Cover

Gerhard Streminger

ADAM SMITH

Wohlstand und Moral

Eine Biographie

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C.H.Beck

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Adam Smith (1723–1790). Sandsteinstatue von Hanns Gasser, um 1867

ZUM BUCH

Der Schotte Adam Smith war nicht nur der wichtigste Vordenker von Kapitalismus und Marktwirtschaft, sondern auch ihr erster grundlegender Kritiker. Das zeigt Gerhard Streminger in seiner spannenden, aus den Quellen gearbeiteten Biographie des «ökonomischen Luther», wie Friedrich Engels Smith einmal nannte.

«Der Beitrag von Smiths Wohlstand der Nationen für unser Verständnis dessen, was später Kapitalismus genannt wurde, ist kaum zu überschätzen.» Amartya Sen

ÜBER DEN AUTOR

Gerhard Streminger lehrte Philosophie an der Karl-Franzens-Universität in Graz und an der University of Minnesota in Minneapolis. Bei C.H.Beck veröffentlichte er 2011 David Hume. Der Philosoph und sein Zeitalter. Eine Biographie.

INHALT

DER JUNGE GELEHRTE

Zur Schottischen Aufklärung

Familie und Kindheit

Glasgow, Oxford, Edinburgh

«Essays über philosophische Gegenstände»

DER MORALPHILOSOPH

Der Lehrer

Die ‹Edinburgh Review›

Aktivitäten in Clubs

«Die Theorie der ethischen Gefühle»

Ausgangspunkt

Sympathie und Werturteil

Sympathie und Affekte

Sympathie und gesellschaftlicher Rang

Der Unparteiische Betrachter

Pflicht und Neigung

Sympathie und Tugend

Nützlichkeit

Die klassischen Systeme der Moralphilosophie

Reaktionen

PROFESSOR IN GLASGOW

Verwalter der Universität

Vorlesung über Rhetorik

Ursprung der Sprache

Sprachtypen

Rhetorik

Vorlesung über Jurisprudenz

Vier Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung

Regierungsformen

Politische Ökonomie

Abschied

DER ÖKONOM

Als Privatlehrer in Frankreich

Arbeit am großen Werk

«Der Wohlstand der Nationen»

Arbeitsteilung

Werttheorie

Lohn, Gewinn, Rente

Natürliches Wachstum des Wohlstands

Merkantilismus

Kolonien

Physiokratie

Bildung und Schule

Kirche und Staat

Steuern

Diskussion und Reaktionen

DER ZOLLKOMMISSAR

Humes Tod

«Die nachahmenden Künste»

Bürger Edinburghs

Der Kreis der Freunde

Die letzten Lebensjahre

Das Wesen der Tugend

EDITORISCHE NOTIZ

DANKSAGUNG

ZEITTAFEL

ANMERKUNGEN

Der junge Gelehrte

Der Moralphilosoph

Professor in Glasgow

Der Ökonom

Der Zollkommissar

BIBLIOGRAPHIE

Schriften von Adam Smith

Biographien und Bibliographien (Auswahl)

Historischer Hintergrund (Auswahl)

Schwerpunkt: Das Werk Smiths (Auswahl)

NACHWEIS DER ABBILDUNGEN

NAMENREGISTER

Fußnoten

DER JUNGE GELEHRTE

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Zur Schottischen Aufklärung

Schottland war lange Zeit ein Ort des Mangels. Im Mittelalter lag das Land weitgehend unbeachtet am Rande Europas. Aber mit der Reformation verlagerte sich die intellektuelle und wirtschaftliche Macht Europas allmählich vom Mittelmeerraum an die Nordsee- und Atlantikküste. Entscheidend für diese Entwicklung war der hohe Wert von Bildung. Im Gegensatz zur katholischen Tradition sollte im reformierten christlichen Verständnis jeder die letzte Autorität – die Bibel als das geoffenbarte Wort Gottes – selbst studieren und befragen können. Dazu war es jedoch nötig, dass Menschen über eine Grundbildung verfügten, also zu schreiben und vor allem zu lesen vermochten. Nicht zuletzt dieses Ideals einer Allgemeinbildung wegen begann Europa, dieser bescheidene Anhang einer gewaltigen Landmasse, in den evangelisch geprägten Ländern seine lang andauernde Rolle als intellektuelles und ökonomisches Zentrum der Welt zu spielen.

Geographisch ist Schottland zweigeteilt: in das karge, von Kelten bewohnte Hochland im Norden und Westen sowie in das von germanischen Völkern besiedelte fruchtbare Tiefland im Süden und Osten. Von den zahlreichen Kämpfen mit Engländern war insbesondere der Süden Schottlands betroffen. Das dortige Grenzland war oft jahrzehntelang so gut wie unbewohnt und ist heute noch zum Teil Ruinenland, wie die Abteien von Dryburgh, Jedburgh, Melrose und Kelso zeigen.

Noch heftiger als in den meisten anderen Ländern vollzog sich in Schottland die Reformation der alten Kirche. Auf der einen Seite stand Königin Mary Stuart als Symbol des Feudalismus und römischen Katholizismus. Aufgewachsen im Prunk und Pomp des französischen Königshofes, regierte sie Schottland im Bewusstsein, Herrscherin von Gottes Gnaden und daher über alle weltlichen Gesetze erhaben zu sein. Ihr großer Gegenspieler war der «unbarmherzigste aller Kirchengründer», der seinen Lehrer Jean Calvin an «Unerbittlichkeit und Unduldsamkeit» noch übertraf: der 1514 nahe Haddington, einer kleinen Stadt im Süden Schottlands, geborene John Knox.[1] Sonntag für Sonntag schleuderte dieser kaledonische Jehova von der Kanzel in St. Giles, Edinburghs Hauptkirche, seine Flüche gegen die Königin, von der er eine Unterwerfung unter sein theokratisches Gebot forderte; gegen die Gemeinde Verführter, die in blasphemischer Weise den Papst und die Mutter Jesu und die Reliquien Verstorbener anstelle Gottes verehrten; gegen die spirituelle Despotie des katholischen Klerus, der nicht wahrhaben will, dass Christus dem mit IHM Gekreuzigten dessen Sünden ohne Sakramente vergeben hatte. Unter Knox’ geistiger Führung vertrieben die Schotten ihre Königin. Mary Stuart wurde 1587 nahe London enthauptet, nachdem sie eine Verschwörung gegen die Nichtkatholikin Elizabeth, die englische Königin, unterstützt hatte. Einige Jahre zuvor war Elizabeth vom Papst exkommuniziert und damit praktisch für vogelfrei erklärt worden.

Nach Königin Elizabeths Tod bestieg der Sohn Mary Stuarts im Jahr 1603 als James I. den englischen Königsthron. Engländer und Schotten wurden fortan von einem Königshaus, also in Personalunion, regiert. James hatte in seiner schottischen Heimat den Rigorismus und die Engstirnigkeit der calvinistischen Kirche kennen und verabscheuen gelernt. Die von Knox geforderte demokratische Wahl des Pastors (jede Gemeinde sollte ihr geistliches Oberhaupt selbst wählen) empfand James I. zu Recht als Bedrohung für den Feudalismus und die Monarchie. Nach dem Vorbild der hierarchisch geordneten anglikanischen Bischofskirche Englands sollte die ‹Kirk›, die calvinistische Kirche Schottlands, neu organisiert werden. Als sein Sohn Charles I. diese episkopalischen Bestrebungen fortsetzte und die Pastoren wieder von oben, also von Bischöfen und damit letztlich vom König, eingesetzt wurden, kam es in Schottland zum erbitterten Widerstand. Die allermeisten Calvinisten verteidigten das demokratische Recht auf freie Wahl ihres Geistlichen. Sie wollten in spirituellen Dingen ihrem von Gott gegebenen Gewissen folgen und nicht von staatlicher Autorität bevormundet werden. Mehrere calvinistische Rebellionen wurden blutig niedergeschlagen. Diese Aufstände, von Pastoren geschürt, schufen ab 1650 in Schottland einen mit der katholischen Inquisition vergleichbaren Priesterterror.[2] Während in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England aufgeklärteres, liberaleres Gedankengut allmählich an Einfluss gewann, versanken weite Teile Schottlands im finstersten Mittelalter. So galt es als besonderes Zeichen von Gottesfurcht, einer am Sonntag in Seenot geratenen Schiffsbesatzung nicht zu helfen, also sich nicht durch belangloses Irdisches von der Verehrung des Schöpfers des Himmels und der Erde abbringen zu lassen. Aus der Gottes- folgt offenbar nicht immer auch Menschenliebe.

In der Glorreichen Revolution von 1688/89 wurde der katholische und absolut regierende letzte Stuartkönig vom englischen Königsthron vertrieben. An seiner Stelle berief das Parlament ein protestantisches Herrscherhaus aus den Niederlanden, deren Bewohner im 17. Jahrhundert ein ‹goldenes Zeitalter› erlebten. Die danach vom Parlament verabschiedete Gesetzgebung garantierte der schottischen ‹Kirk› zwar relative Eigenständigkeit – so wurde die episkopale Kirchenordnung, die nach der Restauration der Stuarts 1662 in Schottland eingeführt worden war, wieder aufgehoben. Aber ökonomisch änderte sich nichts, denn weiterhin war es Schotten untersagt, mit England und dessen Kolonien auf legale Weise Handel zu treiben. Als von 1696 bis 1703 das Land außerdem von Missernten heimgesucht wurde, die etwa zehn Prozent der Schotten das Leben kosteten und weitere 20 bis 40 Prozent zu Bettlern machten, war den politisch Verantwortlichen klar, dass die wirtschaftliche Lage des Landes von Grund auf verbessert werden musste.

Zu diesen Naturkatastrophen und den sieben mageren Jahren kam um 1700 noch der misslungene Versuch, in Mittelamerika eine eigene Kolonie zu gründen. Die Söhne Kaledoniens besaßen zwar gute Bildungseinrichtungen und Universitäten, aber verglichen mit den Engländern waren sie bettelarm, ohne Kolonien und so gut wie ohne Exporthandel. Also versuchten sie, in Panama einen Handelsstützpunkt zu errichten. Darien, wie das Gebiet hieß, wurde jedoch von Spaniern beansprucht, und die Engländer – um die guten Beziehungen zu Spanien besorgt – waren nicht bereit, den Schotten zu helfen. Zudem wimmelte es in Darien von Malariamücken, sodass einige Monate später nur noch eine Handvoll der 1200 Pioniere gesund nach Schottland zurückkehrte. Neben den vielen Opfern war damit auch ein Großteil der ohnedies höchst bescheidenen Ersparnisse des Landes verloren, und als Folge brach die neu gegründete Bank of Scotland zusammen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Schottland also ein failed state.[3]

Was aber sollte dieses in vielerlei Hinsicht rückständige, an einen vergleichsweise reichen Nachbarn grenzende kleine Land tun? Zwei unversöhnliche Auffassungen über die Neuorganisation der schottischen Gesellschaft bildeten sich heraus. Eine Gruppe, allen voran Andrew Fletcher of Saltoun, sah die Lösung der Probleme in der Förderung des Inlandsmarktes: Orientiert am Vorbild Spartas, sollte Schottland selbst verwaltet und die Gesellschaft völlig durchorganisiert werden. Diese Idee einer strikten Wirtschaftsplanung fand Unterstützung bei vielen Calvinisten. Denn sie waren der Ansicht, dass ökonomisches Wachstum unweigerlich zu moralischem Verfall führe, wenn dieses von keiner vom wahren Glauben inspirierten Behörde kontrolliert werde.

Die andere Gruppe dachte indes gleichsam exzentrisch, orientierte sich also nach außen und sah die Lösung der Probleme in der Belebung des Exporthandels sowie in der Aufhebung aller Handelsschranken mit England und dessen Kolonien. Die von den Engländern für den freien Warenhandel von den Schotten geforderte Gegenleistung war allerdings extrem hoch, nämlich die Auflösung des Parlaments in Edinburgh und dessen Vereinigung mit dem englischen in London. Nach langen Debatten willigten die Verantwortlichen schließlich ein. Schottland verlor 1707 seine Unabhängigkeit, und Großbritannien entstand.

Jahrzehnte später versuchten die Aufklärer, diese Entscheidung zu rechtfertigen, die zum Teil äußerst unpopulär war: An die Befürworter der Union waren hohe Schmiergelder geflossen, zudem waren schottische Sonderrechte abgeschafft und die anglikanische Liturgie wieder eingeführt worden. Vor allem jedoch wurde der Verlust an Eigenstaatlichkeit nicht dadurch kompensiert, dass nun im vereinigten Parlament in Westminster die neuen Mitglieder gerecht behandelt worden wären, ganz im Gegenteil: Im House of Lords waren von 206 Sitzen gerade einmal 16 für schottische Peers, also Angehörige des Hochadels, reserviert; und im Parlament saßen 45 Schotten inmitten von insgesamt 568 Abgeordneten. Das Verhältnis der Bevölkerungszahl war damals jedoch etwa 1 (Schotten) zu 6 (Engländer), also wäre es fair gewesen, dass etwa doppelt so viele schottische Abgeordnete im Parlament in London Platz gefunden hätten, als dies tatsächlich der Fall war.

Trotz dieser offenkundigen Ungerechtigkeiten hießen die späteren Aufklärer die Union der beiden Länder willkommen, da ihrer Meinung nach die Vorteile die Nachteile bei weitem überwogen. Eines ihrer Hauptargumente zur Rechtfertigung der Union war die Betonung der Gleichheit aller Menschen jenseits nationaler Schranken. Diese kosmopolitische Perspektive hatte Fletcher ausdrücklich abgelehnt: «Niemand kann ein guter Bürger eines bestimmten Gemeinwesens und ein Weltbürger, niemand kann ein wahrer Freund seines Landes und der Menschheit zugleich sein.»[4] Vor einem solchen national begrenzten Hintergrund ist es gewiss kein Zufall, dass der Aufklärer David Hume seinem philosophischen Hauptwerk den Titel Ein Traktat über die menschliche Natur gab und der Aufklärer Adam Smith dem seinen: Der Wohlstand der Nationen.

Die Vereinigung der Parlamente in London und die Öffnung der Grenzen beider Länder hatten für Schottland zwei weitreichende Folgen:

1. Es kam zum kulturellen Austausch mit England. Liberaleres Gedankengut aus dem Süden durchbrach alsbald einige der insbesondere in Edinburgh ohnedies bereits brüchig gewordenen Festungsmauern der calvinistischen Orthodoxie. Der englische Deismus, der teilweise auf antikem, stoischem Gedankengut basierte, wurde zur optimistischen Religion der meisten Schottischen Aufklärer. Alle Vertreter dieser ‹natürlichen Religion› standen damals unter dem Eindruck der Naturphilosophie des Engländers Isaac Newton. Dieser hatte in intersubjektiv überprüfbarer Weise mithilfe der Annahme einer Anziehungskraft der Massen viele Naturphänomene zu erklären vermocht. Newton war der Meinung, in dieser ordnungsstiftenden Macht der Gravitation das Wirken einer wohlwollenden Gottheit erkennen zu können, und die Deisten zogen daraus zwei folgenreiche Schlüsse:

Das Höchste Wesen offenbart Seinen Willen nicht in Wundern, also in willkürlichen Abweichungen von Naturgesetzen, sondern in der natürlichen, harmonischen Ordnung des Universums. Diese ist den Sinnen und dem Verstand, also den natürlichen Erkenntnisfähigkeiten des Menschen, zugänglich.

Und: Das Wort Gottes ist unklar und widersprüchlich. Diese Vieldeutigkeit war eine der Hauptursachen für die fürchterlichen Religionskriege des 16. und insbesondere 17. Jahrhunderts. Dementgegen ist Gottes Schöpfung eindeutig, weshalb wir aus dem Buch der Natur – und eben nicht aus dem angeblich von Gott geoffenbarten Buch der Bücher – die wahren Eigenschaften und Gedanken des Höchsten Wesens erkennen sollten.

Nach der christlich-orthodoxen Verdüsterung des Naturverständnisses durch die Doktrin der Ursünde und die Lehre, dass wir uns in einem nachparadiesischen Zustand befänden, bedeutete der Deismus nicht zuletzt eine fundamentale Aufwertung der Natur, sowohl der belebten und unbelebten als auch der menschlichen. Denn unsere Natur wurde nun nicht mehr als verderbt und ohne die Gnade Gottes als unfähig zur Moralität interpretiert, sondern als befähigt, die Werke Gottes zu schauen, zu verstehen und selbstständig das Richtige zu tun. Einer der ersten schottischen Deisten war James Thomson, der Dichter von Rule, Britannia und Autor des von Franz von Swieten bearbeiteten und von Joseph Haydn vertonten Gedichtes The Seasons, ‹Die Jahreszeiten›.

2. Allmählich setzte in Schottland ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, und bald überlagerten Gespräche übers Geschäft hitzige theologische Debatten. Zwei gesellschaftliche Gruppen gewannen gegenüber Adeligen und Priestern an Einfluss: Unternehmer und Intellektuelle. Die von Knox gestreute Saat, nämlich ein vergleichsweise vorzügliches Bildungssystem, konnte sich nun, nach der Lockerung der Fesseln geistlicher Vormundschaft, entfalten. Als die Schottischen Aufklärer zur Schule gingen, gab es in England zwei Universitäten – und in ihrer Heimat mit einem Sechstel der Bevölkerung (etwa 1 ¼ Millionen) fünf: St. Andrew’s, Glasgow, King’s College Aberdeen, Edinburgh und Marishal College Aberdeen (in der Reihenfolge ihrer Gründung).

Innerhalb weniger Jahrzehnte holten die Schotten bestehende Rückstände nicht nur auf, sondern ihr Land wurde auf vielen Gebieten das führende. Mit verständlichem Staunen meinte am Höhepunkt der Aufklärung Amyat, der englische Apotheker des Königs, zu William Smellie, seinem schottischen Freund und ersten Verleger der Encyclopaedia Britannica: «Hier stehe ich am ‹Kreuz von Edinburgh› und kann in wenigen Minuten 50 Genies und Gelehrten die Hand schütteln.»[5] Unter anderen David Hume, dem Vater der modernen Philosophie, dessen Skeptizismus auch Immanuel Kant aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt und seiner Philosophie eine ganz andere Richtung gegeben hatte; James Watt, dem Erfinder der universell einsetzbaren Dampfmaschine, des Arbeitspferdes der Industriellen Revolution, nach dessen Namen auch heute noch die Grundeinheit von Leistung benannt ist; James Hutton, dem Begründer der modernen Geologie; William Robertson, einem der bedeutendsten Historiker seiner Zeit; Joseph Black, dem Entdecker des Kohlendioxids, des Elements Magnesium, des Phänomens der latenten Wärme und Mitbegründer der modernen Chemie; Thomas Reid, dem einflussreichen Vertreter der Common-sense-Philosophie; Robert Adam, dem größten britischen Architekten seiner Zeit; Adam Ferguson und John Millar, den Mitbegründern der modernen Soziologie; Allan Ramsay und Henry Raeburn, herausragenden Porträtmalern des 18. Jahrhunderts; den Doktoren Monro, die gemeinsam mit William Cullen Edinburghs Medizinische Fakultät zur besten Europas machten, deren Ruf selbst noch Charles Darwin anlockte; und schließlich Adam Smith, dem «Gesellschaftstheoretiker der Moderne»,[6] dessen Wohlstand der Nationen seinen Namen «unsterblich gemacht und nach der Meinung berufener Historiker vielleicht mehr Einfluss auf das Denken und Handeln der Kulturvölker gehabt hat als irgendein anderes Werk dieser an neuen und fruchtbaren Gedanken so reichen Zeit».[7] Heute, 250 Jahre später, ist Smiths monumentale Arbeit zur Politischen Ökonomie immer noch der Standardtext der Wirtschaftswissenschaft.

Die wissenschaftlich-industrielle Revolution ist, wie Karl Jaspers es formulierte, eine «Achse der Menschheit».[8] Es ist hierzulande kaum bekannt, dass diese Umwälzung der menschlichen Gesellschaft maßgeblich von Schottland, das im 18. Jahrhundert eine Blütezeit des Geistes erlebte, ihren Ausgang genommen hat. 1707 verlor das Land seine Eigenstaatlichkeit und wurde zu einem mehr oder minder ungerecht behandelten Teil Großbritanniens. Doch als Schottland politisch abhängig geworden und die herrschende Klasse nach London umgesiedelt war, wurde das Land zur «Brutstätte genial begabter Menschen».[9] Die Schottischen Aufklärer entfachten einen intellektuellen Sturm und einen Pioniergeist, der weit in die Moderne reicht.

Von den Französischen Aufklärern unterschieden sich die Schotten nicht zuletzt durch ihren Pragmatismus: Sie stellten radikale Fragen – philosophisches Fragen ist immer radikal, geht also ‹an die Wurzel› –, kamen aber zu keinen extremen, sondern zu gemäßigten Antworten. Im Gegensatz zur Französischen Aufklärung kennt die Schottische keinen totalitären Flügel. Kein Schotte kam auf die Idee einer volonté générale, eines sakralen und absoluten Gemeinwillens, der etwas anderes als die Summe der Einzelinteressen ist. Zu dessen Einhaltung können, wie Anhänger Jean-Jacques Rousseaus meinten, Menschen unter gewissen Bedingungen auch gezwungen werden, damit sie ‹frei werden›. Aber Menschen zu zwingen bedeutet gerade nicht, sie aufzuklären. Mit der großen Ausnahme David Humes bekämpften die Schottischen Aufklärer auch die Religion nicht, sondern nur deren fanatisierte Auswüchse; und zu guter Letzt waren sie ausgesprochen empirisch-wissenschaftlich orientiert, also an Fakten und nicht an Meinungen interessiert. Es ist ein weit verbreiteter, sich hartnäckig haltender Irrtum, dass die Epoche der Aufklärung vor allem in Frankreich ihren Ursprung habe. In Wahrheit wurzelt sie aber wesentlich in den Universitäten von Glasgow und Edinburgh – und in den Kneipen insbesondere der Hauptstadt, wo Intellektuelle die Glaubensinhalte ihrer Väter von Grund auf hinterfragten und heftige Debatten führten, etwa über Moral, über die beste Staatsverfassung, über chemische und geologische Phänomene und über die beste Art zu wirtschaften. In ihren Debatten kamen sie zu bahnbrechenden Ergebnissen. Ohne die großen schottischen Denker des 18. Jahrhunderts, die sich in ihrem methodischen Vorgehen insbesondere am Vorbild Newtons orientierten, wäre die Welt eine erhebliche Zeit lang ein deutlich dämmrigerer Ort geblieben.[10]

Von dem überaus wichtigen Einfluss aus dem Süden – Newton – einmal abgesehen, wurzelte die Epoche der Aufklärung in Schottland tief im Bildungswesen des eigenen Landes, das bereits so hervorragende Gelehrte wie den 1550 geborenen John Napier, den großen Mathematiker und Erfinder der Logarithmen, hervorgebracht hatte. Die Aufklärer konnten auf eine lange Bildungstradition aufbauen, wofür der Calvinismus die Wurzel und Schottlands Universitäten die Basis waren. Unter dem Einfluss eines aufgeklärten, innovativen Geistes, der nach den natürlichen Ursachen verschiedenster Ereignisse suchte, blühten die Universitäten weiter auf, die einen Großteil der Aufklärer auch beschäftigten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren wohl zwei Völker am weitesten in der Bekämpfung des Analphabetismus – Schotten und Juden.

Es war eine überaus kreative Zeit, diese wenigen Jahrzehnte von 1750 bis 1775, die als der Höhepunkt der Schottischen Aufklärung gelten. Aber die Bewohner des Landes standen der neuen Epoche keineswegs unkritisch gegenüber. So veröffentlichte James MacPherson ab 1760 seine Ossian-Dichtungen, in denen er keltische Lieder und Sagen, die vor allem von alten Heldentaten und der Natur als Seelenlandschaft handelten, zu neuen Erzählungen verwob. Diese Dichtungen wurden zum wichtigsten Zeugnis der europäischen Frühromantik. Selbst der Stürmer und Dränger Johann Wolfgang von Goethe ließ seinen Werther der geliebten Lotte in einer stürmischen Mondnacht mit den Worten MacPhersons sagen, was er leidet – in den keltischen Klageliedern wurde nicht nur der Tod der Helden, sondern auch das Los jener besungen, die in Trauer und Einsamkeit zurückbleiben mussten.

Aber auch innerhalb der Aufklärung gab es kritische Stimmen. So warnten Ferguson und Smith davor, dass das neue, kapitalistische Wirtschaften die Tugenden der traditionellen Gemeinschaften, die edleren menschlichen Fähigkeiten untergrabe. In seinem Wohlstand der Nationen formulierte Smith das Dilemma der Moderne: Jene Einrichtung, die für den ökonomischen Reichtum verantwortlich ist und die alle materiellen Grundbedürfnisse spielend decken könnte, die Arbeitsteilung, hat gesellschaftlich höchst bedenkliche Auswirkungen. Sie führt nämlich zur Verdummung und geistigen Verelendung der Massen. Dadurch werden demokratische Strukturen bedroht und gewinnen feudal-autoritäre Verhaltensweisen erneut an Einfluss. Mit dieser Kulturkritik verband Smith aufs Originellste die beiden schottischen Denkschulen des frühen 18. Jahrhunderts über die Neuorganisation der Gesellschaft: Ökonomisch ist eine Öffnung, ein freier Handel unbedingt vonnöten, damit die Vorteile der Arbeitsteilung zur Wirkung kommen, also zur Steigerung der Produktivität und damit auch zur Abwendung etwa von Hungersnöten führen können; aber andererseits treffen auch die calvinistischen Bedenken zu, denen zufolge das kapitalistische Wirtschaften zu moralisch problematischen Konsequenzen führe. Diesen Vorbehalten, die er teilte, gab Smith in seinem Wohlstand der Nationen eine aufgeklärte Wendung.

Außer den frühromantischen, eher rückwärtsgewandten Dichtungen MacPhersons und der Smith’schen Zivilisationskritik machte Robert Burns, der Barde Kaledoniens, durch seine Gedichte Scots, die alte Sprache der Lowland-Schotten, wieder hoffähig. Die großartigen Dichtungen von Burns, der in ebenjenem Jahr geboren wurde, in dem Smiths Theorie der ethischen Gefühle das Licht der Welt erblickte (1759), handeln insbesondere vom Alltag und von den Sorgen der einfachen Menschen, aber auch von deren Liebe und Zuneigungen. Und Sir Walter Scott sang dann in seinen historischen Romanen nicht zuletzt das Hohelied auf die romantischen Highlands. Scott war derjenige, dem es durch seine Bestseller gelang, vielen Engländern bewusstzumachen, dass die Bewohner des Nordens der Insel, mit denen sie schon lange in einem vereinten Königreich lebten, Partner auf Augenhöhe waren. Scott hat wesentlich zur Änderung der öffentlichen Wahrnehmung über die Highlands beigetragen, die insbesondere in England als ein Hort hinterwäldlerischer Aufrührer und Banditen galten. Immerhin hatten die dortigen Bewohner unter der Führung des jungen Bonnie Prince Charles Stuart 1745/46 auch einen Bürgerkrieg angezettelt. Diese negative öffentliche Meinung war wiederum die Wurzel für die Highland clearances im 18. und 19. Jahrhundert, also für die Vertreibung der keltischen Kleinbauern aus dem schottischen Hochland vor dem Hintergrund einer wesentlich profitableren Schafzucht.

Vom Leben und Werk Adam Smiths – eines der Fixsterne der Schottischen Aufklärung, die für die Geistes- und Kulturgeschichte ihres Landes eine einzigartige und für die Welt eine richtungsweisende Periode war – handeln die folgenden Ausführungen.

Familie und Kindheit

Adam Smith sen., der Vater des künftigen Autors des Wohlstands der Nationen, wurde 1679 geboren. Von Beruf Anwalt, war er Privatsekretär Hugh Campbells, des Grafen von Loudoun. Obwohl seine eigene Familie, die zum kleinen Landadel von Aberdeenshire gehörte, Anhänger des alten Herrscherhauses der Stuarts war, begeisterte Adam Smith sen. sich für die Glorreiche Revolution und das neue Herrscherhaus der Oranier. Er teilte hier die Ansichten seines Vorgesetzten Loudoun, eines Mitglieds des wohl mächtigsten schottischen Clans, der traditionell protestantischen Campbells. Loudoun hatte am Höhepunkt der Auseinandersetzungen als Studentenführer in Glasgow öffentlich «Bildnisse des Papstes und der Erzbischöfe von St. Andrews und Glasgow» verbrannt.[11]

Nach der gelungenen Revolution machte Loudoun eine spektakuläre Karriere und wurde schließlich Staatssekretär für Schottland. Sein Privatsekretär Adam Smith sen. erhielt den Posten eines Advokaten am höchsten Gerichtshof in Edinburgh, wo er sich vor allem mit Fragen der Guts- und Vermögensverwaltung beschäftigte. 1710 heiratete Adam Smith sen. Lilias Drummond of Milnab, die Tochter des ehemaligen Oberbürgermeisters der Stadt und Mitglieds des schottischen Parlaments. Adam und Lilias hatten einen Sohn, Hugh. 1714 zog die Familie nach Kirkcaldy, einer kleinen Hafenstadt auf der – von Edinburgh aus gesehen – gegenüberliegenden Seite des Firth of Forth. Dort übernahm Adam Smith sen. das Amt des königlichen Zollkommissars. Vier Jahre später starb Lilias, seine erste Frau. 1720 heiratete Adam Smith sen. Margaret Douglas, die 1694 geborene Tochter von Robert Douglas, einem reichen Grundbesitzer, Oberstleutnant und ebenfalls ehemaligen Abgeordneten im schottischen Parlament. Adam Smith sen. starb Anfang 1723 im Alter von nur vierundvierzig Jahren.

Wenige Monate nach seinem Tod wurde in Kirkcaldy sein zweiter Sohn geboren und am 5. Juni auf den Namen seines Vaters getauft. Der kleine Adam war ein so schwächliches Kind, dass sein Körper sehr wahrscheinlich sofort nach der Geburt mit geheiligtem Wasser beträufelt wurde, somit der Tag der Taufe auch der Tag seiner Geburt war. Allerdings fehlt im Taufregister ein diesbezüglicher Hinweis.[12] Eine weitere Quelle der Unsicherheit bezüglich des genauen Geburtsdatums besteht darin, dass der in Schottland noch übliche julianische Kalender damals dem tatsächlichen Sonnenstand um elf Tage nachhinkte. Dem ‹5. Juni› entspricht also in Wahrheit der 16. Juni. Erst 1751, also lange nach Smiths Geburt, wurde in Schottland der julianische durch den richtigen gregorianischen Kalender ersetzt, und der Tag nach dem 2. September als ‹14. September› gezählt. Somit ergibt sich als der wahrscheinlichste Tag der Geburt des Begründers der Politischen Ökonomie der 16. Juni 1723.

In den ersten Lebensjahren nahm der kleine Adam die ganze Fürsorge seiner jungen, tief religiösen und doch warmherzigen Mutter in Anspruch, die ihn «grenzenlos verhätschelt» haben soll.[13] Als knapp nach dem Tod von Adam Smith sen. eine Liste des Hausinventars erstellt wurde, standen in den Regalen etwa 80 Bücher, wobei die meisten religiösen Inhalts waren. Auch dürften im Haus in Kirkcaldy viele Bilder mit religiösem Bezug gehangen haben, so auch eines von der Jungfrau Maria, eines von den Heiligen Drei Königen und eines von Jean Calvin.[14] Dies legt den Schluss nahe, dass auch Smiths Vater durchaus fromm gewesen war, also der spätere Aufklärer in eine sehr religiöse, aber nicht sektiererische Familie hineingeboren wurde. Der sonntägliche Kirchgang gehörte, wie damals üblich, gewiss zu den Selbstverständlichkeiten der Woche. Nachhaltigen Eindruck scheint diese Verpflichtung auf Smiths intellektuelle Entwicklung insofern gemacht zu haben, als er in späteren Jahren gedankenlose religiöse Riten, also das bloß Statuarische, strikt ablehnte. Zugleich interessierte er sich jedoch zeitlebens brennend für ethische Fragen, eine Wissbegierde, die durch die sonntäglichen Predigten genährt worden sein dürfte, wenn auch bloß in eher allgemeiner Weise. Denn hinsichtlich der konkreten calvinistischen Doktrin von der völligen Verderbtheit der menschlichen Natur – als Folge des Sündenfalls von Adam und Eva – rebellierte Smith zumindest als Erwachsener.

Der kleine Adam wuchs unter durchaus privilegierten Umständen auf. Seine Mutter war Spross einer der mächtigen, begüterten Familien Schottlands, die seit dem Mittelalter die Geschicke ihres Landes mitbestimmte. Smiths Vater wiederum war Rechtsanwalt und hatte offenbar beste Kontakte zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft. Aber hinterließ er seinem kleinen Sohn auch einigen Wohlstand und Reichtum, so vererbte er ihm auch – wie seinem ersten Kind – einen ziemlich krankheitsanfälligen Körper, der Adam zeitlebens Beschwerden bereiten sollte. Hugh, Smiths Halbbruder, war ein noch kränklicheres Kind als Adam. Das Meeresklima Kirkcaldys war für ihn zu rau, weshalb er ins Landesinnere in ein Internat nach Perth geschickt wurde. Als Erwachsener kehrte er aber nach Kirkcaldy zurück und soll, wie sein Vater, im Zollamt tätig gewesen sein. Hugh starb im Alter von knapp vierzig Jahren. Zwischen ihm und seinem um etwa zehn Jahre jüngeren Halbbruder Adam scheint es keine engeren Bindungen gegeben zu haben. Wie noch ausgeführt werden wird, verbanden das Zollamt und die dortigen Tätigkeiten noch am ehesten die Biographien von Adam Smith sen. mit seinen beiden Söhnen.

Von den ersten Lebensjahren des später weltberühmten Autors ist nur ein konkretes Ereignis bekannt: Als Adam etwa drei Jahre alt war, besuchte seine Mutter mit ihm ihren Bruder in Strathenry Castle nahe Leslie, nur wenige Meilen von Kirkcaldy entfernt. Der kleine Adam spielte allein vor dem Haus, als eine Roma- oder Sintifrau – möglicherweise aus der damaligen Siedlung des fahrenden Volkes nahe Kirkcaldy – vorbeikam und ihn einfach mitnahm. Sein Verschwinden wurde jedoch rasch bemerkt und die Suche nach ihm aufgenommen. Als die Kidnapperin sah, dass sie verfolgt wurde, floh sie in den Wald und ließ das kläglich schreiende Kind allein zurück. Unversehrt wurde Adam wieder ins Schloss gebracht. Dieser Vorfall dürfte Margarets mütterliche Sorge um ihren einzigen, kränklichen Sohn noch um einiges vergrößert haben.

Wegen seiner schwächlichen Konstitution ging Smith erst mit neun (!) Jahren in die Schule. Schon früh war jene Eigenheit aufgetreten, die so viele seiner Zeitgenossen irritierte, dann wieder belustigte: Smiths zeitweilige Geistesabwesenheit – oder extreme Zerstreutheit – sowie die Gewohnheit, in Gesellschaften, etwa in der Kirche (oder auch, wenn er allein durch den Ort spazierte), Selbstgespräche zu führen. Dank David Miller, dem Lehrer, galt die neu erbaute Burgh-Schule von Kirkcaldy als eine der besten Grundschulen Schottlands, in der auch die Eigenheiten des kleinen Adam Smith nicht dazu führten, dass dieser von der Klassengemeinschaft ausgestoßen worden wäre.[15]

Die beiden Räume, in denen vormittags und nachmittags unterrichtet wurde, beherbergten sechs Klassen zu jeweils etwa zehn Schülern. Da auf den Universitäten noch Lateinisch gesprochen wurde, lag ein Schwerpunkt der Erziehung im Erlernen dieser alten Sprache. Dabei soll Millers Methode darin bestanden haben, das zuerst aus dem Lateinischen ins Englische Übersetzte wieder ins Lateinische zu übertragen. Sein Unterricht beschränkte sich jedoch nicht aufs Philologische. Die damals in Schottland heftig geführte Debatte, ob ökonomischer Reichtum zu moralischem Niedergang führe oder nicht, fand ihren Niederschlag auch in seiner Klasse und wurde am Beispiel der römischen Geschichte erörtert: vom Aufstieg aus bäuerlicher Einfachheit zu Reichtum und Luxus und schließlich zum Verfall in Dekadenz.

Die damalige Ausstattung schottischer Schulen war denkbar bescheiden. Es gab nur wenige Schulbücher.[16] Statt in Übungshefte schrieben die Schüler auf Schiefertafeln, die sie nach Gebrauch mit den Ärmeln abwischten. Aber ein Punkt machte Schottlands Schulen weit über die Grenzen hinaus berühmt: ihre soziale Offenheit. Falls er nicht nach England in eine Privatschule geschickt worden war, saß der Sohn des Grundbesitzers neben dem Sohn des Fischers und dem des Kohlenarbeiters und wurde gleich behandelt. Smith fühlte sich wohl in dieser Gesamtschule und war trotz körperlicher Beschwerden, die ihn davon abhielten, an den «aktiveren Vergnügen» teilzunehmen, bei seinen Mitschülern sehr beliebt. Denn sein Charakter war, «wenn auch hitzig, so doch in ungewöhnlichem Maße freundlich und großzügig».[17] Damals, nach dem Verlust an politischer Gestaltungsmöglichkeit, konzentrierte sich die schottische Gesellschaft noch stärker auf die Erziehung von Kindern, und es herrschte im Land wohl so etwas wie eine generelle Bildungsbeflissenheit. Weil der hohe Wert von Erziehung und das Streben nach allgemeiner Bildung außer Streit standen und in allen gesellschaftlichen Schichten akzeptiert wurden, galt soziale Offenheit in der Schule offenbar als Selbstverständlichkeit.

Teil des Miller’schen Erziehungsprogramms war es sogar, dass seine Schüler gemeinsam Theater spielten und auf diese Weise lernten, die Rolle verschiedener Charaktere zu übernehmen. 1734, als Smith dort in die Schule ging, wurde ein Stück aufgeführt, das Miller selbst geschrieben hatte. Schon der Titel handelt von dem in der schottischen Gesellschaft hohen Wert der Bildung und sogar von improvement, ‹Verbesserung›, dem Ziel aller Schottischen Aufklärer. Der Titel des Theaterstücks lautete: The Royal Command for Advise [Hinweis zur Anwendung]: or the regular education of boys the foundation of all other national improvement.[18]

Smiths bester Freund, mit dem er sich ein Leben lang verbunden fühlte, war damals James Oswald von Dunnikier, der ältere Bruder seines Mitschülers John. James und John waren die Söhne des größten Grundbesitzers der Gegend und der führenden Persönlichkeit der Stadt: James Oswald sen., der auch Smiths Taufpate war.[19] James jun. wurde ein hervorragender Ökonom und machte in London eine spektakuläre Karriere.[20] Ein weiterer enger Freund Smiths war Robert Adam, der Sohn des damals führenden schottischen Architekten William Adam und künftige Hofarchitekt von George III. Robert Adams Begeisterung für die Antike dürfte ebenso wie diejenige Smiths in der kleinen Grundschule ihren Ausgang genommen haben.

Kirkcaldy, der Geburtsort so vieler hervorragender Persönlichkeiten, liegt fast in der Mitte Schottlands in der Grafschaft Fife, die James I. wegen ihres unwirtlichen Binnenlandes und ihrer vielen prosperierenden Fischerdörfer einmal einen ‹Bettelrock mit Goldborte› genannt hatte. Daniel Defoe, der 1706 als englischer Geheimagent nach Schottland gekommen war, um die Möglichkeiten einer Vereinigung der beiden Parlamente zu sondieren, kam einige Jahre später wieder. Sein Weg führte ihn auch nach Kirkcaldy, der lang toun, der ‹langen Stadt› – so benannt, weil beinahe alle Häuser an einer einzigen, etwa zwei Kilometer langen und fast parallel zur Küste verlaufenden Straße erbaut waren. Dieses große Straßendorf mit den Zeugnissen einer römischen Besiedelung ist nur wenige Meilen von Largo entfernt, dem Geburtsort Alexander Selkirks, dessen dramatischen Erlebnisse Defoe zu den Abenteuern des Engländers Robinson Crusoe dichterisch verarbeiten sollte. Kirkcaldy, damals von etwa zweitausend Menschen bewohnt, erschien Defoe «größer, dichter besiedelt und besser erbaut als irgendeine andere Stadt an dieser Küste». Sie beherberge «einige bedeutende Händler», auch gehörten «mehrere gute Schiffe zur Stadt. Da Fife überdies ein fruchtbares Land ist, gibt es einige, die in großem Umfang mit Getreide handeln.» Defoe war beeindruckt von den dortigen Kohlengruben, die teilweise so nahe an der Küste lagen, dass man «glauben könnte, die Flut mache es unmöglich, in ihnen zu arbeiten». Am Ostrand der Stadt entdeckte Defoe noch eine kleine Reederei sowie «mehrere Kessel», in denen Meerwasser zur Salzgewinnung gekocht wurde, also eine Salzsiederei.[21] Damals herrschte eine stetige Nachfrage nach Salz, womit zum einen Fische und Fleisch gepökelt wurden, um sie für Seereisen und lange Wintermonate haltbar zu machen; und zum anderen wurden mit Salz die Hafergerichte gewürzt, das damalige Hauptnahrungsmittel der Schotten. Der Export von Kohle, Leinen und eben Salz war im frühen 18. Jahrhundert die wichtigste Einnahmequelle der Bewohner der Stadt.

Ein geschäftiger Ort wie Kirkcaldy – damals der wichtigste Hafen in der Grafschaft Fife – ist gewiss kein schlechter Ausgangspunkt, um erste Eindrücke von der Welt zu sammeln. In der früh industrialisierten Kleinstadt lebte eine größere Vielfalt von Menschen als in einem Bauerndorf, und ihre Charaktere waren deutlicher zu erkennen als in einer Großstadt. In der Hafenstadt am Firth of Forth herrschte zu der Zeit, als Smith heranwuchs, so etwas wie ein permanenter Markt mit sich ständig ändernden Preisen und Einkommen. Der kleine Adam war daran offenbar so gewöhnt, dass er diese Form des ‹Tauschens› bzw. ‹Handelns› später im Wohlstand der Nationen als so natürlich wie Konversation beschrieb. Ein Gespräch kann ja auch als ein Austausch von Gedanken und oft genug als Versuch gedeutet werden, andere von der Qualität einer bestimmten Sache zu überzeugen.

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Abb. 1: Der Hafen von Kirkcaldy. Kupferstich von Joseph Swan, um 1840

Wenn Smith aus dem Fenster des Wohnhauses in der High Street schaute, hatte er einen umtriebigen Ort vor sich: Schiffe verließen die vor großen Wellen durch einen Pier geschützte Hafenbucht, andere kamen aus Schweden, Amsterdam oder Königsberg, beladen mit Nahrungsmitteln, Flachs oder Erzen für die Leinen oder Nägel produzierenden Gewerbe. Unten am Kai, inmitten des Geruchs von Pech, nassem Holz, Tauwerk, Seetang und, vor allem, Salz und Fisch, mischten sich Fremde unter die einheimischen Matrosen und Fischer. «Oftmals scheut sich eine besorgte Mutter», schrieb Smith Jahrzehnte später, «ihren Sohn in die Schule einer Hafenstadt zu schicken, da ihn der Anblick der Schiffe und die Erzählungen und Abenteuer der Matrosen dazu verführen könnten, zur See zu gehen» (W 95 f.).[*1]

Wenn Smith seine beiden Freunde James und John in Dunnikier besuchte, kam er an den Nagelschmieden vorbei, deren Produkte im damaligen Schiffsbau derart begehrt waren, dass dieses kleine Dorf, heute ein Teil von Kirkcaldy, im weiten Umkreis ein Monopol besaß. «Das Schmieden von Nägeln ist keineswegs eine sehr einfache Tätigkeit. Ein und derselbe Arbeiter bedient nämlich den Blasebalg, reguliert nach Bedarf das Feuer, erhitzt das Eisen, bis es glüht, und schmiedet die einzelnen Teile des Nagels. Zum Formen des Kopfes muss er außerdem auch noch das Werkzeug wechseln. Ich habe einen Neunzehnjährigen gesehen, der sein ganzes Leben nichts anderes als Nägel produzierte …»[22] Smith konnte damals in allernächster Nähe also noch eine Güterproduktion beobachten, die nicht arbeitsteilig organisiert war; und er fand sogar Überbleibsel einer Naturalwirtschaft. Denn manchmal, so beobachtete er, wurde «beim Bäcker oder im Wirtshaus mit Nägeln statt Geld» bezahlt (W 23).

Obwohl in Kirkcaldy der Handel gedieh, dadurch der Bedarf an Schiffen stieg und als Folge die Nägel produzierenden Manufakturen florierten, lebten andere, abseits der High Street, in größtem Elend. Die Arbeiter in den Kohlengruben waren nämlich immer noch Leibeigene. Von dem Tag an, an dem sie zum ersten Mal einen Korb voll Kohle aus dem Schacht schleppten, durften sie bis an ihr Lebensende keine andere Tätigkeit mehr annehmen und wechselten gemeinsam mit der Grube ihren Besitzer. Smith wusste um ihre Sehnsucht nach Freiheit und erzählte später seinen Schülern, dass Arbeiter «oft unsere Zechen verlassen», um nach Newcastle zu fliehen, «obwohl sie dort weniger verdienen, wo sie aber frei sind» (J 453).

Viele Männer Kirkcaldys lebten vom Fischfang und gelegentlich vom wesentlich einträglicheren Transport unverzollter Waren. Als Smith dreizehn Jahre alt war, beraubte ein gewisser Andrew Wilson den durch das Aufbringen von Schmuggelgut reich gewordenen, besonders gierigen Zollkommissar aus einem Nachbardorf von Kirkcaldy. Wilson wurde verhaftet und in Edinburgh zum Galgen geführt. Aber die Menge hatte Mitleid mit ihm und bewarf die Soldaten, die für Ordnung sorgen sollten, mit Steinen. Hauptmann John Porteous gab den Befehl, auf die Menge zu schießen, und mehrere Demonstranten wurden getötet. Ein Gericht verurteilte ihn einstimmig zum Tode, aber Porteous hatte in London einflussreiche Freunde und wurde schließlich begnadigt. Als sich die Nachricht vom Straferlass herumgesprochen hatte, war um Mitternacht «dumpfer Trommelschlag» zu hören und aus «allen Höfen und Gassen kam das Volk herbei»; auch viele Bewohner der Grafschaft Fife sollen darunter gewesen sein. Die schweren Gefängnistore «leisteten Widerstand, man brannte sie nieder und drang ein: welcher Anblick, als man in das Zimmer trat. Halb niedergebrannte Lichter, leere und volle Weinflaschen, Speisen aller Art – man sah, der Unglückliche hatte ein Gastmahl gegeben, um seine Rettung zu feiern. Zu früh. Man zog ihn aus dem Kamin hervor, darin er sich versteckt hatte, und erhängte ihn an Wilsons Galgen.»[23] Die Frage, ob es richtig sei, den Schmuggel zu verbieten und damit in den freien Handel einzugreifen, beschäftigte Smith lange. Im Wohlstand der Nationen glaubte der Sohn eines ehemaligen königlichen Zollkommissars die Lösung gefunden zu haben: «Zweifellos verdient ein Schmuggler eine Strafe, weil er Gesetze eines Landes verletzt», aber er wäre «in jeder Hinsicht ein tadelloser, ja vorbildlicher Bürger», hätten ihn nicht «die Landesgesetze zu einer Handlung veranlasst, die von Natur aus niemals als Delikt aufzufassen wäre» (W 773). Das Urteil: ‹Freiheit wäre richtig, aber ungerechte Gesetze verhindern diese›, ist Smiths Ergebnis vieler Analysen bestehender oder vergangener Rechtssysteme.

Adam Smith empfand es als Privileg, in einer kleineren Handelsstadt in einem sich gerade entwickelnden Land groß geworden zu sein. Besonders Philosophen müssten so denken, meinte er, «deren Geschäft es nicht ist, etwas zu tun, sondern alles zu beobachten» (J 570). Dass Smith vieles von dem, womit er sich im Laufe seines Lebens intensiv beschäftigte, bereits mit Kinderaugen gesehen hatte, macht einen besonderen Charme seiner Schriften aus.

Glasgow, Oxford, Edinburgh

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