Von der Antike bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
Franz-Michael Konrad beschreibt anschaulich die Geschichte der Schule vom Alten Ägypten über antike Gymnasien und mittelalterliche Klosterschulen bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert: Die allgemeine Schulpflicht, Vereinnahmungen der Schule durch den Staat und immer neue Reformen haben hier die Entwicklung geprägt. Abschließend fragt der Autor, was die PISA-Studie für die Zukunft der Schule bedeutet.
Franz-Michael Konrad, geb. 1954, ist Professor für historische und vergleichende Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von ihm erschienen u.a. «Kindheit. Eine pädagogische Einführung» (mit Klaudia Schultheis, 2008) sowie «Wilhelm von Humboldt» (2010).
1. Antike
Die evolutionsgeschichtlichen Grundlagen der Schule
Ägypten
Griechenland
Rom
2. Europäisches Mittelalter
Von der Spätantike ins frühe Mittelalter
Die Dom- und Klosterschule des hohen Mittelalters
Die Anfänge eines weltlichen Schulwesens
Zur Bildung der Mädchen und Frauen
3. Neuzeit: Humanismus, Reformation und Barock
Die Folgen der Reformation für das Schulwesen
Die höhere Schule in den protestantischen Ländern
Das niedere Schulwesen im evangelischen Deutschland
Die katholische Gegenreformation
4. Moderne: Aufklärung und 19. Jahrhundert
Das Elementarschulwesen
Die höhere Schule
Die Entstehung eines mittleren Schulwesens
Das Mädchenschulwesen
5. Die deutsche Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert
Weimarer Republik
Nationalsozialismus
Die «alte» Bundesrepublik Deutschland
Deutsche Demokratische Republik
Schule in den neuen Bundesländern
Schule im neuen Jahrtausend: PISA, IGLU und die Folgen
Literaturhinweise
Sachregister
Vor etwa 300.000 Jahren hatte die biologische Evolution die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich ein Lebewesen, der homo sapiens, in den Stand versetzt sah, eine auf Lern- und Weitergabevorgängen beruhende neuartige Evolution zu initiieren, die kulturelle Evolution. Faustkeile als Werkzeuge zu benutzen steht am Beginn einer Entwicklung, die bis zu den modernen technischen Möglichkeiten unserer Gegenwart führt. Dass dies möglich war, hing von der Fähigkeit ab, die für den Werkzeuggebrauch nötigen Kenntnisse über den Tod ihres Erfinders hinaus lebendig zu erhalten. Das war eine schwierige Aufgabe, denn diese Fertigkeiten waren nicht genetisch, das heißt auf dem Weg der natürlichen Fortpflanzung, vererbbar. Hier nun kommt die auf sprachlichem, auch gebärdensprachlichem Austausch basierende Erziehung ins Spiel, welche die Weitergabe von genetisch nicht tradierbaren Informationen leistet. Insofern ist Erziehung notwendige Bedingung der kulturellen Evolution, und sie bleibt deren Grundlage bis heute. Was dazu geführt hat, soll hier unerörtert bleiben. Paläoanthropologen verweisen beispielsweise auf das Gehirnwachstum beim Übergang vom homo erectus zum homo sapiens.
Die verschiedenen Epochen der kulturellen Evolution sollen an dieser Stelle ebenfalls nicht nachgezeichnet werden. Auf ein einschneidendes Ereignis ist jedoch einzugehen: die Erfindung der Schrift. Mit dem Verfügen über Schrift konnte sich die Weitergabe des angesammelten Wissens von der unmittelbaren Interaktion zwischen den Menschen lösen. Es war nun ungleich mehr und auch ganz anderes den Nachgeborenen zu vermitteln als das, was dem Erfahrungshorizont der jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort zusammenlebenden Menschen verfügbar war. Es konnten nicht mehr nur die persönlich erworbenen Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten, vielleicht noch die der Sippe oder des Stammes, im unmittelbaren Kontakt von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Jetzt gab es einen unendlich größeren Fundus an Informationen, der auch das Wissen längst Verstorbener oder solcher Menschen umfasste, die an ganz anderen Orten lebten und gelebt hatten. Man musste nur verstehen, diese Informationen zu speichern und zu nutzen. Mit anderen Worten: Man musste schreiben und lesen können. Das aber war nicht mehr nebenher und von dafür Ungeschulten zu vermitteln. Wenn auch nur in ihren ersten Anfängen, aber immerhin: Die Schule war geboren!
Zwar haben Urgeschichtsforscher darauf hingewiesen, dass sich schon im Leben der Menschen in der jüngeren Altsteinzeit (ab circa 35.000 v. Chr.) Elemente finden, die auf die spätere Schule vorausdeuten. Es handelt sich dabei im Rahmen von Initiationsriten um die Separierung der jeweils gleichaltrigen Initianten an einem eigenen Ort, um spezialisiertes Personal zur Durchführung der rituellen Handlungen und um besondere Inhalte, die nur im Vollzug dieser Riten und mit Hilfe besonderer Methoden und Medien (Höhlenmalereien!) gelehrt wurden. Schule, annähernd in der uns heute vertrauten Form, ist jedoch untrennbar mit dem Vorhandensein von Schrift verbunden. Erst wenn eine Gesellschaft zur Literalität gefunden hat, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, dass eine zunächst kleine Elite und schließlich immer mehr Menschen des Lesens und Schreibens kundig sind, tritt Schule ins Licht der Geschichte. Das ist am Ende des vierten Jahrtausends v. Chr. der Fall, als in Ägypten die Hieroglyphenschrift erfunden wurde. Kurz darauf kam es im Siedlungsgebiet der Sumerer, in Mesopotamien, zur Entwicklung der Keilschrift.
Es waren deshalb nicht zufällig die antiken Hochkulturen an Nil, Euphrat und Tigris, in denen erstmals Maßnahmen ergriffen wurden, um den bis dahin beiläufigen Prozess der Erziehung und Unterweisung in speziellen Einrichtungen und durch besondere Funktionsträger erledigen zu lassen. Deshalb muss ein systematischer Abriss der Geschichte der Schule hier beginnen. Wir wählen das relativ gut erforschte Beispiel der Schule im Alten Ägypten.
Was wir durch die Arbeit der Archäologen und zahlreiche erhaltene Papyri heute über die altägyptische Schule wissen, bezieht sich zumeist auf die Verhältnisse im Neuen Reich (1570–715 v. Chr.), auf jene Epoche, in der Ägypten unter Pharaonen wie Hatschepsut, Tutanchamun und den zahlreichen Trägern des Namens Ramses in voller Blüte stand, einer Zeit, in der die Tempelbauten von Luxor und Karnak errichtet wurden. Nicht zufällig findet sich hier auch die älteste Erwähnung der Schule, nämlich im Übergang vom Mittleren zum Neuen Reich, zwischen circa 2000 und 1500 v. Chr., und zwar auf einer Grabinschrift. Der dort Bestattete versichert allen Vorübergehenden, die eine Schule besucht haben, er werde sich – sprächen sie ein Totengebet an seinem Grab – im Jenseits für sie einsetzen.
Zwar ist es schon im Alten Reich üblich gewesen, dass erfahrene Hofbeamte junge Männer in ihren Haushalt aufnahmen, um sie im Rahmen eines Meister-Schüler-Verhältnisses im Einzelunterricht in den Gebrauch der Schrift und in die gängige Verwaltungspraxis einzuführen. Ebenso taten dies die Priester in den Tempeln mit dem Priesternachwuchs. Jetzt aber bedurfte die nach inneren Krisen zu reorganisierende und dabei anspruchsvoller gewordene Staatsverwaltung einer wachsenden Zahl von Beamten. Hinzu kam der prosperierende Handelsverkehr. Da war es effektiver, jeweils größere Gruppen von jungen Leuten gemeinsam unterrichten zu lassen.
Der Unterricht in den so entstandenen Schulen bezog sich in der Hauptsache auf das Lesen und Schreiben, was im Falle der Hieroglyphen eine komplizierte und langwierige Angelegenheit war. Ägyptologen gehen davon aus, dass zur Erlernung der mindestens 700 Schriftzeichen, über die ein künftiger Schreiber und Hofbeamter verfügen musste, wenigstens vier Jahre, oft jedoch mehr, benötigt wurden. Die Hieroglyphenschrift war auch in ihrer Kurzform, dem Hieratischen, eine schwer zu erlernende Laut-Schrift, ohne jedes Satzzeichen, sowohl in horizontaler wie in vertikaler Anordnung fortlaufend und vokallos geschrieben. Weitere Unterrichtsinhalte waren eine alltagsnahe elementare Mathematik, die sich z.B. auf die Berechnung von Flächen und Raumkörpern (Pyramiden!) sowie auf einfache Rechenoperationen (bis hin zum Dreisatz) bezog. Dazu kam die Beschäftigung mit den Weisheitsbüchern und den darin gesammelten Geboten und Verhaltensregeln, deren Beachtung zu einem Leben im Einklang mit der göttlichen, von den Pharaonen repräsentierten Ordnung notwendig war.
Gelehrt und gelernt wurde, bedingt durch das warme Klima, vermutlich überwiegend im Freien. Ihre Schreib- und Rechenübungen unternahmen die Schüler auf den Scherben zerbrochener Tonkrüge nach Vorlagen, die sie den mit Pinsel auf Papyrus geschriebenen Lehrbüchern entnehmen konnten. Methodisch dürfte der Unterricht denkbar einfach und anspruchslos gewesen sein. Der Lehrer schrieb oder las vor, die Schüler schrieben oder sprachen nach. Auf Anordnung des Lehrers im Chor repetieren, Fragen beantworten und ansonsten schweigen, das war im Kern altägyptischer Unterricht, der von einem Lehrer erteilt wurde, der sich ausgiebig des Mittels der körperlichen Züchtigung bediente. Dem Auswendiglernen, den ständigen Memorierübungen, kam eine alles überragende Bedeutung zu. Schließlich war die Schulung des Gedächtnisses in einer nahezu gänzlich schriftlosen Welt das einzige Mittel, um auch später, nach dem Ende der Schulzeit, alle wichtigen Informationen schnell verfügbar zu haben.
Einer derartigen elementaren Bildung, mit deren Erwerb die jungen Ägypter, denen sie zuteil wurde, im Alter von circa fünf Jahren begannen, bedurften neben dem Beamten- und Priesternachwuchs auch die Künstler und Kunsthandwerker, die die religiösen Sentenzen, die sie an den Tempeln anbrachten, lesen können sollten, darüber hinaus die künftigen Baumeister, Ärzte und Rechtskundigen, denn ebenso wie auf effizienter Verwaltung beruhte die kulturelle und machtpolitische Ausnahmestellung Ägyptens auf einer eigenständigen Rechtsprechung. Die eigentliche Fachausbildung setzte die Schulbildung fort und fand weiterhin im Rahmen der individuellen Meister-Schüler-Lehre statt. Alle, die nicht für eine solche gehobene berufliche Ausbildung ausersehen waren – die Bauern, die kleinen Handwerker, die Soldaten, aber auch die Mädchen –, besuchten keine Schule und konnten demnach weder lesen noch schreiben.
Mit dem Untergang der Eigenstaatlichkeit Ägyptens ist auch die altägyptische Schule als deren nicht unwesentlicher kultureller Träger allmählich verschwunden. 332 v. Chr. besetzte Alexander der Große Ägypten, ab 301 v. Chr. herrschten die Ptolemäer, 30 v. Chr. wurde Ägypten zu einer römischen Provinz. Spätestens mit Beginn der Ptolemäerherrschaft ging Ägyptens Verwaltung in die Hände von Beamten über, die ein griechisches gymnasion durchlaufen hatten und sich für ihre Amtsgeschäfte der griechischen Sprache bedienten. Das Erbe der altägyptischen Schule hatten schon im 4. Jahrhundert v. Chr. die sich im gesamten Mittelmeerraum ausbreitenden griechischen Schulen und die griechisch-hellenistische Bildung angetreten, die nicht nur von den einwandernden Griechen gepflegt, sondern recht schnell auch von den Angehörigen der ägyptischen Oberschicht angenommen wurde. Die ägyptische Schule wurde zur reinen Priesterschule und zog sich in den Tempelbezirk zurück. Mit der Übernahme der römischen Kulte und später des Christentums verfiel das Ägyptische als Schriftsprache bzw. wurde es in griechischen Buchstaben geschrieben, überlebte aber als Alltags-, also als gesprochene Sprache sogar die Eroberung Ägyptens durch die Araber im 7. und 8. nachchristlichen Jahrhundert. Heute ist es allerdings nur noch (als Koptisch) in der Liturgie der christlichen Minderheit lebendig.
Mit dem griechischen Gedanken der paideia, den wir am besten mit «Bildung» übersetzen, kam alles das nach Ägypten, was die Erziehung dort bislang noch hatte vermissen lassen: die Vorstellung von der Personalität des Menschen und dass die Schule nicht allein zur Wahrung des Überkommenen und zur Sicherung der Kontinuität, sondern ebenso zur Kritik, zur Revision des Alten, zum Suchen und Forschen zu erziehen habe. Zudem ist die Schule erst bei den Griechen aus dem Schatten der bloßen Berufsvorbereitung herausgetreten, denn in Griechenland galt die planvolle Unterweisung möglichst aller frei geborenen Heranwachsenden männlichen Geschlechts als Teil der politischen Kultur und als Voraussetzung zum Erfolg der demokratischen Regierungsform.
Das griechische Unterrichtswesen, so wie es vom Zentrum Griechenlands ausgehend zuerst über die Gründung von Kolonialstädten entlang der Küsten des Mittelmeers und anschließend, im Zeitalter des Hellenismus, bis tief nach Kleinasien und ins Zweistromland hinein Verbreitung fand, hat in der klassischen Zeit, das heißt in den gut anderthalb Jahrhunderten zwischen der ersten demokratischen Verfassung Athens (durch Kleisthenes, 507 v. Chr.) und dem Aufgehen der griechischen Stadtstaaten im Reich Philipps und Alexanders von Makedonien (338 Schlacht von Chaironaia), seine Grundlegung erhalten. Vorausgegangen ist eine mit der Einwanderung der dorischen Stämme um 1200 v. Chr. beginnende frühe, archaische Epoche, für die das Beispiel Spartas als repräsentativ gelten kann.
Über die jungen Spartiaten schrieb der römische Schriftsteller Plutarch: «Lesen und Schreiben lernten sie nur soviel, wie sie brauchten. Die ganze übrige Erziehung war darauf gerichtet, dass sie lernten, zu gehorchen, Anstrengungen zu ertragen und im Kampf zu siegen.» Auf die spätere Schule weist eigentlich nur das Jahrgangsprinzip voraus, nach dem die männlichen Kinder des spartanischen Kriegervolkes, für dessen materielle Bedürfnisse die un- oder höchstens halbfreien Angehörigen der unterworfenen Bevölkerung zu sorgen hatten, zusammengefasst worden sind, wenn sie mit sieben Jahren ihre Familien verließen. In diesem Alter übersiedelten sie in vom Staat unterhaltene kasernenähnliche Einrichtungen, um dort in einer Art der totalitären Gemeinschaftserziehung auf ihr künftiges Dasein als Soldaten vorbereitet zu werden. In Athen hingegen verliefen die Dinge anders. Im klassischen Zeitalter, im Zeitalter der attischen Demokratie, dem Zeitalter der großen Dichter Aischylos, Sophokles, Euripides, der Geschichtsschreiber Herodot, Thukydides, Xenophon, der Philosophen Sokrates, Platon, Aristoteles, verbürgerlichte die Gesellschaft, und es waren andere Fähigkeiten gefragt, ging es nicht mehr ums Kriegführen allein und um die Bewahrung des Überkommenen.
Wenn wir einer Komödie des Aristophanes Glauben schenken dürfen, dann haben die Kämpfer von Marathon (490 v. Chr.; Sieg der Athener und ihrer Verbündeten über die Perser) als Heranwachsende eine Schule besucht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt – wahrscheinlich aber schon früher – war es also üblich, dass die Knaben in den griechischen Stadtstaaten, den Poleis, nach ihrem siebten Geburtstag einen Lehrer aufgesucht und damit eine mitunter langjährige und anspruchsvolle Bildungslaufbahn angetreten haben. Obgleich kein staatlicher Zwang zum Schulbesuch herrschte, waren die Eltern, die über das Bürgerrecht verfügten, gehalten, ihren Nachwuchs – sofern sie über die finanziellen Mittel dazu verfügten, in Begleitung des so genannten paidagogos (Knabenführer; meist ein Sklave) – zu einem der Lehrer zu schicken, die auf privater Basis gegen Entgelt ihre Dienste anboten. Erst um 400 v. Chr. wurde in Athen ein Gesetz erlassen, das die Regularien des Unterrichtswesens, wie Lehrinhalte, die Bestellung der Lehrer usw., festlegte. Unterrichtsgegenstände beim so genannten Grammatisten waren das Lesen und Schreiben, bald auch – in Erweiterung dieses ursprünglichen Aufgabenkreises – das Rechnen. Wie schon in Altägypten war auch in Griechenland das Lesen eine schwer zu erlernende Kunst, musste der Lesende sich doch ständig mühen, die ununterbrochen dahin fließenden Buchstabenreihen in Silben, Wörter und Sätze zu gliedern. Lehrbücher (in Form von Schriftrollen), die als Schreibvorlagen dienten und aus denen der Lehrer vorlas, waren zwar bekannt und in Gebrauch, aber, weil handgeschrieben, selten und teuer. Zur Lehre beim Grammatisten kam eine musikalische Grundausbildung (Gesang und Lyraspiel) beim Kitharisten sowie die körperliche Ertüchtigung (einschließlich Tanz) bei wiederum einem anderen Lehrer. Schule, das bedeutete also, dass man nebeneinanderher die verschiedensten Lehrer aufsuchte. Nur gelegentlich beschäftigte ein Lehrer für die verschiedenen Lehrgegenstände Hilfslehrer, so dass die Kinder den Ort des Unterrichts nicht wechseln mussten. Der Unterricht erschöpfte sich weitgehend in Auswendiglernen und äußerem Drill. In der klassischen Zeit verfügten fast alle männlichen Angehörigen der mit dem Bürgerrecht ausgestatteten Bevölkerungsteile in den griechischen Stadtstaaten über eine derartige, wenigstens elementare Schulbildung und beherrschten mithin die Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens einigermaßen. Es war die demokratische Regierungsform, die die Teilnahme an der Volksversammlung außer vom Bürgerrecht auch von der Lese- und Schreibkompetenz abhängig machte. So erforderte, ganz praktisch, die Durchführung des Scherbengerichts das Schreibenkönnen. Auf diese Weise hat diese Staatsform die Ausbreitung der elementaren Kulturtechniken wesentlich unterstützt.
Vom 14. bis zum 18. Lebensjahr setzten die jungen Griechen der besseren Familien ihren Bildungsgang in einer anderen Institution fort. Es war dies das gymnasion, eine aus öffentlichen Mitteln unterhaltene und unter Leitung eines staatlichen Beamten, des gymnasiarchos, stehende Anstalt mit Übungsplätzen, Bädern, Wandelhallen, Bibliotheken, gelegentlich auch einem Theater. Obwohl das gymnasion ursprünglich nur der körperlichen und vormilitärischen Ausbildung diente, nahm es allmählich zivile Züge an. Dies geschah vor allem als nach dem Verlust der Unabhängigkeit der griechischen Stadtstaaten im Zeitalter des Hellenismus die militärische Ausbildung an Bedeutung verlor. Jetzt wurde das gymnasion zu einem Ort, an dem sich die höhere Bildung mehr denn je als intellektuelle Schulung konzentrierte. Im Mittelpunkt stand nunmehr die Literatur, vor allem die Epen des Homer, an dessen Versen schon das Lesen erlernt worden war. Jetzt wurden gezielt auch grammatische Übungen gemacht und Aufsätze geschrieben, gewissermaßen als Vorübung zur späteren rhetorischen Schulung. Daneben spielten mathematische Kenntnisse eine gewisse Rolle. Im gymnasion trafen die Wortführer der verschiedenen Denkschulen aufeinander und die jungen Leute lernten, indem sie ihnen zuhörten. Große Bedeutung behielt jedoch nach wie vor die körperliche, die so genannte gymnastische Ausbildung: Laufen, Weitsprung, Diskus- und Speerwurf, Boxen, Ringen. Gymnastik, gymnasion – darin steckt das griechische gymnos = nackt: die Jugendlichen widmeten sich den sportlichen Übungen nämlich unbekleidet.
Spätestens ab 334 v. Chr. folgte für die über 18-jährigen jungen Männer noch ein weiterer zweijähriger Abschnitt höherer Bildung, die so genannte Ephebie (ephebos = junger Mann). Die Ephebenausbildung musste von allen, also auch von denjenigen, die keine höhere Bildung genossen hatten, absolviert werden. Erst danach wurde das Bürgerrecht verliehen. Dabei handelte es sich zunächst wiederum um eine Art vormilitärischer Ausbildung. Ab dem Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, als sie sich von Athen ausgehend über die Kolonien in den hellenistischen Reichen verbreitete, gewannen jedoch innerhalb der Ephebie immer mehr die klassischen Lehrfächer der höheren Bildung an Einfluss, bis die militärischen Komponenten schließlich zur Nebensache geworden waren. Verschiedentlich verschmolz die Ephebie jetzt mit der gymnasialen Bildung, indem sie diese über das 18. Lebensjahr hinaus verlängerte. Dann freilich war sie nicht mehr obligatorisch, sondern eine Form aristokratischer Bildung, für die auch bezahlt werden musste.
Den Höhepunkt der im gymnasion grundgelegten höheren Bildung des jungen Griechen bildete die Perfektionierung seiner rhetorischen Fähigkeiten. Wenn jeder freie Mann per Los in ein öffentliches Amt gelangen konnte, war das Redenkönnen eine offensichtliche Notwendigkeit. Neben Herkunft und Vermögen entschied mit dem Übergang von der altgriechischen Adelsgesellschaft zur attischen Demokratie das geschickte Auftreten in der Öffentlichkeit über gesellschaftlichen Rang und politischen Einfluss. Die Beherrschung des Wortes und folglich die Einübung in das richtige Reden nahmen in ihrer Bedeutung also immer mehr zu. Auch wer sich in privaten Angelegenheiten, wie zum Beispiel in rechtlichen Streitigkeiten, durchsetzen wollte, musste es verstehen, seine Ansprüche rhetorisch überzeugend zu vertreten. Kurz: Zu einer von Meinungsvielfalt gekennzeichneten, vom Pluralismus der Interessen beherrschten Gesellschaft gehörte – und gehört nach wie vor – ganz grundlegend die Rede. Die in jeder Stadt vorhandenen Versammlungshallen, die überdachten Säulengänge und je länger je mehr auch das gymnasion trugen dieser Kultur der Rede und des Dialogs Rechnung. Neben den elementaren Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen, neben die körperliche und musische Ausbildung sowie den literarisch zentrierten höheren Unterricht, trat deshalb im Griechenland der klassischen Epoche noch so etwas wie eine höchste Form der Bildung, etwas, das an die Schulung auf den eben genannten Gebieten und Stufen anschloss und über sie hinausging: eine vollendete wissenschaftliche, auf der Kunst des Redens sich gründende Ausbildung.
Hier sind insbesondere die Sophisten zu nennen, Gruppen von umherziehenden Intellektuellen, die in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auftraten und die durch ihre ganz den Menschen in den Mittelpunkt stellende Philosophie («Der Mensch ist das Maß aller Dinge») das geistige Leben in Griechenland nachhaltig beeinflussten. Protagoras von Abdera und Gorgias von Leontinoi sind heute noch bekannte Namen. Die Sophisten scharten die jungen Leute um sich und boten jedem, der es sich leisten konnte, an, ihm universale Bildung zu vermitteln und ihn die Kunst der Beredsamkeit zu lehren. Was zu vermitteln ist, kann und soll gelehrt werden, war die Überzeugung der Sophisten.
Der belehrenden Methode der Sophisten stand eine andere konträr gegenüber. Diese Alternative wurde von dem Philosophen Sokrates (470–399) und seinen Schülern vertreten, darunter an prominentester Stelle Platon (427–347). Sokrates begründete ein dialogisches Verfahren, das auf der Prämisse beruhte, dass dem Lernenden nichts gelehrt werden solle, was dieser nicht aus sich selbst heraus erkennen könne. Unterricht ist hier eine mehr diskursive Angelegenheit, die der gemeinsam von Schüler und Lehrer unternommenen Wahrheitssuche dient. Der Schüler lernt nicht, indem er die gesuchten Zusammenhänge vorgestellt und erklärt bekommt. Der Schüler lernt vielmehr, indem er durch geschicktes Fragen des Lehrers die Antworten gewissermaßen in sich selbst bzw. in der Sache entdeckt. Exemplarisch vorgeführt wird dieses Prinzip in den berühmten, von Platon überlieferten sokratischen Dialogen. Schon in diesen Anfängen können wir also zwei konkurrierende didaktisch-methodische Ansätze erkennen – mit Relevanz bis heute. Wenn man so will, dann beginnt die Geschichte des modernen Unterrichts an dieser Stelle. Platon war es auch, der 387 v. Chr. mit der Gründung der ersten philosophischen Akademie in Athen dieser höchsten Form griechischer Bildung einen Ort gab, von dem aus sie ihre Wirkungen entfalten konnte.
Aus den anfangs noch eher ungeordneten Gegenständen dieser im Blick auf das Alter der Heranwachsenden mehrfach gestuften höheren und höchsten Bildung hat sich schon im Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ein erster allgemeiner Kanon von Bildungsinhalten herausgeschält, enkyklios paideia (allseitige Allgemeinbildung) genannt. Beredsamkeit, vor allem wenn sie auf Wirkung im politischen Raum zielte, erforderte ein hohes Maß an Wissen, eine umfassende Informiertheit auf allen Gebieten, die in der öffentlichen Auseinandersetzung zum Thema werden konnten. Nicht zufällig hat Platon, der als erster dieses Schema einer allgemeinen Bildung in die Form eines systematisch konstruierten Lehrplans gegossen hat, dies im Rahmen einer Schrift getan, worin er das Bild eines idealen Staatswesens entwirft, nämlich in seiner Schrift politeia. Neben selbstverständlich dem Schreiben und Lesen (Grammatik), das Gegenstand schon der Elementarbildung war, und neben den gymnastischen Übungen umfasste dieser Bildungsgang die Einübung in die Redekunst, das heißt die Rhetorik als Wissen, wie eine Rede aufzubauen und überzeugend vorzutragen ist, sowie Kenntnisse in Dialektik (einschließlich der Logik), der Kunst des Diskutierens, und in Musiktheorie, Arithmetik, Geometrie und Astronomie (einschließlich Astrologie). Diese allgemeine Bildung diente den dann folgenden Fachstudien des angehenden Philosophen, Technikers, Heerführers, Mediziners usw. als Grundlage. In hellenistischer Zeit hat sich dieser Lehrplan der enkyklios paideia nicht nur erhalten, sondern weiter an Kontur gewonnen. Auf diese Weise sind die Griechen zu Lehrmeistern Roms und zuletzt, wie sich noch zeigen wird, sogar des christlichen Europa geworden.
Freilich war, und das ist die andere Seite des hoch entwickelten griechischen Schul- und Bildungswesens, die Verwirklichung der enkyklios paideia und die Realisierung des allseitig gebildeten Menschen, die kalokagatie, lange Zeit nicht nur auf die männliche Hälfte der Bevölkerung beschränkt, sie war auch nur möglich, weil die Arbeit von anderen, von den Sklaven und den Angehörigen der Unterschichten, welch letztere nur über eine elementare Bildung verfügten, erledigt wurde. Denn es war nicht Sache des freien Bürgers von einigem Wohlstand, sich durch seiner Hände Arbeit zu ernähren, das tat nur der Handwerker, der banausosscholébanausos