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Harald Haarmann

GESCHICHTE
DER SCHRIFT

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Die Schrift gehört zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Die Herausforderung an die Gedächtnisleistung in Kulturen ohne Schrift wird mit der Entwicklung von Schrift abgelöst durch neue, revolutionäre Möglichkeiten, Wissen zu speichern und weiterzugeben. Aber wer entwickelt, wer nutzt diese neuen Möglichkeiten? Welche Funktion erfüllt die Schrift und wie verändert sie das Zusammenleben der Menschen? Ob Wortschreibung oder Lautschrift, Harald Haarmann schildert knapp und anschaulich, welche unterschiedlichen Schriftsysteme sich seit den ersten bildlichen Vorstufen vor 7 000 Jahren entwickelt haben und wie unser Alphabet entstanden ist. Dabei bietet er einen faszinierenden Einblick in die Kulturgeschichte der Menschheit und das Leben in längst untergegangenen Hochkulturen.

Über den Autor

Harald Haarmann, geb. 1946, gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Er ist Vizepräsident des „Institute of Archaeomythology“ in Sebastopol (USA), Mitglied des Forschungsteams des „Research Centre on Multilingualism“ (Brüssel) und an mehreren größeren Forschungsprojekten beteiligt. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. „Weltgeschichte der Sprachen“ (22010), „Kleines Lexikon der Sprachen“ (22002), „Die Indoeuropäer“ (22012) sowie „Das Rätsel der Donauzivilisation“(22012).

Inhalt

Einleitung: Schrifttechnologie und die Welt der Zeichen

1. Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses

2. Wer hat wann, wo und warum mit dem Schreiben angefangen?

Wer besaß zuerst Schrift und wer kontrollierte Wissen?

Religiöse Funktionen des Schriftgebrauchs in Alteuropa und Altchina

Die alteuropäisch-altägäische Schriftkultur

Ökonomische Funktionen des Schriftgebrauchs in Mesopotamien und Ägypten

Die Entstehung der Keilschrift und ihre Verbreitung im Alten Orient, im Nahen Osten und in Kleinasien

Schreibprinzipien und Schrifttechnologie in der Alten und Neuen Welt

3. Von der Wort- zur Lautschreibung: Schrift als Herausforderung des abstrakten Denkens

Das Spannungsverhältnis von Schrift und Sprache – die Zusammensetzung von Zeichensystemen

Entwicklungstrends der Schrifttechnologie und ihrer Schreibprinzipien

Zur Autonomie von Schrift gegenüber der gesprochenen Sprache

Zum Verhältnis von Sprachstruktur und Schriftart

Auf dem Weg zu einer fortschreitenden Phonetisierung

4. Schreibtechniken und Schriftträger – Von der Tontafel zum elektronischen Buch

Stein

Ton und Keramik

Schreibgrundlagen aus Metall

Knochen und Elfenbein

Papyrus

Holz und Rinde

Palmblätter

Leder

Pergament

Textilien

Papier

Digitale Schriftlichkeit

Kalligraphie

5. Der Siegeszug des Alphabets – Von der Sinai-Schrift zur Lateinschrift

Die ältesten lokalen Varianten einer Alphabetschrift im Nahen Osten

Das phönizische Alphabet

Die europäischen Affiliationen der phönizischen Schrift

Die Affiliationen der phönizischen Schrift im Nahen Osten

Die Rolle von Kultursprachen und Basisschriften für die Verbreitung des alphabetischen Prinzips

Isolierte Alphabetschöpfungen in Europa und Asien

Zur Präzision von Alphabetschriften für die Lautwiedergabe

Alphabetschriften in der modernen Sprachplanung

6. 7 000 Jahre Schriftgeschichte in Europa

7. Die Rückkehr zur elitären Schriftlichkeit

 

Literaturhinweise

Register der Schriften

Einleitung: Schrifttechnologie und die Welt der Zeichen

Als Carl Faulmann im Jahre 1880 seine «Illustrirte Geschichte der Schrift» publizierte, war sein Werk die erste Universalgeschichte über dieses Thema, und es stand allein in der damaligen akademischen Landschaft. Schriftgeschichte war kein selbständiges Forschungsfeld, und die zeitgenössische Sprachwissenschaft war mehr mit der historischen Rekonstruktion von Sprachverwandtschaften als mit der Entwicklung der Schriftsprachen beschäftigt. Schrift wurde damals nicht als das verstanden, was sie tatsächlich ist, eine Technologie, die sich der Mensch geschaffen hat, um Informationen für den Wiedergebrauch zu konservieren.

Faulmann hatte phantastische Vorstellungen vom Ursprung der Schrift. Nach seiner Auffassung waren die germanischen Runen die Urschrift der Menschheit, und der Autor machte sich besondere Mühe, Vergleiche der Runenzeichen mit der äußeren Gestalt sumerischer Keilschriftzeichen und ägyptischer Hieroglyphen anzustellen. Da Faulmann frühe Entwicklungszustände der sumerischen und ägyptischen Schrift nicht kannte und da die Archäologie damals noch keine verläßlichen Datierungsmethoden hatte, sahen seine Reihenvergleiche überzeugend aus. Faulmanns Annahme vom hohen Alter der Runenschrift paßte zudem gut in die zeitgenössische Weltanschauung der Europäer mit ihrem zivilisatorischen «Sendungsbewußtsein» und ihren kolonialistischen Machtansprüchen.

Bis heute basteln Hobbyhistoriker und Schriftforscheramateure an Zeichenvergleichen zwischen Runen und frühen Schriften der Alten Welt. Faulmanns Thesen haben sich hartnäckig gehalten, obwohl sie durch neuere Erkenntnisse – nicht zuletzt durch exakte Datierungen alter Schriftfunde – längst überholt sind. Seit längerem ist bekannt, daß die Runen um mehrere Jahrtausende jünger sind als die ältesten Schriften Mesopotamiens oder Ägyptens. Jahrzehntelang stand die Schriftforschung unter dem Eindruck der archäologischen Funde in Mesopotamien, durch die immer ältere Kulturschichten des Alten Orients aufgedeckt wurden. Die Erkenntnisse über die alten sumerischen und akkadischen Kulturzentren verdichteten sich. «Ex oriente lux» (‹Licht aus dem Osten›) war das Schlagwort, das die kulturhistorische Betrachtung seit den 1940er Jahren dominierte. Danach lag die Wiege der Zivilisation in Mesopotamien, und von dort seien auch die Impulse für die Entstehung der Hochkulturen in Europa ausgegangen.

Bis heute ist der Mythos lebendig geblieben, wonach die älteste Schrift der Menschheit in Mesopotamien entstanden sei: das altsumerische Schriftsystem, das piktographische Symbole verwendete. In der Tat stammen die ältesten unscheinbaren Tontäfelchen mit Warenlisten und Aufrechnungen in Mesopotamien aus der Zeit um 3200 v. Chr.

In den letzten Jahrzehnten sind nun aber weitaus ältere Schriftfunde bekannt geworden, und die stammen aus Ägypten und Europa. Auf die Spuren dieser älteren Schrifttraditionen gelangte die Forschung auf ganz verschiedenen Wegen.

In den 1970er Jahren wurde für die vorgeschichtlichen Epochen Europas eine neue Chronologie erarbeitet. Es war schon seit längerem bekannt, daß die C14-Methode, d.h. die Datierung aufgrund von Radiokarbonmessungen, umso ungenauere Daten liefert, je weiter man über 1000 v. Chr. in die Vorgeschichte zurückgeht. Die älteren Radiokarbondaten wurden nun durch die Dendrochronologie (Baumringaltersbestimmung) kalibriert, d.h. ausgeglichen. Die absoluten Zeitdaten, die auf diese Weise gewonnen wurden, ergaben eine weniger gedrungene Kulturchronologie Europas, die inzwischen von Archäologen und Historikern allgemein akzeptiert worden ist.

Zeiträume der Vorgeschichte Europas, die mittels der C14-Methode auf wenige Jahrhunderte zusammengedrängt erschienen, erweitern sich auf mehrere Jahrtausende. Aufgrund der neuen Datierung werden auch die archäologischen Funde in eine neue Kulturchronologie gestellt, darunter alte Schriftzeugnisse der Donauzivilisation, deren Datierung bis vor kurzem verzerrt war. Die ältesten Schriftdokumente stammen aus der Zeit um 5300 v. Chr., sind also wesentlich älter als die ältesten Funde Mesopotamiens.

Nicht weniger bemerkenswert als die Revolution der Kulturchronologie in Europa ist die Entdeckung prädynastischer Schriftzeugnisse in Ägypten. Seit Ende der 1980er Jahre haben sich die Ausgrabungen auf Gräber der prädynastischen Epoche (Königsfriedhof von Abydos) konzentriert. Diese Königsgräber werden auf die Zeit zwischen 3320 und 3150 v. Chr. datiert, also auf die Ära, als Ägypten noch in zwei Teilreiche, Oberägypten und Unterägypten, geteilt war. Auf Siegeln, mit denen Vorratsbehälter verschlossen worden waren, finden wir die ältesten Schriftzeichen Ägyptens, und deren Gebrauch ist älter als die Verwendung von Schrift in Altsumer.

Statt der älteren These «Ex oriente lux» zeigt uns also die moderne Perspektive der Schriftforschung gerade die gegenteilige Richtung an, nämlich den Beginn des Schriftgebrauchs im Abendland («ex occidente lux», ‹Licht aus dem Westen›), und zwar in einer der «untergegangenen Zivilisationen der Steinzeit» (Rudgley 1998: 68ff.). Diese Kehrtwendung in der Kulturgeschichte ist aber keineswegs als die Wiederbelebung eines eurozentrischen Zeitgeistes mißzuverstehen, dem Faulmann im Zeitalter des Kolonialismus verpflichtet war. Die zivilisatorischen Leistungen der alten Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens werden nicht durch Fakten geschmälert, die belegen, daß Europa eine noch ältere Tradition zivilisatorischer Institutionen kennt. Die europäische Kulturentwicklung, und auch die Schriftgeschichte, hat den Impulsen aus Afrika und Asien viel zu verdanken. Nur zeigt uns die neue Kulturchronologie, daß diese Impulse erst später wirkten, zu einer Zeit, als sich die Europäer schon eine Weile mit ihrem eigenen Zivilisationsexperiment beschäftigt hatten.

In der Geschichte der kulturellen Evolution des Menschen bedeutet der Schriftgebrauch eine echte Revolution für die Informationsspeicherung und Datenwiederverwendung. Das menschliche Gedächtnis hat eine recht begrenzte Speicherfähigkeit. Diese Feststellung gilt ganz allgemein, selbst wenn in einigen Kulturen Ausnahmefälle von extremen Gedächtnisleistungen zu finden sind. Bekannte Beispiele sind etwa das Memorieren jahrhundertealter Genealogien durch Spezialisten der oralen Tradition in Westafrika oder die zum Teil bis heute erhaltene Erzählkunst karelischer Barden, die Tausende von Strophen des finnischen Nationalepos «Kalevala» auswendig rezitieren konnten.

1. Kulturen ohne Schrift und die Herausforderung des Gedächtnisses

In unserer Zeit wird das Wissen über unsere Welt – wie seit Jahrhunderten – in enger Bindung an die Technologie «Schrift» akkumuliert. Selbst wenn der größte Teil aller Informationen, die in Datenbanken gespeichert werden, digitalisiert ist, werden diese Daten bei Abruf in Schrift umgesetzt, damit der Mensch in der Lage ist, sie zu verwenden. Schrift wird also in unserem digitalen Zeitalter nicht mehr hauptsächlich dafür verwendet, Informationen zu speichern. Um aber digital gespeicherte Daten verfügbar zu machen, ist die Schrift auch heute ein unverzichtbares Medium, mit dem Wissen über unsere Welt umzugehen.

In einem Milieu der Literalität, wo Analphabetismus eine Marginalie ist, besteht kaum Anlaß, über Alternativmodelle von Gesellschaften nachzudenken, die ohne Schrift funktionieren. Anders ist die Situation in Entwicklungsländern, wo Literalität ein Privileg der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Elite ist, Analphabetentum dagegen ein Charakteristikum der Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten. Was diese Welt trotz ihres Literalitätsgefälles allerdings mit den entwickelten Staaten und ihrer allgemein verfügbaren Schriftlichkeit gemein hat, ist das alternativlose zivilisatorische Idealbild von Schriftkultur.

Es gibt jedoch zahlreiche Kulturen, die bis heute ohne Schriftgebrauch existieren: in der Regenwaldzone Brasiliens, Venezuelas und Kolumbiens, in der Sahelzone Afrikas, im Dschungel Malaysias, in den unzugänglichen Bergtälern Papua-Neuguineas und im Outback des australischen Kontinents. Die schriftlosen Kulturen der Moderne sind vertreten bei Kleinvölkern, deren Sprachen nur noch von wenigen hundert oder tausend Sprechern gesprochen werden. Die Existenz vieler dieser Kleinvölker ist bedroht, und ihre Kulturen laufen Gefahr, im Sog des globalen Assimilationsdrucks unterzugehen.

Allerdings gibt es auch Kleinvölker, deren Bestand bis heute kaum gefährdet ist. Dies trifft etwa auf die rund 900 Etoro im bergigen Binnenland der Bosavi-Region Papua-Neuguineas zu. Die Etoro sind Meister traditionaler Lebensweisen, die uns Menschen der Schriftlichkeit beweisen, daß Kultur auch ohne Schrift funktionsfähig ist. Zwar sind Requisiten der modernen Zivilisation bis zu den Etoro gedrungen, wie etwa T-Shirts, Stahläxte, Plastikeimer und gelegentlich Coca-Cola-Dosen; Schrift und Literalität bleiben aber in der Welt der Regenwaldsiedlungen weiterhin ohne Bedeutung.

Dort, wo keine Schrift verwendet wird, glaubt der Europäer «Primitivität» zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen muß man staunend zugestehen, daß es vielerlei Fertigkeiten und Techniken bedarf, um ohne die Errungenschaften der Industriegesellschaft das Leben in einer Dorfgemeinschaft zu organisieren. Die Etoro sind ein gutes Beispiel dafür, wie eine traditionale Kultur mit jahrtausendealten Wurzeln im Einklang mit der natürlichen Umwelt bis heute funktionstüchtig geblieben ist.

Selbst in den einfachsten traditionalen Kulturen finden wir eine lebendige orale Erzähltradition mit vielerlei Erzählstoffen und -formen. Wir treffen auf eine vielschichtige visuelle Symbolik, die uns in den narrativen Zeichensequenzen von Bilderzählungen entgegentritt, beispielsweise in Form von Wandmalereien in den Felshöhlen des Ayers Rock (Uluru) in Zentralaustralien, in den rituellen Sandbildern der Navaho in Arizona, im farbigen Perlenschmuck der Zulu in Südafrika, dessen Arrangements sowohl den Sozialstatus des Trägers bzw. der Trägerin anzeigen als auch kommunikative Funktionen besitzen (z.B. in den Botschaften des aus Perlen gefertigten «Liebesbriefs»).

Der Erfindungsreichtum der Menschen in traditionalen Kulturen, Informationen ohne Schrift, aber mit visuellen Mitteln für den Wiedergebrauch zu fixieren, ist beeindruckend. Die Kulturgeschichte der nordamerikanischen Indianer bietet besonders interessante Beispiele für Mnemotechniken, bei denen visuelle Mittel und mündliche Textüberlieferung in symbiotischer Verflechtung zum Einsatz kommen. Eines von zahlreichen Beispielen in der Kolonialgeschichte, das den großen Kulturkontrast zwischen der Welt der Schriftlichkeit und der Welt der visuelloralen Mnemotechniken veranschaulicht, ist der Vertrag, den William Penn im Jahre 1682 mit den Delaware-Indianern über den Erwerb von Ländereien in der Region aushandelte, die später nach ihm Pennsylvania benannt wurde (Abb. 1). Penn setzte einen entsprechenden Text in englischer Sprache auf. Das Stück Papier mit dem Bild und den schwarzen Strichen darauf hatte für die an der Verhandlung beteiligten Indianer wenig Bedeutung. Um das denkwürdige Ereignis des Vertragsabschlusses für ihre Nachkommen festzuhalten, fertigten die Delawaren ihre eigene Vertragsversion aus. Dieses Dokument wiederum sagte den Weißen wenig, für sie waren das drei Gürtel mit schmückenden Mustern. Mit einem Algonkin-Wort werden diese Gürtel mit mnemotechnischer Funktion wampum genannt. Sie bestehen aus mehreren zusammengesetzten Schnüren, an denen ovale Scheiben farbiger Muscheln aufgereiht sind. Auf dem ersten Wampum des Vertrags mit Penn sind die Vertragspartner in Gestalt eingestickter Figuren dargestellt. Die geometrischen Motive auf den beiden anderen Gürteln symbolisieren Berge und Flußläufe. In den Gürteln wird die Farbe Rot nicht verwendet, denn sie symbolisierte den Begriff ‹Krieg›. Die Mnemotechnik der Wampum ist sehr einfach, und es besteht keine Möglichkeit, bestimmte Ideen exakt mit den Bildmotiven zu assoziieren.

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Abb. 1. Der Vertrag William Penns mit den Delawaren aus dem Jahre 1682 (Haarmann 1992) links: Die Vertragsversion der Weißen oben: Die Vertragsversion der Indianer

Es gibt allerdings Varianten einer visuellen Mnemotechnik bei den Indianern Nordamerikas, deren Kapazität, Informationen in linearen Sequenzen zu fixieren, weitaus spezialisierter ist als im Fall der Wampum. Die bei den Ojibwa und anderen Algonkin-Stämmen verbreitete Form der Bilderzählung (kekinowin) assoziierte Ideenketten mit linearen Bildsequenzen. Ein Beispiel dafür, wie die Technik der Kekinowin funktioniert, ist das «Walam Olum», die Stammeschronik der Delawaren. Sie ist auf insgesamt fünf Blättern aus Birkenrinde überliefert und beginnt mit der Darstellung mythischer Vorstellungen über die Erschaffung der Welt.

Das Äquivalent der einzelnen Bildmotive des «Walam Olum» sind komplette Ideenbündel, deren narrativer Inhalt sprachlich ganzen Sätzen entspricht. Der Informationsgehalt einzelner Bilder ist einerseits sehr kompakt, die Assoziation der Bilder mit sprachlichen Ausdrucksformen andererseits ziemlich diffus. Die Art und Weise, wie der narrative Text memoriert wird, hängt daher von der Rezitierkunst des Erzählers ab, der die Stammeschronik vorträgt. Das Beispiel der Kekinowin zeigt deutlich, daß es noch eines erheblichen Entwicklungssprungs in der visuellen Mnemotechnik bedurfte, bevor das Stadium erreicht war, wo ein einzelnes Bildmotiv einer Einzelidee entsprach wie beim ältesten Schriftgebrauch der Menschheit nach dem Prinzip der Logographie.

Interessanterweise ist dieser Entwicklungssprung in einigen Kulturen Amerikas zu beobachten. In einer Stratigraphie regionaler Mnemotechniken im präkolumbischen Mesoamerika begegnen wir einem Kontinuum verschiedener Entwicklungsstufen. Diese reichen von der Bildtechnik (wie in aztekischen Faltbüchern) über kombinierte piktographisch-logographische Mischtechniken (wie in mixtekischen Faltbüchern) und über logographische Schreibweisen olmekischer Stelen zum logographisch-phonographischen Zeichengebrauch in den Kalendersteinen und Hieroglyphentexten der Maya (s. Kap. 3).

Im frühen Entwicklungsstadium der Experimente mit visuellen Mnemotechniken können außer Symbolen in narrativen Sequenzen auch Zeichen eine Rolle spielen, mit denen numerische Begriffe bezeichnet werden. Ein illustratives Beispiel für einen solchen vorschriftlichen Zeichengebrauch ist das System von Symbolsteinen (im Englischen tokens genannt), die vom 8. bis 4. Jahrtausend v. Chr. als Inventarlisten und «Quittungen» für den Warenverkehr in den Handelsbeziehungen der Völker des Vorderen Orients verwendet wurden. Zunächst waren es konische Objekte, die die Stückzahl von Waren symbolisierten und die der Händler in einem Tonbehälter (bullae) verschloß. Dieser Behälter wurde nach der Lieferung vom Käufer aufgebrochen, um die gelieferte Stückzahl (z.B. Schafe oder Gefäße mit Korn) zu überprüfen. In der Spätphase der Verwendung von Symbolsteinen wurden Stückzahl und Warenbezeichnung in die Außenseite der Warenliste eingeritzt.

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Abb. 2. Symbolsteine und Zeichenäquivalenzen in der altsumerischen Piktographie (nach Schmandt-Besserat 1996)

Aus dem Repertoire der Symbole für Zahlenbegriffe und Waren, die im Handelsverkehr Mesopotamiens üblich waren, sind etwa 30 in das Inventar der Zahlzeichen und piktographischen Symbole der altsumerischen Schrift übernommen worden (Abb. 2). Bereits auf der ältesten Stufe der Schriftverwendung Sumers (Tontafeln der Fundschichten von Uruk III und IV) wurden nicht weniger als 770 Zeichen unterschieden. Bezogen auf diese maximalen Proportionen des Symbolinventars der altsumerischen Piktographie nimmt sich der Anteil der Zeichen, die aus dem älteren System der Symbolsteine stammen, allerdings verschwindend gering aus.

2. Wer hat wann, wo und warum mit dem Schreiben angefangen?

Wenn man davon ausgeht, daß der Schriftgebrauch die Möglichkeiten der Informationsspeicherung enorm erweitert hat und daß höhere Kulturentwicklung von der Verwendung dieser Informationstechnologie abhängig ist, stellt sich die Frage, wer wann von dieser Technologie erstmals profitiert hat.

Wer besaß zuerst Schrift und wer kontrollierte Wissen?

Die ökologischen Bedingungen der Schriftverwendung sind in den Zivilisationen der Antike grundlegend andere als in der Neuzeit. Wir sind heute daran gewöhnt, daß neue Informationstechnologien ihren eigentlichen Nutzen entfalten, indem sie einer breiten Bevölkerung zugänglich sind. Genau dieser Aspekt der Breitenwirkung war in der Antike unbekannt. Der Schriftgebrauch stand in keiner der alten Zivilisationen im Dienst einer Verbesserung des Informationsflusses oder einer Anhebung des Bildungsstandes bei breiten Bevölkerungsschichten.

In allen archaischen Zivilisationen hatte der Schriftgebrauch elitäre Züge, denn die Schrift wurde von Spezialisten für spezielle Zwecke verwendet. Die traditionelle Schriftforschung weiß davon zu berichten, daß der Schriftgebrauch im Dienst staatlicher Institutionen stand, denn nach herkömmlicher Auffassung war die Entstehung der alten Zivilisationen ursächlich an den Aufstieg machtpolitischer Zentren und damit an eine frühe staatliche Ordnung lokaler Gesellschaften gebunden. Diese Verhältnisse treffen in der Tat auf die Entwicklung im Alten Orient zu.

Heute gilt aber die Annahme als überholt, daß das mesopotamische Zivilisationsmodell mit seiner frühen Staatsbildung gleichsam der Prototyp für alle Experimente mit zivilisatorischen Institutionen – und dementsprechend auch mit der Schrift – in der Alten Welt gewesen sei. Aufgrund einer Neubewertung archäologischer und kulturhistorischer Daten weiß man, daß es frühe Gesellschaften mit Schriftgebrauch gegeben hat, die noch keine staatliche Ordnung kannten, daß diese also im Formationsprozeß früher Zivilisationen nicht die entscheidende Rolle spielte, die man ihr lange Zeit beigemessen hat.

In Südosteuropa, an den Stätten der alten Donauzivilisation, haben die Archäologen keine Spuren gefunden, die auf die Existenz eines Staatsgebildes oder auf eine hierarchische Sozialordnung deuten würden. Wohl aber gab es entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse Einrichtungen, die auch aus anderen Regionen mit frühen Zivilisationen bekannt sind: Großsiedlungen von städtischen Ausmaßen, Ackerbau und Vorratswirtschaft, ein reich verzweigtes Netzwerk spezialisierter Handwerksberufe, Metallverarbeitung und ein differenziertes Repertoire von Kultursymbolen.

Die Zivilisation, die sich im Verlauf des 6. Jahrtausends v. Chr. in Südosteuropa herausbildete, wurde von einer Gemeinschaft getragen, in der der soziale Status der Männer wie der Frauen nicht hierarchisch, sondern egalitär organisiert war (egalitarian commonwealth). Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, in der keine soziale Elite tonangebend war, sondern wo Menschen mit aufeinander abgestimmten Interessen den Aufbau eines agrarischen Gemeinwesens mit urbanen Großsiedlungen vorantrieben, das in seiner Entwicklung eine Vorreiterrolle spielte. Und diese Gesellschaft kannte auch eine der zentralen Institutionen, ohne die keine Hochkultur der Welt funktioniert: Schrift.