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1. Auflage. 1998
Die 2.–4. Auflage erschien 1999
5., durchgesehene und aktualisierte Auflage. 2000
6. Auflage. 2002
7., durchgesehene Auflage. 2004
8. Auflage. 2006
9., durchgesehene und aktualisierte Auflage. 2010
10., durchgesehene und aktualisierte Auflage. 2016

 

 

 

 

 

 

11., durchgesehene und aktualisierte Auflage. 2022

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2022

Umschlagentwurf: Konstanze Berner, München

Umschlagabbildungen: Philipp Jones Griffiths, © Magnum

Satz: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

ISBN Buch 978 3 406 78783 6

ISBN eBook (epub) 978 3 406 78822 2

ISBN eBook (PDF) 978 3 406 78823 9

 

 

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Marc Frey

Geschichte des
Vietnamkriegs

Die Tragödie in Asien und das Ende
des amerikanischen Traums

 

C.H.Beck

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Zum Buch

Warum engagierten sich die Vereinigten Staaten in Vietnam? Von welchen Motivationen ließen sich die politischen Akteure leiten? Wo liegen die entscheidenden Stationen des Vietnamkrieges? Welche Auswirkungen hatte er auf Amerika? Und schließlich: Warum verloren die Vereinigten Staaten diesen Krieg? Das vorliegende Buch versucht diese Fragen zu beantworten und führt auf dem neuesten Forschungsstand in die Geschichte des Vietnamkrieges ein.

 

 

 

Über den Autor

Marc Frey, geb. 1963, ist Professor für Zeitgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität der Bundeswehr München. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die amerikanische Zeitgeschichte und die Geschichte der Dekolonisierung in Südostasien.

Vorwort

Der Vietnamkrieg war die längste militärische Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts. Er begann als Konflikt zwischen der Kolonialmacht Frankreich und der nationalistisch-kommunistischen Bewegung der Viet Minh während des Zweiten Weltkrieges. Erst dreißig Jahre später endete er mit dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Vietnam, dem Fall Saigons und der Vereinigung des Landes.

Noch immer sind die tiefen Wunden, die der Krieg in Vietnam, Laos und Kambodscha hinterlassen hat, nicht verheilt. Im Boden reichern sich nach wie vor Chemikalien an, die während des Krieges als Entlaubungsmittel zum Einsatz kamen. Über das Trinkwasser führen sie unter anderem zu Geburten von Kindern mit Behinderungen, bis heute sind es etwa Einhundertfünfzigtausend. Vor allem in ländlichen Regionen Vietnams kommt von dem – nach Ansicht von Kritikern – wenigen Geld kaum etwas an, das die Vereinigten Staaten seit einigen Jahren zur Verfügung stellen. Auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, sammelt weltweit, um mit Behinderungen geborene Kinder und deren Familien zu unterstützen. Denn auch die vietnamesische Regierung tut wenig, um diesen Kindern und ihren Familien Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Abseits der ländlichen Regionen, in den aufstrebenden Großstädten des Landes, ist der Krieg Geschichte. Insbesondere Vietnam durchlief in den vergangenen 30 Jahren eine rasante wirtschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf Millionen von Menschen aus relativer Armut in eine neue und breite Mittelschicht aufstiegen. Nicht nur im sozialen und wirtschaftlichen Bereich waren und sind die Veränderungen geradezu atemberaubend. Auch außen- und sicherheitspolitisch sind sie sichtbar. Aus Sorge vor einer chinesischen Hegemonie in Ost- und Südostasien arbeiten Vietnam und die Vereinigten Staaten, die Gegner von einst, seit 2009 in einer ‚Partnerschaft‘ auf vielen Ebenen enger zusammen. Eines hat sich im Laufe der Zeit allerdings nicht verändert: Nach wie vor bezieht die allein regierende Kommunistische Partei Vietnams ihre Legitimation zu einem wesentlichen Teil aus dem Kampf um die nationale Einheit und aus dem Sieg über die Vereinigten Staaten. Insofern lebt der Krieg in den staatlich gelenkten Medien und im zensierten Internet fort und erinnert die Bevölkerung immer wieder aufs Neue daran, wem sie wirtschaftliche Entwicklung und nationale Einheit zu verdanken hat.

Für die Vereinigten Staaten endete der Konflikt mit der ersten militärischen Niederlage ihrer Geschichte. Am Tag der Veteranen, dem 11. November, wird aller Kriegsveteranen aus allen Kriegen gedacht, an denen die Vereinigten Staaten beteiligt waren. Auch im Geschichtsunterricht von Schulen und an den Universitäten ist das Thema präsent. Aber die langen Kriege im Irak und in Afghanistan haben im öffentlichen Bewusstsein den Vietnamkrieg in den Hintergrund gedrängt.

Seit der Erstauflage dieses Buches sind zwanzig Jahre vergangen. Der Vietnamkrieg, Ende der neunziger Jahre vielen Zeitgenossen noch selbst erinnerlich, ist Geschichte geworden. Damit hat sich auch seine Bedeutung verändert. Aber nach den langen Kriegen im Irak und in Afghanistan, in dem insgesamt auch 150 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gedient haben, stellen sich Fragen nach dem Sinn und der Wirksamkeit von Auslandseinsätzen mit gleicher Dringlichkeit wie zur Zeit des Vietnamkriegs.

Die Abfassung des Textes strukturierten folgende Leitfragen: Warum engagierten sich die Vereinigten Staaten in Vietnam? Von welchen Motiven ließen sich die politischen Akteure leiten? Wo liegen die entscheidenden Wegmarken des Vietnamkrieges? Welche Auswirkungen hatte er auf Amerika? Und schließlich: Warum verloren die Vereinigten Staaten diesen Krieg? Damit ist angedeutet, daß der Schwerpunkt der Darstellung auf der amerikanischen Perspektive liegt. Deren Bewertung erforderte jedoch die Einbeziehung der nord- und südvietnamesischen Positionen sowie des internationalen Kontextes.

I. Der Französische Indochina-Krieg und die USA (1945–1954)

Kolonialherrschaft und Antikolonialismus in Vietnam bis 1945

Amerikanische Flugzeuge drehten eine Ehrenrunde über Hanoi, eine Kapelle schmetterte den „Star-Spangled Banner“. Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes ‚Office of Strategic Services‘ (OSS) blickten von einer Tribüne über einen Platz, auf dem sich Hunderttausende versammelt hatten. Im Mittelpunkt des Geschehens stand der vietnamesische Nationalist und Kommunist Ho Chi Minh. An diesem 2. September 1945 proklamierte er in Anlehnung an Thomas Jefferson die Unabhängigkeit seines Landes von französischer Kolonialherrschaft und japanischer Besatzung: „Alle Menschen sind gleich erschaffen. Der Schöpfer hat uns bestimmte unveräußerliche Rechte gegeben: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit, und das Recht auf Wohlergehen“.1 Und ebenso wie Jefferson den englischen König George III. zahlreicher Vergehen für schuldig befunden hatte, begründete Ho die Proklamation der Unabhängigkeit mit der Willkür der französischen Kolonialherrschaft.

Ho hatte über viele Jahre auf dieses Ereignis hingearbeitet. Wie seinen Vater – ein Mandarin am Hof des Kaisers in Hue, der seine Familie verließ und reisender Lehrer wurde – trieb es Ho schon früh in die weite Welt. Im Jahre 1911 bestieg er in Saigon als Schiffsjunge einen Dampfer und lernte Bombay, New York und London kennen. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ließ er sich als Journalist in Paris nieder und schloß sich den französischen Sozialisten an. Fünf Jahre später wurde die Öffentlichkeit erstmals auf den jungen Vietnamesen aufmerksam: Vergeblich appellierte er an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der in Versailles an den Friedensverhandlungen teilnahm, der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker Nachdruck zu verleihen. Persönliche Überzeugungen und politische Umstände führten Ho 1920 zu den französischen Kommunisten, der einzigen Partei, die sich strikt gegen jede Form von Kolonialismus wandte. Bald jedoch geriet er wegen seiner polemischen und scharf anti-kolonialistischen Zeitungsartikel mit der Polizei in Konflikt. 1924 mußte er Frankreich verlassen. Ho führte von nun an ein unstetes Leben, verbrachte Jahre in Moskau, in China und in Thailand. Seinen Lebensunterhalt verdiente er nach wie vor mit Schreiben. Doch die Zeit im Exil machte aus ihm mehr als einen Journalisten, der sich in mehreren Sprachen fließend ausdrücken konnte – Ho wurde Berufsrevolutionär. 1929 gründete er in Hongkong mit anderen vietnamesischen Intellektuellen die Kommunistische Partei Indochinas, und er verschrieb sich endgültig einem einzigen Ziel: der Unabhängigkeit Vietnams von der Kolonialmacht Frankreich. Aber erst der Zweite Weltkrieg eröffnete Ho die Möglichkeiten, auf die er lange gewartet hatte. Denn in den dreißiger Jahren deutete nichts darauf hin, daß die Tage des französischen Kolonialreiches in Indochina gezählt waren.

Drei Jahre vor Hos Geburt, im Jahre 1887, gründete Frankreich nach langen Kämpfen die Indochinesische Union. Es hatte die regionalen Konflikte in Vietnam ausgenutzt und seine Kolonialherrschaft nach und nach auf vier Verwaltungseinheiten ausgedehnt: Cochinchina mit der Hauptstadt Saigon, das Kaiserreich Annam in der Mitte Vietnams, Tonkin mit dem Zentrum Hanoi im Norden, und das benachbarte Königreich Kambodscha. Laos folgte einige Jahre später. Nachdem 1897 der letzte Widerstand gebrochen war, begann die systematische Kolonisierung des Landes. Die Verwaltung wurde zentralisiert, die dörfliche Autonomie stark eingeschränkt und durch ein System der Zwangsarbeit (corvée) weiter geschwächt. Der Binnenmarkt wurde abgeschottet, so daß praktisch nur noch vietnamesische und französische Waren auf den Markt gelangten. Durch Zwangsenteignungen und Urbarmachung entstanden große Güter, die Reis und Kautschuk für den Export produzierten. Damit einher ging der Bau von Kanälen, Eisenbahnen und Straßen.

Bis zum Ersten Weltkrieg hatten verbesserte Infrastruktur, Geld- und Kolonialwirtschaft, aber auch der Aufbau eines französisch geprägten Bildungswesens das Sozialgefüge tiefgreifend verändert. Die traditionelle Dorfgemeinschaft, die das Land größtenteils als Gemeinbesitz bestellte, befand sich in einigen Regionen in Auflösung, zumal die Umverteilung von Land neue Eliten hervorbrachte. Während die ländliche Gesellschaft in einem spannungsreichen Zustand zwischen konfuzianisch-buddhistischer Tradition und kapitalistisch-westlicher Moderne schwebte, orientierte sich die relativ kleine städtische Bevölkerung zunehmend am Katholizismus und an französischer Bildung und Kultur. Erleichtert wurde die Verwestlichung durch den wirtschaftlichen Nutzen, den diese Schicht aus der Verbindung mit Frankreich zog. Doch innerhalb der kleinen vietnamesischen Bildungselite wuchs der Widerstand gegen die Kolonialmacht. Die Aufstände in China (1911) und die Russische Oktoberrevolution von 1917 hinterließen einen tiefen Eindruck, versprachen sie doch die Befreiung von Fremdherrschaft und die soziale, rechtliche, wirtschaftliche und politische Gleichstellung aller Menschen.

Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise in Frankreich und Vietnam 1930 begannen diese Intellektuellen die sozioökonomischen und politischen Zustände offen zu diskutieren. Während sich der Kapitalismus in seiner schwersten Krise befand, erzielte die Sowjetunion Josef Stalins mit dem Aufbau des ‚Sozialismus in einem Land‘ wirtschaftliche Erfolge. Auch die eigene Geschichte bot Möglichkeiten der Identifikation: Sie stellte vielfältige Beispiele des vietnamesischen Widerstands gegen die Chinesen bereit, die über Jahrhunderte das Land beherrscht hatten. Ende der dreißiger Jahre nahm die Unterdrükkung politisch Andersdenkender in Vietnam zu. 1939 wurden etwa 2000 Antikolonialisten, Nationalisten und Kommunisten inhaftiert. Einige wenige konnten der Verfolgung entkommen, unter ihnen der spätere General Vo Nguyen Giap. Doch seine gesamte Familie fand in französischen Lagern den Tod. Noch gelang es der französischen Kolonialverwaltung und ihren 27 000 Soldaten, ein Volk von 18 Millionen Menschen zu kontrollieren.

Großen Auftrieb verschafften der Kommunistischen Partei Indochinas wie auch anderen nationalistischen Befreiungsbewegungen in Asien internationale Entwicklungen: Hitlers Sieg über Frankreich im Juni 1940, die Besetzung Vietnams durch das mit Deutschland verbündete Japan (September 1940/Juli 1941) und die Kollaboration der Vichy-treuen Kolonialverwaltung mit den Japanern. Als die Japaner innerhalb weniger Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 weite Teile Südostasiens besetzten, läutete dies das Ende der europäischen Kolonialherrschaft insgesamt ein. Auch wenn die japanische Besatzung im Vergleich zur europäischen Kolonialherrschaft wesentlich brutaler war, so führte das japanische Beispiel den nationalistischen Befreiungsbewegungen von Burma über Malaya und Indonesien bis nach Indochina doch eines deutlich vor Augen: die vermeintliche westliche Überlegenheit über asiatische Kultur, über asiatische Strategie, Politik und Organisation hatte sich als Trugbild, als Mythos erwiesen.

In der Zeit der japanischen Oberhoheit über Indochina ging die französische Kolonialverwaltung mit bis dahin ungekannter Schärfe gegen Kommunisten, antikolonialistische und antijapanische Gruppen vor. Ein Aufstand der Kommunistischen Partei im Süden des Landes wurde im November 1940 unter Einsatz der Luftwaffe blutig niedergeschlagen, über fünftausend Menschen wurden verhaftet und mehr als hundert exekutiert. Um den Verfolgungen widerstehen zu können, formierte sich im Mai 1941 unter maßgeblicher Beteiligung Ho Chi Minhs, der aus China nach Vietnam zurückgekehrt war, die ‚Liga für die Unabhängigkeit Vietnams‘ (Vietnam Doc Lap Dong Minh Hoi), kurz Viet Minh. Ihr gehörten neben einigen bürgerlichen Kräften vor allem die jungen Intellektuellen an, die sich in den dreißiger Jahren dem Kommunismus zugewandt hatten. Als einzige politische Gruppierung konnten die Viet Minh für sich verbuchen, den Kampf gegen den französischen Kolonialismus und gegen den Feind der Alliierten zu führen. Nicht zuletzt hing ihr Erfolg mit Ho Chi Minh selbst zusammen. Er verfügte nicht nur über großes Ansehen als international erfahrener Revolutionär. Sein überragendes Organisationstalent, seine Fähigkeit, Menschen für seine Sache zu begeistern, und seine Integrationskraft machten ihn während der Jahre 1941 bis 1945 zum unumstrittenen Führer der vietnamesischen Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung. Ho und die Viet Minh eröffneten den Intellektuellen Perspektiven, mit der dörflichen Bevölkerung, die 95 % der Vietnamesen umfaßte, zusammenzuarbeiten – als Propagandakader, als militärische Befehlshaber oder auch als Lehrer. Sie setzten sich für die Rechte der Armen und Landarbeiter ein, führten in den Dörfern Alphabetisierungskampagnen durch, ermunterten Frauen, am politischen Leben teilzunehmen, versprachen demokratische Freiheiten und verstanden es, die Welt mit einfachen Worten als eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse darzustellen.

Die Ideologie der Viet Minh wurzelte in Lenins Theorie eines nationalen Bündnisses aller ‚fortschrittlichen und anti-imperialistischen Kräfte‘ in kolonialen Gesellschaften. Von Mao Tse-tung, der seit Ende der zwanziger Jahre einen Guerillakrieg gegen die Nationalchinesen führte, entlehnten sie die Übertragung des Kommunismus auf asiatische Verhältnisse. Sie orientierten sich an seinen Schriften über die Mobilisierung der Bauern und über den Guerillakrieg. Insbesondere aber wirkte auf die Anhänger der Viet Minh die Betonung eines vietnamesischen Nationalismus. Was diesen von nationalistischen Bewegungen in anderen Ländern Südostasiens unterschied, war die Tatsache, daß ein vietnamesischer Nationalismus bereits vor der Ankunft der Franzosen vorhanden gewesen war. Der Kolonialimus in Vietnam förderte somit nicht erst die Entstehung eines Nationalbewußtseins, sondern er kanalisierte es entlang anti-kolonialistischer Vorstellungen.

Zunächst konzentrierten sich die Viet Minh auf die schwer zugängliche, bergige Dschungelregion Viet Bac an der vietnamesisch-chinesischen Grenze. Erst als die Japaner im März 1945 der französischen Verwaltung ein Ende bereiteten (Paris war im August 1944 von alliierten und französischen Truppen befreit worden), veränderte sich die Lage. Nachdem die Japaner die „Unabhängigkeit“ Vietnams erklärt und den bereits von den Franzosen eingesetzten Kaiser Bao Dai zum Oberhaupt des von Japan abhängigen Staates gemacht hatten, konnten die Viet Minh rasch sechs weitere Provinzen im Norden unter ihre Kontrolle bringen. Der Erfolg der Viet Minh hing nicht nur mit der schwächer werdenden japanischen Besatzungsmacht zusammen. Kriegswirtschaft, Inflation und Ausbeutung des Landes hatten bis 1943/44 zu Nahrungsmittelengpässen geführt, die durch den erzwungenen Export von Reis in andere Regionen des japanischen Machtbereichs noch verschärft wurden. In den beiden letzten Kriegsjahren kam es besonders im Norden, in Tonkin, zu einer Hungersnot, die zwischen einer und zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Das entsprach fast einem Fünftel der Bevölkerung. Hunderttausende verarmter und hungernder Vietnamesen stießen in dieser Zeit zu den Viet Minh.

In den fünf Monaten zwischen März 1945 und der Kapitulation Japans am 15. August 1945 wurden die Viet Minh offiziell Verbündete der Alliierten. Agenten des OSS in Vietnam nahmen logistische Unterstützung in Anspruch, erhielten Informationen über japanische Truppenbewegungen, und Viet Minh-Guerillas versorgten abgeschossene amerikanische Piloten. Das OSS belieferte die Viet Minh mit Waffen und nahm Ho sogar als OSS-Agent, Deckname „Lucius“, in seine Dienste auf. Als der unbestrittene Führer Vietnams am 2. September 1945 die Demokratische Republik Vietnam (DRV) ausrief, konnten Amerikaner und Viet Minh, OSS-Agenten und Ho Chi Minh auf eine Zeit erfolgreicher Zusammenarbeit zurückblicken. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, daß die Kriegskoalition bald zerfallen würde.

Der Beginn des französischen Indochinakrieges

Für die Viet Minh, die in vielen Regionen Vietnams die Japaner entwaffnet und die Unabhängkeit des Landes proklamiert hatten, standen drei Probleme im Vordergrund ihrer Politik. Angesichts der Hungersnot bemühten sie sich in den von ihnen kontrollierten Landesteilen um eine gerechte Verteilung der knappen Lebensmittel. Damit eng verknüpft war das Bestreben, ihren Einfluß in Vietnam auszudehnen. Tatsächlich konnten die Viet Minh dabei große Erfolge verzeichnen. Während die Bewegung bei Kriegsende nur rund 5000 aktive Mitglieder zählte, waren es vier Jahre später schon 700 000. Der Norden des Landes stellte den Großteil, doch verfügten die Viet Minh auch in den ländlichen Gebieten des Südens wie auch in den Städten, insbesondere in Saigon, über eine solide Machtbasis. Allerdings war ihr Einfluß im Süden weit geringer als im Norden. Zwei nationalistische, vom Buddhismus beeinflußte Sekten, die Cao Dai und die Hoa Hao, verwalteten Teile des Mekong-Deltas sowie andere Regionen des Südens weitgehend autonom. Beide Sekten hatten jeweils etwa eine Million Mitglieder. Als ein weiteres wichtiges Anliegen betrachteten die Viet Minh den Aufbau ihrer Armee. Die Stärke der vorwiegend im Norden stationierten Truppen betrug Ende 1946 etwa 80 000 Mann. Hinzu kam eine wesentlich größere Anzahl irregulärer Einheiten, die in allen Landesteilen operierten.

Während des Zweiten Weltkriegs hatte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt die Kolonialmächte davon zu überzeugen versucht, ihre asiatischen Besitzungen schrittweise in die Unabhängigkeit zu entlassen. Seine Forderungen stießen jedoch auf erbitterten Widerstand. Briten, Franzosen und Niederländer glaubten, nur mit Hilfe der Kolonialreiche ihre vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Volkswirtschaften wiederaufbauen zu können. Um die Kriegskoalition mit den Niederlanden und vor allem mit Großbritannien nicht aufs Spiel zu setzen, mußte Roosevelt weitreichende Kompromisse eingehen. Doch an dem von Deutschland besetzten Frankreich und seiner Vichy-treuen Kolonialverwaltung in Indochina wollte der Präsident ein Exempel statuieren. Nachdem die Alliierten im Sommer 1944 große Teile Frankreichs befreit hatten und die französische Armee zu einem wichtigen Faktor bei der Niederringung Deutschlands geworden war, meldete General Charles de Gaulle mit aller Macht Frankreichs Anspruch auf seine Kolonien an. Während Roosevelt eine Entscheidung hinauszögerte, schuf Großbritannien die Voraussetzungen für die Rückkehr Frankreichs nach Indochina: Premierminister Winston Churchill beteiligte de Gaulles ‚Freies Frankreich‘ an der Kriegführung gegen Japan in Südostasien. Als die Japaner im März 1945 in Vietnam das Marionettenregime unter Kaiser Bao Dai einsetzten, billigte auch die amerikanische Regierung Einsätze französischer Soldaten gegen den gemeinsamen Feind. Schließlich zog Washington nach dem Tod Roosevelts im April 1945 einen Schlußstrich unter dessen Kritik am Kolonialismus. Davon überzeugt, daß Roosevelt zu weit gegangen war, begrüßte der neue Präsident Harry S. Truman die französische Hilfe im Kampf gegen Japan. Damit stand der Wiederherstellung der französischen Kolonialherrschaft in Indochina nach dem Krieg außer den Viet Minh nichts mehr im Weg.

Gemäß der auf der Potsdamer Konferenz vom Juli 1945 vereinbarten alliierten Planung besetzten im September britische Truppen den südlichen Teil Vietnams, während eine nationalchinesische Armee von Norden bis zum 17. Breitengrad vorrückte. Den Briten folgten französische Truppen, die zum Teil in amerikanischen Schiffen nach Vietnam transportiert wurden. Nach heftigen Kämpfen gegen die Viet Minh verkündete der französische General Philippe Leclerc fünf Monate später den Sieg im Süden. Auch die beiden Sekten Cao Dai und Hoa Hao, die zunächst ein Bündnis mit den Viet Minh eingegangen waren, wechselten die Fronten und arrangierten sich mit den Franzosen. Doch tatsächlich konnte von einem Sieg der französischen Truppen keine Rede sein. Sie kontrollierten Saigon sowie andere größere Städte, und sie nahmen den Viet Minh Land ab – halten konnten sie es jedoch nicht. Sobald die französischen Truppen abgerückt waren, kehrten Viet Minh-Guerillas wieder in die Dörfer zurück.

In der Hauptstadt Saigon übernahm der Hohe Kommissar für Indochina, Admiral Georges Thierry d’Argenlieu, die Regierungsgeschäfte, und mit der Berufung von Vietnamesen in hohe Ämter hoffte er, sowohl dem vietnamesischen Nationalbewußtsein als auch den französischen Interessen entsprechen zu können. Eine nationalistische Alternative zu den Viet Minh stellte diese Regierung allerdings nicht dar. In ihr waren neben Franzosen ausschließlich Großgrundbesitzer, Geschäftsleute und Rechtsanwälte vertreten – évolués, wie die Franzosen sie nannten –, die an einer Präsenz der Kolonialmacht interessiert sein mußten.

Im Norden waren die Dinge noch komplizierter. Rücksichtslos beuteten die nationalchinesischen Truppen das Land aus. Vergeblich appellierte Ho Chi Minh an die Vereinigten Staaten, dem Unwesen marodierender Truppen ein Ende zu bereiten und eine Rückkehr der Franzosen zu verhindern. Im Februar 1946 unterzeichnete Tschiang Kai-schek, der Führer der Nationalchinesen, mit den Franzosen ein Abkommen, das der Kolonialmacht gegen Preisgabe wirtschaftlicher Vergünstigungen in China die Rückkehr nach Tonkin ermöglichte. Ho befand sich in einer schwierigen Lage. Er konnte versuchen, die Ausführung des Abkommens zu verhindern, indem er gegen Chinesen und Franzosen kämpfte. Eine andere Möglichkeit eröffnete sich ihm in einer Art von Handel mit den Nationalchinesen. Er entschied sich jedoch für Verhandlungen mit dem Abgesandten General de Gaulles, Jean Sainteny. Diese mündeten am 6. März 1946 in einen vorläufigen Kompromiß: Frankreich erkannte Vietnam als ‚freien Staat‘ innerhalb der Französischen Union – so der neue Name des alten französischen Kolonialreiches – an. Im Gegenzug willigte Ho ein, die für fünf Jahre vorgesehene französische Kontrolle auch im Norden Vietnams zu respektieren. Ho, der sich wegen des Abkommens erbitterte Kritik aus den eigenen Reihen zuzog, begründete sein Vorgehen mit den Worten: „Was mich angeht, ziehe ich es vor, fünf Jahre französischen Mist zu riechen, als für den Rest meines Lebens chinesischen zu essen.“2

Doch zur großen Enttäuschung der Vietnamesen war das Abkommen das Papier nicht wert, auf dem es stand: Während Ho sich in Paris aufhielt, um weitere Einzelheiten auszuhandeln, rief d’Argenlieu mit Rückendeckung seiner Regierung im Sommer 1946 einen separaten Staat Cochinchina aus. Und auch die wirtschaftlichen Forderungen, mit denen Ho in Paris konfrontiert wurde, gingen weit über das hinaus, was Gegenstand der Gespräche mit Sainteny gewesen war. Wieder gab Ho nach. Im Grunde waren die Franzosen nicht an einem Abkommen mit den Viet Minh interessiert. Sie ließen keinerlei Absichten erkennen, Vietnam einen autonomen Status, geschweige denn die Unabhängigkeit zu gewähren. Zudem griff die französische Kolonialarmee bei der Lösung lokaler Konflikte immer häufiger zum Mittel der militärischen Unterdrückung. Im November 1946 bot sich den französischen Streitkräften schließlich eine Gelegenheit, den Viet Minh eine Lektion zu erteilen. Als die französischen Truppen unter fadenscheinigen Begründungen am 23. November 1946 die Hafenstadt Haiphong bombardierten und dabei an die 6000 Zivilisten töteten, war auch die Geduld des von Viet Minh-Hardlinern arg bedrängten Ho zu Ende. Von nun an widersetzten sich die Viet Minh landesweit mit Waffengewalt der französischen Kolonialherrschaft. Mit den Kämpfen in Haiphong und um Hanoi, das französische Truppen im Dezember erst nach anhaltenden Gefechten vollständig unter ihre Kontrolle bringen konnten, begann der fast dreißigjährige Krieg in Vietnam.

Die USA, der Kalte Krieg und Südostasien

Zwischen 1945 und 1950 bewegte sich die amerikanische Indochinapolitik von einer Frankreich zuneigenden Neutralität hin zu einer aktiven Unterstützung der Kolonialmacht und ihres Krieges gegen die Viet Minh. Die Ursachen für diesen Wandel sind vielfältig: Antikommunistische Tradition, innenpolitische Entwicklungen, außenpolitische Ereignisse und Veränderungen im internationalen Staatensystem, wirtschaftliche Erwägungen und strategische Einschätzungen. Sie trugen zu einer Weltsicht bei, die sehr stark von kommunistischen Bedrohungsvorstellungen gekennzeichnet war. Zusammengenommen bildeten diese Faktoren auf amerikanischer Seite die Voraussetzungen für den Kalten Krieg und die Blockbildung in Ost und West. Das Engagement der Vereinigten Staaten in Vietnam war ein Produkt dieser Bipolarität. Die Geschichte des Vietnamkrieges ist somit aufs engste mit der Geschichte des Kalten Krieges verknüpft. Auch der französische Indochinakrieg, aus Sicht Washingtons zu Anfang eine Auseinandersetzung zwischen Kolonialmacht und national-kommunistischer Befreiungsbewegung, entwickelte sich rasch zu einer Komponente des Kalten Krieges. Bald kämpfte die französische Armee nicht mehr allein für die Wiederherstellung ihrer Kolonialherrschaft, sondern für die Zurückdrängung des unter dem Deckmantel des Nationalismus operierenden Kommunismus in Südostasien.

Gemeinsam mit der Sowjetunion hatten die Vereinigten Staaten und Großbritannien den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und Japan errungen. Doch bereits im letzten Kriegsjahr wurden Risse in der Koalition der ‚Vereinten Nationen‘ sichtbar. Der sowjetische Diktator Stalin hielt zwar eine Nachkriegsordnung für realistisch, in der er die Kooperation mit den Westmächten fortsetzen konnte. Zugleich erwartete er jedoch, daß der Westen die gewaltsame Ausdehnung und Konsolidierung des sowjetischen Machtbereichs in Europa tolerieren und sanktionieren würde. Daß er damit Ziele verfolgte, die für den Westen unvereinbar waren, haben Stalin und seine Berater nicht in aller Schärfe erkannt, und unter dem Eindruck der furchtbaren Verwüstungen in der Sowjetunion waren sie auch nicht bereit, ihre Ansprüche den Interessen der Westmächte anzupassen.

Der britische Premierminister Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt hatten zwar der Ausdehnung des sowjetischen Einflußbereiches in Osteuropa zugestimmt. Doch die gewaltsame Sowjetisierung und die brutale Unterdrückung persönlicher Freiheiten und demokratischer Parteien nährte das Mißtrauen in Stalin und verstärkte den Widerstand. Nach dem Tod Roosevelts gelangte mit Harry S. Truman ein Mann an die Macht, der es leid war, die Sowjets zu ‚hätscheln‘ und der sich in dieser Ansicht mit der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner einig wußte. Der rasch wachsende amerikanische und westeuropäische Widerstand gegen die sowjetische Machtausdehnung in Osteuropa hing nicht zuletzt mit den großen Erwartungen zusammen, welche die Amerikaner an die Zukunft gerichtet hatten. Bereits vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg hatte Präsident Roosevelt den Amerikanern und der Weltöffentlichkeit erklärt, daß die Vereinigten Staaten Demokratie und Freiheit verteidigen müßten. Millionen von Amerikanern zogen nach dem Dezember 1941 mit der Überzeugung in den Krieg, daß die weltweite Errichtung von Demokratie und Kapitalismus die einzige Gewähr dafür bot, daß niemals wieder ein Weltkrieg entstehen könne.

Die anhaltende Weigerung Stalins, mit dem Westen zu kooperieren und an einer einvernehmlichen politischen Lösung für die Zukunft des besetzten Deutschland zu arbeiten, der Druck auf die Türkei, die sowjetische Unterstützung der kommunistischen Partisanen in Griechenland sowie zahlreiche weitere Konflikte verschärften bis 1947 die Beziehungen zwischen den ehemaligen Verbündeten. Vor diesem Hintergrund verkündete Präsident Truman im März 1947 die Doktrin der ‚Eindämmung‘ (containment), die weit über Griechenland und die Türkei hinaus Geltung und Anwendung fand. Sie sagte allen Völkern, die sich im Kampf gegen (kommunistische) radikale Minderheiten befanden oder auswärtigem Druck ausgesetzt waren, die Hilfe und Unterstützung der USA zu. Truman erklärte, nun sei für die Völker der Erde der Zeitpunkt gekommen, um zwischen Freiheit und Unterdrückung zu wählen.

Mit dem Marshall-Plan (1947) schufen die USA ein Instrument, um die Volkswirtschaften (West-)Europas zu stabilisieren und die USA und Europa enger aneinander zu binden. Außerdem avancierten die ehemaligen Feinde zu Verbündeten in einer neuen Weltordnung. Japan sollte zur westlich orientierten Regionalmacht des Fernen Ostens aufgebaut werden, um den chinesischen und sowjetischen Kommunismus einzudämmen und damit zur Sicherheit der Vereinigten Staaten und des Westens beizutragen. In Europa sollte West-Deutschland, das industrielle Herz, in die demokratisch-kapitalistische Ordnung integriert werden. Der Friedensvertrag mit Japan (1952) sowie die Gründung der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft (North Atlantic Treaty Organization, NATO) 1949 und die Aufnahme der Bundesrepublik in die militärischen Strukturen des Westens im Jahre 1955 ermöglichten die sicherheitspolitische Einbindung Ostasiens und Westeuropas in das globale Ordnungssystem der Vereinigten Staaten.

Truman-Doktrin und wirtschaftliche Reintegration waren somit zwei Seiten derselben Medaille: Die sicherheitspolitische Komponente diente der ‚Eindämmung‘ des kommunistischen Machtbereichs, die ökonomische Komponente der Entwicklung der liberal-kapitalistischen Ordnung. Beide Aspekte sicherten den American way of life, ein rechtsstaatliches, demokratisches System, das dem Einzelnen ein Höchstmaß an Entfaltungs- und Konsummöglichkeiten bieten sollte. In diesem System kam Südostasien eine wesentliche Funktion zu. Die Region sollte zunächst als Rohstoff- und Absatzmarkt für Japan und Europa dienen, um allmählich selbst zu einem eigenständigen Akteur heranzuwachsen, einem wirtschaftlich integrierten und weltweit eingebundenen Sub-Zentrum, das amerikanischwestlichen Werten und Gesellschaftsmodellen freundlich zugeneigt sein würde.

Die Anerkennung des Bao Dai-Regimes

Unterhalb der Ebene der großen weltwirtschaftlichen und geopolitischen Leitvorstellungen und Visionen schenkten die Vereinigten Staaten Indochina zunächst wenig Aufmerksamkeit. Washington beschränkte sich darauf, die Franzosen vorsichtig zu Reformen zu drängen und die Entstehung westlich orientierter nationalistischer Gruppierungen in Vietnam zu fördern. Denn auch im amerikanischen Außenministerium zweifelte man nicht daran, daß Ho „die einflußreichste und vermutlich fähigste Persönlichkeit“ in Vietnam war und daß es zu ihm keine nationalistische Alternative gab.3 Einige Journalisten und Mitarbeiter des Außenministeriums schlugen daher vor, Kontakt zu den Viet Minh aufzunehmen. Sie hielten Ho ungeachtet seiner ideologischen Ausrichtung in erster Linie für einen vietnamesischen Nationalisten. Direkte Beziehungen zu Moskau konnten ihm nicht nachgewiesen werden. Doch aus Sicht der einflußreichen Europaexperten im Außenministerium rechtfertigte dies nicht eine Neueinschätzung Hos und der Viet Minh. Im Gegenteil – fehlende Kontakte wurden dahingehend ausgelegt, daß Stalin seinem Handlanger in Vietnam blind vertraute und Ho keiner Führung bedurfte. Immer wieder sollte sich die amerikanische Außenpolitik in dieses Dilemma begeben: Sie trat einerseits für das Ende des Kolonialismus ein, propagierte das Selbstbestimmungsrecht der Völker und arbeitete vorsichtig an einer Auflösung der Kolonialreiche. Andererseits schreckte sie (mit Ausnahme Indonesiens und der Niederlande) beständig davor zurück, effektiven Druck auf die europäischen Kolonialmächte auszuüben. Und sie weigerte sich beharrlich, mit kommunistischen Nationalisten der entstehenden ‚Dritten Welt‘ Kontakte zu knüpfen.

In Vietnam verlief das Bemühen der Franzosen, eine ihnen genehme politische Alternative zu den Viet Minh aufzubauen, recht erfolglos. Letztlich war Kaiser Bao Dai die einzige öffentlich bekannte Persönlichkeit, die sich nach einigem Zögern bereiterklärte, einer Regierung von Frankreichs Gnaden vorzustehen. Im sogenannten Elysée-Abkommen vom März 1949 versprach Frankreich, gegen wirtschaftliche Zugeständnisse Vietnam die ‚Unabhängigkeit‘ zu gewähren. Außen- und Verteidigungspolitik blieben allerdings im Verantwortungsbereich Frankreichs. Außerdem mußten Vietnam, Laos und Kambodscha der Französischen Union beitreten, was das Versprechen der Unabhängigkeit weiter aushöhlte. Wie in der Vergangenheit gehörten der neuen vietnamesischen Regierung unter Bao Dai Kräfte an, die aus einer andauernden Verbindung mit Frankreich politischen und wirtschaftlichen Nutzen zogen. Eine nationalistische Alternative zu den Viet Minh konnte das ‚Staatsoberhaupt‘ nicht sein. Bao Dai, der sich die meiste Zeit mit seiner Familie an der Côte d’Azur aufhielt und in Vietnam den abgeschiedenen Ferienort Dalat als Domizil bevorzugte, pflegte keine Kontakte zur bäuerlichen Bevölkerung und war dem vietnamesischen Leben mit seinen Problemen weitgehend entrückt.

Der Sieg Maos über Tschiang Kai-schek in China und die Flucht der Nationalchinesen nach Taiwan im Herbst 1949 hatten erhebliche Rückwirkungen auf die Indochinapolitik der Vereinigten Staaten. Im Kongreß in Washington machte die republikanische Opposition die Truman-Administration für den ‚Verlust Chinas‘ verantwortlich. Sie warf der Regierung vor, Tschiang Kai-schek nicht genügend unterstützt und den Kommunismus nicht entschieden bekämpft zu haben. Die Vorwürfe wogen umso schwerer, als sich viele Amerikaner nicht nur auf der internationalen Ebene bedroht fühlten, sondern fürchteten, Amerika selbst sei von einer kommunistischen Verschwörung unterwandert. Präsident Truman hatte bereits im März 1947 die Überprüfung aller Bundesangestellten auf mögliche Kontakte zu amerikanischen und internationalen Kommunisten angeordnet, und ein ‚Ausschuß für unamerikanische Aktivitäten‘ des Repräsentantenhauses (House Un-American Activities Committee, HUAC) durchleuchtete das Leben zahlreicher Bürger. Die Verschwörungsängste wurden durch den Korea-Krieg noch zusätzlich geschürt: Zwischen 1950 und 1954 veranstaltete der republikanische Senator Joseph McCarthy eine ‚Hexenjagd‘ auf ehemalige Kommunisten, Intellektuelle und Liberale. Das innenpolitische Klima der ‚McCarthy-Ära‘ verlangte nach einer entschiedenen Außenpolitik.

Im Januar 1950 erkannten die Volksrepublik China und die Sowjetunion die Viet Minh als legitime Regierung der Demokratischen Republik Vietnam an. Dieser Schritt erschien Washington als letzter Beweis für die enge Kooperation zwischen vietnamesischen, chinesischen und sowjetischen Kommunisten. Als Reaktion erkannten die Vereinigten Staaten am 7. Februar 1950, fünf Tage nach der Ratifizierung des Elysée-Abkommens durch das französische Parlament, den ‚Staat von Vietnam‘ unter Kaiser Bao Dai als unabhängiges Land innerhalb der Französischen Union an. Noch im März 1950 nahm die Truman-Administration die finanzielle Unterstützung des französischen Indochinakrieges auf und überwies Paris 15 Millionen Dollar Militärhilfe. Mit der diplomatischen Anerkennung legitimierten die Vereinigten Staaten die französische Kolonialherrschaft über Indochina. Von nun an gab es in Vietnam neben der französischen Kolonialverwaltung zwei um die Macht im Land kämpfende und vom Ostblock bzw. vom Westen legitimierte Regierungen, die beide Anspruch auf ganz Vietnam erhoben.

Die Entscheidung zugunsten Bao Dais fiel der amerikanischen Regierung nicht leicht. Im Außenministerium in Washington erkannte man sehr wohl, daß der ehemalige Kaiser kein politisches Gegengewicht zu Ho bildete. Ebenso klar war man sich darüber, daß der Aufbau einer nationalistischen Alternative zu den Viet Minh nur möglich sein würde, wenn sich die Franzosen zu einer wirklichen Liberalisierung ihrer Kolonialherrschaft entschließen und den Vietnamesen verläßliche Perspektiven auf eine Unabhängigkeit bieten könnten. Doch in der innen- und außenpolitisch aufgeheizten Stimmung nach dem ‚Verlust Chinas‘ entschied man sich für das vermeintlich kleinere Übel. Bao Dai und die Franzosen erschienen nun als Verteidiger westlicher Werte und Gesellschaftsmodelle. Damit verwandelte sich in der amerikanischen Wahrnehmung der nationale Aufstand der kommunistisch dominierten Viet Minh gegen die französische Kolonialherrschaft in eine globale Verschwörung des Kommunismus gegen den Westen, die sich in Vietnam manifestierte.

Wie kein anderes Dokument amerikanischer Nachkriegsgeschichte gibt ein vom Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, NSC) erarbeitetes Strategiepapier Einblick in die Wahrnehmung des Ost-West-Konfliktes. NSC-68, so die Bezeichnung der maßgeblich von Paul Nitze (dem Direktor des Politischen Planungsstabes im Außenministerium) verfaßten Analyse, bestätigte Grundannahmen amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik seit 1947, unterzog diese aber unter dem Eindruck der Zündung der ersten sowjetischen Atombombe im September 1949 einer kritischen Überprüfung. Das alle Bereiche der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik analysierende Dokument begann mit dem Satz: „Die Probleme, die uns beschäftigen, sind gewaltig, und sie berühren nicht nur die Erfüllung oder Zerstörung dieser Republik, sondern der Kultur insgesamt.“ Das Ziel der von einer „neuen fanatischen Überzeugung“ geleiteten Sowjetunion sei die „absolute Herrschaft über den Rest der Welt.“4 In der unmittelbaren Zukunft wolle sie ihre Macht über ganz Eurasien ausdehnen. Daher müsse der sowjetische Einfluß zunächst an der Peripherie zurückgedrängt werden, bevor man daran gehen könne, mit Hilfe nationalistischer Aufstände von Minderheiten in der Sowjetunion selbst das Regime zu einem grundlegenden Wandel seiner Ideologie und Politik zu bewegen. Mit aller Entschlossenheit müßten sich die Vereinigten Staaten dieser Aggression entgegenstellen und sie zurückdrängen. Als geeignete Mittel kamen in Frage: massive Aufrüstung, Entwicklungshilfe, militärische Kooperation, verdeckte Operationen des Geheimdienstes (covert operations), psychologische Kriegführung und die zügige Lösung der wirtschaftlichen Probleme Japans und Westeuropas. NSC-68 forderte zwar nicht zum großen Krieg und schon gar nicht zum Atomkrieg auf, aber zu einer offensiven Politik der „Befreiung“. Dazu gehörte nicht allein ein atomares Bedrohungspotential, das die Sowjetunion von einem Angriff auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten abschrecken konnte. Ebenso wichtig war die massive Verstärkung der konventionellen Streitkräfte. Die USA, so NSC-68, müßten in die Lage versetzt werden, weltweit „lokale sowjetische Schritte durch lokale Aktionen“ zu vereiteln. Mit Blick auf Südostasien gingen NSC-68 sowie weitere Analysen des nationalen Sicherheitsrates davon aus, daß nicht nur Vietnam, sondern die gesamte Region Ziel der kommunistischen Expansion war. Die Machtübernahme in einem Land würde zur Infiltration anderer Staaten führen und letztlich überall kommunistische Regime an die Macht bringen. Der Sieg eines Systems in einem Land bedeutete automatisch einen Verlust für die Gegenseite. In diesem strategischen Nullsummenspiel konnten sich Zwischentöne kaum noch Gehör verschaffen – es gab Freunde oder Feinde, und jeder Akteur, der weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmt werden wollte, war von vornherein suspekt. ‚Neutralismus‘ wurde zu einem Schimpfwort.

Nur wenige Monate später schienen die Analysen Nitzes über die Aggressivität des internationalen Kommunismus Realität zu werden: Im Juni 1950 stießen von Stalin und Mao unterstützte kommunistische Truppen Nordkoreas in den Süden der Halbinsel vor. Der Korea-Krieg bestätigte die Annahmen des Außenministeriums, lenkte die Aufmerksamkeit noch stärker auf Südostasien und förderte die Bereitschaft, den französischen Krieg in Indochina zu unterstützen. Und darauf war Frankreich dringend angewiesen. Allein im Jahre 1949 hatte der Krieg 167 Millionen Francs verschlungen – Geld, das für den Wiederaufbau Frankreichs dringend benötigt wurde. Zwischen 1950 und 1954 flossen amerikanische Gelder, Kriegsgeräte und militärische Dienstleistungen im Gesamtwert von 2,76 Milliarden Dollar nach Frankreich und Vietnam (unter anderem 1800 gepanzerte Fahrzeuge, 31 000 Jeeps, 361 000 Handfeuerwaffen und Maschinengewehre, zwei Flugzeugträger und 500 Flugzeuge). Finanzierten die USA 1952 noch 40 % der Kriegskosten, waren es 1954 bereits 80 %. Dagegen beschränkte sich die wirtschaftliche Entwicklungshilfe für die Regierungen Indochinas auf insgesamt 50 Millionen Dollar.

Doch auch die im März 1950 aufgenommene amerikanische Unterstützung konnte keine Wende zugunsten der französischen Armee herbeiführen. Die Viet Minh kontrollierten rund zwei Drittel des vietnamesischen Territoriums, und am Jahresende gelang es General Giap, die Franzosen vollständig von der chinesisch-vietnamesischen Grenze zu verdrängen. Nun konnte die militärische Hilfe aus China ungehindert nach Vietnam gelangen. Dieser entscheidende strategische Durchbruch sorgte in Paris für erhebliche Beunruhigung und führte zur Auswechslung der militärischen Spitze in Vietnam. Doch auch dem charismatischen und Optimismus verbreitenden General Jean de Lattre de Tassigny gelangen nur vorübergehende Erfolge. Nach jedem siegreichen Gefecht, nach jeder gewonnenen Schlacht kehrten Viet Minh-Guerillas in die Dörfer zurück und machten diese zu nächtlichen Todeszonen für ungeschützte Franzosen und Anhänger der Bao Dai-Regierung. De Lattres einziger Sohn fiel im Kampf, und der General selbst erlag binnen eines Jahres nach Übernahme des Kommandos einem Krebsleiden. Dieses traurige Schicksal hatte geradezu symbolhaften Charakter für die französische Kolonialherrschaft. Auch die Bemühungen, eine pro-westliche vietnamesische Armee zu schaffen und den Krieg zu ‚vietnamisieren‘, erzielten keine nennenswerten Erfolge. Bis Jahresende 1952 hatten die französischen Truppen – zwischen 1946 und 1954 kämpften auch etwa 35 000 Deutsche als Fremdenlegionäre in Indochina, zumeist jugendliche Waisen und Halbwaisen, sowie rund 40 000 nordafrikanische und schwarzafrikanische Soldaten – mehr als 90 000 Gefangene, Verwundete und Tote zu beklagen. Die französische Öffentlichkeit war des ‚schmutzigen Krieges‘ (sale guerre) müde, und in der Nationalversammlung machte sich Unmut über die hohen Kosten breit. In Washington betrachtete man die Entwicklung mit wachsender Sorge, denn der französische Vietnamkrieg war längst zu einem Stellvertreterkrieg geworden. Aus amerikanischer Sicht verteidigten die Franzosen den Westen in Indochina, während die USA ihn in Korea stützten. Es waren zwei Fronten derselben globalen Auseinandersetzung gegen den internationalen Kommunismus.

Dien Bien Phu

Im Gegensatz zu Präsident Truman verfügte sein Nachfolger Dwight D. Eisenhower über große militärische und außenpolitische Erfahrung, als er im Januar 1953 ins Weiße Haus einzog. Eisenhower war während des Weltkrieges Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Europa und später erster NATO-Oberbefehlshaber gewesen. In beiden Funktionen hatte ‚Ike‘, wie die Amerikaner den populären General nannten, diplomatisches Fingerspitzengefühl bewiesen und die Fähigkeit entwickelt, pragmatische Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Sein Außenminister John Foster Dulles konnte auf eine lange Karriere als Anwalt und Diplomat zurückblicken. Während Eisenhower im Hintergrund die außenpolitischen Richtlinien bestimmte, war Dulles der Mann der offenen und deutlichen Worte. Als Team ergänzten sich der konservativ-pragmatische Präsident und der christlich-moralische Außenminister glänzend, denn es bestand zwischen ihnen eine weitgehende Einigkeit in weltanschaulichen Positionen.

Wie sein Vorgänger Truman betrachtete Eisenhower den französischen Indochinakrieg als eine Auseinandersetzung zwischen dem internationalen Kommunismus und dem Westen. Im Wahlkampf 1952 setzte er sich jedoch deutlich von seinem Vorgänger ab. Er warf ihm vor, weder den Krieg in Korea beenden zu können, noch kraftvoll genug gegenüber der Sowjetunion aufzutreten. Eisenhower und Dulles kritisierten, daß die ‚Eindämmungspolitik‘ negativ sei und nur auf außenpolitische Entwicklungen reagiere. ‚Massive Vergeltung‘ (massive retaliation) und ‚New Look‘ waren die Schlagworte, hinter denen sich eine neue Außen- und Sicherheitspolitik für die Vereinigten Staaten verbarg – eine Politik, die agieren statt reagieren würde. In Korea, wo im Juli 1953 ein Abkommen unterzeichnet wurde, das den status quo ante wiederherstellte, führte das energische Auftreten der Eisenhower-Regierung zum Erfolg. Doch in anderen außenpolitischen Krisen, wie zum Beispiel beim Ungarn-Aufstand (1956), zeigte sich, daß weder Eisenhower noch Dulles bereit waren, eine ‚Politik am Rande des atomaren Abgrunds‘ (brinkmanship) in die Praxis umzusetzen. Mehr noch: Die atomare Aufrüstung bei gleichzeitiger Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und ihrer Haushalte setzte der Fähigkeit zur militärischen Krisenbewältigung enge Grenzen. Ein ‚größerer Knall für weniger Geld‘ (more bang for the buck) konnte als Verteidigungsdoktrin gegenüber der Sowjetunion oder der Volksrepublik China durchaus wirksam sein. Doch als Konzept zur Bekämpfung von Aufstandsbewegungen in aller Welt waren der ‚New Look‘ und die ihm zugrundeliegende Strategie nicht geeignet. In Vietnam wurde dies in den späten fünfziger Jahren deutlich.

Die Kritik an der französischen Kriegführung in Vietnam nahm unter der neuen Administration an Schärfe zu. Eisenhower und Dulles verlangten ein entschlosseneres militärisches Vorgehen gegen die Viet Minh. Zugleich forderten sie Paris auf, die Vietnamesen nach dem Krieg definitiv in die Unabhängigkeit zu entlassen. Eisenhower war überzeugt, dies sei letztlich die einzige Möglichkeit, den Vietnamesen und der Weltöffentlichkeit klar zu machen, daß es sich bei diesem Krieg nicht um einen Kolonialkrieg, sondern um einen kommunistischen Stellvertreterkonflikt handelte. Wenn Ho Chi Minh dennoch weiter Krieg führen würde, könnten die Viet Minh nicht länger behaupten, für die Unabhängigkeit Vietnams zu kämpfen. Sie müßten Farbe bekennen und wären als Handlanger Moskaus entlarvt. Dies wiederum könnte die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft stärken, den Franzosen zu helfen.