lieber zog er mit Freunden umher und machte die Stadt unsicher. Wie es dabei zuging, hat Francesco Genaro, einer seiner kindlichen Spießgesellen, 1865 bezeugt; er schrieb ihm: „Im Nacken habe ich noch die verheilte Wunde, die durch einen von Ihrer erlauchten Exzellenz nach mir geworfenen Stein verursacht wurde. Dies geschah zu der Zeit, als es dir Spaß machte, in die Sakristeien einzubrechen, um die Meßkännchen zu leeren, und als du eher ein Problem als ein Vergnügen für die Welt warst.“9 So konnte das nicht weitergehen, und um Gioachino zur Raison zu bringen, verdonnerten ihn die Eltern, beim Schmied den Blasebalg zu treten. Doch das beeindruckte Gioachino nicht. Er wurde nicht fleißiger und ließ auch nicht von seinen Dummjungenstreichen. Darauf probierten die Eltern ein stärkeres Mittel und gaben ihn zu einem Schweineschlachter nach Bologna, der dafür sorgen sollte, dass der Priester ihn Rechtschreibung lehrte und der Cembalist des Teatro Communale ihm ersten Musikunterricht gab. 1801 nahmen die Kindheitswirren aber dann doch ein glückliches Ende. Der Vater erhielt eine Professur für Jagdhorn am Konservatorium von Bologna und konnte sich nun selbst um seinen Sohn kümmern. Vor allem unterrichtete er ihn auf seinem Instrument, dem Horn, und diesmal reagierte Gioachino anders als auf all die früheren pädagogischen Experimente: Er übte fleißig, und wenn das Horn eine auffällige Rolle in seinen Partituren spielt, von der Italiana in Algeri bis zum Tell, mögen Jugenderinnerungen mitgespielt haben.
1802 gaben die Rossinis ihr Wanderleben auf. Den Anstoß gab ein bizarrer Theaterskandal im Teatro Nuovo10 in Triest. Auf dem Spielplan stand die Semiramis von Sebastiano Nasolini; der Stoff war beliebt bei den Komponisten, die Geschichte ist schaurig-schön. Auf dem Höhepunkt des ersten Aktes, als Semiramis vom Geist ihres ersten Mannes verfolgt wird, den sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber ermordet hat, geschah es – als die Grassini, die die Semiramis sang, zu ihrer großen Arie ansetzen wollte, „konnte man zwischen dem lauten Beifall ein Zeichen der Mißbilligung hören“, wie es in einem anonymen Bericht heißt.11 Die Grassini wurde ohnmächtig, der Vorhang fiel, und vergebens versuchte man, das Publikum mit einem Ballett zu beruhigen. Aller Ärger kehrte sich nun gegen Anna Rossini, der die Fans der Grassini die Schuld gaben. Im zweiten Akt empfing Anna Rossini sogar ein Pfeifkonzert, woraufhin sie sich ebenfalls zu Boden fallen ließ. Damit war die Opernkarriere der Rossinis beendet. Sie gaben ihre Wohnung in Pesaro auf und zogen zurück nach Lugo, wo der Vater ein kleines Haus geerbt hatte. Gioachino dürfte das gefallen haben. Lugo mochte langweilig sein, aber der Familienfrieden war wiederhergestellt.
Ein Wunderkind
Ausgerechnet in Lugo bekam Gioachino zwei Lehrer, die ihn tiefer in die Musik einführten, als es der Vater gekonnt hätte: Don Giuseppe Malerbi und seinen Bruder Luigi, die das Civico Liceo musicale leiteten. Gioachino besuchte es seit 1802; außerdem unterrichteten die Malerbi ihn auch privat.12 Sie standen weit außerhalb der Welt Giuseppe Rossinis, denn sie waren schwerreiche Domherren und damit Stützen des Ancien Régime. Man weiß nicht, was er dazu sagte, dass sein Sohn immer mehr Zeit im Palazzo Malerbi verbrachte, schließlich war er einmal geschworener Feind der alten Gesellschaft gewesen. Freilich ließ sich viel zugunsten der Malerbi sagen: Sie hatten die Musikschule gegründet, die jedermann besuchen konnte, und vor allem kümmerten sie sich nun um seinen Sohn. Giuseppe Malerbi gab Gioachino hauptsächlich Gesangsunterricht, der rasch anschlug: Sein brillanter Knabensopran erlaubte ihm schon bald, öffentlich aufzutreten. Man darf nie vergessen, dass Rossini als Kind ein Star war („Ich kann nur sagen, daß ich sehr stolz auf meine schöne Stimme war“13, hat er selbst gesagt) und auch als Mann noch beachtlich sang.
Giuseppe Malerbis Gesangsunterricht machte Rossini mit der großen italienischen Tradition des bel canto vertraut. Gewiss klingt dieser für Hörer von heute schwierig, aber Kenner versichern, dass er den Sänger nie überfordert – immer bleibt genug Zeit zum Atemholen, und Rossini vermied bei „heiklen virtuosen Ausbrüchen die für die Stimme unbequemen Bereiche“14. Dass das Wort niemals Vorrang vor der Musik haben durfte, verstand sich in der Tradition, die Gioachino durch die Malerbi kennenlernte, von selbst – was aber nicht heißt, dass die Musik, und wenn es die gewagteste Koloratur ist, nicht ausdrückt, was die Figuren empfinden.
Die Malerbi gingen noch einen Schritt weiter. Sie erlaubten Gioachino, auf dem Spinett in ihrem Palazzo zu üben, und öffneten ihm auch ihre berühmte Musikalienbibliothek, die viele Partituren Mozarts und Haydns enthielt. Der junge Gioachino wird darin herumgelesen haben. Dazu kam offenbar Kompositionsunterricht. Jedenfalls schrieb der Zwölfjährige 1804 sein erstes Werk, die sechs Sonate a quattro. Den Auftrag hatte ihm der Gutsbesitzer Agostino Triossi aus Ravenna erteilt; Gioachino komponierte die Quartette in nur drei Tagen – auch das weist auf Späteres voraus.
Ein paar Takte aus dem Finale der sechsten Sonate kennt jeder Opernhörer, denn Rossini hat sie als reifer Komponist wieder verwendet. Das Motiv, das die Gewittermusik im Barbier einleitet, ist schon dem Zwölfjährigen eingefallen. Tempestà ist denn auch das folgende Quartett-Finale überschrieben, das freilich weit weniger eindrucksvoll ist als das temporale in der Oper – die erste, kindliche Vorwegnahme des Barbier. Gewiss klingt vieles noch nach Haydn, aber immer wieder meint man, für ein paar Takte den reifen Rossini zu hören – schon in den Sonate a quattro regt sich kompositorische Kraft, für die es kein Vorbild gibt. Durch Temperament und Elan hebt sie sich deutlich von der gelegentlich steifen Gediegenheit Haydns ab. Merkwürdig auch die Besetzung: Es gibt keine Viola, dafür aber neben dem Cello einen Kontrabass. Melodien und Läufe vertraut Gioachino meist der Violine an, wenn sie ernst gemeint sind. Wenn der Kontrabass Melodien oder gar Läufe spielt (wie im Finale der ersten Sonate), entsteht ein komischer Effekt, der schon an den Bass der Buffoopern denken lässt.
1805 ging die Zeit bei den Malerbi zu Ende, denn die Rossinis zogen nach Bologna. Gioachinos Karriere als jugendlicher Bühnenstar unterbrach das nicht. Die Familie dürfte dankbar für seine Honorare gewesen sein, denn Vater und Mutter bekamen nur noch wenig Engagements – Familie bedeutete auch ökonomische Gemeinschaft, daran hielt Rossini stets fest. In Bologna lernte Gioachino die Mombelli kennen, eine andere Künstlerfamilie: Der Vater gesuchter Tenor, die Frau sang Sopran, und die beiden Töchter machten das Gesangsquartett voll. Er führte sich bei den Mombelli ein, indem er eine Oper, in der der Vater auftrat, in der Aufführung nach dem Gehör mitschrieb – jedenfalls hat er es Hiller so erzählt. Vincenza Mombelli, eine Nichte Boccherinis, sang aber nicht nur. Sie dichtete auch und schrieb dem Wunderkind, das bei ihrer ersten Begegnung gerade dreizehn Jahre alt war, sein erstes Opernlibretto: Demetrio e Polibio. Ihre Verse weckten ein lyrisch-vokales Talent, von dem Rossini selbst nicht allzu viel gewusst haben dürfte. Wann die Partitur vollendet war, weiß man nicht, da Demetrio e Polibio erst 1812 Premiere hatte. Stendhal liebte die Jugendoper mehr als jedes andere Werk Rossinis. „Ich glaube, ich habe nie so lebhaft empfunden, daß Rossini ein großer Künstler ist“, schrieb er beim ersten Hören. „Jedes neue Stück bot uns die reinsten Gesänge, die lieblichsten Melodien … Was den Reiz dieser erhabenen Kantilenen steigerte, waren die Anmut und Bescheidenheit der Begleitung.“15 Rossini folgte in seiner ersten Oper den Meistern des 18. Jahrhunderts, sodass Stendhal finden konnte, was er in der italienischen Oper suchte: Schlichtheit, Lieblichkeit und Reinheit. Man fühle sich wie in den „verborgenen Winkeln“ eines „herrlichen Parks“, schwärmt er – der ganz junge Rossini verstand sich auf das, wonach die Romantik sich so sehnte: Natur. Auch Rossini selbst, das zeigt ein Brief von 1866 an Tito Ricordi, hat das Jugendwerk niemals vergessen, das etwas bietet, was in den späteren Werken immer nur aufblitzt: die pure Schönheit des Gesangs.16
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1806, nach dem Stimmbruch, trat Gioachino in das Liceo von Bologna ein. Das Liceo hatte europäischen Ruf – schon Mozart hatte hier 1777 Unterricht im Kontrapunkt genommen. Es erinnert äußerlich an die Welt von gestern, denn es gleicht einem Kloster. Um einen Innenhof laufen, im Rechteck aneinanderstoßend, vier langgestreckte Gebäude, deren Straßenfronten nichtssagend-nüchtern sind. Nur auf einer Seite ein hohes schmales Portal, durch das die Schüler eintraten – so, als wollte sich das Liceo bewusst von der Welt draußen abgrenzen. Die Säle, etwa die Musikalienbibliothek oder die Übungs- und Konzerträume, haben freilich nichts von dieser Kargheit: überall Stuck und Gold, die hochgewölbten Decken barock heiter ausgemalt. Direktor des Liceo war zu Rossinis Zeiten Padre Stanislao Mattei, der Papst der Polyphonie, die jeder italienische Komponist genauso beherrschen musste wie den bel canto, denn geistliche Musik war ohne Kontrapunkt nicht denkbar. Nach den Geniestreichen Sonate a quattro und Demetrio e Polibio begann nun die Disziplin; sie ist Rossini nicht leichtgefallen.
Er drang nicht gleich zu Mattei selbst vor, sondern musste vorher etliche vorgeschriebene Kurse absolvieren. 1806 erhielt er zunächst Unterricht auf dem Cello, 1807 kamen Klavierunterricht und Einführung in den Kontrapunkt hinzu. 1809 und 1810 war es dann so weit, Gioachino wurde Schüler Matteis. Gioachino machte der unnahbare Mann Angst. Azevedo berichtet: „Nachdem Rossini sechs Monate in der Kontrapunktklasse gearbeitet hatte, konnte er nicht eine einzige Note schreiben, ohne zu zittern.“17 Mit Mattei konnte man nicht reden, und diese Erfahrung beklemmte Gioachino. Einmal wagte er, ihn zu fragen, warum man Fugen so und nicht anders schreibe, und bekam die lakonische Antwort, die nur einem Traditionalisten einfallen kann: „Es ist üblich, sie so zu schreiben.“ Die Autorität Padre Matteis, die sein Wunderkind-Bewusstsein kränkte, forderte Gioachino heraus, aber nach einigen Monaten ängstlicher Abwehr fügte er sich und verinnerlichte, was der Lehrer ihm auferlegte: die Last der Tradition, des So-und-nicht-anders. Er wurde sogar ein guter Schüler. Tatsächlich verdankte Rossini Padre Mattei, dass er eine neue Seite seiner musikalischen Fantasie entdeckte – die Polyphonie gehört zu Rossini wie der bel canto, die großen Doppelfugen der geistlichen Werke sind nicht weniger inspiriert als die Opernfinali. Mit zunehmendem Alter veränderten sich Rossinis Gefühle für Mattei. Er begann, ihn zu bewundern. In der Villa, die er sich in Passy baute, gibt es ein Zimmer mit Deckenfresken bedeutender Komponisten, und in seinem Tempel der Musik ließ Rossini neben Mozart und Palestrina auch seinen Lehrer verewigen.
Padre Stanislao Mattei.
Padre Mattei sorgte zudem dafür, dass Gioachino eine literarische Ausbildung erhielt. Er engagierte zwei Literaten, die ihm das Nötige beibrachten. Da war einmal Jacopo Landoni, der ihn in die italienische Klassik einführte, in Dante und Tasso, und Giambattista Giusti, ein poetisch begabter Ingenieur, der ein „glühender Patriot“18 war und Rossini mit dem Denken des Risorgimento, der Freiheits- und Einigungsbewegung, vertraut machte. Damit glaubte Gioachino, alles gelernt zu haben, was er lernen musste. Als ihm Mattei 1810 sagte, er müsse noch zwei Jahre bleiben, um gregorianischen Gesang zu studieren, wehrte Gioachino ab: Das könnten er und seine Eltern sich nicht leisten. Das Ausscheiden aus dem Liceo war aber nur der erste Schritt in die Freiheit; der endgültige folgte durch einen glücklichen Zufall dann aber sehr rasch. Im August 1810 erhielten die Eltern Besuch von den Morandi, einem befreundeten Künstlerehepaar, das am Teatro San Moisè in Venedig engagiert war. Gioachino erzählte von seinem Wunsch, für die Bühne zu komponieren. Die Morandi versprachen bei ihrer Abreise, in Venedig etwas für ihn zu tun. Tatsächlich ergab sich eine Gelegenheit. Intendant des San Moisè war ausgerechnet jener Marchese Cavalli, mit dem Rossini in Senegallia aneinandergeraten war. Doch Cavalli war froh, dass die Morandi Ersatz wussten, denn ein anderer Komponist hatte ihn versetzt, und so erhielt der Achtzehnjährige, der frisch vom Konservatorium kam, seinen ersten Opernauftrag: die Musik zu dem Einakter La cambiale di matrimonio zu schreiben.
Das Regno d’Italia
Am 8. Mai 1805 zog Napoleon in Mailand ein, und Tausende säumten die Straßen, um ihn zu sehen. Dass er sich nach der Kaiserkrönung in Paris nun auch zum König von Italien krönen wollte, begeisterte die Stadt, und nur eingefleischte Republikaner bedauerten, dass aus der Cisalpinischen Republik das Regno d’Italia wurde, während die Mailänder Geschäftsleute zufrieden gewesen sein dürften, dass endlich ein moderner Staat nach französischem Muster aufgebaut wurde. Am 26. Mai war es dann so weit. Napoleon und sein Gefolge betraten in feierlicher Prozession den Dom, und auch wenn der Erzbischof bei der Zeremonie mitwirkte, setzte Napoleon sich die eiserne Langobardenkrone selbst auf. Dabei sagte er: „Gott hat sie mir gegeben, und ich nehme sie an.“ Dann riefen die Herolde: „Napoleon I., Kaiser von Frankreich und König von Italien ist gekrönt, geweiht und inthronisiert; es lebe der Kaiser und König.“19 Der gotische Dom lieh der grandiosen Zeremonie seine Magie. Regiert hat Napoleon freilich niemals selbst. Er ernannte seinen Stiefsohn Eugène de Beauharnais zum Vizekönig, unter all seinen Statthaltern vielleicht der solideste.
Freilich war der neue Staat Napoleons Feinden ein Dorn im Auge. Im November 1805 schickten Engländer und Russen eine Flotte nach Neapel, die Landungstruppen an Bord hatte. Sie sollten das Regno d’Italia von Süden angreifen. Die Schlacht von Austerlitz, in der Napoleon im Dezember Russen und Österreicher besiegte, entschied auch die italienische Episode – die englische Flotte verschwand aus Neapel, und im Frieden von Pressburg musste Österreich das Veneto, Istrien und Dalmatien an das Regno d’Italia abtreten. Und auch im Süden änderten sich die Dinge. König Ferdinand von Neapel verlor seinen Thron an Joseph Bonaparte. In Italien hatte das napoleonische Jahrzehnt begonnen.
Napoleon ermahnte Eugène de Beauharnais strikt, sich mit Italienern zu umgeben und auf italienisches Empfinden Rücksicht zu nehmen; nichts dürfe an Fremdherrschaft erinnern. Beauharnais hat sich daran gehalten. Aber die italienische Freiheit, wie sein Premierminister Francesco Melzi sie wollte, blieb eine Illusion – als Beauharnais einen ersten Schritt tat und Napoleon auf die Ablehnung hinwies, die dessen Kriegspolitik in Mailand weckte, antwortete der Kaiser gereizt: „Es wäre schlecht, wenn man vergäße, daß Italien von Frankreich abhängig ist.“20 Außenpolitische Bewegungsfreiheit erhielt Eugène de Beauharnais nie, und am Ende der napoleonischen Ära bekam er den Groll der Mailänder auf die französische Kriegspolitik zu spüren. Doch erst einmal genoss die neue Hauptstadt ihre große Zeit, in der sich das Leben grundlegend änderte. Es wurde moderner und freier. Die Privilegien des Adels wurden abgeschafft. Nach und nach wurde der Code Napoleon, dessen juristisches Grundprinzip das Privateigentum ist, auch in Italien eingeführt. Aber eine ebenso gefährliche Gegnerin des neuen Systems war die Kirche, denn sie besaß nicht nur viele Anhänger, sondern auch eine eigene Lehre. Darum suchte man ihr so viel zu nehmen wie möglich. In Norditalien wurden die Kirchengüter enteignet, und gegen die Kirche ging es auch bei der Bildungsreform. Volksschulen nach französischem Vorbild wurden eingeführt und die Gymnasien weltlicher Leitung unterstellt. Wenn alles neu wurde, musste sich auch das Stadtbild verändern – Mailand musste zeigen, dass es eine Hauptstadt war. Die Fassade des Doms wurde vollendet, und eines der Stadttore, die Porta Ticinese, repräsentativ neu gestaltet. Die monumentalsten Bauten des Regimes befinden sich im Parco Sempione hinter der mittelalterlichen Festung der Sforza – die Arena Civica, ein von römischen Vorbildern inspiriertes Stadion für sportliche Wettkämpfe, das 30000 Zuschauer fasst. Am Ende des Parks, die Zentralachse abschließend, der Arco della Pace, ein Triumphbogen, der eine genaue Kopie seines Pariser Urbildes ist: Allegorie des modernen Systems, das die Massen mobilisiert und leitet.
Napoleon I. Bonaparte als König von Italien.
Trotz aller kollektiven Disziplin, ohne die der bonapartistische Staat nicht zu denken ist, brachte die neue Zeit aber auch mehr individuelle Freiheit – die kirchliche Moral verlor ihre Macht; der Mensch des napoleonischen Zeitalters war emanzipierter als der des Ancien Régime. Das brachte die Klerikalen besonders auf. Indigniert beschrieb ein Geistlicher in seinem Tagebuch die neue Freizügigkeit: „Heute kann man die Jugend beiderlei Geschlechts ungeniert auf öffentlichen Plätzen flirten sehen, und die Frauen kokettieren mit einer höchst bescheidenen und zugleich verführerischen Aufmachung, von der die Mode nie etwas zu wissen glaubte. Arme, Busen, Achseln, alles ist vollkommen entblößt; die Hüte wechseln täglich; alles ist bedeckt mit Blumen, Federn, unechtem Gold …“21 Eine Zeitenwende also, die auch die beliebteste Abendunterhaltung Italiens verändern musste: die Oper.
Erfolg
Das Teatro San Moisè, für das Rossini seine erste Oper komponierte, hatte eine ruhmvolle Vergangenheit. Im 18. Jahrhundert hatte hier Goldoni gewirkt und zusammen mit Baldassare Galuppi erstmals eine buffa auf eine venezianische Bühne gebracht, die europaweit Erfolg hatte: Eine neue Gattung war geboren. Doch von dieser großen Zeit war nichts mehr zu spüren – über einaktige Farcen und Rührstücke wagte sich die Direktion nicht mehr hinaus, und wer hier Erfolg hatte, gehörte keineswegs zu den maestri di cartello, die für die großen Bühnen schrieben. Zweitklassig auch die Libretti. Auch das zu La cambiale di matrimonio ist nicht besonders gut – eine Kaufmannssatire, die von fern gewiss an Goldoni erinnert, aber volksstückhaft grobschlächtig ist.22