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Zum Buch

Derzeit findet in Europa, vor allem in Deutschland, eine massive Kampagne zugunsten des globalen Englisch, des Globalesischen, statt: Nachdem Wirtschaft und Wissenschaft sich schon seit längerem sprachlich globalisiert haben, raten nun Sozialwissenschaftler und Philosophen, Bundespräsidenten und ehemalige Bundeskanzler dem Land und Europa dringend, fleißig Englisch zu lernen, um die vielen Sprachen Europas, diese Hindernisse der Verständigung, aus dem Weg zu räumen.

Die babylonische Sprachverwirrung Europas soll endlich in einem globalesischen Paradies überwunden werden. Europäische Einheit und soziale Gerechtigkeit würden durch sprachliche Vereinheitlichung befördert. Diese Kampagne ist völlig überflüssig, weil die wohltätige Wirkung globaler Kommunikation durch das globale Englisch von niemandem bezweifelt wird und weil die Europäer ohnehin fleißig Globalesisch lernen. Das ist einerseits eine erfreuliche Entwicklung, gefährdet aber die anderen Sprachen der europäischen Nationen in vielfacher Hinsicht. Nötig ist daher eine Aktivität zugunsten der vielen europäischen Sprachen, die deren Leistung und Bedeutung hervorhebt und für ihre Bewahrung und Entwicklung eintritt. Dazu muss man aber eine andere Auffassung von Sprache haben als die bloß instrumentell kommunikative. Man muss wieder verstehen lernen, dass Sprache auch ein kognitives Instrument ist, nämlich der wichtigste Weg des Menschen zur Erfassung der Welt. Indem er die geistige, aber auch kulturelle und politische Bedeutung der Sprachen betont, plädiert Trabant angesichts des drohenden globalesischen Monolinguismus für eine echt verstandene europäische Mehrsprachigkeit.

Über den Autor

Jürgen Trabant war Professor für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin und lehrte bis August 2013 als Professor für europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs Universität Bremen. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens (2003); Europäisches Sprachdenken (2006); Was ist Sprache? (2008); Die Sprache (2009), Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt (2012).

Jürgen Trabant

Globalesisch
oder was?

Ein Plädoyer für Europas
Sprachen

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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© Verlag C.H.Beck oHG, München 2014

Umschlaggestaltung: Kunst oder Reklame, München
ISBN Buch 978 3 406 65990 4
ISBN eBook 978 3 406 65991 1

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website
www.beck.de.

à ma langue fraternelle

Inhalt

Vor-Wort auf einen Nach-Ruf?

Heute

1. Mehrsprachigkeit im vereinten Europa. Really?

1.1. Diglossie und Einsprachigkeit

1.2. Das Modell

1.3. Welt-Republik

1.4. Sprachen als Weltansichten

1.5. Gegen Weltansichten

1.6. Verluste

1.7. Europäische Mehrsprachigkeit, altrömisch

1.8. Die dritte Sprache

2. Das Tafelsilber: Die Sprachen Europas

2.1. Europäische Sprachen

2.2. Wie viele Sprachen?

2.3. Wanderungen

2.4. Entstehung der Nationalsprachen

2.5. Die Zukunft der europäischen Sprachen

2.6. Ein Erinnerungsort verschwindet

2.7. Die neue questione della lingua oder: the question of the language

2.8. Einheit und Verschiedenheit

3. Was die Europäer von der Sprache halten oder Warum das Tafelsilber nicht von allen geschätzt wird

3.1. Die antike Konstellation: Mythos, Philosophie und Rhetorik

3.2. Christliches Sprachdenken

3.3. Lateinische Einsprachigkeit und mittelalterliche Diglossie

3.4. Die Entdeckung der Verschiedenheit der Sprachen

3.5. Gegen die Verschiedenheit

3.6. La merveilleuse variété

3.7. Sprachwissenschaft

3.8. Sprachphilosophie

3.9. Europäische Sprachpolitik

4. Mehrsprachigkeit bildet

4.1. Einsprachigkeit

4.2. Bildung und Sprache

4.3. Mehrsprachigkeiten

4.4. Mehrsprachigkeit, die bildet

Gestern

5. Wie kommt die Sprache in die Nation?

5.1. En Sorbonne 1882

5.1.1. Was ist eine Nation?

5.1.2. Das politische Argument gegen die Sprache

5.1.3. Das philosophische Argument gegen die Sprache

5.1.4. Humboldts Sprachnation

5.2. Wie die Sprache in die Nation kam: Die Französische Revolution

5.2.1. Le tiers état

5.2.2. Das Sprachproblem

5.2.3. Dasselbe denken

5.2.4. Sprach-Revolution

5.2.5. Die Schule

5.3. Frankreich – Deutschland – Europa

5.3.1. Deutschland – Frankreich

5.3.2. Europa

5.3.3. Vergessen – Vergeben

6. Nationalsprachen und Akademien

6.1. Italien: Accademia della Crusca

6.2. Die Académie française

6.2.1. Glanz und Verteidigung

6.2.2. Die Aufgabe der Akademie

6.2.3. Reinheit

6.2.4. Arts et sciences

6.2.5. Wörterbuch und Enzyklopädie

6.3. Langue nationale und Akademie

6.4. Academia caremus

Morgen

7. Zukunftsansichten der Sprache

7.1. La compañera del imperio

7.2. La crise

7.3. Neue Paradiessprachen

7.4. Das Ende

7.5. Coda

8. Globalesische Gerechtigkeit oder Über das Verklingen der europäischen Sprachen in ihren Akzenten

8.1. Ungerechtigkeiten: Trittbrettfahren und Chancenungleichheit

8.2. Gegen den Turm zu Babel

8.3. Die dritte Ungerechtigkeit

8.4. Auf ins Paradies

8.5. Sprachphilosophische Schlussbemerkungen

Anmerkungen

Bibliographie

Nachweise

Namenregister

  

 

Die Sprachen trennen allerdings die Nationen, aber nur um sie auf eine tiefere und schönere Weise wieder inniger zu verbinden; sie gleichen darin den Meeren, die, anfangs furchtsam an den Küsten umschifft, die länderverbindendsten Strassen geworden sind.

(Wilhelm von Humboldt)

VOR-WORT AUF EINEN NACHRUF?

Ich bin überzeugt, dass in Europa beides nebeneinander leben kann: die Beheimatung in der eigenen Muttersprache und in ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen und Lebensalter.

Von der Hoffnung, dass dies möglich ist, oder besser: von der verzweifelten Hoffnung, dass dies möglich sein muss, ist auch das vorliegende Buch getragen, das allerdings der Beheimatung in der eigenen Sprache und dem praktikablen Englisch noch die Befreundung mit einer weiteren europäischen Sprache hinzufügt. Dennoch kann ich dem Bundespräsidenten, von dem der einleitend zitierte Satz stammt, nicht zustimmen, weil er diese Empfehlung zum Nebeneinander von Muttersprache und Lingua-franca-Englisch so vorgebracht hat, dass sie in Wirklichkeit gegen die «Beheimatung» in der eigenen Sprache ausschlägt. Joachim Gauck bedauert in seiner Europarede vom 22. Februar 2013 das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit, für die er offensichtlich die babylonische Verwirrung Europas verantwortlich macht:

Zunächst fehlt uns dazu einfach eine gemeinsame Verkehrssprache. In Europa sind 23 Amtssprachen anerkannt, zahllose andere Sprachen und Dialekte kommen noch hinzu.

Folglich setzt sich der Präsident für einen irgendwie öffentlich geförderten Englischunterricht für alle Deutschen und Europäer ein, damit diese endlich eine einzige Sprache haben und eine europäische Öffentlichkeit (und einen «richtigen» Demos) bilden können:

Die junge Generation wächst ohnehin mit Englisch als Lingua franca auf. Ich finde aber, wir sollten die sprachliche Integration nicht einfach dem Lauf der Dinge überlassen. Mehr Europa heißt nämlich nicht nur Mehrsprachigkeit für die Eliten, sondern Mehrsprachigkeit für immer größere Bevölkerungsgruppen, für immer mehr Menschen, schließlich für alle!

Mit «Mehrsprachigkeit» ist hier – wie fast immer im derzeitigen öffentlichen Diskurs über Sprachen – nur das Beherrschen des Englischen gemeint. Das Plädoyer für Englisch für alle passt zu anderen Passagen der Rede, die sich für eine stärkere Vereinheitlichung Europas im Bereich von Finanzen, Wirtschaft, Außenpolitik und Verteidigung aussprechen. Ganz abgesehen vom zentralstaatlichen Geschmack solcher Passagen ist die Empfehlung «sprachlicher Integration», also weiteren und intensiveren Englischunterrichts, nun aber einfach überflüssig. Man braucht die Deutschen nicht aufzufordern, fleißig Englisch zu lernen. Über das «praktikable Englisch für alle Lebenslagen und Lebensalter» (wieso eigentlich Alter?) verfügen sie meistens schon, oder sie erwerben es eifrig. Dazu brauchen sie keine präsidentielle Ermahnung. Man müsste sie viel eher auffordern, die «Beheimatung» in ihrer eigenen Sprache nicht zu vergessen. Denn so fröhlich harmlos, wie es hier daher kommt, ist das praktikable Englisch gerade nicht für die Beheimatung in der Muttersprache. Es setzt sich vielerorts gegen diese durch und damit über diese. Von einem «Nebeneinander» kann gar nicht mehr die Rede sein. Es muss also darum gehen, diesen Konkurrenten zu bändigen und einzuhegen, wenn die «Heimat» nicht auf das traute Heim zusammenschnurren soll und wenn die muttersprachliche «Poesie» nicht nur noch in der Nacht aus betrunkenen Mündern ehemaliger Muttersprachler erklingen soll, die tagsüber und normalerweise «praktikables Englisch» reden.

So wie der Präsident ihn gesagt hat, taugt der zitierte Satz eher zum Nachruf auf die europäischen Sprachen und auf das Deutsche als zum Vorwort eines Plädoyers für europäische Mehrsprachigkeit. Mein Buch will Letzteres sein. Aber solche Abschieds-Worte wie die des höchsten Repräsentanten eines Landes, das durch seine Sprache definiert ist, stürzen es auch immer wieder in tiefe Verzweiflung.

HEUTE

1. MEHRSPRACHIGKEIT IM VEREINTEN EUROPA. REALLY?

Offensichtlich ist die Zeit gekommen, einen kulturellen und gesellschaftlichen Prozess auch noch aktiv mit den Segnungen der Wissenschaft zu versehen, der sich ohnehin – gleichsam naturgesetzlich – vollzieht: die Anglisierung Europas. Die Erlernung des globalen Englisch (Globalesisch) durch die europäischen Völker wird jetzt unter dem Etikett der «Mehrsprachigkeit» von der Soziologie (Gerhards 2010) begrüßt und unter dem Etikett der «sprachlichen Gerechtigkeit» von der Sozialphilosophie (van Parijs 2011) massiv propagandistisch unterstützt. Mehrsprachigkeit finden alle gut, sie ist einer jener Zustände, die geradezu den Rang eines unbezweifelten Wertes erreicht haben, der von allen Menschen als positiv und erstrebenswert angesehen wird, wie Gesundheit oder Wohlstand. «Mehrsprachigkeit im vereinten Europa», das ist so gut wie «Gesundheit im vereinten Europa», «Wohlstand im vereinten Europa» oder «Glück im vereinten Europa». Wer könnte etwas dagegen haben? Ein Buch, das dieses Ziel befördert, ist also unangreifbar.

1.1. Diglossie und Einsprachigkeit

Jürgen Gerhards beschreibt eindrucksvoll die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die zu der dramatischen Veränderung der Sprachwelt der Europäischen Union beitragen. Englisch breitet sich als Verkehrssprache Europas unaufhaltsam und ungeheuer rasch aus. Die Entwicklung verläuft zwar in den verschiedenen Ländern unterschiedlich schnell, und sie weist deutliche gesellschaftliche Differenzen auf, sie verstärkt sich aber massiv in den jüngeren Generationen breiter Schichten aller europäischen Länder. Die Gründe für diesen unaufhaltsamen Aufstieg des Englischen sind im Wesentlichen praktischer Natur: die Ermöglichung und Erweiterung internationalen – und gerade nicht nur europäischen! – Austauschs und berufliche Kompetenzerweiterung.

Doch der unter dem Terminus «Mehrsprachigkeit» beschriebene Prozess der sprachlichen Globalisierung Europas ist nicht eigentlich die Gewinnung von Mehrsprachigkeit, sondern einer – gesellschaftlichen und individuellen – Zweisprachigkeit, und zwar einer ganz besonderen, einer Zweisprachigkeit nämlich, bei der es nur um eine Sprache geht: um das Englische als Zweit-Sprache Europas. Deren Kenntnis ist das «Kapital», um dessen Mehrung es Gerhards geht: «Transnationales sprachliches Kapital als Ressource in einer globalisierten Welt» lautet der Untertitel seines Buches. «Mehrsprachigkeit» meint hier nur eine ganz bestimmte «Diglossie», wie die Linguistik das nennt, eine Sprachkonstellation, bei der eine Sprache die «Hochsprache» (high) ist, Sprache für die hohen Diskurse (hier insbesondere: Geschäfte, Finanzen, Wissenschaft), und die andere die Sprache für niedere Diskurse (low), die Alltagssprache oder «Vernakularsprache» (von lat. verna: der Haussklave, vernaculus: einheimisch). Die «Mehrsprachigkeit», die hier so enthusiastisch befördert wird, ist die Diglossie Englisch high – andere Sprache low.[1] Bei der hier entstehenden Diglossie ist die jeweilige niedrige Sprache völlig gleichgültig, es kann Deutsch, Niederländisch, Finnisch oder sonstwas sein. Und sie ist auch gleichgültig im Sinne von «wurscht»: Dem Beförderer dieser «Mehrsprachigkeit» nämlich ist das Schicksal der niederen Sprache völlig egal. Es geht nur um die «hohe» Sprache.

Es geht auch nicht um andere Zweisprachigkeiten, etwa Türkisch-Deutsch oder Sorbisch-Deutsch oder Deutsch-Französisch oder Italienisch-Niederländisch. Diese Sprachen und diese Konstellationen sind völlig unerheblich. Denn sie stellen kein oder nur höchst geringes «Kapital» dar. «Transnationales sprachliches Kapital» – ökonomischen Wert, berufliches Fortkommen, Erfolg, Geld, das durch den Besitz der zweiten Sprache verdient werden kann – garantiert nur die hohe, teure Sprache. Das ist die Sprache, die von den meisten gesprochen wird, nur diese verspricht hohe Rendite. Alles andere kann man vergessen. Das deutet darauf hin, dass es letztlich nicht einmal um Zweisprachigkeit geht, sondern um die Eine Sprache, die Hohe Sprache. Damit ist auch schon das Endziel des hier beförderten Prozesses sichtbar: Ein-Sprachigkeit. Nur die Eine Hohe Sprache ist kapitalträchtig. Alles andere ist überflüssig, wenn nicht gar schädlich.

Deswegen plädiert Gerhards auch nicht dafür, dass etwa englische Muttersprachler mehrsprachig werden und eine zweite Sprache lernen sollen. Das müsste er ja eigentlich, wenn es um europäische Mehrsprachigkeit ginge. Aber warum sollten englische Muttersprachler eine zweite Sprache lernen? Ihnen verspräche die «Mehrsprachigkeit» kapitalseitig nichts. Sie haben den Zustand schon erreicht, das Endziel: die englische Einsprachigkeit. Aber dafür zu werben, traut sich Gerhards nicht, wo doch Mehrsprachigkeit so etwas Schönes und Gutes ist.

Schon gar nicht geht es bei der Mehrsprachigkeit im vereinten Europa um Mehrsprachigkeit, also um mehr als zwei Sprachen. Mehrsprachigkeit wäre ja nur wertvoll, wenn Sprachigkeit selbst einen Wert darstellte, wenn das Erlernen zum Beispiel des Maltesischen oder des Lateinischen als solches als eine wertvolle Angelegenheit angesehen würde. Das ist aber nicht der Fall.

Dass es letztlich nur um die eine Sprache und um die englische Einsprachigkeit geht, zeigt die Herzlosigkeit, mit der mit den anderen Sprachen umgesprungen wird. Nicht nur bringen alle anderen europäischen Sprachen geringere «Rendite», weil keine so viele Sprecher hat wie das Englische, keine also einen so hohen kommunikativen Wert. Die anderen Sprachen haben auch nicht einmal den Wert, der ihnen von ihren Liebhabern immer zugeschrieben wird: nämlich geistigen oder kognitiven Wert als besondere Arten der «Weltansicht». Und sie haben auch keinen kulturellen Wert, weil sie gar nicht mit einer bestimmten Kultur verbunden sind. Kultur wird hier nämlich als etwas Sprachunabhängiges verstanden. Die Sprachen außer Englisch sind insgesamt nicht viel wert, weswegen man sie ohne Bedauern auch zugunsten des Englischen aufgeben kann. Für dieses spricht dann allerdings auch nur der «kommunikative» Renditewert, weil es ja ebenso wenig wie die anderen Sprachen irgendwelchen kognitiven oder kulturellen Wert hat.

Nichts spricht also letztlich für «Mehrsprachigkeit», alles für Einsprachigkeit, denn nur dann flutscht die Kommunikation, auf die es allein ankommt. «Sprache», das versteht sich von selbst, ist hier bloß als eine Technik zur «Übermittlung von Informationen» (Gerhards 2010: 23) betrachtet, mit der «Menschen ihre Handlungsabsichten koordinieren und miteinander kooperieren» (ebd.: 24). Sie ist ein rein praktisch-kommunikatives Zeichensystem.[2]

1.2. Das Modell

Historisch interessant ist, dass hier – nur nicht offen – eine Politik vorangetrieben wird, die schon einmal in Europa mit großem Erfolg in Gang gesetzt und durchgesetzt wurde. Beim ersten Mal hatte man sich nur nicht hinter wohlklingenden Euphemismen – wie «Mehrsprachigkeit» – versteckt. Damals hießen die entsprechenden Termini: Uniformierung und Revolution. In der Französischen Revolution nämlich stellten die politischen Akteure fest, dass es für die Organisation des demokratischen Staates und des nationalen Wirtschaftsraums höchst unpassend ist, dass die auf dem Territorium des Staates lebende Bevölkerung – die Nation – verschiedene Sprachen spricht, denn diese behindern die Herstellung eines einheitlichen politischen und ökonomischen Raums. Die Durchsetzung einer einheitlichen Sprache wurde als politische und ökonomische Notwendigkeit erkannt: Die verschiedenen Sprachen im Vielvölkerstaat Frankreich waren Hindernisse der Modernisierung und der Demokratisierung und waren dementsprechend zu beseitigen: «anéantir les patois», «die Regionalsprachen vernichten», und «uniformer le language», «die Sprache vereinheitlichen», schrieb der entscheidende Kulturpolitiker, der Abbé Grégoire, der Ersten Französischen Republik auf die politische Agenda.[3] Niemand kam auf die Idee, diese patriotische und ökonomische Notwendigkeit unter dem sentimentalen Ausdruck der «Mehrsprachigkeit» zu verkaufen. Es ging darum, das Land sprachlich zu vereinheitlichen, so wie man die Maßeinheiten (poids et mesures) und die administrativen Einheiten (départements) vereinheitlicht hatte. Und die ideologische Pille, die das Volk damals zu schlucken hatte, hieß nicht «Mehrsprachigkeit», sondern «Nation» oder «République», das heißt Demokratie. Diese braucht eine einheitliche Sprache: «La République, une et indivisible, dans son territoire, dans son système politique, doit être une et indivisible dans son langage» («Die Republik, eins und unteilbar in ihrem Territorium, ihrem politischen System, muss eins und unteilbar in ihrer Sprache sein»), fordert der jakobinische «grammairien-patriote» Domergue (Busse 1992: 183). Niemand machte im republikanischen Frankreich den Bretonen oder Okzitaniern vor, sie könnten ihre alten Sprachen bewahren und das Französische dazu erwerben, sie könnten also «mehrsprachig» werden. Das hat niemanden interessiert, und das fand auch niemand besonders wertvoll. Das Bretonische, Okzitanische oder sonstige Regionalsprachen und Dialekte wurden direkt und ausdrücklich als niedrig, reaktionär, hinterwäldlerisch, nicht fortschrittlich verunglimpft. Man nannte sie – und nennt sie immer noch – «patois», ein verächtlicher Ausdruck (der vielleicht von patte, «Pfote», abgeleitet ist). Sie galten als alter Müll, den man hinter sich lässt, um sich dem Fortschritt und der schönen neuen Welt der Republik anzuschließen. Die entsprechende Propaganda, aber auch eine massive Erziehungspolitik (die zum Beispiel das Sprechen der alten Sprache in der Schule unter Strafe stellte), vor allem dann in der Dritten Republik, der Vollstreckerin der Französischen Revolution hundert Jahre nach dieser, bewirkten, dass die Franzosen in einem beispiellos schnellen Spracherlernungsprozess Französisch lernten und dass aus einem vielsprachigen ein weitgehend einsprachiges Land wurde. Die alten Sprachen hatten und haben ein paar wenige Rückzugsgebiete, es gibt sozusagen asterixartige Widerstandsnester, aber viel ist von ihnen nicht übrig: In der Bretagne kann kaum noch jemand Bretonisch als Erstsprache, das Okzitanische ist so gut wie verschwunden, die deutschen Dialekte haben sich verflüchtigt. Das transregionalsprachliche «Kapital» des Französischen war so schlagend erfolgreich, dass jeder Widerstand zwecklos war. Der Soziologe Pierre Bourdieu (1982) hat diesen Prozess in schöner marxistischer Offenheit als Akkumulation symbolischen und sprachlichen Kapitals seitens der französischen Bourgeoisie beschrieben, allerdings in deutlich kritischer Absicht, während die aktuelle Sprachsoziologie die Anhäufung des transnationalen Sprachkapitals im europäischen Vereinheitlichungsprozess völlig affirmativ propagiert.

Die republikanische Uniformierung Frankreichs war das brutale, aber ehrliche Ziel republikanisch-jakobinischer Sprachpolitik. Diese wurde dann in allen Nationalstaaten Europas zum Modell: Ungarn hat nach dem «Ausgleich» gnadenlos magyarisiert, die Deutschen wollten die Polen auf ihrem Staatsgebiet germanisieren, Spanien wollte den Katalanen und Basken ihre Sprachen austreiben.

Machen wir uns also nichts vor. Genau das soll jetzt in Europa geschehen: Die Europäer sollen endlich eine Sprache sprechen. Das Kapital hat schon längst die nationalen Grenzen überschritten, die alte nationalsprachliche Organisation ist obsolet geworden, die neuen Weiten verlangen eine europäische, ja eine globale sprachliche Organisation. Marx und Engels haben das schon im Kommunistischen Manifest 1848 mit hellsichtiger Kraft gewünscht:

An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. (Marx/Engels 1848: 466)

Auf die Sprachen bezogen kann man fortfahren: Für den allseitigen Verkehr geht aus den vielen nationalen und lokalen Sprachen eine Welt-Sprache hervor. Auf der revolutionären Modernisierung der Welt durch die Bourgeoisie und das Kapital baut unsere schöne neue globale Welt auf. Die neuen Propagandisten der europäischen Einheitssprache scheinen allemal diesen rationalen Marxschen Modernismus zu unterschreiben. In der Welt-Soziologie – zum Beispiel bei Therborn (2011) – erscheinen die Sprachen ebenso wie die Religionen als «vormoderne» Reste der alten – vorglobalisierten – Welt. Sprachen sind Überbleibsel überholter Lebensverhältnisse, der alten «idyllischen Verhältnisse», die Marx verspottet.

1.3. Welt-Republik

Wie in der revolutionären französischen Republik mit ihrer rationalen ökonomischen und demokratischen Organisation ist nun also auch in Europa eine einheitliche Sprache notwendig geworden. Das ist jedenfalls die Grundannahme der progressiven Soziologie und Sozialphilosophie. Völlig merkwürdig und irgendwie unmodern ist es daher, dass das politisch organisierte Europa, die Europäische Union, sich nicht traut, eine jakobinische Sprachpolitik zu konzipieren und zu implementieren, die den Forderungen der Wirtschaft und den etwas phantasielosen Demokratietheorien entspräche. Das hat gewiss damit zu tun, dass die Sprache, um die es geht, das Englische, auch die Sprache eines Mitgliedslandes der EU ist und eine hegemoniale Stellung bekäme, wenn sie offiziell zur Einheitssprache der Union erklärt würde. Das hätte Frankreich niemals zugelassen (Deutschland schon, es träumt ja davon). Vor allem aber um die nationalsprachliche Vergangenheit und Sensibilität, die «Identität» der Nationen, zu schonen, verfolgt die EU keine – jedenfalls keine offizielle – Politik der sprachlichen Uniformierung. Die offizielle Politik der EU fördert die Mehrsprachigkeit.[4] Der soziologische Sprachkapitalismus kritisiert diese falsche Sprachpolitik natürlich heftig.

Aber die EU braucht gar keine Uniformierungs-Politik, weil die Wirtschaft selbst dies Geschäft erledigt. Wirtschaft und Finanzen operieren europäisch und global. Die Wirtschaft hat daher die Sprachpolitik der Nationalstaaten selbst neu organisiert, sie braucht dazu keine EU. Nicht nur wird in den großen Firmenzentralen längst globalesisch gesprochen. Die Wirtschaft drängt auch die nationalen Erziehungssysteme zum Englischen und, da diese zu langsam sind, etabliert in eigener Regie ein privates englischsprachiges Erziehungssystem, das vom Kindergarten bis zum MBA nahtlos in der globalen Sprache durchlaufen werden kann. Rührend ist, dass sich sogar diese Anglisierungs-Sprachpolitik der Privatwirtschaft nicht ganz traut, ihre jakobinische Brutalität zu zeigen. Sie betreibt ihre Uniformierungs-Politik unter dem Etikett der «Mehrsprachigkeit». Die privaten englischsprachigen Schulen affichieren sich gern als «mehrsprachig» oder «bilingual». Selbst die völlig einsprachige globalophone Jacobs University in Bremen leistete sich einen Professor für europäische Mehrsprachigkeit.

Aber die privaten Schulen sind natürlich keine Schulen des jeweiligen Landes, sie sind auch nicht wirklich «bilinguale» Schulen. Sie sind Schulen der Welt-Republik, die sich genauso verhalten wie die Schulen der französischen Dritten Republik, in denen alle Fächer in der Sprache der Republik unterrichtet wurden: «Immersion» war und ist die Hauptstrategie der Uniformierung, der «Universalisierung», der allgemeinen Verbreitung der Einen Sprache. Alle Fächer werden in der Sprache der Welt-Republik gelehrt, damit am Ende auch alle Kinder die eine und unteilbare («une et indivisible») Sprache der universalen Republik sprechen. Der einzige Unterschied zu den Schulen der Dritten Republik ist tatsächlich, dass noch die globalesischsten Schulen auch Unterricht in der alten Sprache der Eingeborenen anbieten – wegen der «Mehrsprachigkeit». Das taten die Schulen der französischen Republik nicht. Sie tun es erst neuerdings, seitdem die Eingeborenensprachen keine Gefahr mehr für die Einheitssprache darstellen, das heißt seitdem die ganze Nation französisch spricht. Ein bisschen Folklore schadet nie.[5]

Nun leitet auch noch die Soziologie das Wasser der Mehrsprachigkeit auf die globalen Mühlen der Industrie und des Handels. Sie benutzt das Prestige, das seit einigen Jahren mit dem Ausdruck «Mehrsprachigkeit» verbunden ist. In der modernen Welt sind mehrsprachige Individuen ideale Teilnehmer am internationalen Netzwerk. Die Psycholinguistik feiert seit etwa dreißig Jahren die mehrsprachige Kindererziehung, die diese Chancen gleichsam mühelos eröffnet (jedenfalls wenn eine der Sprachen Englisch ist). Die Sprachdidaktik versucht, die muttersprachliche Mehrsprachigkeit nachzuspielen.[6] Die Soziologie beschwört nun vor allem die Möglichkeiten beruflicher Qualifikation und gesteigerter Mobilität des Arbeitnehmers durch Mehrsprachigkeit und die dadurch mögliche weltweite «Vergesellschaftung», also die Ermöglichung globaler praktischer Kommunikation und Kooperation.

Das entscheidende Argument einer wirklichen Theorie der Mehrsprachigkeit allerdings spart sie aus, nämlich dass Sprachen wertvolle geistige Gebilde sind, deren Erlernung eine kostbare intellektuelle und emotionale Bereicherung ist. Denn erstens interessiert das Argument natürlich vom ökonomischen Standpunkt niemanden. Und zweitens wäre es auch der angestrebten Einsprachigkeit letztlich abträglich. Und damit es gar nicht erst vorgebracht wird, wird das Argument drittens sogar als wissenschaftlich unhaltbar zurückgewiesen.

Es bleibt vom Mehrsprachigkeits-Hype eigentlich nur die Effektivitätsbehauptung und die Globetrotter-Romantik. Die Rede vom «Kapital» ist daher völlig wörtlich zu nehmen: Der Besitz des Englischen ist Kapital als ökonomischer Wert, es ist nicht einmal nennenswertes symbolisches Kapital. Kulturellen Wert hat das Englische im Sprachkapitalismus anscheinend nicht, braucht es offensichtlich nicht zu haben, jedenfalls wird ein solcher nicht erwähnt. Der mit diesem englischen Kapital mögliche Zugang zu Shakespeare oder zu Hemingway wird nicht einmal skizziert oder als zusätzlicher Gewinn – oder gar als Haupt-Rendite – des Englisch-Besitzes gepriesen. Englisch ist einfach Kapital. Aber es soll irgendwie doch auch noch schön und gut sein, also muss es zumindest «mehrsprachig» sein.

1.4. Sprachen als Weltansichten

Wenn die verschiedenen Sprachen der Menschen nur verschiedene Laute wären, die ein für alle Menschen gleiches Denken transportieren, oder wenn sie nur Oberflächenkräuselungen einer universalen Sprache des Geistes (language of thought), eines Mentalese, wären, dann brauchte man sich in der Tat nicht groß um sie zu sorgen. Ob man diese oder jene Sprache spricht, ob sie so oder so klingt, wäre dann einfach ziemlich gleichgültig. Jede Sorge um (cura linguae) oder Liebe zur Sprache (amor linguae) wäre dann in der Tat verfehlt – oder sentimental, wie ein anderer Soziologe, Abram de Swaan (2004), in einem brillanten zynischen Artikel gesagt hat.

Aber anscheinend erleben das doch die Sprecher – jedenfalls viele Sprecher – ganz anders. Ohne noch darüber nachzudenken, ob sich in ihren Sprachen ein besonderes «Denken» manifestiert oder ob in ihnen ein besonderer «Geist» herrscht, haben viele Menschen eine besondere emotionale Nähe zu ihrer Sprache. «Meine Sprache» wird dabei zumeist die Erstsprache sein, es kann aber auch eine später gelernte sein (politisch verfolgte Emigranten wandern oft in die Sprache der neuen Heimat aus), oder es können auch mehrere «eigene» Sprachen sein. Die meisten Menschen finden ihre Sprache schön, sie hören sie gern, sie hängen an ihr und an den Menschen, die sie sprechen. Sie haben eine große körperliche und seelische Nähe zu einer Sprache und empfinden sie deswegen als die «eigene». Das hängt oft (durchaus nicht immer) damit zusammen, dass man diese Sprache schon im Mutterleib gehört und gespürt hat. Der Klang und der Rhythmus der Sprache wiegen den Fötus im Körper der Mutter, noch bevor der neugeborene Mensch diesen Klang und diesen Rhythmus dann in der Welt hört und selber einstimmt in diesen Klang und diesen Rhythmus. Die Bindung des Menschen an seine Sprache ist daher zumeist außerordentlich tief, die Sprache ist in seinen Körper eingeschrieben und kein gleichgültiger Klang. Dass dies so ist, ist experimentell gut abgesichert.

Wir wissen darüber hinaus, dass die – Liebe und Bindung erzeugende – Besonderheit der jeweiligen Sprache noch weiter geht: Sprachen sind nicht nur verschiedene Klänge und Rhythmen. Es ist ja nicht so, dass wir, wenn wir von einer Sprache in eine andere übergehen, nur die Laute, die Signifikanten, austauschen, sondern wir steigen in eine andere Welt von Bedeutungen ein: Man sagt auf deutsch ja (noch) nicht «Wie tust du tun?», wo die Engländer «How do you do?» sagen. Das «Staatsoberhaupt» heißt auf Englisch nicht «statesoverhead». «She sings» ist nur eine Möglichkeit, den deutschen Satz «sie singt» wiederzugeben, es könnte ja auch sein, dass der deutsche Sprecher das sagen wollte, was der Engländer mit «she is singing» ausdrückt. Eine andere Sprache zu sprechen heißt also nicht nur, eine Lautsequenz an die Stelle einer anderen Lautsequenz zu setzen, die für denselben Inhalt steht, sondern eine andere Sprache zu sprechen heißt, den Inhalt ganz anders zu strukturieren. Das, was wir «meinen», also das, worauf wir uns in der Welt beziehen mit unserem Sprechen, bleibt mehr oder minder dasselbe, so bei unserem Beispiel die Frage nach dem Befinden des Angesprochenen (die natürlich gar keine wirkliche Frage ist, sondern ein Gruß). Aber dieses «Gemeinte» wird eben nicht nur mit verschiedenen Lauten bezeichnet, sondern auch inhaltlich, das heißt in den an den Wörtern «klebenden» Bedeutungen, völlig anders gefasst. Das ist schon bei so simplen Beispielen evident: «Wie geht es Ihnen?» meint gewiss dasselbe wie «How do you do?», aber ganz offensichtlich ist der «Inhalt» der beiden Sätze in den beiden Sprachen unterschiedlich strukturiert. Während der Engländer etwas selber «tut» (you do), gibt es im Deutschen ein unpersönliches «Gehen» (es geht), dem der Aktant im Dativ zugeordnet ist, es handelt sich um etwas, was dem Du widerfährt (dir). Außerdem ist dieses Du im Deutschen als eines dargestellt, zu dem das Ich in einer «höflichen, distanten» Beziehung steht (Ihnen), ein Unterschied, den der Englischsprecher sprachlich nicht markiert. Im Französischen ist es wieder anders: Das «Gehen» ist kein unpersönliches, sondern wie im Englischen eine Handlung des Du (Comment allez-vous? Also: *Wie gehen Sie?), aber es ist gegenüber dem Englischen eine Bewegung (Gehen), kein unspezifiziertes «Tun». Außerdem ist das französische höflich adressierte Du als «Ihr», also als 2. Person Plural (vous), gefasst gegenüber dem Deutschen, wo das höflich adressierte Du eine dritte Person Plural (Sie) ist.

Es ist mir völlig unverständlich, wie jemand behaupten kann, diese strukturellen Differenzen zwischen Sprachen seien keine Unterschiede des «Denkens». Was sollen sie denn sonst sein? Die Frage nach dem Befinden meines Gegenübers wird doch jeweils völlig anders «gedacht», sie wird in den drei Sprachen inhaltlich ziemlich unterschiedlich gestaltet. Dies ist nicht nur ein verschiedener Laut. Richtig ist, dass «dasselbe» getan wird, dass die Sprecher mit ihren Äußerungen jeweils «dieselbe» Handlung in der Welt vollziehen wollen. Aber dieses Selbe wird eben jeweils ziemlich anders «betrachtet». Nichts anderes meint Humboldts bekannter Satz von den Sprachen als «Weltansichten».[7]

Und nur von hier aus, also von einer über die praktisch-kommunikative Funktion hinausgehenden Sprachauffassung (die praktische Kommunikation soll bei Gott nicht verachtet werden, sie ist nur nicht alles), kann eine den Sprachen gerecht werdende Politik entfaltet werden. Denn das in den Sprachen sedimentierte «Denken» – zusammen mit den Klängen und Rhythmen – macht Sprachen zu kostbaren Gegenständen menschlicher poetischer Schöpfung oder besser noch: zu kostbaren Techniken menschlicher Kreativität (und zu geliebten gemeinschafts- und identitätsstiftenden Praktiken). Und ich denke, dass nur eine den Sprachen gerecht werdende Politik auch eine den Menschen gerecht werdende Politik ist, sprachliche Gerechtigkeit.[8]

1.5. Gegen Weltansichten

Was die Akteure jeweils für Sprache halten, ist in der Tat der Angelpunkt jeder Sprachpolitik. Jürgen Gerhards bemüht sich im zentralen sprachtheoretischen Kapitel seines Buches über die Mehrsprachigkeit energisch darum, die Auffassung zu widerlegen, dass Sprachen «Weltansichten» sind. Denn es muss ihm ja darum gehen, die Dramatik der Veränderungen der europäischen Sprachkonstellation, vor allem deren Verluste – es soll ja im Gegenteil gerade Kapital akkumuliert werden –, herunterzuspielen. Klagen über verlorene «Weltansichten» werden als «sentimental» diskreditiert. Sprache wird als «Kommunikationsinstrument» von der «metaphysischen Last», dem metaphysical garbage (wie John Joseph das einmal ironisch genannt hat), der einzelsprachgebundenen Semantik befreit. Die Einzelsprache wird damit indifferent, sie erscheint nur noch als Kommunikationshindernis ohne weiteren kognitiven oder «sentimentalen» Wert und kann folglich zugunsten des Globalesischen entsorgt werden, das grenzenlose Kommunikation erlaubt.

Gerhards schließt sich bei der Zurückweisung der Weltansichts-These der universalistischen Partei der amerikanischen Sprachwissenschaft an, die diese tiefe, das heißt semantische sprachliche Verschiedenheit seit Jahren mit großer polemischer Leidenschaft als Unsinn kritisiert hat. Sie hat das deswegen so leidenschaftlich getan, weil sie einen extremen und deswegen falschen Relativismus, nämlich einen Determinismus des Denkens durch die Sprache, bekämpfen wollte, wie er in Amerika im Anschluss an Whorf (1956) vertreten wurde. Whorf wird dabei für die Auffassung verantwortlich gemacht, dass sprachliche Strukturen das Denken völlig determinieren, und zwar so, dass sie den Sprecher einer Sprache in ganz bestimmte Denkkategorien einschließen, sodass dann auch zwischen dem Denken in verschiedenen Sprachen keine Vermittlung mehr möglich ist. Das ist in der Tat in einer extrem relativistischen Lesart bis hin zu politischen Exklusionen getrieben worden: Du sprichst eine andere Sprache, also kannst du mich gar nicht verstehen.[9] Dagegen kämpft unter Berufung auf Noam Chomsky der universalistische Psychologe Steven Pinker, auf den sich Gerhards bezieht, mit geradezu religiösem Hass: «But it is wrong, all wrong» ruft er aus (Pinker 1994: 57), ohne jene Auffassung wirklich zu widerlegen. Er kann ja nicht wirklich leugnen, dass zum Beispiel das romanische Verbalsystem anders funktioniert als das deutsche, dass manche Sprachen Genera haben und manche nicht, dass das Lateinische keine Artikel kennt, das Griechische, die romanischen Sprachen und das Deutsche aber schon. Aber auch der unscheinbare Artikel «bedeutet» natürlich etwas, und wenn eine Sprache keine Artikel hat, dann drückt sie diesen besonderen grammatischen Inhalt eben nicht aus. Wenn Sprachen wie die romanischen den Unterschied zwischen einem Imperfekt (it. cantava) und einem einfachen Perfekt (cantò) machen, dann gestalten sie hier eine Bedeutung, die das Deutsche nicht kennt. Es ist auch unleugbar, dass die Wortschätze der Sprachen nicht koinzidieren. Es ist fast peinlich, hierfür noch Beispiele angeben zu müssen: Das Französische macht einen ziemlich deutlichen Unterschied zwischen rivière und fleuve, Englisch und Deutsch haben da jeweils nur ein Wort. Das Lateinische unterscheidet zwischen glänzendem und mattem Weiß und Schwarz (candidus/albus, niger/ater). Die Semantiken («das Denken») der Sprachen sind verschieden. Pinker aber möchte im Anschluss an den Philosophen Fodor, der eine universale language of thought erfunden hat, unbedingt, dass alle Menschen gleich denken. Dieses gemeinsame, angeborene Denken nennt Pinker Mentalese. Das ist zwar sehr kosmopolitisch und irgendwie friedfertig gedacht, es ist nur ebenso extremistisch wie der extreme Relativismus. Und deswegen ist es genauso falsch. Und vor allem ist die Annahme eines universellen «Mentalesisch» nicht mehr als eine Annahme, ein kognitiv-psychologisches Konstrukt, und mitnichten, wie Gerhards annimmt, eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache.

Jedenfalls war es sehr voreilig, sich auf die Seite dieser scheinbar siegreichen Fraktion der Psycholinguistik zu schlagen. Die semantischen Unterschiede zwischen den Sprachen kann man sich nicht einfach wegwünschen, wie Pinker das mit seinen Beschwörungen – «it is all wrong» – tut. Mehr, als dass verschiedene Semantiken in den Sprachen festzustellen sind, sagt ja die Auffassung von den «Weltansichten» nicht. Man hat – da haben die universalistischen Kritiker recht – allerlei zusätzliche Schlüsse aus bestimmten strukturellen Zügen von Sprachen gezogen: wie zum Beispiel, dass die Franzosen «abstrakt» denken (und die Deutschen konkret) oder dass die Hopi-Indianer die Zeit nicht denken können, weil sie keine Temporal-Morpheme beim Verb haben (diese grammatische Analyse von Whorf hat sich dann auch noch als falsch herausgestellt). Die Relativisten haben vor allem behauptet, man stecke in diesen spezifischen Semantiken fest wie in einem geistigen Gefängnis. Dies ist einfach nicht der Fall, wir denken immer über die Sprache hinaus.

Aber um die Weltansichts-These aufrechtzuerhalten, ist erstens die Annahme solcher weitgehenden Einflüsse der Semantik und Grammatik einer Sprache auf das weitere kognitive Verhalten gar nicht nötig. «Weltansicht» besagt nichts anderes, als dass die Sprachen sich hinsichtlich ihrer grammatischen und lexikalischen inhaltlichen Strukturierung unterscheiden. Und zweitens gibt es inzwischen ernst zu nehmende Studien, die durchaus gewisse Einflüsse einzelsprachlicher Semantik auf das weitere «Denken» (also nicht nur das «Denken in Sprache») der Sprecher einer Sprache erforscht und empirisch gut abgesichert haben.[10] So hat z.B. die Tatsache, dass bestimmte Sprachen kein egozentrisches, sondern ein geographisches deiktisches System haben, durchaus Folgen für das weitere Denken der Sprecher: In bestimmten australischen Sprachen sagt man: die «nördliche» Tasse, der «westliche» Stuhl (nicht: links, rechts, vorn, hinten). Diese sprachliche Struktur bewirkt ganz offensichtlich, dass die Sprecher dieser Sprachen immer wissen, wo sie sich geographisch in Bezug auf die Himmelsrichtungen befinden. Das Denken des Raums und damit auch das Verhalten im Raum sind hier ganz offensichtlich durch die Sprache determiniert. Ebenso ist es nicht ganz ohne Folgen für das weitere «Denken», wenn eine Sprache Genera hat. Offensichtlich «denken» die Deutschen «die Brücke» eher weiblich als die Spanier, die mit «el puente» männliche Assoziationen verbinden. Die entsprechenden Forschungen und die auf ihnen basierende «weichere» Form des sprachlichen Determinismus hat Guy Deutscher (2011) ziemlich überzeugend dargestellt.[11]

1.6. Verluste

Der sprachsoziologische Kapitalismus hat sich mit der falschen linguistischen Theorie verbündet. Das macht ihn aggressiv, herzlos und destruktiv, weil er damit eine Politik der kulturellen Hegemonie, der Missachtung kultureller Traditionen und der Zerstörung von Sprachen befördert und unter der schönen Botschaft der «Mehrsprachigkeit» gleichzeitig auch noch verbirgt. Da er ja annimmt, dass verschiedene Sprachen gar kein verschiedenes «Denken» oder sonst irgendetwas Wichtiges transportieren, sondern nur oberflächliche Manifestationen der universellen «Sprache des Denkens» sind, betrachtet er das Verschwinden von Sprachen mit kalter Gleichgültigkeit. Es geht ja nichts, zumindest nichts Wertvolles verloren.[12]

Außerdem sei der Verlust einer Sprache auch kein kultureller Verlust. Die Kultur einer Sprachgemeinschaft könne ohne Weiteres erhalten bleiben, so liest man überrascht, wenn sie ihre Sprache ändere:

Man kann durchaus seine eigene Kultur und Lebensweise beibehalten und zugleich die eigene Sprache nicht mehr sprechen. Kultur und Sprache sind weitgehend voneinander entkoppelt. (Gerhards 2010: 145)

Hier muss man sich fragen, was denn mit einer «Kultur» gemeint sein kann, die einen Sprachwechsel unbeschadet übersteht. Es kann sich eigentlich nur um materielle Kultur in einem sehr oberflächlichen Sinne handeln: um Essen, Trinken, Kleidung, Handwerk und Ähnliches. Und selbst diese ist ja durchaus mit bestimmten Wörtern verbunden, wie z.B. Spaghetti, Döner, Whiskey, Dirndl, Toga, Ahle, Holländer etc. Das Herzstück jeder Kultur kann jedenfalls nicht gemeint sein, das notwendigerweise in die jeweilige Sprache eingelassen ist: die Literatur, die Lieder, die Mythen, das Recht, die gesellschaftliche Organisation. Diese Soziologie hat anscheinend noch nie etwas von Exil und Emigration gehört und von dem schmerzhaften Verlust einer bestimmten «Kultur» durch den Verlust der Sprache. Oder auch umgekehrt von der Begeisterung über den Einstieg in eine andere Kultur durch den Erwerb einer neuen Sprache: Das osteuropäische Judentum trat vom 18. Jahrhundert bis 1933 über die Erlernung der deutschen Sprache in die deutsche «Kultur» ein, das heißt in die deutsche Literatur und Geisteswelt (dabei hat es durchaus einen Teil seiner materiellen Kultur, das Essen, die Kleidung, oder auch die religiösen Riten beibehalten). Ohne Zweifel ist der tiefste und wichtigste Teil der Kultur von der Sprache abhängig. Die Beispiele aus der Menschheitsgeschichte sind evident: Die Völker, die ihre Sprachen aufgegeben haben, haben auch ihre Kultur verloren. Es gibt keine illyrische, okzitanische, etruskische, punische, gallische Kultur mehr. Die Juden, die das Gegenbeispiel zu sein scheinen, weil sie im Verlauf der Jahrtausende verschiedene Sprachen angenommen haben, haben immer das Hebräische als Sprache ihrer Religion, also als Herzstück ihrer Kultur, bewahrt und bekanntlich wieder zur Sprache ihres Staates und ihrer Nation gemacht.

Aber die tiefe Bedeutung der literarisch-sprachlichen Kultur kann man auch gar nicht fassen, wenn man die Besonderheit der Sprache nicht fasst und wenn man glaubt, Sprachen seien gleichgültige Laute zur Kommunikation von außersprachlich gefassten Gedanken. Denn dann ist es natürlich auch gleichgültig, ob ich Goethe oder Kafka auf Deutsch oder in einer englischen Übersetzung lese. Jeder weiß, dass dies nicht gleichgültig ist. Aber unter dem völlig ökonomistischen Blick des sprachsoziologischen Kapitalismus verschwindet diese Art von Wert einer Sprache völlig. Der Wert einer Sprache wird einzig an der Zahl von Menschen gemessen, an die ich mein Wort richten kann. Die große Zahl lässt sich offensichtlich auch als Lautstärke messen: «the megaphone language» nennt van Parijs (2011: 117) dieses laute Wort an die Vielen. Dass die Wertschätzung der Lautstärke und der Reichweite, wie es sich für den Kapitalismus gehört, darüber hinaus eine extrem egoistische Perspektive ist, versteht sich gleichsam von selbst. Gemessen wird nur, wie viele Menschen mein Wort erreicht: IchDu