Geschichte
eines
Verbrechens
C.H.Beck
Im Frühjahr 2015 ist der 75. Jahrestag der Ermordung polnischer Offiziere und Intellektueller im Wald von Katyn. Stalin bezichtigte beharrlich die Deutschen, die zur gleichen Zeit den Massenmord an den polnischen Juden betrieben, dieser Verbrechen. Die Nationalsozialisten wiederum sahen in den Morden eine einmalige Gelegenheit, die Alliierten zu entzweien. Während die Angehörigen der Opfer verzweifelt nach ihren Männern, Vätern, Söhnen suchten, lieferten sich die beiden Terrorregime eine Propagandaschlacht, die an Zynismus kaum zu überbieten ist. Auf breiter Quellengrundlage rekonstruiert Thomas Urban die Ereignisse und deren Vorgeschichte und fragt auch nach den Nachwirkungen der Verbrechen, die bis heute andauern.
Thomas Urban war von 1988 bis 2012 Osteuropakorrespondent der «Süddeutschen Zeitung» und ist Autor zahlreicher Werke über Polen und seine Geschichte, darunter der Band Polen (22009) in der Reihe Die Deutschen und ihre Nachbarn und Der Verlust (2006). Im Jahr 2006 erhielt er den Georg-Dehio-Buchpreis.
Vorwort
1. Angriff von West und Ost
2. Gefangen im verwüsteten Kloster
3. Fahrt in den Tod
4. Vergebliche Suche nach den Vermissten
5. Entdeckung der Massengräber
6. Goebbels’ Keil zwischen den Alliierten
7. Polen an den Gräbern der Landsleute
8. Ausländische Zeugen ohne Echo
9. Isolierung der Londoner Polen
10. Die Kommission Burdenkos
11. Verfolgung unbequemer Zeugen
12. Niederlage des Kremls in Nürnberg
13. Differenzen im Westen
14. Tabu und Täuschung im Ostblock
15. Gorbatschows Tricksereien
16. Zurück zur Konfrontation
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Katyn ist eine der grellen Chiffren des 20. Jahrhunderts, ein Massenmord, der eine gewaltige und nachhaltige Wirkung entfaltete. Doch war die Ermordung von rund 4300 polnischen Offizieren und Fähnrichen, die meisten davon Reservisten mit Hochschulbildung, sowie mehreren Dutzend Spitzenbeamten durch die Geheimpolizei Stalins im Frühjahr 1940 viel mehr als ein Kriegsverbrechen. Der Name des kleinen Dorfes im Westen Russlands steht stellvertretend für den Versuch des Kremls unter Stalin, die polnische Führungsschicht weitgehend auszurotten, um das totalitäre System der Sowjetunion besser auf Polen ausdehnen zu können. Der Mordbefehl betraf nicht nur Katyn, sondern auch weitere Orte, an denen insgesamt rund 25.000 polnische Offiziere, Beamte und Intellektuelle einen gewaltsamen Tod fanden. Der Begriff «Verbrechen von Katyn» schließt im heutigen Sprachgebrauch in Polen die Opfer aus den erst ein halbes Jahrhundert später bekannt gewordenen anderen Massengräbern mit ein, weil das Dorf westlich von Smolensk der erste Ort war, an dem es offenbar wurde. Sie finden daher auch Berücksichtigung in diesem Buch.
Auch steht Katyn für die Lüge als Kernelement des von Lenin und Stalin geprägten Systems, das hier alle moralischen Kategorien auf den Kopf stellte: Wer von sowjetischer Täterschaft sprach, wurde als Verleumder verfolgt, bestraft und schlimmstenfalls liquidiert. Nicht zuletzt wegen der Katyn-Lüge konnte das von Moskau mit Zwang durchgesetzte System, das sich Sozialismus nannte, in Polen nicht Fuß fassen. Weit über die konfliktbeladene Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen hinausweisend steht Katyn also auch für das Streben nach Wahrheit gegen Lüge, nach Freiheit gegen Unterdrückung, nach Kultur und Zivilisation gegen rohe Gewalt und Mord.
Der Kampf um die «Wahrheit über Katyn» wurde zur Konstante in der polnischen Dissidenten- und Demokratiebewegung, aus der die Gewerkschaft Solidarność hervorging. Dieser Kampf bekam eine sakrale Note, Katyn als der Ort, in dem das absolut Böse das Gute, nämlich die Blüte der Nation, vernichtet hat. Erst recht wurden das Verbrechen und das Gedenken daran überhöht, als 2010 die polnische Präsidentenmaschine bei Smolensk abstürzte, ausgerechnet auf dem Weg zu einer Gedenkfeier aus Anlass des 70. Jahrestages des Massakers von Katyn.
In der Suche nach Motiven dafür stehen sich zwei Positionen gegenüber: Namentlich in Polen gilt es als Völkermord, ein Teil der westeuropäischen und nordamerikanischen Historiker verortet es dagegen als Klassenmord. Doch gegen diese eindeutigen Zuordnungen lassen sich Einwände erheben: So ließ Stalin auch Zehntausende Polen, die kleine Bauern oder einfache Arbeiter waren, also aus den «Klassen», die nach der reinen Lehre zur herrschenden werden sollten, in die Tiefen der Sowjetunion deportieren.
Überdies hat er bei weitem nicht alle Angehörigen der polnischen Führungsschicht umbringen lassen, die seinem Regime in die Hände gefallen waren. Vielmehr brauchte er Helfer beim Aufbau einer vollständig von ihm abhängigen und ihm auch hörigen neuen Elite. Für sie stehen die blind fanatische Stalinistin Wanda Wasilewska, der in Moskau kriecherisch buckelnde, in Polen gnadenlos nach unten tretende Parteichef Bolesław Bierut, auch er ein Schreibtischmörder, sowie der opportunistische General Zygmunt Berling. Alle drei spielten bei der Katyn-Lüge ihre Rolle und wurden nicht zuletzt deshalb in der polnischen Gesellschaft, die stets ein überaus starkes Geschichtsbewusstsein prägte, zu Hassfiguren.
Wie wichtig ethnische und nationale Kategorien im Denken Stalins waren, belegen einige seiner Aussprüche und vor allem sein Handeln: Den Polen und den Russen bescheinigte er, «desselben Blutes» zu sein, nämlich des slawischen. Obwohl er Georgier war, schloss er somit an panslawische Ideen an. Die Russen seien das «größte aller Völker der Sowjetunion», was nicht quantitativ gemeint war – ein Anklang an das «dritte Rom» der russisch-orthodoxen Kirche.
Stalin rühmte sich gegenüber den Vertretern der polnischen Exilregierung, die angeblich deutschfreundlichen Ukrainer «zu vernichten» – und hat, was deren kulturelle Elite angeht, auf diesem Wege tatsächlich ein gutes Stück zurückgelegt. Er beanspruchte die Verfügungsgewalt über die ukrainischen Einwohner des damaligen Ostpolens, die vor dem Krieg polnische Staatsbürger waren, deren Heimat nie Teil des Zarenreichs war – und die auf keinen Fall zur Sowjetunion gehören wollten, weil sie von der auf Befehl Stalins organisierten Hungersnot in der Ukrainischen Sowjetrepublik wussten. Zu den Spätfolgen seiner brutalen Ukraine-Politik gehört der blutige Konflikt zwischen Moskau und Kiew von heute.
In der Tradition des Zarenreichs sah Stalin auch die Juden als eigene «nationale Minderheit» an. Die letzten großen Säuberungswellen zu seinen Lebzeiten, die Kampagne gegen «Kosmopoliten» und die «Ärzteverschwörung», richteten sich vor allem gegen die jüdische Intelligenz in der Sowjetunion, waren also ebenfalls kulturell-ethnisch motiviert. Auch ließ er ganze Völkerschaften deportieren, wie die Wolgadeutschen, die Tschetschenen und Krimtataren – hier entluden sich ebenfalls zwei Generationen später aufgestaute Konflikte. Da er den anderen Völkern misstraute, setzte er in allen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten Russen auf Schlüsselpositionen. In Warschau wurde der Sowjetmarschall Konstantin Rokossowski polnischer Verteidigungsminister, eine – durchaus so beabsichtigte – Demütigung der Polen.
In seinen ideologischen Schriften hat Stalin die Lösung politischer Probleme durch Gewalt mit den Lehren von Karl Marx gerechtfertigt, so wie es bereits der Revolutionär Lenin getan hat. Stalin und die Mitglieder seines Politbüros, die am Mordbefehl für Katyn beteiligt waren, dachten in Feindkategorien und Verschwörungstheorien, getreu dem Motto Lenins «Wer wen?» – Wer wird wen besiegen? Ob sie im Leninschen Sinne noch ein Gesellschaftsziel außer der Sicherung der eigenen Machtposition verfolgten, ist unter Historikern umstritten. Ob sie pathologische Mordlust und grenzenlose kriminelle Energie antrieben, Allmachtsphantasien oder kaltes Kalkül, ebenfalls. Vermutlich von jedem etwas. Dass Stalin zunehmend paranoid misstrauisch war, dass sein Geheimdienstchef Beria perverse Züge hatte, gilt heute als erwiesen. Ebenso, dass sie und ihre Mittäter in der Leitung von Partei- und Geheimdienstapparat für sich das Recht beanspruchten, über Leben und Tod tatsächlicher, potenzieller und vermeintlicher Gegner zu entscheiden. Und dass sie offenbar davon überzeugt waren, auch im Fall Katyn etwas Notwendiges zu tun.
In abgeschwächter Form haben dies auch die Nachfolger Stalins getan, von Chruschtschow bis zu Andropow. Auch sie nahmen das Recht für sich in Anspruch, ihren Bürgern das Denken sowie den Lebensstil vorzuschreiben und Abweichler in den Gulag oder in psychiatrische Kliniken zu schicken, wobei sie billigend deren Tod in Kauf nahmen. Auch ihre Geheimdienstapparate unterlagen keinerlei gesellschaftlicher Kontrolle, waren Instrumente eines – nun stark gedämpften, weitaus weniger umfassenden und eher berechenbaren – Terrors.
Doch während Lenin offen den «roten Terror» predigte, während die Parteipresse im Russischen Bürgerkrieg und den ersten Jahren nach der Machtergreifung der Bolschewiken offen Kampagnen für die Vernichtung von Kapitalisten, Zaristen, Priestern führte, gab sich das totalitäre Regime Stalins den Anstrich eines Rechtsstaates: Verfassung, Wahlen, Justizverfahren, völkerrechtliche Abkommen imitierten die demokratischen Staaten. Der Orwellsche Aufwand, der für das Tarnen und Täuschen, für Geheimhaltung und Propaganda getrieben wurde, war enorm, gerade auch im Fall Katyn.
Sogar der letzte Sowjetführer Michail Gorbatschow, der vergeblich versuchte, das Riesenreich zu modernisieren, hielt lange wider besseren Wissens an dieser Lüge fest. Erst als er längst die Kontrolle über die Entwicklung verloren hatte, gab er zumindest einen Teil der Wahrheit zu. Doch es war zu spät, die Polen im Ostblock zu halten. So hat sich an Gorbatschow selbst der ihm zugeschriebene, aber vermutlich von einem Übersetzer stammende Spruch bewahrheitet: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Katyn hat sich als Sprengsatz mit großer Zeitverzögerung erwiesen. Es gehört zur Tragik des gescheiterten Reformers Gorbatschow, dass seine Politik erst die Schleusen für den breiten Strom der Vergangenheitsbewältigung geöffnet hat, der letztlich auch ihn mit fortriss. Denn die Flut der Berichte über Verbrechen im Auftrag der kommunistischen Partei unterminierte die gesamte Legitimationsgrundlage ihrer Herrschaft.
Diesem Buch liegen sämtliche Augenzeugenberichte, Dokumentationen und Analysen zu dem Schicksal der polnischen Kriegsgefangenen zugrunde. Die meisten sind in Polen erschienen, ein beträchtlicher Teil auch in Russland. Letztere belegen einerseits den festen Willen zur Aufklärung bei einem Teil der russischen Historikerzunft, andererseits ihre zunehmenden Probleme, dies auch umzusetzen. Denn die politische Klasse in Moskau zeigt sich erneut unfähig und außerdem nicht willens, die verstörende und belastende Vergangenheit aufzuarbeiten – nicht nur im Interesse gutnachbarschaftlicher Beziehungen, sondern auch für die eigene Gesellschaft.
Im Falle Katyn versucht der Kreml unter Wladimir Putin eine russisch-polnische Opfergemeinschaft zu konstruieren: In dem Wald lägen um ein Vielfaches mehr in der Stalinzeit erschossene Sowjetbürger verscharrt als polnische Offiziere. In Polen werden derartige Reden Putins indes nicht als Schritt zur Versöhnung gesehen, sondern als Versuch, die Verantwortung Russlands als Rechtsnachfolger der Sowjetunion zu negieren. Polnische Kommentatoren ziehen den Vergleich zur deutschen Auseinandersetzung mit der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Schuld: Es sei so, als klagten die Deutschen, dass sie ja in der nach Nationen und Zahlen aufgeschlüsselten Liste der Kriegsopfer den zweiten Platz einnehmen.
In russischen Schulbüchern kommt Katyn ebenso wenig vor wie der sowjetische Terror in den nach dem Krieg annektierten Gebieten und besetzten Ländern. Vielmehr wird den Polen, den Balten, den Westukrainern und den anderen Völkern aus dem einstigen Sowjetblock aus Moskau vorgeworfen, sie seien undankbar, denn die Rote Armee habe einen hohen Blutzoll für ihre Befreiung vom «Joch des Hitlerismus» entrichtet. Dass sich die Rotarmisten aber ebenfalls als rüde Besatzer aufführten, dass die Geheimdienste Moskaus in fast ganz Osteuropa in den Nachkriegsjahren ein stalinistisches Terrorregime mit Deportationen und zahllosen politischen Morden führten, wird im heutigen Russland nahezu völlig verdrängt. Aus polnischer Sicht kommt es noch schlimmer: Putin will die «Ehre der Roten Armee» per Gesetz schützen, was tiefe Auswirkungen auf die zeitgeschichtliche Forschung haben dürfte.
In den Geschichtsbeilagen, über die alle großen polnischen Zeitungen und Journale verfügen, wird gern auf manche Parallelen zwischen der Zeit des Massakers von Katyn und der Gegenwart hingewiesen: Schon Stalin begründete die Annexion des damaligen Ostpolens mit dem Schutz von Minderheiten, schon er ließ Gegner seiner Eroberungspolitik als «Faschisten» brandmarken. Beispielsweise die polnische Exilregierung in London, die vergeblich Aufklärung über Katyn verlangte.
Dieses Buch wirft auch einen Blick auf die Auseinandersetzung mit Katyn bei den Westalliierten, die keine Nebensache war: Sie hatte Einfluss auf das Verhältnis des britischen Premierministers Churchill und des US-Präsidenten Roosevelt zu Stalin. In den letzten Jahren wurden mehrere Tausend Seiten aus einer Untersuchung des US-Kongresses dazu zugänglich gemacht, auch das Foreign Office in London stellte eine umfassende Dokumentation ins Internet. Die Entdeckung der Massengräber durch die Deutschen im Frühjahr 1943, als der Krieg trotz Stalingrad noch längst nicht entschieden zu sein schien, verlangte von Großbritannien als Schutzmacht der polnischen Exilregierung sowie den Vereinigten Staaten, Position zu beziehen. Denn die Exilregierung beschuldigte die Sowjetunion des Verbrechens, es handelte sich also um einen schweren Konflikt zwischen zwei Verbündeten der Westalliierten.
Sowohl Churchill als auch Roosevelt haben sich für Realpolitik entschieden: die Anti-Hitler-Koalition dürfe auf keinen Fall gefährdet werden, sie ignorierten und isolierten folglich die Exilpolen. Im kollektiven Gedächtnis der Polen war dies zynisch und unmoralisch, ein Verrat, der dem noch größeren von Jalta vorausging, als die Westmächte noch vor dem Ende des Krieges die künftige Herrschaft Stalins über Osteuropa absegneten.
Roosevelt und seine wichtigsten Berater waren felsenfest von der Aufrichtigkeit Stalins («Uncle Joe») überzeugt, sie waren verblendet und naiv. Alle Informationen, die ihr Bild von Stalin störten, wurden ignoriert oder gar zurückgewiesen. Aus diesem Grunde gaben Untergebene Expertenberichte, die auf eine sowjetische Täterschaft in Katyn verwiesen, unbearbeitet zu den Akten, oft, nachdem sie sie als geheim eingestuft hatten. Zu dieser Kategorie unterdrückter Dokumente zählen zahlreiche Luftaufnahmen vom Wald von Katyn, die die Wehrmacht im Herbst 1943 gemacht hat, nachdem die Rote Armee das Gebiet zurückerobert hatte. Sie gehören zu den Archivmaterialien, die den Amerikanern zum Kriegsende in die Hände gefallen sind. Die Umschlagseite dieses Buches zeigt einen Plan, wie die einzelnen nummerierten Luftbilder auf einer Generalstabskarte des Gebiets um Katyn zu lokalisieren wären. Die Fotos belegen umfangreiche Erdarbeiten, nach Meinung von Historikern sollten die Grabstätten so präpariert werden, dass eine Untersuchungskommission Beweise für die deutsche Täterschaft findet. Da die Aufdeckung dieser Manipulationen und somit die Belastung der sowjetischen Verbündeten nicht im Interesse des Weißen Hauses lagen, wurde die gesamte Sammlung als «vertraulich» klassifiziert, der abgebildete Plan weist gleich elf Stempel «confidential» auf. Historiker bekamen die Aufnahmen erst vor wenigen Jahren zu sehen.
Im Gegensatz zu ihnen hegte Churchill zwar keine Illusionen über den Charakter und die Ziele des Sowjetregimes. Doch sahen er und seine Osteuropa-Fachleute kein eindeutiges Bild von den Vorgängen in Katyn. Es machte sie nämlich in ihrer Bewertung unsicher, dass die Katyn-Kampagne, mit der der für seine gigantischen Lügen berüchtigte NS-Propagandaminister Goebbels einen Keil zwischen die Alliierten treiben wollte, hauptsächlich auf den Berichten zweier Gerichtsmediziner ebenfalls zweifelhaften Rufes beruhte: Der eine war SS-Standartenführer, der andere Vorsitzender eines nationalsozialistischen Ärzteverbandes.
Diese Argumente feiern Wiederauferstehung in der postkommunistischen Geschichtsschreibung des heutigen Russlands, die zunehmend populärer wird: Die Veröffentlichung der Mordbefehle Stalins wird als «Goebbelssche Manipulation» attackiert. Bisher haben sich die Hoffnungen also nicht erfüllt, dass eine Aufarbeitung des Massenmords von Katyn zu einer Überwindung der tiefen psychologischen Gräben zwischen der polnischen und der russischen Gesellschaft beitragen kann.
In Polen wie auch in anderen ehemaligen Ostblockländern gibt es heute keinerlei Bedenken, das Regime Stalins und seiner Satrapen mit der Herrschaft der deutschen Nationalsozialisten auf eine Stufe zu stellen. Die Debatte in der Bundesrepublik über die Totalitarismus-Theorie, der Historikerstreit, die Kontroversen über das «Schwarzbuch des Kommunismus» und die Wehrmachtsausstellung, in der ursprünglich ja Bilddokumente über den sowjetischen Terror im damaligen Ostpolen falsch zugeordnet waren, wurden an der Weichsel eher mit Unverständnis verfolgt. Die polnische Gesellschaft hat beide Terrorherrschaften bis zum Exzess in der Praxis erduldet, das Bedürfnis, darüber zu theoretisieren, ist gering. Wohl sieht sie Unterschiede: Die Zahl der Todesopfer der deutschen Besatzung war um ein Vielfaches höher. Doch diese habe das Volk gegen die Täter geeint. Das sowjetische Regime aber habe die Gesellschaft gespalten und teilweise korrumpiert.
In diesen Kontroversen, die in der Bundesrepublik heftig und erbittert ausgetragen wurden, dürfte einer der Hauptgründe dafür zu suchen sein, warum deutsche Historiker in den letzten Jahrzehnten einen weiten Bogen um Katyn gemacht haben. Das einst populäre Thema steht im Geruch, einer revisionistischen Betrachtung des Zweiten Weltkriegs Vorschub zu leisten. In der Tat war dies in der Vergangenheit so: In den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Krieg konnten viele Artikel über Katyn als Rechtfertigung des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion gelesen werden: Stalin sei nicht nur mit dem eigenen Volk, sondern auch den Nachbarvölkern barbarisch umgegangen; es habe also gegolten, das Abendland vor den Bolschewiken zu schützen. Doch diese Welle an Artikeln ebbte ab, als in Folge der Auschwitz-Prozesse Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik eine große Schulddebatte ausbrach. Immer mehr Berichte über die deutsche Politik der verbrannten Erde, über Massaker an Zivilisten, über das Los der sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigten die bundesdeutsche Öffentlichkeit.
In der Tat ist eine Darstellung des Massenmordes von Katyn und seiner Folgen in keiner Weise dazu geeignet, den deutschen Vernichtungskrieg im Osten Europas zu relativieren. Vielmehr gilt: Katyn kann nicht von den nationalsozialistischen Verbrechen ablenken. Dieser Satz stammt von Rudolf-Christoph von Gersdorff, der als Generalstabsoffizier der im Gebiet Smolensk liegenden Heeresgruppe Mitte die Exhumierung der Opfer beaufsichtigte, der aber auch gemeinsam mit dem ebenfalls dort stationierten Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff genau in dieser Zeit an zwei Versuchen mitgewirkt hat, Hitler durch einen Bombenanschlag zu beseitigen. Starke Indizien sprechen dafür, dass sie gemeinsam eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, den sowjetischen Plan, bei den Nürnberger Prozessen Katyn den Deutschen anzulasten, zum Scheitern zu bringen. Es wäre die Krönung der Katyn-Lüge gewesen, wäre dieses Vorhaben in Nürnberg gelungen. Viel hat offenbar dazu nicht gefehlt. Erstmals wird in diesem Buch die Rolle der beiden bekannten Widerstandskämpfer in den Schlachten um die Wahrheit über Katyn dargestellt.
***
Während meiner 24 Jahre als Korrespondent an der Weichsel, am Dnjepr und an der Moskwa habe ich immer wieder über die Aufklärung und Aufarbeitung des Massenmordes berichtet. Ich sprach mit dem Prälaten Stefan Niedzielak, der noch zu Zeiten der Volksrepublik Polen einen illegalen Verband der Angehörigen der Opfer gegründet hatte. Wenig später wurde er ermordet, vermutlich von der Geheimpolizei SB. Ich gehörte zur Pressedelegation, die im November 1989, eine Woche nach der Öffnung der Berliner Mauer, den polnischen Regierungschef Tadeusz Mazowiecki, den bedächtigen Intellektuellen aus der Solidarność, zu nächtlicher Stunde in den tief verschneiten Wald von Katyn begleitete. Es herrschte ein so starker Frost, dass während der Totenmesse unter freiem Himmel bei der Opferung Wasser und Wein im Kelch gefroren. Doch der polnische Priester war vorbereitet: Er rührte aus einem Fläschchen Hochprozentiges dazu.
In Moskau redete ich mit Staatsanwälten und Historikern. Es waren Recherchen auch in Sachen Familiengeschichte: Ein Großonkel meiner Frau Ewa, deren Familie aus der früheren polnischen Bezirksstadt Tarnopol, dem heutigen ukrainischen Ternopil, stammt, ist auf der offiziellen Opferliste aufgeführt. Deshalb nahmen wir an Treffen und Konferenzen des Opferverbandes teil. Unter den Opfern des Flugzeugabsturzes von Smolensk waren einige unserer Bekannten aus diesem Kreis, denen ich viele Informationen zu verdanken hatte. Auch ihnen soll dieses Buch gewidmet sein.
Am 17. September 1939 marschierte auf breiter Front die Rote Armee über die Ostgrenze Polens. Die Militärführung in Warschau, die sich seit 17 Tagen ganz auf die Angriffe der Wehrmacht von Westen und Norden konzentriert hatte, wurde davon völlig überrascht. In der Regierung war man zunächst sogar der Ansicht, die Rote Armee solle den bedrängten Polen zur Hilfe eilen. Die polnischen Streitkräfte bekamen den Befehl, keinesfalls den Kampf aufzunehmen. Doch die Rotarmisten behandelten ihrerseits die Polen als Feinde. Sowjetische Flugzeuge warfen Flugblätter ab, in denen die polnischen Soldaten aufgefordert wurden, ihre Offiziere zu entwaffnen und zu töten. Diese Aufforderungen wurden aber nicht befolgt, weshalb der sowjetische Geheimdienst NKWD selbst zur Tat schritt: Er erschoss Dutzende von polnischen Offizieren, die über eine Übergabe ihrer Garnisonen verhandelt hatten, nach Abgabe ihrer Waffen.[1]
Fünf Tage später nahmen deutsche und sowjetische Generäle in Brest-Litowsk eine gemeinsame Siegesparade ab. Die polnische Regierung und das Armeekommando hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits nach Rumänien abgesetzt. Die vierte Teilung Polens war vollzogen. Vereinbart worden war sie im Geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, am 24. August 1939 im Beisein Josef Stalins im Kreml unterzeichnet hatten. Dieser sagte zu den ersten Erfolgen der Wehrmacht in Polen, dass mit dessen Untergang «ein weiterer faschistischer Staat» verschwinde.[2]
Am frühen Morgen des 17. September ließ Molotow um 2.15 Uhr den polnischen Botschafter Wacław Grzybowski aus dem Bett klingeln und in sein Volkskommissariat zitieren. Molotows Stellvertreter Wladimir Potjomkin las dem Diplomaten eine Note vor, die den polnisch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1932 für ungültig erklärte. Potjomkin war ein alter Kampfgenosse Stalins, beide waren Politruk (politischer Kommissar) im selben Verband der Roten Armee gewesen. Nun führte er gegenüber Botschafter Grzybowski an, dass der polnische Staat mit der Flucht der Regierung nach Rumänien zerfallen sei. Die Sowjetunion sehe sich daher in der Pflicht, die ukrainische und weißrussische Bevölkerung auf dem Territorium des bisherigen polnischen Staates zu schützen.
Um vier Uhr morgens rollten die Panzer und Geschütze der Roten Armee über die Grenze. Nach zwei Wochen war der Widerstand der letzten polnischen Verbände gebrochen, die trotz der Anweisungen aus Warschau den Kampf aufgenommen hatten. Molotow schrieb wenig später zur Aufteilung Polens zwischen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland, der «Bankert von Versailles» sei verschwunden.[3]
Die Konferenz von Versailles hatte 1919 dem nach 123 Jahren der Teilungen wiederentstandenen polnischen Staat einen großen Gebietszuwachs auf Kosten des Deutschen Reichs zugestanden. Die Frage der polnischen Ostgrenze war allerdings offen geblieben, weil in diesem Teil Europas weiterhin Kämpfe stattfanden. Dort standen noch Verbände der Reichswehr, und es tobte der Russische Bürgerkrieg. Auch kämpften polnische und ukrainische Verbände um die Kontrolle der bislang zu Österreich gehörenden Region um Lemberg (polnisch: Lwów, ukrainisch: Lwiw).
Anhand von Karten über die Sprachgrenzen schlug der britische Außenminister George Curzon eine Linie, die größtenteils dem Lauf der Flüsse Bug und San folgte, als künftige Ostgrenze Polens vor. Doch Marschall Józef Piłsudski, der Oberkommandierende der polnischen Streitkräfte, strebte eine Konföderation unter Führung Warschaus an, zu der Litauen sowie weite Teile Weißrusslands und der Ukraine gehören sollten. Ihm schwebte eine Neuauflage der einstigen europäischen Großmacht Polen-Litauen vor. Aus diesem Grunde lehnte er die Curzon-Linie ab. Als Verbände der Roten Armee die litauische Hauptstadt Wilna (Vilnius) besetzten, ging Piłsudski zum Gegenangriff über. Seine Truppen zogen Anfang Mai 1920 in Kiew ein. Die Polen konnten sich aber nur wenige Wochen in Kiew halten, die Rote Armee vertrieb sie wieder und rückte nun ihrerseits nach Westen vor. Im August 1920 stand sie an der Weichsel.
Die polnischen Streitkräfte konnten die Rote Armee allerdings unweit von Warschau im «Wunder an der Weichsel» vernichtend schlagen. Der sowjetrussische Kommandeur Michail Tuchatschewski, der spätere Sowjetmarschall, gab dem Politkommissar Josef Stalin die Schuld für die Niederlage, da dieser einen Teil der Verbände eigenmächtig nach Lemberg umdirigiert hatte. Im Gegenzug stießen die Polen wieder weit nach Osten vor und konnten nach einem Waffenstillstand ihre Friedensbedingungen diktieren.
Im Frieden von Riga 1921 setzte Polen eine Ostgrenze durch, die die westlichen Regionen Weißrusslands und der Ukraine einschloss. Teilweise lag sie 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie. In den Ostgebieten der Republik Polen stellten indes Weißrussen und Ukrainer die große Mehrheit der Bevölkerung, weniger als ein Drittel war polnisch. Allerdings setzte Warschau auf einen strikten Kurs der Polonisierung, immer wieder begleitet von harter politischer Repression namentlich gegenüber den einheimischen Ukrainern.
In Moskau machten nicht nur Tuchatschewski, sondern auch mehrere Mitglieder des Politbüros Stalin für diesen schweren Rückschlag im «Kampf um die Weltrevolution» verantwortlich. Dieser sollte sich bei den Großen Säuberungen der Jahre 1936 bis 1938 an all seinen Kritikern blutig rächen. Zudem bestärkte die Niederlage an der Weichsel Stalin in seiner Auffassung, dass das «bourgeoise Polen» der Hauptfeind Sowjetrusslands sei. In der polnischen Minderheit in den Westbezirken der UdSSR sah er eine ständige Bedrohung. In den dreißiger Jahren wurden insgesamt 135.000 Polen, die Sowjetbürger waren, verhaftet, fast die Hälfte von ihnen wurde erschossen. Stalins Hassgefühle und sein Misstrauen gegenüber den Polen waren so groß, dass er auch fast alle Mitglieder der Kommunistischen Partei Polens, die sich vor der Verfolgung durch die nationalistische Führung in Warschau in die Sowjetunion geflüchtet hatten, liquidieren ließ. Von rund 3800 polnischen KP-Mitgliedern haben weniger als 100 den Großen Terror im sowjetischen Exil überlebt.[4]
Im Herbst 1939 zerschlug Stalin gemeinsam mit Nazi-Deutschland, seinem bislang größten ideologischen Feind, die Republik Polen. Nun beschimpfte die sowjetische Propaganda, die bislang das Deutsche Reich als «faschistisch» geschmäht hatte, die Polen als Faschisten. Als völkerrechtliches Subjekt aber konnten die Bündnispartner Hitler und Stalin Polen nicht auslöschen. Denn in Paris bildete sich eine polnische Exilregierung, die Frankreich, Großbritannien, die USA und viele andere demokratische Staaten als Rechtsnachfolger der bisherigen Warschauer Führung diplomatisch anerkannten.
Der Exilregierung gehörte allerdings kein einziger Minister des Vorkriegskabinetts an. Die meisten von ihnen waren nämlich zu diesem Zeitpunkt ebenso wie das militärische Oberkommando in Rumänien interniert. Einem polnischen General aber war die Internierung erspart geblieben: Władysław Sikorski. Dieser war in der Zwischenkriegszeit auch ein prominenter Politiker gewesen, hatte jedoch seit Jahren kein öffentliches Amt inne, weil er sich mit den Regierenden völlig entzweit hatte.
Im polnisch-sowjetischen Krieg 1920 war Sikorski bereits General, seine Verbände trugen zur Niederlage der von Tuchatschewski befehligten Roten Armee bei Warschau bei. Nach diesem ersten Krieg der jungen polnischen Republik stieg Sikorski zum Generalstabschef auf. Nach einer Regierungskrise wählte ihn der Sejm 1922 sogar zum Ministerpräsidenten. In seiner Regierungserklärung bezeichnete er sowohl Sowjetrussland als auch Deutschland als Gegner Polens, er setzte auf ein enges Bündnis mit Frankreich. Allerdings hielt er sich nur fünf Monate an der Spitze der Regierung, dann übernahm er wieder diverse Armeekommandos.
Doch nachdem Piłsudski 1926 mit einem Staatsstreich die Macht ergriffen hatte, wurde Sikorski zur Armeereserve beordert, was einem unfreiwilligen Vorruhestand gleichkam. Immerhin bekam er die Genehmigung zum Studium in der französischen Militärakademie in Paris; seit dieser Zeit wurde ihm nachgesagt, der französische Geheimdienst habe ihn angeworben. Unmittelbar nach dem Angriff der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 bat er um einen Kommandoposten, doch er wurde ihm verwehrt. Als sich die polnische Niederlage abzeichnete, setzte auch er sich nach Rumänien ab. Es gelang ihm, Kontakt zur französischen Botschaft aufzunehmen, sofort bekam er ein Visum für die Ausreise nach Frankreich.
Dank seiner Beziehungen in Paris konnte sich Sikorski dort in den heftigen Kämpfen unter den polnischen Emigranten um den Posten des Chefs der Exilregierung durchsetzen. Es gelang ihm, die Ausreise fast aller der 18.000 polnischen Soldaten, die in Rumänien interniert waren, nach Frankreich durchzusetzen. Später kamen noch mehrere Tausend Polen hinzu, die auf anderem Wege aus ihrer Heimat gekommen waren. Er übernahm überdies die Ämter des Verteidigungsministers und des Oberkommandierenden der Streitkräfte im Exil, die Franzosen stellten dafür Unterkünfte und gemeinsam mit den Briten auch Ausrüstung zur Verfügung. Von Paris aus unterstellte er sich außerdem die Untergrundgruppen, die sich im besetzten Polen bildeten.
Sikorski machte die Vorkriegsführung für den totalen militärischen Zusammenbruch vom September 1939 verantwortlich. Er setzte eine Kommission zur «Untersuchung der letzten Ereignisse in Polen und Feststellung ihrer Ursachen» ein, sogar einen Prozess ließ er vorbereiten. Viele Offiziere, die den ersten Untersuchungen zufolge eine Teilschuld an den desaströsen Kriegsvorbereitungen traf, ließ er auf französischem Boden internieren. Diese Maßnahmen waren überaus umstritten, ein Teil der polnischen Emigranten beklagte sie als persönlichen Rachefeldzug Sikorskis, der letztlich nur die Polen spalte.[5]
Doch Sikorski blieb bei seiner unversöhnlichen Linie. Er hielt auch daran fest, als die Wehrmacht im Sommer 1940 die französische Armee und die ihr zu Hilfe eilenden britischen Verbände aufrieb. Gemeinsam mit den fliehenden Briten konnte die polnische Exilarmee, die an den Kämpfen nicht teilgenommen hatte, über den Ärmelkanal nach England übersetzen. Der neue britische Premier Winston Churchill hatte zuvor der Exilregierung London als neuen Sitz angeboten. Doch weder Berlin, noch Moskau erkannten sie an.
Das Deutsche Reich annektierte die westlichen und nordwestlichen Regionen Polens. Der Rest des von ihnen besetzten Polens hieß fortan Generalgouvernement, der frühere Leiter des Rechtsamtes der NSDAP Hans Frank residierte als Generalgouverneur auf dem Wawel, der alten Krakauer Königsburg. Die SS machte Jagd nicht nur auf Juden, für deren Ermordung der Begriff «Sonderbehandlung» erdacht wurde, sondern auch auf die polnische Oberschicht und auf Intellektuelle. Bei der AB-Aktion, der «außerordentlichen Befriedung», wurden 5000 Polen ermordet, Guts- und Fabrikbesitzer, Lehrer und Professoren, Juristen, Ärzte, Ingenieure und Geistliche. Ein Großteil der Überlebenden aus diesen Gruppen kam in Konzentrationslager. Mehr als zwei Millionen Polen mussten Zwangsarbeit für deutsche Betriebe leisten. Das «Sonderstrafrecht für Polen» nahm ihnen jeglichen Rechtsschutz. Auch konnte jederzeit das private Hab und Gut von Polen beschlagnahmt werden.
Die Besatzer schlossen sämtliche höheren Bildungseinrichtungen für Polen, die Universität Krakau wurde zur deutschen Hochschule, einige wenige polnische Professoren durften dort als wissenschaftliche Hilfskräfte weiter arbeiten. Polen sollte als Kulturnation vernichtet werden. Frank erläuterte seinen Spitzenbeamten und den höheren SS-Offizieren im Generalgouvernement: «Was wir jetzt an Führerschicht in Polen festgestellt haben, das ist zu liquidieren.»[6]
Systematisch transportierten die Besatzer Kunstgegenstände aus Museen und Kirchen ins Reichsgebiet. Gleichzeitig gaben sie polnischsprachige Zeitungen heraus, die nicht nur Erfolge der Wehrmacht bejubelten, sondern auch die «neue Ordnung» im Generalgouvernement priesen. Die polnischen Untergrundgruppen nannten sie «gadzinówka» – «Reptilienpresse». Das Wort steht bildlich für das Kriechertum, das den polnischen Mitarbeitern der Redaktionen vorgeworfen wurde. Sie galten als Kollaborateure, der Untergrund verübte Anschläge auf sie.
In Ostpolen sah die Rote Armee zunächst tatenlos zu, wie marodierende Banden durch die Dörfer zogen. Hunderte von «Pans», wie man unter Verwendung der polnischen Höflichkeitsform die Grundbesitzer nannte, wurden zum Teil auf bestialische Weise ermordet. Erst nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, den sie offenkundig angestrebt hatten, nahmen sich sowjetische Funktionäre mit harter Hand der Gebiete an.
Am 22. Oktober 1939, also fünf Wochen nach dem Einmarsch der Roten Armee, fanden in den besetzten Gebieten Wahlen zu den regionalen Räten, den Sowjets, statt. In den Wahllokalen standen Offiziere der sowjetischen Geheimpolizei NKWD. Mehr als 90 Prozent der Stimmen entfielen auf die Befürworter eines Anschlusses der Gebiete an die Sowjetunion. Die Sowjets verabschiedeten bei ihren ersten Sitzungen entsprechende Gesuche, am 1. November 1939 entsprach der Oberste Sowjet in Moskau den Bitten. Alle Einwohner wurden umgehend zu Sowjetbürgern erklärt. Damit unterlagen die Männer der Wehrpflicht, rund 150.000 mussten in den Baubataillonen der Roten Armee Zwangsarbeit leisten.
An die Spitze der Behörden traten Sowjetfunktionäre. Der NKWD organisierte ein Netz von Straßenbeauftragten und Blockwarten, die auch das Privatleben der Stadtbewohner ausspionieren sollten. Alle Kirchen und Synagogen wurden geschlossen, alle Priester, die nicht rechtzeitig in den Untergrund gegangen waren, verhaftet, römisch-katholische Polen ebenso wie griechisch-katholische (unierte) und orthodoxe Ukrainer; auch die Rabbiner waren grausamer Verfolgung ausgesetzt. Der NKWD ermordete mehrere Hundert Priester, die Überlebenden kamen fast ausnahmslos in den Gulag.
Amts- und Schulsprachen wurden Ukrainisch und Russisch. Um die Bevölkerung besser zu kontrollieren, gaben die Behörden sowjetische Pässe aus. Ohne Pass gab es keine Arbeitserlaubnis, keinen Wohnberechtigungsschein, keine Fahrkarten. Doch «Klassenfeinde» bekamen keinen Pass. Dazu gehörten Geschäftsleute, Haus- und Grundbesitzer sowie «Kulaken», Bauern mit eigenem Hof. Die Kleinbauern mussten sich zu Kolchosen zusammenschließen, wer sich widersetzte, kam ins Gefängnis. Auch wurden sämtliche Betriebe verstaatlicht ebenso wie die privaten Sparguthaben. Millionen Menschen verarmten auf diese Weise in kürzester Zeit.
Innerhalb weniger Wochen pflügten sowjetische Funktionäre die gesamte Gesellschaft um. Wie bereits bei den Großen Säuberungen in der Sowjetunion von 1936 bis 1938 demoralisierte der NKWD die Bevölkerung durch wahllose Verhaftungen. Nach Berechnungen von Historikern saß etwa ein Zehntel der Bevölkerung in den völlig überfüllten Gefängnissen, in denen auch Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil an der Tagesordnung waren.
Regelmäßig trafen sich hohe Offiziere der Gestapo und des NKWD, um ihre Zusammenarbeit zu regeln. In einem Geheimabkommen hatten sich beide Regierungen verpflichtet, keine «polnische Agitation» zu dulden. Mehrere dieser Treffen, die in Krakau, Zakopane und in Lemberg stattfanden, sind durch Zeitzeugen gut belegt. Zu ihnen gehörten Kameradschaftsabende, bei denen Gestapo- und NKWD-Leute auch auf den «Führer» sowie auf Stalin anstießen. Bei Generalgouverneur Frank in Krakau war ein Oberst des NKWD akkreditiert.
Nach vier großen Verhaftungswellen musste fast eine Million Einwohner der annektierten Gebiete die beschwerliche Reise nach Sibirien, Kasachstan und in die Bergbaugebiete am Polarkreis antreten. Zu ihnen gehörten der damals 16 Jahre alte Wojciech Jaruzelski und seine Eltern. Unter den Deportierten waren auch Zehntausende von Juden; besonders hatte es der NKWD auf Zionisten abgesehen.[7]
Die Verpflegung während der oft mehrere Wochen dauernden Transporte war miserabel und völlig unzureichend, insgesamt starben rund 100.000 der Deportierten auf dem Weg nach Osten.[8] Auch im Winter fuhren die Züge. Im Bericht eines Zeitzeugen ist festgehalten: «Frost 35–40 Grad. Die ganze Nacht wurden die Leute hergebracht, dann in den Waggons gehalten. Eine Mutter hatte ein Baby im Alter von ein paar Monaten. In dem unbeheizten Waggon starb das Kind. Als man die Tür öffnete und den Leuten in Eimern heißes Wasser gab, warf die Frau das tote Kind dem NKWD-Offizier direkt ins Gesicht. Die kleine steife Leiche fiel zwischen die Bahngleise. Der Offizier rief zwei Soldaten, die nahmen die Leiche, und das war es.»[9]
An den Bestimmungsorten rissen die Wachmannschaften gezielt Familien auseinander. Oft mussten sich die Deportierten erst selbst Unterkünfte bauen, Block- oder Lehmhütten. Männer mussten Schwerstarbeit leisten, Kinder kamen in Sonderlager, in denen ihnen die Liebe zu dem «weisen Führer Stalin» eingetrichtert wurde. Auch Erwachsene mussten regelmäßig an Versammlungen teilnehmen, auf denen Polen als Ausbeuterstaat und die katholische Kirche als Institution von Volksverdummern gebrandmarkt wurden. Die Verpflegung war schlecht, eine ärztliche Versorgung meist nicht vorhanden. Die Lebenserwartung im Lager lag unter einem Jahr.[10]
Die sowjetischen Behörden überließen die Wohnungen und Häuser der Deportierten durchweg Russen, die bislang nur einen Bruchteil der Einwohner in den annektierten Gebieten ausgemacht hatten. Sie wurden gezielt in den Städten angesiedelt. Russen übernahmen auch die Leitung der meisten größeren Betriebe. Die Metropole Lemberg hatte zuvor in ihrer Geschichte noch nie unter russischer Herrschaft gestanden. Der sowjetische Terror dieser Zeit hat sich tief in das Gedächtnis der später zwangsumgesiedelten Polen aus der Region sowie der zurückgebliebenen ukrainischen Bevölkerung eingegraben; die Erinnerung daran prägt bis heute ihr Verhältnis zu Russland, wo dieses Kapitel allerdings weitgehend unbekannt blieb.
Die Nachrichten über die Massenrepressionen gelangten auch den westlichen Regierungen zur Kenntnis. So schrieb Owen O’Malley, britischer Botschafter bei der polnischen Exilregierung, in einer Analyse in Diplomatensprache: «Selbst wenn die sowjetische Regierung die Polen nicht als minderwertige Rasse behandelte, wie es die Deutschen zweifellos getan haben, so ist es schwierig, nicht zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass das Maß an menschlichem Leid, das sie den Polen angetan haben, nicht geringer war als das ihnen von den Deutschen in derselben Zeit zugefügte.»[11]
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Polen knapp eine Million Soldaten mobilisiert, an der Spitze standen 98 Generäle. Diesen unterstanden 40.000 Offiziere; etwas mehr als die Hälfte, nämlich 21.500, waren Reservisten, von denen die große Mehrheit über eine Hochschulbildung verfügte. Bei den Kriegshandlungen im September und Oktober 1939 fanden fast 2000 polnische Offiziere den Tod, unter ihnen vier Generäle. In deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten knapp 420.000 polnische Soldaten, darunter 18.000 Offiziere.
Die Rote Armee machte 180.000 polnische Gefangene. In den folgenden Wochen verhaftete der NKWD weitere 60.000 Polen, die in den Streitkräften gedient hatten, aber nach dem Ende der Kampfhandlungen in ihre Heimatorte in Ostpolen zurückgekehrt waren. Insgesamt waren unter den polnischen Kriegsgefangenen, die die Rote Armee im Herbst 1939 an die neu gegründete Hauptverwaltung Kriegsgefangenenwesen des NKWD übergab, rund 10.000 Offiziere. An deren Spitze stand der NKWD-Oberleutnant Pjotr Soprunenko – der Rang entsprach einem Major beim Militär.[1]
Dass Kriegsgefangene den Innenbehörden unterstellt wurden, denn als solche galt formal der NKWD, war durch das internationale Recht nicht gedeckt. Allerdings hatte die Sowjetunion nicht die Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 unterzeichnet. Auch hatte Moskau mit dem Einmarsch in Ostpolen im September 1939 Warschau nicht den Krieg erklärt, sondern den Angriff als «Schutzmaßnahme» für die dortige weißrussische und ukrainische Bevölkerung deklariert. Die Regierung in Warschau hatte ihrerseits ebenfalls trotz des Vordringens der Roten Armee auf polnisches Territorium auf eine Kriegserklärung verzichtet.
Die Folgen waren schwerwiegend. Denn so hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf keine rechtliche Handhabe, auf die Betreuung der Kriegsgefangenen zu dringen, einschließlich Inspektionen in den Lagern. Vor allem aber nahmen die sowjetischen Besatzer nach der Annexion der Gebiete Ostpolens für sich in Anspruch, dessen Bevölkerung nach sowjetischem Recht zu behandeln. Dies erstreckte sich auch auf die kriegsgefangenen Offiziere.[2]
8500 von ihnen, mehr als 6000 davon Reservisten, wurden auf drei NKWD-Lager verteilt: Koselsk, Ostaschkow und Starobelsk. Hinzu kamen 6500 Polizei- und Gendarmerie-Offiziere sowie Offiziersanwärter, schließlich Beamte des Justizdienstes und der Militärverwaltung. Gleichzeitig wurden Zehntausende von Unteroffizieren und Mannschaftssoldaten zur Zwangsarbeit in entlegene Gebiete der Sowjetunion deportiert, vor allem an den Polarkreis, nach Sibirien und Kasachstan.
Das Lager Koselsk rund 250 Kilometer südwestlich von Moskau befand sich in einem von den Bolschewiken aufgelösten und geplünderten Kloster. Im 19. Jahrhundert galt es als eines der geistigen Zentren der russisch-orthodoxen Kirche. Die Anzahl der polnischen Kriegsgefangenen lag bei rund 4500. Mehr als zwei Drittel waren Reservisten, fast alle gehörten der intellektuellen Elite an. Darunter waren mehrere Dutzend Universitätsprofessoren sowie etwa 100 Publizisten und Journalisten. Nach Dienstgraden aufgeteilt befanden sich unter den Gefangenen von Koselsk vier Generäle, rund 400 Stabsoffiziere, mehr als 3500 Hauptleute und Leutnante, 500 Fähnriche. Hinzu kamen etwa 60 Spitzenbeamte, die keine Armeeangehörigen waren, sowie zwei auf den NKWD-Listen als solche ausgewiesene Gutsbesitzer.