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Gerd Theißen

DAS
NEUE TESTAMENT

 

 

 

 

 

 

 

 

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Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Das Neue Testament ist die Schriftensammlung einer kleinen religiösen Subkultur im Römischen Reich, die durch Neuinterpretation der jüdischen Religion entstand und sich binnen 100 Jahren zu einer selbständigen Religion entwickelte. Zwei historische Gestalten haben sie geprägt: Jesus und Paulus. Die vorliegende Einführung stellt die Entstehung der durch sie (direkt und indirekt) hervorgerufenen Schriften im Zusammenhang mit der Geschichte des Urchristentums dar. Sie setzt einen besonderen Akzent auf die Entwicklung der Formensprache der neutestamentlichen Schriften und die Bearbeitung ihres religiösen Grundproblems, wie in einem monotheistischen Milieu eine menschliche Gestalt neben Gott gerückt werden konnte. Die dabei sichtbar werdenden formalen und inhaltlichen Besonderheiten erklären, warum diese Schriften in den Kanon der Alten Kirche aufgenommen wurden.

Über den Autor

Gerd Theißen, geb. 1943, studierte Germanistik und Evangelische Theologie, war Professor für Neues Testament in Kopenhagen 1978–1980 und lehrt seit 1980 in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Historischer Jesus, Literatur- und Sozialgeschichte des Urchristentums, Theorie der urchristlichen Religion. Er veröffentlichte u.a. «Urchristliche Wundergeschichten» (71998); «Soziologie der Jesusbewegung» (71997); «Psychologische Aspekte paulinischer Theologie» (21993); «Der historische Jesus» (zusammen mit A.Merz, 42001); «Die Religion der ersten Christen» (42008). Bekannt wurde er durch eine in viele Sprachen übersetzte Jesuserzählung «Der Schatten des Galiläers» (142012).

Inhalt

Abkürzungen

   I. Das «Neue Testament» und seine literarischen Formen

  II. Jesus von Nazareth

III. Die Jesusüberlieferung in der ersten Generation: Die Logienquelle und die mündliche Überlieferung von Jesus

1. Die Quellen der Evangelien

2. Überlieferungen der Wandercharismatiker: Die Logienquelle

3. Überlieferungen der Ortsgemeinden: Passion und synoptische Apokalypse

4. Überlieferungen im Volk: Die Wundergeschichten

IV. Paulus von Tarsos

 V. Anfänge der Briefliteratur in der ersten Generation: Die Paulusbriefe

1. Der erste Thessalonikerbrief als situationsbedingtes Schreiben

2. Die antijudaistischen Briefe: Der Galater- und Philipperbrief

a) Der Galaterbrief

b) Der Philipperbrief

c) Der Philemonbrief (Exkurs)

3. Die antienthusiastischen Briefe: Die Briefe an die Korinther

a) Paulus und die Gemeinde in Korinth

b) Der erste Korintherbrief

c) Der zweite Korintherbrief

4. Die theologische Synthese: Der Römerbrief als Testament des Paulus

VI. Synoptische Evangelien und Apostelgeschichte: Die neue Literaturform der zweiten und dritten Generation

1. Das Markusevangelium

2. Das Matthäusevangelium

3. Das lukanische Doppelwerk

VII. Pseudepigraphe Briefe: Die Fortsetzung der Literatur der ersten Generation

1. Die Entstehung der urchristlichen Pseudepigraphie

2. Die deuteropaulinischen Briefe

a) Der zweite Thessalonikerbrief

b) Der Kolosserbrief

c) Der Epheserbrief

d) Die Pastoralbriefe

3. Die katholischen Briefe

a) Der erste Petrusbrief

b) Der Jakobusbrief

c) Der Judasbrief

d) Der zweite Petrusbrief

4. Der Hebräerbrief

VIII. Johanneische Schriften: Die Verbindung von Evangelien- und Briefliteratur

1. Das Johannesevangelium

2. Die Johannesbriefe

a) Der erste Johannesbrief

b) Der zweite und dritte Johannesbrief

3. Die Johannesapokalypse (Anhang)

IX. Der Weg zum «Neuen Testament» als literarischer Einheit

 

Weiterführende Literatur

Glossar

Abkürzungen

Apg

Apostelgeschichte

Apk

Johannes-Apokalypse

AT

Altes Testament

atl.

alttestamentlich

Barn

Barnabasbrief

CD

Covenant of Damascus = Damaskusschrift

1Clem

1. Clemensbrief

2Clem

2. Clemensbrief

Dan

Daniel

Did

Didache

DioCass

Dio Cassius

Dtn

Deuteronomium (= 5. Mose)

Eph

Epheserbrief

Euseb KG

Euseb, Kirchengeschichte

EvNaz

Nazaräerevangelium

Evv

Evangelien

Gal

Galaterbrief

Hebr

Hebräerbrief

Hos

Hosea

lambl.vitPyth

lamblichos, Vita Pythagorica

Ign

Ignatius von Antiochien

Ign Eph

Ignatius, An die Epheser

Ign Magn

Ignatius, An die Magnesier

Ign Phld

Ignatius, An die Philadelphier

Ign Sm

Ignatius, An die Smyrnäer

Jak

Jakobusbrief

Jer

Jeremia

Jes

Jesaja

Joh

Johannes

joh

johanneisch

JohEv

Johannesevangelium

1Joh

1. Johannesbrief

2Joh

2. Johannesbrief

3Joh

3. Johannesbrief

Jos

Josephus

Jos ant

Josephus, antiquitates Judaicae

Jos bell

Josephus, bellum Judaicum

Jud

Judasbrief

Just Dial

Justinus, Dialogus cum Tryphone

Kol

Kolosserbrief

1Kön

1. Königsbuch

2Kön

2. Königsbuch

1Kor

1. Korintherbrief

2Kor

2. Korintherbrief

Lev

Leviticus (= 3. Mose)

Lk

Lukas

lk

lukanisch

LkEv

Lukasevangelium

Mk

Markus

mk

markinisch

MkEv

Markusevangelium

Mt

Matthäus

mt

matthäisch

MtEv

Matthäusevangelium

NT

Neues Testament

ntl.

neutestamentlich

par

mit Parallelüberlieferung zur genannten Bibelstelle

Past

Pastoralbriefe

Phil

Philipperbrief

Phm

Philemonbrief

pln

paulinisch

Prov

Proverbia (Sprüche Salomos)

1Petr

1. Petrusbrief

2Petr

2. Petrusbrief

Ps

Psalm(en)

Q

Logienquelle

1QH

Hodayot = Psalmen aus Qumran

Röm

Römerbrief

Sen ep.

Seneca, epistulae morales

Tac ann.

Tacitus, annales

Tert. adv. Marc.

Tertullian, Adversus Marcionem

1Thess

1. Thessalonikerbrief

2Thess

2. Thessalonikerbrief

1Tim

1. Timotheusbrief

2Tim

2. Timotheusbrief

Tit

Titusbrief

Thom Ev

Thomasevangelium

Die biblischen Zitate werden in der Regel nach der «Einheitsübersetzung der heiligen Schrift» 1982 (= EÜ) wiedergegeben. Bei den Psalmen und dem Neuen Testament handelt es sich dabei um einen ökumenisch erarbeiteten Text. Dort, wo ich von der Übersetzung abweiche, wird darauf hingewiesen durch Hinzufügung von: «wörtlich». Die Rechtschreibung wurde (auch in den Bibelzitaten) an die neue Rechtschreibung angeglichen.

I. Das «Neue Testament» und seine literarischen Formen

Das Neue Testament ist die Schriftensammlung einer Subkultur im Römischen Reich, die sich durch Neuinterpretation der jüdischen Religion gebildet hat. In ihrem Zentrum steht ein jüdischer Charismatiker, den die Römer ca. 30 n. Chr. hingerichtet haben. Er tritt in ihr an die Seite Gottes. Ihre Interpretation muss verständlich machen, wie innerhalb einer monotheistischen Religion ein Mensch neben Gott treten konnte, wie sie sich dadurch für Nichtjuden öffnete und für viele Juden inakzeptabel wurde.

Das NT umfasst 27 Schriften in griechischer Sprache, die zwischen ca. 50 und 130 n. Chr. entstanden: 4 Evangelien, 21 Briefe, dazu Apostelgeschichte und Johannesapokalypse. Als sie entstanden, gab es kein «Neues Testament». Die Bibel der ersten Christen waren die heiligen Schriften der Juden. Juden hatten die Idee eines Kanons (griech. «Richtschnur») entwickelt, d.h. einer Schriftensammlung, welche die Überzeugungen einer Religion dem kulturellen Gedächtnis ein für alle Mal einprägt. Nach diesem Modell entwickelten die ersten Christen ihren erweiterten «Kanon». Erst in Unterscheidung zum NT wurde die jüdische Bibel zum «Alten Testament». Zusammen bilden sie die christliche Bibel.

Der Titel «Neues Testament» geht auf die Verheißung des «Neuen Bundes» in Jer 31,31–34 zurück, Gott werde einst seine Gebote nicht mehr auf Stein schreiben, sondern in die Herzen der Israeliten, so dass kein menschlicher Lehrer sie vermitteln muss. Beflügelt von dieser Vision gründeten einige Juden im 2. Jh. v. Chr. im Judentum einen «Neuen Bund im Lande Damaskus» (CD 6,19 u. ö.). Der Gründer der Essener, der Lehrer der Gerechtigkeit, wahrscheinlich ein aus dem Amt verdrängter Hohepriester, hat aus diesen Reformgruppen Mitte des 2. Jh. v. Chr. einen «Gottesbund» geschaffen. Der Begriff «Neuer Bund» setzte sich unter den Essenern jedoch nicht durch. Sie nannten sich den «Bund der Gnade» oder den «Ewigen Bund». Das Attribut «neu» war zu negativ besetzt. Allgemeine Überzeugung war: Das Alte ist das Bessere. Die ersten Christen werteten hier anders: Sie verstanden ihren Neuen Bund als Vollendung des Alten Bunds (2Kor 3,14). Worin bestand das Neue? Folgt man den Belegen von «Neuem Bund» im NT, so stößt man auf drei Ausdrucksformen jeder Religion: Ethos, Ritus und Mythos. In ihnen kam es zu tiefgreifenden Veränderungen.

Der «Neue Bund» zielt auf ein neues Ethos. Paulus leitet seine Gegenüberstellung des Alten und Neuen Bundes mit Worten der Jeremiaverheißung ein: Christen sind ein Schreiben, «geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern … in Herzen von Fleisch» (2Kor 3,3). Ethische Gebote sollen den Menschen nicht von außen steuern, sondern von innen durch den Geist, der den Menschen grundlegend erneuert. Im Urchristentum verband sich so (wie im hellenistischen Judentum überhaupt) jüdische Gebotsethik mit hellenistischer Einsichtsethik. Paulus will «prüfen …, was der Wille Gottes ist» (Röm 12,2) und wendet so die sokratische Forderung, alles zu überprüfen, auf die Gebote Gottes an.

Zum neuen Ethos trat ein neuer Ritus: Das Abendmahl wurde mit den Worten gefeiert: «Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies … zu meinem Gedächtnis!» (1Kor 11,23–25). Es ersetzte die blutigen Opfer. An ihre Stelle traten Brot und Wein – und die Erinnerung an Jesu Tod. Während man die Tieropfer durch ein harmloses Essen ersetzte, wurde die religiöse Imagination durch eine gewaltsame Hinrichtung gefesselt, die als eine längst überwundene Form des Opfers gedeutet wurde: als Menschenopfer. Gerade dies eine Opfer galt als Ende aller blutigen Opfer. Auch das gehört in einen größeren Zusammenhang. Schon im Judentum hatte sich neben dem Jerusalemer Opferkult ein reiner Wortgottesdienst in den Synagogen entwickelt. Ihn führten die ersten Christen fort. Kritik an den Opfern übten auch die Neupythagoräer. Nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. hörten auch im Judentum die Opfer auf.

Das Stichwort «Neuer Bund» weist schließlich auf den Mythos der ersten Christen: die «Grunderzählung einer Religion». Der Begriff «Neuer Bund» setzte sich für die Schriften mit dieser Grunderzählung durch. Die Übersetzung von hebr. « berit » (Bund, Verfügung) durch griech. «diatheke» (Verfügung, Testament) erleichterte es, darunter ein Vermächtnis in schriftlicher Form zu verstehen. Entscheidend aber war, dass die Erzählung von Jesus von Nazareth die Stelle einnahm, die in anderen Religionen der Mythos einnimmt. Der spielte sich nicht in grauer Vorzeit ab, sondern erzählte von einer historischen Gestalt mitten in der Zeit. Auch hier setzten die Christen fort, was Juden begonnen hatten: In deren heiligen Schriften war die Geschichte zur grundlegenden Erzählung einer Religion geworden. Der Urzeitmythos wurde durch Erzählungen bis in die Gegenwart fortgesetzt.

Aufschlussreich sind neben dem Titel «Neues Testament» auch seine Gattungen. Die literarische Formensprache offenbart unbestechlicher die Intentionen einer Gruppe als inhaltliche Aussagen. Ein Blick auf den Lehrer der Gerechtigkeit ist auch hier hilfreich, weil er aufgrund seines Offenbarungsanspruchs am ehesten mit Jesus vergleichbar ist.

Vom Lehrer der Gerechtigkeit ist nicht einmal der Name überliefert. Wir besitzen einige Texte von ihm: Psalmen und einen Brief an den amtierenden Hohepriester, in dem er die rituellen Unterschiede erörtert, deretwegen er sich vom Tempel getrennt hat. Trotz solcher Originalschriften entstand unter den Essenern kein zweiter Kanonteil. Die Sehnsucht nach neuen Offenbarungen führte unter ihnen vielmehr dazu, dass man die heiligen Schriften durch deuterokanonische Schriften ergänzte. Sie lasen Offenbarungsschriften, die Henoch, Abraham oder Esra zugeschrieben wurden. Neue Erkenntnisse wurden in ihnen als uralte Offenbarungen ausgegeben. Das NT enthält nur eine Offenbarungsschrift dieser Art: die Apokalypse des Johannes. Aber sie stammt von einem zeitgenössischen Propheten: Johannes von Patmos. Sie bezieht ihre Autorität nicht von uralten Sehern des AT, sondern will lebendige Prophetie in der Gegenwart sein.

Im Unterschied zum Lehrer der Gerechtigkeit hat Jesus keine Schrift hinterlassen. Dafür schrieben seine Anhänger Schriften über ihn. Deren Sammlung hat den Kanon des AT zum Vorbild, die einzelnen Schriften, Evangelien und Briefe, haben jedoch kein formales Modell im AT und Judentum.

Das Evangelium ist eine Variante des «Bios» (der antiken «Biographie»), wenn auch ein Bios sehr eigenwilliger Art. Das älteste setzt mit der Taufe Jesu ein und bricht mit dem leeren Grab ab – als scheute es sich, die Geschichte des Auferstandenen auf derselben Ebene zu erzählen wie sein bisheriges Leben. Erst Lk und Mt ergänzen Kindheitsgeschichten am Anfang und Ostergeschichten am Ende. Auffällig ist: Nirgendwo im Judentum ist eine Literaturgattung so sehr auf eine Person ausgerichtet wie in den Evangelien. Selbst der Lehrer der Gerechtigkeit, bei dem die jüdische Religion wie nie zuvor auf eine Person konzentriert ist, hat keine derartige Literaturform hervorgerufen. Dagegen waren in der nichtjüdischen Welt Lebensbeschreibungen verbreitet. Schon die Form der Evangelien zeigt somit, dass das Urchristentum an der Schwelle zwischen Judentum und Heidentum entstand.

Die zweite Hauptgattung des Neuen Testaments ist die Briefform, die noch vor den Evangelien entstand. Das NT umfasst zwei Briefsammlungen: 13 Paulusbriefe, die an einzelne Gemeinden und Personen gerichtet sind und zu denen als 14. Brief der Hebräerbrief gezählt wird; ferner sieben katholische Briefe, die sich an alle Christen wenden: Jak, 1/2Petr, 1–3Joh und Jud («katholisch» bedeutet allgemein). Gewiss gibt es im AT vereinzelt einen Brief (vgl. Jer 29), aber nicht als selbständige literarische Form. Ein Modell für die Briefsammlungen des NT finden wir nur in der nichtjüdischen Welt, wo die Briefe Platons oder der Kyniker verbreitet waren. Wieder bestätigt sich: Die Formensprache des NT zeigt, dass wir uns an der Grenze zwischen Judentum und Heidentum befinden.

Die Überlieferung vom irdischen Jesus fehlt in den Briefen bis auf wenige Splitter. In ihnen begegnet Jesus als überirdisches Wesen, das aus der präexistenten Welt Gottes gesandt wurde, Mensch wurde, den Tod erlitt, um von den Toten aufzuerstehen und zum Herrscher über alle Mächte aufzusteigen. Nicht was Jesus tat und sagte ist entscheidend, sondern was Gott durch ihn tat und sagen wollte. Jesus ist in ihr ein mythisches Wesen. Natürlich spielen Kreuz und Auferstehung auch in der synoptischen Jesusüberlieferung eine Rolle. Und der mythische Glanz der Christusverkündigung bricht auch in ihr immer wieder durch. Aber jeder spürt den Unterschied, wenn er summarische Formulierungen der Jesusüberlieferung und Christusverkündigung nebeneinander stellt. In Phil 2,6–11 zitiert Paulus ein Summarium der Christusverkündigung:

«Er war Gott gleich,

hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,

sondern er entäußerte sich

und wurde wie ein Sklave,

und den Menschen gleich.

Sein Leben war das eines Menschen;

er erniedrigte sich

und war gehorsam bis zum Tod,

bis zum Tod am Kreuz.

Darum hat ihn Gott über alle erhöht

und ihm den Namen verliehen,

der größer ist als alle Namen,

damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde

ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu

und jeder Mund bekennt:

Jesus Christus ist der Herr –

zur Ehre Gottes, des Vaters.»

Als Beispiel für die Jesusüberlieferung müsste man ein ganzes Evangelium lesen. Hier mag ein rückblickendes Summarium genügen. Die Emmausjünger im LkEv begegnen nach dem Tode Jesus dem unerkannten Auferstandenen und berichten ihm von der großen Enttäuschung ihres Lebens, von Jesus:

«Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seit dem das alles geschehen ist …» (Lk 24,19ff)

Die Jesusüberlieferung von Jesu Worten und Taten in den synoptischen Evv und die Christusverkündigung vom Handeln Gottes in den pln Briefen finden erst in den joh Schriften zusammen: Hier wird der irdische Jesus selbst zum Christusverkündiger. Er predigt über sich, wie Paulus über ihn gepredigt hat. Auf dem Höhepunkt der Abschiedsreden fasst er seine Sendung so zusammen: «Vom Vater bin ich ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater» (Joh 16,28).

Wie aber haben wir die beiden «Gattungen» im ntl. Kanon zu bewerten, die nur durch je ein Exemplar vertreten sind: die Apostelgeschichte und die Johannesapokalypse? Beide haben im atl. Kanon Modelle und lehnen sich an die beiden Grundgattungen des NT an.

Die Apg ist Fortsetzung der biblischen Geschichtsschreibung. Am nächsten steht ihr Josephus (ca. 37–100), der die Geschichte der Juden von der Schöpfung bis zur Gegenwart erzählt. «Lukas» schreibt in der gleichen Zeit seine Geschichte der Christen, die freilich nicht bis in graue Vorzeit zurückreicht, sondern in der jüngsten Gegenwart beginnt. Im Prolog (Lk 1,1–4) beruft er sich wie ein antiker Geschichtsschreiber auf Augenzeugen und Quellen und hebt sich von seinen «vielen» Vorgängern ab. Er bringt schon durch die Form zum Ausdruck: Die kleine Gruppe der Christen ist es ebenso wert, in einem Geschichtswerk dargestellt zu werden wie Völker und Könige. Trotz Stütze durch biblische Vorbilder hat sich die Apg jedoch nur im Schlepptau des LkEv als «zweites Buch» zu ihm (Apg 1,1) durchgesetzt. Sie schildert das Eindringen des Christentums in die Welt des Heidentums und ist bemüht, den Christen einen Ort im Römischen Reich zu geben.

Ein atl. Vorbild gibt es auch für die Johannesapokalypse: das Danielbuch, in dem der Konflikt zwischen der Herrschaft Gottes und den Weltreichen dargestellt wird. Auch die Apk wird durch eine reiche Tradition apokalpytischer Offenbarungsschriften gestützt, wenn sie die Herrschaft Gottes in Konflikt mit der Herrschaft Roms darstellt. Aber auch sie konnte sich nur im Schlepptau einer anderen Gattung durchsetzen: Der Rahmen der Apk ist ein Brief. Sie beginnt als Brief: «Johannes an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien: Gnade sei mit euch …» (1,4), sie schließt wie ein Brief mit einem Segenswunsch (22,21; vgl. Hebr 13,25). Inhaltlich ist sie ein Kontrast zur Apostelgeschichte. Während die Apg einen Ausgleich mit der Welt des Römischen Reiches anstrebt, kennt die Apk nur einen prinzipiellen Gegensatz: Das Römische Reich ist ein satanisches Tier aus dem Abgrund (Apk 13).

Schon deshalb, weil die beiden Grundgattungen nicht im AT vorgeformt sind, konnten sie nicht einfach den atl. Kanon ergänzen. Ihre Abgrenzung ihm gegenüber ist aber letztlich darin begründet, dass Jesu Wirken Kritik an der eigenen, jüdischen Tradition enthielt, die weiter gewirkt hat: Die ersten Christen lebten in dem Bewusstsein, dass die alttestamentlichen Schriften zwar heilige Schrift, aber nicht in allen Punkten verbindlich waren. Heidenchristen ließen weder ihre Kinder beschneiden, noch hielten sie die Speisegebote. So hingen die ersten Christen zwar in großer Loyalität an den alttestamentlichen Schriften, kritisierten sie aber gleichzeitig. Der Schlüssel für diese eigentümliche Verbindung von Treue gegenüber einer heiligen Tradition und Innovation ist das Wirken Jesu von Nazareth.

II. Jesus von Nazareth

Was wissen wir von Jesus? Er stammt aus Galiläa und trat zum ersten Mal als Anhänger Johannes des Täufers in die Öffentlichkeit. Seine Taufe ist historisch. Denn die damit verbundene Selbstanklage als Sünder war für die Christen ein Anstoß, da sie schon bald von Jesu Sündlosigkeit überzeugt waren (Hebr 4,15). Jesus teilte die Überzeugung des Täufers, das Weltende sei nahe, nur Umkehr könne vor dem Gericht retten (Mk 1,15), aber er unterschied sich vom Täufer durch Gleichgültigkeit gegenüber rituellen Akten: Er taufte nicht. Der Täufer sah die Axt schon an die Wurzeln der Bäume gelegt (Lk 3,9). Es blieb bei ihm keine Zeit, um die Umkehr durch Taten zu beweisen; die Taufe trat als symbolische Ersatzhandlung an deren Stelle. Jesus aber hat erlebt, dass diese Naherwartung nicht in Erfüllung ging. Der Täufer wurde inhaftiert. Die Zeit ging weiter. Wahrscheinlich hat Jesus die weitergehende Zeit als Gnade gedeutet. Denn die schlichte Tatsache, dass die Sonne aufgeht, ist für ihn ein Zeichen der Güte Gottes (Mt 5,45). Gott gibt dem Menschen Zeit zur Umkehr (Lk 13,6–9).

Seine Verkündigung können wir in Grundzügen rekonstruieren. Uns sind viele potentiell unabhängige Ströme von Jesusüberlieferungen erhalten: das MkEv, die Logienquelle (Q), das Sondergut bei Mt und Lk, dazu das Johannes- und Thomasevangelium. Jedes einzelne Traditionsstück in ihnen konnte für sich tradiert werden, ehe es in einem Evangelium niedergeschrieben wurde. Was in all diesen Traditionen an Formen, Motiven und Worten immer wiederkehrt, kann historisch sein. Dazu alles, was urchristlichen Tendenzen zu seiner Verehrung widersprach. Die so gewonnenen Ergebnisse können wir mit Hilfe von zwei Kriterien überprüfen: Nach dem Kriterium der Wirkungsplausibilität ist echt, was sich als Auswirkung des historischen Jesus besser erklären lässt als durch andere Faktoren, nach dem Kriterium der Kontextplausibilität, was sich als individuelle Erscheinung in die damalige jüdische Geschichte einordnen lässt. Folgende Aussagen über Jesus sind danach möglich:

Jesus erwartete das nahe Ende der Welt. Er predigte die «Königsherrschaft Gottes». Damit vertrat er einen konsequenten Monotheismus: Gott wird sich gegen alle bösen Mächte, die Dämonen in der Welt und die Sünde im Menschen, durchsetzen. Juden verstanden, was Jesus meinte. Nirgendwo erklärte er, was «Königsherrschaft Gottes» bedeutet. Aber er setzte eigene Akzente: (1) Wo sonst von der «Königsherrschaft» Gottes die Rede ist, ist Gott immer auch «König». Für Jesus aber ist er der «Vater» (Lk 11,2). (2) Die Königsherrschaft ist in anderen jüdischen Texten zukünftig, beginnt aber bei Jesus schon in der Gegenwart (Lk 11,20). (3) Sie bedeutet meist Befreiung von Fremdherrschaft, bei Jesus aber werden gerade die Fremden in sie hineinströmen (Lk 13,29). Sie ist also kein Triumph über die Feinde Israels, sondern Hoffnung für die Verlorenen in Israel, für Fremde und Ausländer!

Jesus betont die Gnade Gottes mehr als der Täufer. Das Gericht fehlt jedoch nicht. Nicht alle werden in das Reich Gottes kommen: «Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen» (Mk 10,15). Das Heil begann für Jesus in Heilungen. Schon zu seinen Lebzeiten erzählte man mit vielen Übertreibungen von seinen Wundern. Sie haben einen historischen Kern. Denn nicht allen Charismatikern wurden damals Wunder angedichtet, weder dem Lehrer der Gerechtigkeit noch dem Täufer. Diese für Jesus charakteristischen Wunder verbreiteten die Gewissheit: Jetzt ist das Heil im Anbruch.

In seiner Verkündigung benutzte Jesus die Formen von Prophetie und Weisheit. Selbst wenn wir unsicher sind, ob er dies oder jenes Wort so und nicht anders gesprochen hat, wissen wir über seine Formensprache gut Bescheid. Jesus sprach in Seligpreisungen und Weherufen. Er hat Ich-Worte geprägt, in denen er von seiner Sendung mit der Wendung: «Ich bin gekommen …» sprach (z.B. Lk 12,49f.51). Auch Josephus konnte bei seinem Auftreten von sich als Prophet so sprechen (Jos bell 3,400). Ich-Worte sind auch die Antithesen der Bergpredigt. Bei den ersten beiden geht die antithetische Form auf Jesus zurück, die anderen wurden nach deren Modell gebildet. Jesus stellt in ihnen sein «Ich aber sage euch» Mose gegenüber, um das Motiv zum verbotenen Handeln im Inneren frei zu legen (Mt 5,21f. 5,27f). Er sagt nicht: Du sollst nicht zürnen! Oder: Du sollst nicht sexuell begehren! Er stellt nur fest: Wer zürnt, ist schuldig. Wer eine andere (Ehe-)Frau begehrt, hat die Ehe gebrochen. Das zielt auch auf Erkenntnis eigener Unvollkommenheit.

In einer anderen Sentenz bringt Jesus seine Skepsis gegenüber der Unterscheidung von «rein und unrein» zum Ausdruck: Nichts, was von außen in den Menschen kommt, macht unrein, sondern nur, was aus ihm herauskommt (Mk 7,15). Ähnlich relativiert er den Sabbat: «Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat» (Mk 2,27). Rituelle Forderungen sind für ihn weniger wichtig als ethische, die er im Doppelgebot der Liebe zusammenfasste (Mk 12,28–34). Aber er lehnte Rituelles nicht grundsätzlich ab.

Ferner formulierte er provokative Mahnungen: Einem Schlag auf die Wange soll man mit demonstrativer Wehrlosigkeit begegnen (Lk 6,29), um durch «paradoxe Intervention» den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Normalerweise sind Menschen loyal gegenüber Verwandten und aggressiv gegen Fremde. Hier ist es umgekehrt: Jesus nimmt den Hass der allernächsten Familienglieder in Kauf (Lk 14,26), die Liebe aber will er ausweiten auf Fremde, Feinde und Außenseiter (Lk 10,30–35; 6,27; 7,36–50).