Als die Waffelbäckerei ihrer Großeltern schließen muss, bricht es Sadie fast das Herz. Kurzerhand kündigt sie ihren Job und entschließt sich dazu, die kleine Waffelbäckerei am Meer gemeinsam mit ihrer Oma Gammy wieder zu eröffnen. Ihr Vorhaben droht jedoch im Fiasko zu enden. Gammy ist nicht mehr die Jüngste – sie wird immer vergesslicher. Zum Glück greift Sadie ihre Jugendliebe Declan unter die Arme. Das Gefühlschaos ist allerdings vorprogrammiert, als ihr auch noch der charmante und neu zugezogene Luke immer häufiger über den Weg läuft. Plötzlich ist alles verwirrend, aber Sadie weiß: Wenn sie die kleine Waffelbäckerei retten will, braucht sie dringend einen Plan und all ihre Zuversicht …

Tilly Tennant stammt aus Dorset. Sie ist das älteste von vier Geschwistern. Nach einigen Jahren voll trostloser Jobs – darunter Verkäuferin, Kellnerin und Zeitungsabopromoterin – entschied sie sich, ihrer Passion für das geschriebene Wort nachzugehen, und begann ein Studium in den Fächern Englischen Literatur und Kreatives Schreiben, dass sie mit Auszeichnung abschloss. Ihr erstes Buch schrieb sie in den Semesterferien 2007 und hat seitdem nicht mehr mit dem Schreiben aufgehört. Tilly Tellant hat mittlerweile über zwanzig Romane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrer Familie in Staffordshire.

Weitere Titel der Autorin:

Der kleine Eselhof an der Küste

Titel

Aus dem Englischen von Ralph Sander

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Für unseren Luke im echten Leben,
der schon ein bisschen großartig ist!

Es war einer von diesen Tagen, an denen Sadie sich fragte, was zum Teufel sie nur mit ihrem Leben anstellte.

Warum ließ sie sich nur zur Lehrerin ausbilden, anstatt draußen in der wunderschönen Bucht zu arbeiten, so wie es ihre Eltern und ihr Bruder Ewan zusammen mit seiner Frau Kat taten? Sadie hatte ihnen stets gesagt, dass ein Leben auf dem Wasser nichts für sie war und sie ihren Lebensunterhalt nicht vom Tourismus abhängig machen wollte, der großen Schwankungen ausgesetzt war. Diese wiederum waren eng mit den Launen des Wetters verflochten und abhängig davon, wie gut oder schlecht das Pfund im Vergleich zu anderen Währungen dastand und welche Bewertungen das Dörfchen Sea Salt Bay – das ihr Zuhause war – im jeweiligen Jahr auf TripAdvisor erhielt. Sie wollte Sicherheit, ein garantiertes Einkommen und eine Karriere, die mehr oder weniger berechenbar war.

Eine Zeit lang hatte sie versucht, in der Branche zu arbeiten, in der fast ganz Sea Salt Bay tätig war: Tourismus in allen erdenklichen Formen. Doch der einzige Job, den sie bekommen hatte, war sterbenslangweilig gewesen. Außerdem hatte sie nach kurzer Zeit genug davon gehabt, jeden Tag das Gleiche zu tun. Sie wollte mehr, sie wollte ihre akademische Seite erkunden und ihren Wissensdurst und ihre Neugier stillen.

Also hatte sie sich der Tradition ihrer Familie entzogen, war wieder zur Schule gegangen, um im reifen Alter von zweiundzwanzig Jahren deutlich später als die anderen in ihrer Klasse ihren Schulabschluss zu machen. Dann hatte sie ein Studium in neuzeitlicher Geschichte absolviert und eine Ausbildung zur Lehrerin begonnen. Das bedeutete für sie, jeden Morgen Sea Salt Bay mit all seinen Reizen zu verlassen und in die nächstgelegene Großstadt zu fahren, um dort zu studieren. Aber das machte ihr nichts aus.

Außer an Tagen wie diesem, an dem sich der Sand in der Bucht warm und so weich wie Rohrzucker anfühlte, an dem Möwen ihre Lieder über die See sangen und die Wellen sich in einem hypnotisierenden Rhythmus an Land bewegten. Das Wasser war kristallklar und mit Schaumkronen besetzt. Die Sonne war für sie wie eine alte Freundin und wärmte ihre sommersprossige Haut, während die leichte Brise ihr liebevolle Worte ins Ohr flüsterte und mit ihrem kastanienbraunen Haar spielte. An Tagen wie diesem fragte sie sich, warum um alles in der Welt sie sich dazu entschieden hatte, in einem trostlosen Klassenzimmer zu sitzen, während sich die Bucht von ihrer schönsten und strahlendsten Seite zeigte.

Kinder kreischten und planschten in den Wellen, Paare spazierten Hand in Hand am Ufer entlang, wo der Schaum auf dem Sand trocknete. Menschen aßen Fritten aus Papiertüten und Eis im Hörnchen. Andere schlenderten nur am Strand entlang, ohne etwas zu sagen oder zu tun, weil es nicht nötig war.

Sie fragte sich, warum sie Tag für Tag damit verbrachte, einem Dozenten zuzuhören, dem es völlig egal war, ob sie anwesend war oder nicht, wenn sie doch genauso gut draußen vor dem Bootsschuppen ihrer Eltern hätte sitzen können. An einem Tag wie diesem lief im Hintergrund leise das Radio, die Sonne brannte vom Himmel, und die Touristen warteten aufgeregt darauf, an Bord des Bootes gehen zu können, weil sie darauf hofften, Delphine oder Seehunde oder Papageientaucher auf den grauen Felsen zu sehen zu bekommen, die stolz aus dem Wasser ragten. Es waren die gleichen Felsen, die vom Ufer aus betrachtet wie winzige Zähne aussahen, sich beim Näherkommen aber als gewaltig groß und mysteriös entpuppten. Als Kind hatte sie es geliebt, wenn ihre Eltern mit ihr um diese Felsen segelten. Sie war schon glücklich gewesen, auf dem Meer unterwegs zu sein, aber sie hatte sich immer sehr gefreut, wenn das Glück auf ihrer Seite gewesen war und sie ein paar wilde Tiere hatte sehen können.

Jetzt dagegen saß Sadie in einem düsteren Raum, um zu lernen, unterdessen verbrachten ihre Eltern jeden Tag auf See und lächelten den erstaunten Besuchern zu, während die auf Tümmler oder Seevögel deuteten oder sich daran erfreuten, wie die Klippen aus Kreidefelsen das Licht reflektierten. Zur gleichen Zeit war ihr Bruder mit anderen Touristen unter Wasser unterwegs und führte sie durch magische Wälder aus seidig-grünem Seetang, während sich die Sonnenstrahlen wie gleißende Dolche aus Licht durch die blauen Tiefen bohrten. Stattdessen las sie sich durch, wie Kinder lernten, wie man für ihre Sicherheit sorgte, wie man ihre Intelligenz und ihre Fortschritte berechnete. Wie man Vordrucke und Formulare ausfüllte. Wie man die Kontrolle behielt und Disziplin schuf. Wie man aus Kindern gute, moralische und vernünftige Erwachsene machte. Was war daran so wundervoll? Früher einmal war sie von der großartigen Vision erfüllt gewesen, als Lehrerin ihre Schützlinge zu inspirieren, ihre Neugier anzuspornen und ihre Kreativität zu fördern. Sie hatte gedacht, im Rahmen ihrer Ausbildung diese Dinge zu lernen. Sie hatte geglaubt, später einmal etwas bewirken zu können und einen wichtigen Beruf auszuüben, der ihr die Möglichkeit bot, junge Menschen zu formen. Vielleicht würden sich die von ihr unterrichteten Kinder später einmal an sie erinnern, wenn sie sich schon lange nicht mehr in ihrer Obhut befanden, und vielleicht würden sie als Erwachsene hin und wieder an sie denken und ihr für die Weisheiten danken, die sie ihnen mit auf den Weg gegeben hatte.

Aber nichts von alldem war so, wie sie es erwartet hatte. Einmal hatte sie versucht, genau das einem Dozenten zu erklären, doch er hatte sie nicht verstanden, sondern ihr lediglich gesagt, dass sie in der Lage sein würde, ihre eigene Klasse anzuleiten, wenn sie erst einmal ihre Qualifikation in der Tasche hatte.

Sie glaubte nicht, dass das stimmte, auch wenn sie ihm nicht hätte erklären können, warum sie das so empfand. Sie wusste nur, dass sie nicht in der Lage sein würde, eine Klasse so zu unterrichten, wie sie es wollte, weil sie momentan so viele Regeln lernen musste, die genau das verhinderten. Sie wusste, ohne Regeln ging es nicht, dennoch kam es ihr manchmal so vor, als ob es einfach zu viele Vorschriften waren, die so schwer auf ihr lasteten, dass sie zu keinem anderen Gedanken fähig war.

Die Klasse 3G der Featherbrook School hatte kaum dazu beitragen können, ihre zahlreichen Zweifel, ob diese Karriere für sie wirklich die richtige war, zumindest ein wenig zu lindern. Der heutige Tag war der bislang schlimmste überhaupt, sodass sie von Verzweiflung und einer überwältigenden Müdigkeit erfüllt gewesen war, als sie die Rückfahrt nach Sea Salt Bay angetreten hatte. Als sie zu Hause angekommen war, hatte sie feststellen müssen, dass niemand dort war. Ihre Eltern arbeiteten noch, da sie aus den länger und länger werdenden Tagen und der gerade erst einsetzenden neuen Touristensaison so viel wie möglich herausholen wollten. Daher würden sie erst Feierabend machen, wenn die Sonne hinter dem Horizont versunken war.

Anstatt in dem verwaisten Haus zu sitzen und sich wie eine elende Versagerin zu fühlen, hatte Sadie beschlossen, den warmen Nachmittag zu nutzen und zum Strand zu gehen. Sie hoffte, dass das Meeresrauschen und die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht eine heilende Wirkung zeigen würden. Falls das nicht gelang, würde sie ihren Körper so zumindest anregen, mehr Vitamin D zu produzieren.

Als sie sich nun in den Sand setzte und aufs Meer hinaussah, ließ sie die Ereignisse des Tages Revue passieren. Sie sollte eigentlich Unterstützung von einem qualifizierten Lehrer erhalten, damit sie nicht allein mit den Kindern war. Doch genau das kam immer seltener und seltener vor, was in gewisser Weise auch nachvollziehbar war. Immerhin war die Schule personell unterbesetzt, und es fehlte an den nötigen finanziellen Mitteln, sodass man wohl jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um an billiges Personal heranzukommen – ganz ohne Rücksicht darauf, ob man diesem Personal Unterstützung an die Seite stellen konnte oder nicht.

Heute war ein Mädchen zu ihr gekommen, weil jemand aus der Klasse sich ihm von hinten genähert und ihm ein Büschel Haare abgeschnitten hatte. Als Sadie die Klasse zur Rede stellte, legte jedoch niemand ein Geständnis ab. Warum auch? Sadie ließ sich als Lehrerin viel zu sehr von jedem hin und her schubsen, sodass niemand mehr Angst vor ihr hatte. Natürlich sollte niemand gleich Angst vor ihr haben, aber ein Hauch von Autorität hätte schon für sie abfallen können. Dann hatte sie kurz den Klassenraum verlassen und bei ihrer Rückkehr auf der Tafel einen riesigen Kreidepenis vorgefunden, den irgendwer aus der Klasse dort hingemalt hatte. Je länger der Unterricht dauerte, umso lauter wurden das Gerede und das dreckige Gelächter in der Klasse, das auch nicht nachließ, als sie zum x-ten Mal Ruhe einforderte. Schließlich war ein Lehrer aus dem Nebenzimmer hereingekommen und hatte sich über den Lärm beschwert, weil seine Klasse nicht mehr dem Stück folgen konnte, das sie sich anhören sollte. Natürlich waren ihre Schüler sofort ruhig, weil der Auftritt dieses selbstbewussten Lehrers Respekt und Angst einflößte. Aber kaum war er gegangen, hatte die gleiche Unruhe wie zuvor prompt wieder eingesetzt, nun allerdings noch lauter, was letztlich die Rektorin zum Einschreiten veranlasst hatte. Mit rotem Kopf hatte sie Sadie zu sich gerufen, um unter vier Augen mit ihr zu reden.

»Miss Schwartz … ich schlage vor, dass Sie für Ordnung in Ihrer Klasse sorgen!«

Sadie hatte hilflos genickt, ohne zu wissen, was sie darauf erwidern sollte. Vielleicht hatte ihr verzweifelter Gesichtsausdruck die Rektorin an ihre eigene Ausbildungszeit erinnert, denn mit einem Mal schien etwas von ihrer Entrüstung zu verrauchen.

»Sie wissen, Sie können immer zu mir kommen, wenn Sie bei irgendeiner Sache Hilfe oder einen Ratschlag benötigen«, hatte sie weitergeredet. »Mir ist bewusst, dass einige Kinder glauben, sie könnten mit einer Referendarin alles machen, aber in dieser Hinsicht unterstützen wir Sie. Wenn Sie solche Unterstützung brauchen, kommen Sie auf mich zu.«

Sadie hatte daraufhin erneut genickt, was diesmal von ihr ernstgemeint sein sollte. Dennoch fühlte sie sich nach diesen Ausführungen der Rektorin nicht besser als zuvor. Zwar hatte die Frau den Eindruck gemacht, mit ihr mitzufühlen und Geduld mit Sadies Zweifeln zu haben, doch sie wusste, dass es tausend Dinge gab, um die sie sich lieber sorgte als um den Lärmpegel in einer Klasse und die Frage, ob die betreffende Lehrerin mit ihren Aufgaben zurechtkam. Sadie wollte nicht diese Person sein, die ständig um Hilfe bat und der immer wieder gesagt wurde, dass sie schon alles richtig machte. Sie wollte eine zuverlässige Person sein, die ihren Aufgaben gewachsen war. Eine Person, von der die Rektorin wusste, dass sie gute Arbeit leistete. Aber nichts deutete darauf hin, dass sich das alles noch in diese Richtung entwickeln würde.

Als ihr das alles jetzt noch einmal durch den Kopf ging, verkrampfte sich ihr Magen, und ihr Gesicht fing an zu glühen. Sie wollte die Ausbildung nicht abbrechen, weil sie vor allem nicht zugeben wollte, dass sie gescheitert war. Allerdings regte sich der Eindruck, dass sie sich einer namenlosen und damit völlig unklaren Weggabelung in ihrem Leben näherte. Sie begann sich zu fragen, ob das Schicksal für sie noch etwas anderes vorgesehen hatte und ob es womöglich niemals wirklich ihre Bestimmung gewesen war, Lehrerin zu werden.

Und wenn es so war? Wäre es dann tatsächlich ein Scheitern, wenn sie sich vom Schicksal sagen ließe, was ihre Bestimmung war? War es wirklich so verkehrt, innezuhalten und auf die leise Stimme in ihrem Kopf zu hören, wenn die ihr zuflüstern wollte, welchen Weg sie tatsächlich gehen sollte? Jene Stimme, auf die sie nicht hatte hören wollen, als die ihr das Gleiche schon früher versucht hatte zu sagen? Vielleicht war sie ja aus einem bestimmten Grund der Klasse 3G der Featherbrook School zugeteilt worden, der ihr bloß noch nicht richtig klar war. Aber war der Grund der gewesen, ihre Entschlossenheit zu stärken, um sie zu einer besseren, stärkeren Lehrerin zu machen, oder ging es darum, dass sie es sich noch einmal gut überlegte, ob die Zukunft, für die sie sich entschieden hatte, wirklich die richtige war?

Sie verscheuchte eine Fliege von ihrem Bein und sah hinüber zu der weißen Klippe an der Landspitze, die jetzt in den rosigen Goldton der untergehenden Sonne getaucht war und wie griechischer Marmor leuchtete. Am Fuß der Klippe schlugen die funkelnden Wellen der Bucht ans Land, ein Dunst in Muschelrosa hing vor dem Horizont. Von der See her wurde sie von einer kühlen Böe erwischt, die genügte, um ihr eine Gänsehaut zu bescheren. Sie griff nach ihrer Strickjacke und zog sie über. Dann warf sie einen Blick auf ihr Handy, um sich die Uhrzeit anzeigen zu lassen. Ein wenig überraschte es sie, dass sie schon viel länger hier im Sand saß, als ihr bewusst gewesen war.

Wenn sie den Rückweg zum Haus in gemächlichem Tempo bewältigte, würde sie dort ungefähr zur gleichen Zeit eintreffen wie ihre Eltern. Sollte sie früher daheim sein, konnte sie schon mal mit dem Abendessen loslegen und ihre Eltern mit etwas Leckerem überraschen.

Während sie überlegte, was sie kochen könnte, schüttelte sie das Handtuch aus, auf dem sie gesessen hatte, rollte es zusammen und verstaute es in ihrer Tasche. Sie zog die Denim-Flipflops an und überquerte den Strand in Richtung Promenade. Sie wurde von einer langen Reihe aus Cottages gesäumt, in denen die wichtigsten Geschäfte und Restaurants von Sea Salt Bay untergebracht waren. Die Fenster dieser Häuser wirkten wie Augen, die den Blick hinaus aufs Meer gerichtet hatten. Früher hatten in den Cottages Fischer gelebt, als der Fischfang noch für alle in der Bucht die wichtigste Einnahmequelle gewesen war – zumindest dann, wenn sie nicht gerade versuchten, Fässer mit Rum an den Soldaten des Königs vorbei an Land zu schmuggeln. Das war der kleine Nebenerwerb, von dem man sich nur hinter vorgehaltener Hand erzählte.

Sadie hatte all die alten Klassiker wie Moonfleet und Die Schatzinsel gelesen, in denen Schmuggler als romantische Helden und liebenswürdige Schurken dargestellt wurden. Sie malte sich gern aus, dass es in Sea Salt Bay früher einmal von solchen Männern gewimmelt hatte. Zugleich musste sie aber auch mit einer gewissen Enttäuschung einräumen, dass die Wirklichkeit sehr wahrscheinlich weit weniger romantisch und dafür umso gefährlicher gewesen war. Ihr Dad hatte sich mal mit der Geschichte der Bucht beschäftigt und dabei auch in den alten Archiven gestöbert, denen zufolge das Leben vor einigen hundert Jahren rau und brutal gewesen war. Viele Menschen waren damals zu Schmugglern geworden, weil sie gar keine andere Wahl hatten und ansonsten den Hungertod gestorben wären. An einem Sonntagnachmittag, kurz nachdem sie neunzehn geworden war, hatte sie neben ihrem Vater gesessen und ihm über die Schulter geschaut, weil sie wissen wollte, was er da las. Gleich darauf wünschte sie, sie hätte es bloß nicht getan. Es hatte nur Sadies Verdacht bestätigt, dass die Wirklichkeit deprimierend und düster gewesen war. Doch an einem Tag wie diesem gab sie ihrer eigenen Version der Vergangenheit von Sea Salt Bay den Vorzug, weil die mehr Spaß machte und nicht so finster war.

Beim Anblick der Cottages, von denen jedes in einem anderen Pastellton gestrichen war – Apfelgrün, Kornblumenblau, Zuckergussrosa, blasses Pfirsich, Schlüsselblumengelb, Lavendel und Flieder – und die alle im goldenen Sonnenschein strahlten, fiel es leicht, an Sadies bevorzugte eigene Version der Geschichte zu glauben. In jedem Cottage waren die Schaufenster anders dekoriert: mit Surfzubehör, mit Spielen und Spielzeug für den Strand, mit Postkarten und Souvenirs, mit Bademode und Taucheranzügen. Vor einem Cottage mit offenem Eingangsbereich standen mehrere Kühltruhen mit Eis in jedem erdenklichen Farbton, vor einem anderen hatte der Betreiber Tische aufgestellt, an denen man Fish ’n’ Chips und Muscheln essen konnte, die alle aus der Bucht stammten.

Als sie an diesem Cottage vorbeikam, war Reginald, der immer die Krabbensandwiches zubereitete, soeben damit beschäftigt, auf der Schiefertafel ein Gericht von der Speisekarte zu wischen, das offenbar ausverkauft war. Er schaute sich um, entdeckte Sadie und hob eine Hand.

»Hey, Sadie! Wie geht’s?«

»Danke, gut«, rief sie ihm zu. »Was macht das Geschäft?«

»Könnte besser laufen, aber ich will mich nicht beklagen.«

Sadie lächelte wissend. Seine Antwort fiel immer gleich aus, auch wenn er sich vor Kundschaft kaum retten konnte.

»Grüß deine Eltern von mir«, fügte er noch hinzu.

»Mache ich!«

Am letzten Cottage zweigte die Straße ab, die zum viktorianischen Pier führte. Der Pier war das Kronjuwel von Sea Salt Bay. Er war nichts Besonderes, wenn man ihn mit den Bauwerken in anderen Badeorten verglich, aber er war schrullig und hübsch, und jeder liebte ihn. Das schmiedeeiserne Geländer war in einem zarten Salbeigrün gestrichen, und die alten Holzbohlen ächzten und knarrten bei jedem Schritt, den man auf ihnen machte. Wenn man nach unten sah, konnte man durch jede Spalte zwischen den Bohlen das Meer unter einem sehen. Der Pier war die Heimat einer Spielhalle und einer Ansammlung harmloser Fahrgeschäfte, darunter das Karussell und der Autoscooter. Ganz am Ende des Piers befand sich die Waffelbäckerei von Sea Salt Bay. Das Bauwerk bildete ein perfektes Quadrat mit einem spitzen Dach darauf. Angestrichen war es in rosa und weißen Streifen, die ihm das Aussehen eines großen Lollis verliehen. Die Farbe war mittlerweile verblasst, Wind und Wetter hatten ihr auf Dauer zugesetzt. Die Fensterläden schlossen nicht mehr richtig, und die Plakate in den Fenstern waren durch die Sonne völlig ausgebleicht. Dennoch hatte dieses Lokal einen festen, treuen Kundenstamm. Das Schild vor der Tür besagte, dass es dort die besten Waffeln an der gesamten südlichen Küste gab, und es gab niemanden, der dieser Behauptung widersprechen wollte.

Auf die Waffelbäckerei war Sadie besonders stolz, da sie ihrer Gammy und ihrem Gampy gehörte. Für alle anderen waren die beiden Grandma und Grandpa, doch als kleines Kind hatte Sadie die Aussprache nie so richtig hinbekommen, und so war es letztlich bei den Namen geblieben, die sie ihnen unabsichtlich gegeben hatte. Gammy und Gampy kannte man auch als April und Kenneth Schwartz, die beide noch vor der Geburt von Sadies Vater von Amerika nach England gekommen waren und die Waffelbäckerei fast die ganze Zeit über geleitet hatten. Als sie in den Sechzigern ihr Geschäft eröffneten, waren Waffeln für die meisten, die hier lebten, noch etwas Exotisches gewesen. Dennoch wuchs der Kundenstamm in den Sechzigern und den Siebzigern immer weiter, und die Gäste kamen inzwischen von nah und fern. Mittlerweile waren Waffeln für die Leute etwas Vertrautes. Für Gammy und Gampy hatte sich der Ruf bezahlt gemacht, den sie sich nach und nach erarbeitet hatten. Das Geschäft lief immer noch gut – zumindest aber gut genug, um sie weitermachen zu lassen, auch wenn das Gebäude dringend eine Generalüberholung und einen neuen Anstrich benötigte.

Sadie bog in Richtung Pier ab, weil sie bei ihren Großeltern vorbeischauen und sie fragen wollte, wie es so lief. Und falls sie nach Geschäftsschluss noch Hilfe benötigen sollten, um alles fertig zu machen, würde sie noch mithelfen. Doch sie hatte gerade erst ein paar Schritte getan, da hielt sie inne, weil sie eine Sirene hörte, die rasch näher kam und damit entsprechend lauter wurde. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Rettungswagen, der in hohem Tempo auf der Straße unterwegs war, die zur Promenade führte. Am Gitter vor dem Pier hielt der Wagen an, da ein Weiterfahren nicht möglich war. Zwei Sanitäter sprangen aus dem Fahrzeug und liefen mit großen schwarzen Beuteln beladen über die alten Holzbohlen, während einer von ihnen etwas in ein Funkgerät rief.

Sadie schaute den beiden einen Moment lang hinterher, dabei regte sich Angst in ihrer Magengrube.

Es hatte zwei Vorkommnisse in Sadies Leben gegeben, bei denen sie von dem seltsamen, fast übersinnlichen Gefühl heimgesucht worden war, dass in Kürze etwas geschehen würde. Beim ersten Mal hatte sie vorausgeahnt, dass ihr Hund Binky von einem Auto angefahren werden würde. Ein Nachbar hatte an die Haustür geklopft, um es ihren Eltern zu sagen, doch sie hatte bereits gewusst, was er ihnen zu berichten hatte.

Beim zweiten Vorfall war ein Mädchen aus ihrer Schule in der Bucht ertrunken. Sadie war damals ungefähr vierzehn gewesen. Als der Rektor sie alle zu sich gerufen hatte, um ihnen die traurige Nachricht zu verkünden, hatte sie das auch schon längst gewusst. Es war so, als wäre ihr diese Information geradewegs ins Gehirn gebeamt worden, denn gesagt hatte ihr zuvor niemand etwas davon. Dieses zweite Mal hatte sie tief erschüttert, und sie hatte jahrelang mit der Angst gelebt, dass es wieder passieren könnte. Sie hatte sich niemandem anvertraut, weil sie glaubte, von den anderen für seltsam erklärt zu werden. Außerdem hatte sie sich nicht die Verantwortung aufbürden wollen, die mit einer solchen Gabe oder einem Fluch oder wie man es auch nennen wollte verbunden war. Glücklicherweise war seitdem nie wieder etwas in dieser Art vorgefallen, sodass sie fast schon vergessen hatte, dass es überhaupt passiert war. Bis zu diesem Moment.

Dann brach die Wahrheit über ihr zusammen, als sie erkennen musste, dass der entsetzliche Gedanke sich bestätigte, der ihr nur ein paar Sekunden zuvor durch den Kopf gegangen war. Ihr wurde eiskalt, ihr stockte der Atem. Benommen und unfähig sich zu rühren sah sie mit an, wie die Rettungssanitäter die Waffelbäckerei betraten.

Sie ließ ihre Tasche fallen und begann zu rennen.